Cover

Vorwort

LEBENSBUNT – 20 Geschichten, so bunt wie das Leben. So bunt wie die Gruppe der Autoren, in der diese Anthologie als Gemeinschaftsprojekt entstanden ist.

Im Jahr 2014 riefen wir monatlich zu Schreibwettbewerben mit den unterschiedlichsten Themenvorgaben auf, deren Siegergeschichten wir jetzt in dieser Sammlung präsentieren.

Dazu lasse ich ein Urgestein unserer Gruppen-Mitglieder zu Worte kommen und zitiere Phil Humor:

»Sich aufmachen, um zu vorgegebenem Thema seine Fantasie zu befragen: Was kann sie anbieten, was bietet sie an Rohmaterial dem Textschmied? Man will mit seiner Story in die Hufe kommen – Pegasus satteln, Sporen geben – oder lieber doch nicht? Pegasus kann kapriziös sein; ihm lieber gut zureden – mit Pferdeflüsterer-Taktik?

Diesen Monat muss die Story fertig sein – frisch Gesellen seid zur Hand! Ihr Figuren auf die Plätze – Eigensinn ist gut – so wird’s lebensbunt.

»Lebensbunt. Löwenherz-Geschichten« – entstanden im Rahmen eines Schreibwettbewerbes bei BookRix.«

 

Der Untertitel »Löwenherz-Geschichten« impliziert bereits das von uns ausgewählte Ziel, dem sämtliche Nettoerlöse aus dem Verkauf dieses Buches zufließen werden – das Kinderhospiz Löwenherz in Syke, welches ich hier kurz vorstellen möchte:

 

 

 

Das Kinder- und Jugendhospiz Löwenherz in Syke nimmt unheilbar erkrankte Kinder, Jugendliche und deren Familien für bis zu vier Wochen im Jahr auf. Die schwersterkrankten Gäste werden von professionellen Pflegekräften rund um die Uhr liebevoll versorgt, während sich Eltern und Geschwister erholen können. Es gibt je Haus acht Plätze für die Kinder und Jugendlichen sowie einen separaten Wohnbereich für die Angehörigen. Auch Sterbe- und Trauerbegleitung werden im Kinder- und Jugendhospiz angeboten. Jährlich kommen mehr als 250 Familien zu »Löwenherz«. Zur Unterstützung der Familien zuhause schult »Löwenherz« Ehrenamtliche, die die Familien ambulant begleiten.

(Für weitere Informationen siehe www.kinderhospiz-loewenherz.de).

 

Hierzu auch ein Statement von Barbara Frerker, der Geschäftsführerin des Kinderhospizes Löwenherz e. V.:

»Wir freuen uns sehr, dass der Erlös aus der Kurzgeschichtensammlung an »Löwenherz« gehen soll. Wir danken den Autorinnen und Autoren für ihr Engagement, denn das Kinder- und Jugendhospiz Löwenherz und die ambulante Kinderhospizarbeit werden zu einem großen Teil über Spenden finanziert.«

 

Mein ganz besonderer Dank gilt Heike Helfen, die sich von dem gewählten Anthologie-Titel und dem Spendenziel inspirieren ließ und ein wundervolles Aquarell malte, welches sich in einer großen Abstimmung durchsetzte und so als Cover unserer Kurzgeschichten-Sammlung auserkoren wurde.

Auch Heike Helfen möchte ich kurz zu Wort kommen lassen:

»Ich möchte dieses Bild den Eltern widmen, die hinter ihren Kindern stehen. Die sie begleiten, unterstützen und beschützen. Eltern, die für ihre Kinder da sind, wann immer sie sie brauchen. Ich wünsche euch ganz viel Kraft für euer Tun.«

 

Mit einem herzlichen DANKESCHÖN möchte ich mich auch an unsere wunderbare Gruppe wenden – für ihren unermüdlichen Einsatz und die Begeisterung beim Schreiben, Lesen und Abstimmen über unsere Geschichten. Ich freue mich schon auf unser neues Projekt für das Jahr 2015!

Aber nun genug der Vorrede und hinein ins Lesevergnügen ...

 

Saskia Kruse,

im Dezember 2014

Inhaltsverzeichnis

  1. Ursula Kollasch - Alexander
  2. Emma Nentwig - Das Runde und das Eckige
  3. Bert Rieser - Bernsteintränen
  4. Saskia Kruse - Herzensschlüssel
  5. June F. Duncan - Frost
  6. Andreas Jurat - An der Bar
  7. Brigitte Voß - Das Polarlicht
  8. Ute Look - Hula-Hoop unterm Himmel
  9. Bert Rieser - Das Haus
  10. Ralf von der Brelie - Lieb Vaterland
  11. Ursula Kollasch - Rabenschwingen
  12. Alexander Reimstein - Regen
  13. Andrea Kochniss - Schwarzgültig
  14. Cecilia Troncho - Über den Wolken
  15. Brigitte Voß - Momente
  16. Karin Hufnagel - Frau Windekusch
  17. Saskia Kruse - Seelentanz
  18. Marcel Porta - Herr Sieger, der Idiot!
  19. Andreas Jurat - Gregor
  20. Bert Rieser - ABRAMACABRA
  21. Unsere Autoren im Überblick

Ursula Kollasch - Alexander

Tief sog ich die frische Luft ein, die nach feuchtem Herbstlaub, Erde und Moos duftete. Und nach dem dunklen Wasser des Sees, der wie ein riesiger, schwarzer Spiegel vor mir lag.

Kälte kroch durch meine dünne Windjacke, ließ mich frösteln. Doch ein herrlicher Oktobertag dämmerte herauf und ich dachte, dass es sich gelohnt hatte, heute mit dem ersten Hahnenschrei aufzustehen.

Noch hing der frühmorgendliche Nebel über dem Gewässer, der sich jedoch in ein bis zwei Stunden aufgelöst haben würde, das wusste ich aus Erfahrung.

Ich stellte meine Angelausrüstung neben ein paar Baumstümpfen ab und ließ meinen Blick über das Wasser wandern. Hinüber zum Ufer auf der anderen Seite, über die teils noch rotgelb belaubten Baumkronen und den zartgrauen Himmel. Still war es hier. Absolut friedlich. Die Stille war ein Zustand, an den ich mich als Großstädter nach all der Alltags-Hektik immer erst wieder gewöhnen musste. Aber sie tat unglaublich gut.

Nur vereinzelt waren Vogelstimmen zu vernehmen. Ich sah Ringe auf der Wasseroberfläche, verursacht von den Fischen, die heute gut anbeißen würden. Mein Freund Manfred und ich waren für eine Woche zum Angeln gefahren, so wie wir es seit zwanzig Jahren, stets im Oktober, taten. Der »goldene« Herbst galt dafür als die beste Zeit!

Diesmal hatten wir uns ein Zimmer in der kleinen, hauptsächlich von Anglern, Radlern und Wanderfreunden frequentierten »Pension am See« im Mecklenburgischen gebucht. Im Moment waren nicht viele Urlauber anwesend. Außer Manfred und mir saßen stets nur zwei ältere Paare morgens im Frühstücksraum.

Heute war der letzte Tag unserer Männer-Reise. Morgen ging es wieder heim, zu unseren Ehefrauen. Daher hatten wir uns gestern im Schankraum einige Biere und Schnäpschen einverleibt, auch das war Tradition am vorletzten Abend. Wir hatten wohl ein paar zu viel gehoben, denn Manfred lag in Essig im Bett und hatte nur gestöhnt, als ich ihn zum Früh-Angeln wecken wollte. Auch mir brummte der Schädel, doch ich hatte mich aufgerafft, im Bewusstsein, dass frische Luft und Bewegung halfen, den Kater loszuwerden, der seine schmerzenden Krallen in meinen Kopf versenkte.

Jetzt machte ich mich daran, meine Angelruten vorzubereiten, stellte sie auf und nahm auf dem Campingstuhl Platz. Mein Blick glitt erneut über den See, der Nebel begann bereits, sich zu lichten. Außer mir war niemand hier. Einen Augenblick lang fühlte ich mich wie der letzte Mensch auf Erden.

Mal sehen, ob ich heute etwas Größeres fange, was uns die freundliche Wirtin zum Mittag zubereiten könnte. Mmh, mit Bratkartoffeln ... Eventuell hat sie auch ein Aspirin für Manfreds Schädel …

Ich lächelte in mich hinein, als meine Gedanken zu Esther wanderten. Meiner klugen, schlagfertigen und manchmal etwas spitzzüngigen Frau, die die weltbesten Bratkartoffeln zaubern konnte. Ob sie noch schlief? Wie immer auf dem Bauch? Träumte sie vielleicht gerade und verzog dabei die Augenbrauen wie ein knurriger Jagdhund, wie sie es häufig tat? Oder trank sie, Frühaufsteherin wie ich, schon ihren ersten Becher Kaffee mit viel Milch, und las die Zeitung?

Ich vermisste sie und freute mich darauf, sie morgen wieder in die Arme zu schließen.

In der Ruhe wäre ich beinahe eingedöst, als ich aus dem Augenwinkel eine Gestalt wahrnahm. Ich wandte den Kopf. Auf dem Steg saß ein kleiner Junge. Seine Beine hingen reglos herab, während er in das dunkle Wasser zu seinen Füßen hinab starrte, in dem sich die Bäume und Sträucher rundherum widerspiegelten. Traurig sah der Junge aus, den ich auf höchstens acht Jahre schätzte. Sicherlich hatte er Kummer.

Ich beobachtete ihn unauffällig, mit dem Impuls ringend, zu fragen, was ihn bedrücke. Aber war das eine gute Idee? Schließlich war ich nur ein unbekannter, älterer Mann für ihn. Bestimmt hatten seine Eltern ihn vor Fremden, die einen ansprachen, gewarnt. Vielleicht würde er schreiend davonrennen ... Aber andererseits: Vielleicht konnte ich ihm helfen.

Mir einen Ruck gebend erhob ich mich und ging langsam auf den Steg zu. Der Junge schien mein Kommen nicht zu bemerken, daher rief ich ihm ein freundliches »Guten Morgen« zu, damit er sich nicht erschreckte.

»Hallo, ich heiße Dieter. Ich bin mit meinem Freund zum Angeln hier«, sagte ich zu ihm, als ich ihn erreichte. Einen Moment zog ich in Erwägung, neben ihm in die Hocke zu gehen, blieb aber stehen. »Manfred schläft noch. Und was machst du so früh hier am See?«

Um ihn nicht anzustarren, blickte ich wie er auf das Wasser, beobachtete ihn aber insgeheim wieder aus dem Augenwinkel. Er sah gepflegt aus, trug ein Hemd und eine Jeans, aber keine Jacke.

Er war mit seinen Gedanken sehr weit weg, beachtete mich gar nicht. Darum vermutete ich, er habe kein Interesse an einer Unterhaltung und wollte mich gerade mit einem »Na, dann ...« zurückziehen, da meinte er, als ob er meine Unsicherheit gespürt hätte: »Sie können sich ruhig setzen, wenn Sie möchten, es stört mich nicht!«

Ich folgte seiner Einladung, nahm neben ihm auf dem Steg Platz und eine kleine Weile sagten wir beide nichts. Endlich hob er den Kopf, ich konnte sein feingeschnittenes Profil sehen, als die zuvor ins Gesicht hängenden Haarsträhnen zurückfielen. Doch noch immer sah er mich nicht an.

»Ein schöner Flecken ist das hier«, sagte ich, um das Gespräch in Gang zu bringen. »Ich war mit Manfred schon an vielen Orten zum Angeln, aber hier gefällt es uns besonders gut. Mit wem bist du denn hier?«

Ich bekam keine Antwort, aber ich sah, dass sich die Züge des Jungen verschlossen wie ein Eisentor. Ob er wohl Ärger mit seinen Eltern hatte? Bei den Mahlzeiten hatte ich keine Familie in der Pension gesehen. Oder war er aus dem nahen Dorf hergekommen, um allein mit seiner Trauer oder Wut zu sein?

Ich dachte an meine Kindheit, als ich, wann immer ich aufgewühlt gewesen war, so gerne an unserem Fluss in einem Boot gesessen hatte, das damals irgendjemand am Ufer befestigt hatte. Und das sich, solange ich denken konnte, stets am selben Platz befunden hatte. Auch ich hatte dann ins Wasser gestarrt, wollte allein sein mit meinen düsteren Gedanken.

Ich weiß nicht, wie lange wir stumm nebeneinandersaßen, als das Kind die Stille unterbrach.

»Haben Sie noch einen Großvater?«

Etwas an der Art, wie der Junge die Frage stellte, schoss direkt in mein Herz und traf es voll.

Ah, dachte ich, er vermisst seinen Großvater. Vielleicht ist der vor Kurzem gestorben, das täte mir leid.

Warme Erinnerungen an meine Kinderzeit schwirrten durch meinen Kopf und plötzlich stand mein Großvater im Geiste vor mir, ich hätte die Hand nach ihm ausstrecken können.

»Nein, ich habe keinen Großvater mehr. Er ist vor vielen Jahren gestorben. Ich bin ja selbst schon ein Großvater. Aber ich hatte ihn sehr gern und ich wäre froh, er wäre hin und wieder noch für mich da. Mit ihm habe ich als kleiner Junge viel unternommen und er hat mir eine Menge beigebracht, mir viele tolle Dinge gezeigt. Ja, aber weißt du, ich habe ihn eigentlich immer noch tief in meinem Herzen. Da wird er ewig sein. Wenn man so viele schöne Erinnerungen an einen Menschen hat, dann ist er nie ganz weg!«

Der Junge senkte den Kopf und ich sah Tränen auf seinen Wangen. Zaghaft begann er zu erzählen, fast wispernd, sodass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Mein Opa ist tot. Weil er sich so aufgeregt hat. Über mich. Er konnte überhaupt nicht mehr mit mir sprechen, nur noch ganz zart meine Hand drücken.«

Ich verspürte einen Stich des tiefsten Bedauerns in meiner Brust. Ach Gott, das arme Kind, dachte ich.

Der Großvater hatte wohl einen Schlaganfall gehabt und der Junge war der etwa dabei gewesen?

Meine tröstenden Worte sprudelten sanft und tief aus meinem Herzen aus mir heraus. »Das tut mir sehr leid für deinen Großvater und natürlich auch für dich. Du hast deinen Opa bestimmt sehr lieb gehabt.«

Ich sah, wie sich die Finger des Jungen um die Holzplanken des Stegs krampften, und fuhr leise fort: »Aber weißt du, das Leben deines Großvaters war wahrscheinlich am Ende angelangt, es ist nicht deine Schuld! Bestimmt nicht. Und du musst ganz fest daran glauben, dass es deinem Opa dort, wo er jetzt ist, gut geht, dass er keine Schmerzen mehr hat. Man sagt, Menschen, die sterben, ziehen einfach um in ein anderes, schöneres Zuhause.«

Ich hörte mich reden und dachte dabei, dass ich damals, als ich meinen Großvater verloren hatte, schon fast erwachsen gewesen war. Der Schmerz, den ich empfunden hatte, war mindestens so groß gewesen wie der des kleinen Jungen. Aber die Dankbarkeit, meinen Großvater gehabt zu haben, war von Jahr zu Jahr gewachsen. Diese Erfahrung würde er auch machen, irgendwann!

So saßen wir nebeneinander und ich hätte gerne seine Hand genommen. Aber dafür kannten wir uns nicht gut genug. Ganz still war es wieder, der Nebel fast fort. Die Dämmerung neigte sich ihrem Ende zu.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte ich.

»Alexander«, war die Antwort. »Mein Opa hieß auch Alexander, wie ich.«

Grübelnd, wie ich den Jungen aufheitern oder von seinem Kummer ablenken konnte, bemerkte ich plötzlich, dass an einer meiner Angeln etwas angebissen hatte. Reflexartig sprang ich auf.

»Oh, sieh mal Alexander, ich hab' was gefangen! So, wie es aussieht, einen ziemlich dicken Fisch! Komm, wir holen ihn raus!«

Ich eilte vom Steg, hinüber zu meinen Angeln, packte die Rute und begann, die Schnur einzuholen. Beifall heischend wandte ich den Kopf, um Alexanders Reaktion zu sehen, doch der Junge war nicht mehr da.

Da, ein Rascheln im Schilf.

»Alexander?«

Ich blickte mich um, konnte ihn nirgends entdecken. Er war fort. Hatte ich ihn erschreckt? Das hatte ich nicht gewollt. Fand er es grausam, dass ich Fische aus dem Wasser zog, um sie zu töten und zu essen? Vielleicht saß er jetzt versteckt irgendwo im Gebüsch und beobachtete mich entsetzt. Obwohl ich mir ein wenig albern vorkam, griff ich nach der Leine und löste mit einigem Bedauern den zappelnden Fisch vom Haken. Warf ihn zurück in den See, wo er eilig in den dunklen Tiefen verschwand.

»Ich hab' ihn schwimmen lassen. Komm' doch wieder her, bitte«, rief ich halbherzig in die Stille. Aber das Kind blieb fort.

 

Nach Alexanders Verschwinden verspürte ich mit einem Mal keine Lust mehr auf Angeln, immer wieder schweiften meine Gedanken zu dem Jungen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es fast sieben war und somit die Frühstückszeit begann. Vielleicht konnte mir die Wirtin Auskunft über Alexander und dessen Familie geben. Rasch packte ich meine Ausrüstung ein und machte mich auf den Rückweg zur Pension.

Manfred schlief immer noch und schnarchte, als ich meine Sachen aufs Zimmer brachte. Somit begab ich mich allein zum Frühstück. Außer mir war anscheinend noch kein weiterer Gast auf, denn ich traf Frau Wendler allein an, die gerade den letzten Tisch eindeckte.

»Guten Morgen!«, sagte ich, als ich eintrat und Platz nahm.

»Guten Morgen, Herr Friedrich. Na, schon beim Angeln gewesen? Heute ohne Herrn Ostmann?«, antwortete sie freundlich und zwinkerte mir schelmisch zu, als sie mit der Kaffeekanne an den Tisch trat. Sie schien genau zu ahnen, wie verkatert Manfred heute war. »Kaffee?«

Ich nickte und sie schenkte mir ein.

»Mein Freund schläft noch, ich war allein am See. Hatte auch einen dicken Fang gemacht, aber den habe ich wegen dieses kleinen Jungen wieder ins Wasser geworfen. Sagen Sie, macht hier auch eine Familie mit einem Sohn namens Alexander Urlaub?«

Frau Wendler erstarrte, die Kanne in der Hand. Ihr Gesicht erblasste. »Sie haben Alexander gesehen?«, flüsterte sie.

»Ja, einen Jungen, vielleicht acht oder neun Jahre alt, dunkles, längeres Haar, hellblaues Hemd und Jeans. Er schien sehr traurig zu sein. Wegen seines Großvaters. Als ich ihm meinen Fang zeigen wollte, war er verschwunden. Kennen Sie ihn?«

Die Wirtin wich zwei Schritte zurück, stellte abwesend die Kanne auf dem Buffet ab. Trauer oder Sorge? überschattete mit einem Mal ihre sonst so strahlenden Züge. Entgegen ihrer energiegeladenen Art ließ sich auf einen Stuhl am Nachbartisch sinken und legte sich kurz die Hand vor den Mund, ehe sie wieder zu sprechen begann.

»Herr Friedrich, was ich Ihnen jetzt erzähle, wird Ihnen unglaublich erscheinen. Bitte halten Sie mich nicht für verrückt.« Sie räusperte sich, während ich sie gespannt anblickte. »Im Jahr 1975 machte ein älterer Herr mit seinem Enkel hier Urlaub. Meine Eltern führten damals die Pension, ich war ein Teenager, half aber schon aus. Herr Adler war ein pensionierter Arzt, ein freundlicher Mann, und seinem Enkel Alexander sehr zugetan. Sie verbrachten wohl jeden Sommer einige Ferienwochen zusammen, wenn ich mich recht erinnere. Und in diesem August bei uns. Und dann ... dann passierte dieses schreckliche Unglück.«

Frau Wendler hielt kurz inne, die Erinnerung schien sie heimzusuchen und ich schluckte, lauschte wie gebannt. »Der alte Herr muss nachmittags eingeschlafen sein, so haben wir später gedacht. Auf jeden Fall ist der Junge an den Steg gegangen, obwohl er dort allein nicht hindurfte, denn er konnte nicht schwimmen. Und er ist ins Wasser gefallen und schrie wie am Spieß. Meine Mutter und ich rannten aus dem Haus, doch der alte Herr war schneller am Steg. Er sprang zu seinem Enkel ins Wasser, es war ein heißer Tag, das Wasser aber ist immer eiskalt. Er hat ihn noch ans Ufer gezogen, aber einen Herzinfarkt erlitten und ist wenig später im Krankenhaus gestorben.«

Sie schloss kurz die Augen, und auch mir zog sich die Brust zusammen. »Der Junge hat die ganze Zeit geweint und gesagt, es sei alles seine Schuld. Er wollte nicht berührt und nicht getröstet werden. Die Polizei kam, meine Mutter musste Fragen beantworten. Sie wies mich an, dass ich, wenn der Junge ruhiger wurde, ins Haus gehen und seine Eltern anrufen sollte. Als ich drinnen war, ist er fortgelaufen. Wahrscheinlich wollte er dem Krankenwagen hinterher, er ist ... er ist auf der Landstraße vor ein Auto gerannt. War sofort tot. Wäre ich doch nur bei ihm geblieben ...«

Sie verstummte, presste ihre zitternden Lippen zusammen. Obwohl die Tragödie fast vierzig Jahre her war, schienen die Erinnerungen daran immer noch zu brennen und zu schmerzen. Bisher hatte ich nicht gewagt, sie zu unterbrechen, nun sagte ich: »Frau Wendler, Sie waren selbst fast noch ein Kind. Sie sind der Anweisung Ihrer Mutter gefolgt und Sie konnten doch nicht ahnen, was passieren würde. Was für eine tragische Geschichte.«

Mir wurde kalt, als mir aufging, dass ich ... einen Geist getroffen hatte. Frau Wendler deutete meinen Gesichtsausdruck richtig.

»Ja, manchmal erscheint Alexander bestimmten Menschen, immer in der Dämmerung, immer am Steg. In den vergangenen Jahrzehnten haben einige Leute ihn gesehen. Und ... ich weiß nicht, wie ich es sagen soll ...« Ich nickte ihr aufmunternd zu. »Hören Sie, sein Geist ist immer nur Leuten erschienen, die kurz darauf einen geliebten Menschen verloren. Als ich das erkannte, habe ich mir angewöhnt, diese zu warnen. Auch auf die Gefahr hin, dass man mich für verrückt erklärt und nie wieder in unser Haus kommt. Ist jemand in Ihrer Familie sehr krank?«

Ich betrachtete Frau Wendlers gütiges, trauriges Gesicht und unterdrückte meinen Unglauben. Schließlich hatte ich den Jungen gesehen, mit ihm gesprochen, und die Frau erweckte keinesfalls den Eindruck, als würde sie sich gerade einen schlechten Scherz auf meine Kosten machen.

»Nein ...«, stammelte ich. »Unser Sohn und unsere Schwiegertochter sind kerngesund. Unsere Enkel sind auch nicht krank, auch nicht meine Frau ...« Ich hielt inne. Esther war allein zu Hause. Was, wenn doch etwas passiert war? Ich verspürte den Drang, sie sofort anzurufen. Zog mein Handy hervor und drückte eine Taste. Ließ es klingeln. Und klingeln. Schlief sie noch? Ich wählte die Nummer ihres Handys, das sie abends immer neben das Bett legte. Nichts. Keine Reaktion.

Die Angst saß plötzlich wie ein Eisblock in meiner Brust, raubte mir fast den Atem. Ich kämpfte meine Panik nieder, als ich Frau Wendlers sorgenvolles Gesicht sah. Ich musste jetzt die Nerven bewahren. Entschlossen drückte ich eine weitere eingespeicherte Nummer, die unserer Nachbarin Heide. Sie war nach dem vierten Läuten dran.

»Guten Morgen, Heide. Hier spricht Dieter. Entschuldige die frühe Störung, aber könntest du bitte kurz nach Esther sehen? Sie nimmt nicht ab, ich habe ein ungutes Gefühl.«

»Aber Dieter, es ist erst kurz nach sieben, vielleicht schläft sie noch ...«

»Bitte geh‘ rüber und sieh nach. Und nimm‘ den Schlüssel mit, den wir dir gegeben haben, ja? Das geht auf meine Kappe, falls Esther nur schläft und sauer ist.«

Als Heide eingewilligt hatte, trennte ich die Verbindung. Banges Warten folgte. Die Zeit schien sich wie zähes Kaugummi dahinzuziehen. Frau Wendler sah genauso ängstlich und nervös aus, wie ich mich fühlte.

»Warum dauert das so lange? Sie hätte doch längst zurückrufen müssen ...«, murmelte ich, den Tränen nahe, und die Wirtin legte ihre Hand auf meine.

Als mein Handy endlich klingelte, zuckte ich zusammen.

»Ja?«

Heides Stimme überschlug sich fast. »Oh, Dieter, woher wusstest du das ... Esther lag auf dem Boden in der Küche, bewusstlos. Ich hab‘ sofort den Krankenwagen gerufen, sie haben sie stabilisiert und mitgenommen. Was Genaues weiß ich nicht, aber sie haben gesagt, sie wird höchstwahrscheinlich durchkommen, weil sie früh genug gefunden wurde ... Du sollst kommen, sie ist im Rot-Kreuz-Krankenhaus ... Ich bin ganz fertig.«

Ich dankte unserer Nachbarin und legte auf. Mein Herz raste. »Ich danke auch Ihnen, Frau Wendler, so sehr. Meine Frau wird es wahrscheinlich schaffen, sie ist jetzt in der Klinik. Ich kann das alles nicht fassen, aber ich muss jetzt los, Manfred wecken. Bitte machen Sie unsere Rechnung fertig, ja?« Damit stürmte ich hinaus.

 

Manfred war mit einem Schlag hellwach, als ich ihn mit der schlechten Nachricht weckte. Er wollte nur noch schnell duschen und packen, dann würden wir losfahren. Ich hielt es im Zimmer nicht aus, rollte meinen Koffer und meine Ausrüstung schon zum Auto und beglich dann die Rechnung an der Rezeption.

Da Manfred noch ein paar Minuten benötigen würde, begab ich mich hinunter zum See. Es zog mich einfach dorthin. Die Sonne strahlte inzwischen vom Himmel, das dunkelgrüne Wasser schimmerte. Ich sah zwei späten Libellen zu, die mit ihren schillernden Flügeln vor mir hin und her flogen. Wie kleine Pfeile schossen sie vorbei, ehe sie sich auf einem Seerosenblatt etwas Ruhe gönnten.

»Danke, Alexander. Ich danke dir, dass du meine Esther gerettet hast«, sagte ich, und war mir in diesem aufgewühlten Moment der Irrationalität meines Tuns nicht bewusst. Tränen schossen mir wieder in die Augen. »Und, bitte, wenn du mich hören kannst: Du bist nicht schuld. Dein Großvater liebt dich, so wie du ihn. Er hat deine Hand gedrückt, weil er dir das sagen wollte. Nichts anderes. Er ...«

»Mit wem sprichst du da?« Manfred tauchte neben mir auf. Blass und ernst sah er aus, legte mir mitfühlend eine Hand auf die Schulter.

»Schon gut. Lass uns fahren, ja?«

Auf dem Weg zum Auto wandte ich mich noch einmal um, blickte zurück auf den glitzernden, smaragdgrünen See.

Danke, Alexander ...

Emma Nentwig - Das Runde und das Eckige

»Wenn du immer so lustlos bei der Sache bist, ist es doch kein Wunder, dass die anderen dich auslachen und auf dich sauer sind. Du solltest ein wenig mehr Einsatz zeigen. Das bedeutet, dass man immer bereit ist, das Schlimmste zu verhindern. Keiner will ein Gegentor kassieren, nur weil dem Torwart gerade langweilig ist und er in der Nase bohrend an den Pfosten gelehnt im Tor sitzt und dem Spiel zusieht. So geht das wirklich nicht, Tobias.«

 

Das hat er zu mir gesagt, bevor das Spiel begonnen hat. Und ja, er hatte recht. Neulich hatte ich mich kurz hingesetzt, aber nur, weil mein Bein so weh getan hat. Aber in der Nase habe ich nicht gebohrt. Habe mich nur innen drin gekratzt.

Immer. wenn der Trainer mich Tobias statt Toby nennt, ist es ernst. So viel ist klar. Er hat allein mit mir gesprochen, damit die anderen Spieler nicht auf mir herumhacken. Das ist nett von ihm. Und ich will ja auch besser werden und alle Bälle fangen. Aber irgendwie kann ich das einfach nicht so gut. Als Stürmer war ich sehr schlecht, aber als Torwart bin ich fast noch schlechter. Wenn das überhaupt geht.

 

Jetzt stehe ich hier und werde nicht gebraucht. Meine Mannschaftskollegen sind richtig klasse. Das ist auch gut so. Sonst würde ich alle noch mehr enttäuschen, als ich es jetzt schon tue. So ein Mist. Am liebsten wäre ich jetzt bei Oma. Mit ihr kann ich viele interessante Sachen machen. Sie näht und strickt und kann sogar Körbe flechten. Und bald will sie neue Seife herstellen. In verschiedenen Duftrichtungen. Lavendel, Rose und Flieder. Das ist gar nicht leicht, aber total faszinierend. Das hat sogar mit Chemie zu tun und auch mit Handwerk. So was macht mir viel mehr Spaß …

 

Das Spiel läuft gut für uns. Wir, also meine Kameraden, haben schon zwei Tore geschossen, und unsere Gegner kein einziges, während ich hier von einem Bein auf das andere hüpfe, denn ... oh Manno, so eine blöde Situation. Das ist echt peinlich ...

Ich muss mal! Ganz dringend! Und es gibt nicht viel, was eine noch größere Blamage ist als ein Torwart, der nicht im Tor steht – und das ist ein Torwart, der sich in die Hose pinkelt.

 

Die nächste Minute ist um. Mist, jetzt geht es nicht mehr ... Ich laufe in die Waschräume zur Toilette. Oh Gott, endlich ein Klo. Danke!

Mann, tut das gut! So, jetzt sieht die Welt schon besser aus. Während ich hoffe, dass keiner gemerkt hat, dass ich weg war, bricht draußen ein Mordslärm aus.

 

Erst Jubel und dann ein Tohuwabohu ... oh-oh ... Ich ahne Böses ... Mit einem mulmigen Gefühl wasche ich mir die Hände und schleiche von Schuld gebückt zurück auf den Platz. Da stehen sie, meine Freunde und der Trainer. Stinksauer und unendlich traurig sehen sie aus, während sich unsere Gegner fast kugeln vor Lachen. Das Spiel ist inzwischen abgepfiffen und nun stehen sie Schlange, um mich zu beschimpfen ...

Aber ich halte das aus, irgendwie halte ich das bestimmt aus.

»Mensch Toby, du alte Lusche, wo warst du denn? Die anderen haben ein Tor geschossen. Du hast ja nicht mal versucht, den Ball zu halten! Was soll das denn, du Penner!«

»Du bist die letzte Pfeife, weißt du das überhaupt?«

»Wir sollten uns so’n Pappbild von dir da rein stellen, das hält wahrscheinlich mehr Bälle als du!«

 

Meine Unterlippe fängt allmählich an zu zittern. Wut steigt in mir auf. Und Enttäuschung über mich selbst. Wieso bin ich so ein mieser Fußballer? Wie kann das sein? Meine Brüder sind echte Spitzenspieler. Und meine Schwester spielt irre gut. Nach ihr hat schon ein Talentsucher gefragt. Jetzt meckern alle gleichzeitig auf mich ein und werfen mir alle möglichen Ausdrücke an den Kopf. Ich höre gar nicht mehr hin. In diesem Moment passiert was Seltsames. Mein Opa, der vor kurzer Zeit gestorben ist, spricht zu mir. Ich höre ganz klar seine Stimme und sie sagt:

»Toby, das Leben ist wie die leeren Seiten in einem Fotoalbum. Und du musst sie einfach mit den schönen Dingen füllen.«

 

Meine Wangen sind ganz nass. Ich weine, ohne es zu merken. Warum tue ich mir das an? Nur weil ich denke, dass alle traurig sind, wenn ich es sage?

Noch bevor ich darüber nachdenken kann, öffne ich meinen Mund und die Worte rollen raus wie bunte Murmeln. Hart schlagen sie auf den Boden. Alle können sie hören.

»Ich finde Fußball richtig doof und trete aus dem Verein aus. So!«

 

Mucksmäuschenstill sind sie jetzt alle und ich sehe ihnen trotzig in die Augen. Das fühlt sich plötzlich richtig gut an. Komischerweise ist es mir ganz egal, was die anderen sagen. Mama oder Papa, Tim und Tom und Tessa, meine Geschwister. Ich fühle mich, als hätte ich ein schweres Kettenhemd ausgezogen, wie von einer Last befreit. Morgen fahre ich zu Oma und mache mit ihr herrlich duftende Seife. So!

Bert Rieser - Bernsteintränen

-1-

 

Mathilde Koschewski war wütend. So wütend, dass sie ihrer kleinen Schwester Agnes am liebsten ein paar Ohrfeigen verpasst hätte. Dabei liebte sie die kleine Göre über alles. Aber jetzt war überhaupt nicht der Zeitpunkt, um Zicken zu machen. Mathilde war zwar erst zehn Jahre alt, aber sie wusste Bescheid. Sie wusste, was Krieg war. Sie hatte den Erwachsenen oft und lange genug zugehört, hatte dem Geschrei aus dem Volksempfänger gelauscht, dem Geplärre von Führer, Volk und Blut und Boden und vom Endsieg. Und jetzt war er in ihr kleines Dorf gekommen, der Krieg.

Vom Vater, der zu den Soldaten gemusst hatte, mitten in der Erntezeit, hatten die Kinder schon lange nichts mehr gehört. Und die Mutter war seit drei Tagen weg. Sie hatte gespürt, dass die Front immer näher kam und deshalb die alte Resi, den einzigen Gaul, der noch im Stall stand, vor den Karren gespannt. Dann rief sie die Kinder in die Stube und sagte ihnen, dass sie Oma und Opa holen wolle, die ein paar Dörfer weiter im Osten lebten.

»Wenn’s sein muss, binde ich sie auf dem Karren fest«, sagte sie noch und lachte, weil sie die Sturheit ihrer Eltern kannte. So mir nichts dir nichts würden sie nie ihr Häuschen verlassen. Sie hatten den letzten Krieg überlebt und würden auch diesen überstehen, so war ihre Meinung.

»Aber nicht mit mir!«, sagte die Mama noch, fasste Mathilde an den Schultern und blickte ihr fest in die Augen. »Bis ich mit Oma und Opa zurück bin, bist du die Herrin auf dem Hof, meine Große. Du musst auf deine kleine Schwester aufpassen – versprichst du mir das?«

Mathilde nickte ernsthaft. »Und du musst auch auf Svetlana hören. Sie kümmert sich um euch und bleibt bei euch, bis ich zurück bin.«

Svetlana war die Magd, die letzte Angestellte, die noch auf dem Hof lebte, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Sie stand neben der Tür und sagte: »Ja, ja, Frau Koschewski, ich passe schon auf.«

»Aber«, fuhr die Mutter fort, »wenn etwas passiert, wenn unsere Soldaten kommen und den Ort evakuieren, also wenn sie sagen, dass ihr weg müsst, dann geht ihr alle drei mit ihnen, auch wenn ich noch nicht da bin, habt ihr das verstanden?« Svetlana und Mathilda nickten, nur Agnes blickte ihre Mutter mit offenem Mund verständnislos an.

»Warum

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Autorengemeinschaft der Anthologie-Gruppe auf BookRix
Bildmaterialien: Coverbild Heike Helfen; Privatfotos der beteiligten Autoren
Lektorat: Saskia Kruse
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2014
ISBN: 978-3-7368-6261-6

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