Was ist heute nur mit Miri los? Sie ist schon den ganzen Morgen total abwesend und weint andauernd. In der letzten Zeit war sie oft traurig, aber so extrem wie heute war es nie gewesen.
Das fing schon morgens an. Sonst reagiert sie immer recht schnell, wenn ich mich vor ihr Bett stelle, winsel und sie anstupse. Dann zieht sie für gewöhnlich nach einem kurzen Abstecher ins Bad ihren Jogginganzug und Turnschuhe an, schnappt sich meine Hundeleine (die wir eigentlich nie benutzen) und läuft mit mir eine große Runde durch den Wald. Heute konnte ich winseln und stupsen bis zum Gehtnichtmehr - keine Reaktion, Miri schlief einfach weiter.
Als sie sich dann nach einer gefühlten Ewigkeit von selbst aufrappelte, dauerte alles unendlich lange. Und als sie schließlich angezogen war, ging sie ohne meine Leine aus dem Haus. Das wäre noch nicht einmal so schlimm gewesen. Wie erwähnt, benutzen wir die sowieso fast nie. Aber sie beachtete mich die ganze Zeit über gar nicht! Kein Kopftätscheln, keine freundliche Ansprache, kein Stöckchenwerfen. Nichts, absolut gar nichts. Sie trottete gesenkten Hauptes durch den Wald und weinte.
Hm, dabei fühle ich mich heute besonders gut. Ich könnte Bäume ausreißen! Oder umpinkeln. Scherz beiseite. Miri geht es schlecht und das kann ich nicht haben.
In meinem Futternapf hat sich die morgendliche Ration Trockenfutter auch noch nicht eingefunden. Ist aber nicht so schlimm, Hunger habe ich gerade gar nicht. Auch komisch. Aber irgendetwas läuft doch hier ganz gewaltig aus der Spur. Das passt doch gar nicht zu meiner Miri.
Mal gucken, ob sie immer noch auf dem Sofa kauert; ich höre ihr Schluchzen gar nicht mehr. Im Wohnzimmer ist sie nicht, die Terrassentür steht offen und ich sehe Miri im Garten unter der Rotbuche hocken. Onkel Theos Baum. Jetzt weiß ich endlich, woher der Wind weht! Sie ist traurig wegen Theo. Ihr Onkel, dem dieses Haus vorher gehörte und zu dem wir gezogen sind, kurz nachdem Miri mich aus dem Tierheim geholt hatte. Miri hat sich einige Jahre um ihn gekümmert, weil er alleine nicht mehr so gut zurechtkam. Theo war ein toller Mann. Der erste Mann, dem ich vertraut habe und der mich anfassen durfte. Bevor ich im Tierheim war ... aber lassen wir das. Die Erinnerungen sind zu fürchterlich.
Theo nannte mich immer »mein Goldjunge«, obwohl ich eigentlich Ben heiße. Er fand den Namen besonders passend, da ich ein Golden Retriever bin.
Die Rotbuche war sein Lieblingsbaum; dort habe ich mich oft zu ihm gelegt, wenn er im Sommer in deren Schatten in seinem Rollstuhl saß und sich von Miri mit Eistee und selbstgebackenem Kuchen verwöhnen ließ. Theo fand es auch gar nicht ungewöhnlich, mit einem Hund zu reden. Was der mir für Geschichten aus seinem Leben erzählt hat! Das waren schon tolle Zeiten ...
Und er hatte mir einen Teddy geschenkt. Der heißt »Teddy«. Logisch. Einige Menschen finden es albern, einem Hund einen Teddy zu schenken. Weil ein Hund den sowieso nur vollsabbert und kaputtbeißt. Aber ich finde Teddy toll, der hat haargenau die gleiche Farbe wie mein Fell, und ich würde den niemals kaputtbeißen! Nun ja, ein bisschen ansabbern bleibt nicht aus; ich habe schließlich keine Hände, um den zu tragen. Und tragen muss ich den ziemlich oft. Miri und ich machen da immer so eine Art Versteckspiel von. Abends lege ich Teddy in mein Körbchen, welches neben Miris Bett steht. Und morgens, noch vor unserer Gassirunde, verstecke ich den irgendwo im Haus. Das findet Miri unheimlich lustig, wenn sie abends auf die Suche nach Teddy geht, ihn nicht findet und ich ihn dann aus irgendeiner Ecke ziehe, um dann stolz mit ihm Richtung Körbchen zu rennen. Findet ihr das auch lustig? Wahrscheinlich ist das wieder so ein Ding, an dem nur Eingeweihte Spaß haben, und der Rest der Welt findet das unheimlich albern. Wo ich drüber nachdenke - heute habe ich Teddy noch gar nicht versteckt. War aber auch alles so komisch hier.
Ich schweife schon wieder ab. Auf jeden Fall war Miri fürchterlich traurig, als Theo gehen musste. Gestorben ist er. Und gestorben bedeutet weg für immer, das musste ich auch begreifen. Ich konnte ihn doch noch überall riechen - und manchmal meinte ich sogar, ihn spüren zu können. Aber er war weg. Miri hatte viel geweint und zu mir gesagt, nun sei ich alles, was sie noch an Familie habe. Und besonders um die Zeit seines Todestages herum wird Miri jedes Jahr besonders traurig und sitzt oft unter der Rotbuche und denkt an Onkel Theo.
Aber Moment mal! Theo ist doch im Sommer gestorben, als es richtig heiß war. Und mittlerweile ist die Jahreszeit, in der wir schon seit ein paar Tagen den Kaminofen im Wohnzimmer angefeuert haben. Da passt doch was nicht. Miri müsste es da draußen auch kalt sein in ihrem dünnen Jogginganzug. Jetzt sitzt sie sogar direkt auf dem feuchten Boden. Ich laufe mal lieber zu ihr; vielleicht kann ich sie doch ein wenig ablenken und aufheitern.
Herrje, sie weint schon wieder so fürchterlich! Was ist nur los mit ihr? Ich würde ihr so gerne helfen und die Tränen wegschlabbern ... Hm, das klappt gerade gar nicht. Als würde ich durch sie hindurch lecken. Was ist das nur? Wenn ich es mir überlege: So war es auch heute Morgen, als ich sie im Bett angestupst habe. Irgendwie bin ich gar nicht auf Widerstand gestoßen, so als hätte ich ins Nichts gestupst. Kein Wunder, dass sie davon nicht wach geworden ist. Jetzt bin ich aber auch irritiert.
Ich schaue in die Richtung, in die sie immer wieder ihren Körper wiegt und verzweifelt dabei schluchzt. Da krönt auf einmal ein Holzkreuz einen kleinen Erdhügel. Und darauf steht: »Ben«. Warte mal! Warum kann ich überhaupt lesen? Und was mich noch mehr interessiert - warum steht da mein Name drauf? Das ist ja fast wie auf dem Friedhof, wo wir Onkel Theo regelmäßig besuchen. Das kann doch nicht ...
Wirre Gedanken kreisen durch meinen Kopf. Mir geht es heute gut, wie schon lange nicht mehr ... ich habe keinen Hunger ... gepinkelt habe ich auf der Gassirunde auch nicht, obwohl meine Blase sonst morgens fast platzt ... Miri reagiert gar nicht auf mich ... ich kann sie nicht berühren ...
Unter ihrem Schluchzen höre ich »Ben, mein Schatz - kannst du meine Entscheidung verstehen? Ich wollte dich nicht unnötig leiden lassen.«
Plötzlich prasselt die Erinnerung auf mich nieder. Gestern waren wir beim Arzt, meinem Arzt. Es schwirrten Gesprächsfetzen durch den Raum, die ich nicht verstanden habe. »Inoperabel«, »Metastasen« und es war die Rede davon, den richtigen Zeitpunkt zu finden, an dem man mit Medikamenten die Schmerzen nicht mehr länger eindämmen könnte und sollte ... und von einer »richtigen Entscheidung«. Kurz danach wurde es langsam dunkel um mich herum und ich bin in Miris Armen eingeschlafen. Ganz tief und fest.
Ich bin verstört. Wenn ich könnte, würde ich jetzt wohl auch weinen. Aber auf einmal sehe ich ein Stück entfernt von uns einen wunderschönen riesigen Regenbogen. Mitten in unserem Garten. Er schillert und funkelt, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe. Gebannt beobachte ich dieses überwältigende Farbenspiel und merke erst gar nicht, dass jemand über den Regenbogen läuft. Verrückt! Und was noch verrückter ist: Das ist Onkel Theo! Er läuft, sitzt gar nicht in seinem Rollstuhl. Dabei winkt er und ruft mir strahlend zu: »Mein Goldjunge! Komm her zu mir! Deine Zeit ist gekommen.« Und auf einmal verstehe ich alles und möchte auch zu Theo laufen. Ein fast unwiderstehlicher Drang.
Aber der Blick auf Miri hält mich zurück. Sie scheint von dem Schauspiel gar nichts mitzubekommen, sondern schluchzt weiter in Richtung des Erdhügels: »Mein Liebling, gib mir doch bitte irgendein Zeichen. Damit ich weiß, dass du verstehst und dass ich das Richtige getan habe.«
Wieder höre ich Theo verlockend nach mir rufen. Aber ich muss noch etwas erledigen! Für Miri. Ein Zeichen. Damit sie versteht, dass alles gut ist. Ich weiß auch schon was. Teddy!
Schnell renne ich ins Haus, um ihn aus der Ecke hinter der Kommode im Flur hervorzuholen, wo ich gestern versteckt hatte. Bevor wir zum Arzt gefahren sind. Mist, da ist wieder dieses Problem! Ich kann Teddy nicht packen und beiße durch ihn hindurch. Immer wieder. Jetzt muss ich mich aber mal ganz stark konzentrieren. Ich muss das schließlich für Miri machen! Und auf einmal gelingt es mir - ich hebe Teddy auf, laufe schnell mit ihm zu Miris Bett und lege ihn mitten auf ihr Kopfkissen. Ja, dieses Zeichen wird sie verstehen.
Sogar bis hier ins Haus höre ich Theo mittlerweile nach mir rufen. Ich muss zu ihm gehen, will zu ihm gehen. Im Garten halte ich bei Miri an, die immer noch auf dem Rasen hockt. Ich muss mich doch von ihr verabschieden. Ich fixiere sie intensiv mit meinem Blick, und aus irgendeinem Grund hört sie plötzlich auf zu weinen. Theo steht inzwischen direkt neben mir und streichelt mich. Es ist so schön, ihn zu spüren. Ich fühle, dass ich jetzt ganz zu ihm gehöre. Aber einmal muss ich mich noch konzentrieren, so wie eben bei Teddy. Ich halte meinen Kopf ganz dicht an Miris und drücke meine Schnauze an ihre Wange. Und jetzt spüre ich die Wange! Über Miris Gesicht huscht ungläubiges Staunen. Sie scheint mir direkt in die Augen zu blicken und haucht »Ben«. Der Anflug eines Lächelns umspielt ihre Züge. Dieser Augenblick wird für die Ewigkeit reichen.
Gemeinsam mit Theo trotte ich zum Regenbogen ...
Tag der Veröffentlichung: 11.11.2014
Alle Rechte vorbehalten