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Seelentanz

Wilhelm strich Mathilda zärtlich über die Wange. „Weißt du, Tildchen … Es gibt nichts Schöneres für mich, als hier mit dir zu sitzen. Du und ich, ganz allein. Diese Momente sollst du für immer in deinen Gedanken und im Herzen aufbewahren. Denn was man im Herzen trägt, wird nie ganz sterben.“

Gemeinsam saß das alte Ehepaar, das schon so viele Höhen und Tiefen im Leben durchschifft hatte, in der Abenddämmerung auf der Terrasse hinter dem kleinen Holzhaus am See, welches sie seit über einem Vierteljahrhundert ihr Eigen nannten. Idyllisch und abgeschieden lebten sie hier am Waldesrand. Sie vermissten das Leben in der Stadt nicht. Weder die Menschenmengen, die in ihnen zumeist ein Gefühl von Unbehagen und Unsicherheit auslösten, noch den Lärm und die Hektik. Dafür nahmen sie ein Dasein mit weniger Komfort und Luxus gerne in Kauf. Sie waren einander genug, gaben sich Halt, Kraft und Zuversicht.

Die einzigen Menschen, die sie hier aus der Ferne sahen, waren diejenigen, die gelegentlich auf der anderen Seite des Sees auf dem kleinen Weg spazierten. Auf ihrer Seite des Sees wurde dieser Weg nicht fortgesetzt, sondern es führte nur ein kleiner und verlassener Waldweg zu ihrer Hütte.

Sie hatten sich hierhin zurückgezogen, nachdem sie an dem grausamsten Schicksalsschlag, den das Leben für Eltern bereithält, fast zu zerbrechen drohten. Dem Unfalltod ihrer Zwillinge Jonas und Tim, welchen es nicht einmal vergönnt war, das Schulalter zu erreichen.

 

Mathilda schmiegte sich auf der Gartenbank an ihren Mann und zog dabei die dünne Wolldecke enger um ihre Schultern. Sie fröstelte. Daran war nicht nur die leichte kühle Brise schuld, für die der See an diesem Spätsommerabend sorgte. Sie spürte in der letzten Zeit vermehrt Wilhelms Bemühungen, sie auf das Unausweichliche vorzubereiten. Den nahenden Tod, den seine Krankheit unweigerlich mit sich brachte. Mathilda wollte das Unabwendbare gedanklich jedoch weit von sich fortschieben. Allein die Vorstellung an ein Leben ohne ihren geliebten Mann schnürte ihr die Kehle zu und ließ eiskalte Klauen nach ihrem Herzen greifen.

„Pscht, Willi ...“, murmelte sie daher gequält und eine einzelne Träne bahnte sich den Weg an ihrer Wange herunter, um im groben Hemdstoff an Wilhelms Brust zu versickern. „Bitte jetzt nicht davon reden. Lass uns den Moment genießen und erzähl mir etwas Schönes“, bat sie ihn.

Sie liebte die Geschichten ihres Mannes. Man könnte meinen, sie müsste sich im Laufe der Jahrzehnte an ihnen sattgehört haben, aber sie hing stets noch genauso bewundernd an Wilhelms Lippen wie am Anfang ihrer Beziehung. Überhaupt in jeder Hinsicht nahm Mathilda dankbar die Worte und den Rat ihres Mannes an; ein Betrachter würde wohl sagen, dass ihr Mann die Hosen anhatte. Allerdings würde eine derartige Aussage der Beziehung nicht gerecht, denn die beiden waren ein eingespieltes Pärchen, jeder glücklich und zufrieden mit seiner Rolle. Und Mathilda hatte nun einmal nicht so eine schnelle Auffassungsgabe wie ihr Mann, welcher ihr aber stets in aller Seelenruhe die Dinge nahebrachte. Nie spielte er den Oberlehrer oder machte sich gar lustig über seine etwas einfältige Frau. Sie standen zueinander, sie hatten ehrlichen Respekt voreinander, sie liebten einander.

Umso grausamer war der Gedanke an das Lebensende, welches mit Siebenmeilenstiefeln auf Wilhelm zuschritt.

Mathilda lag nachts oft lange wach und betrachtete im gedämpften Schein der Nachttischlampe die vertrauten und geliebten Gesichtszüge ihres Mannes, als müsste sie sich diese noch einmal ganz genau einprägen. In diesen Stunden hing sie ihren trüben Gedanken nach, verfiel in Melancholie, Hoffnungslosigkeit und Wut. Ab und zu auch einfach in tiefe Dankbarkeit, dass sie ihr Leben mit so einem wundervollen Mann hatte teilen dürfen. In diesen Stunden konnte sie ihren Tränen stets freien Lauf lassen; tagsüber wollte und musste sie stark sein für ihren Mann.

 

Besonders eine von Wilhelms Erzählungen hatte Mathilda in schweren Zeiten Kraft gegeben und faszinierte sie noch heute.

Als das Ehepaar nach dem Verlust der Söhne den ersten Sommer in dem Haus am See verbrachte, konnten die beiden über dem See ein atemberaubendes Lichterspiel beobachten. Tief in ihrem Inneren wusste Mathilda, dass es sich dabei um das Liebesspiel von Glühwürmchen handelte. Aber die Erklärung ihres Mannes, dass es sich dabei um ein Schauspiel verstorbener Seelen handelte, die dadurch den Lebenden bekunden wollten, wie wohl sie sich im Jenseits fühlten und sich für ihre Lebzeit auf Erden bedanken wollten, gefiel ihr entschieden besser. Das hatte etwas Versöhnliches und Befriedigendes. Und stets machten Wilhelm und sie einen regelrechten Wettbewerb daraus, die hellsten unter den Lichtern zu bestimmen, um diese den Seelen ihrer Jungen zuzuschreiben. Dabei gedachten sie Tim und Jonas in einem unbeschreiblichen Gefühl von Liebe, Sehnsucht und Melancholie, welches ihnen zu einem Seelenfrieden verhalf, den sie nach der grausamen Fügung des Schicksals noch nicht kennengelernt hatten. Um dieses Schauspiel uneingeschränkt und intensiv von ihrer Terrasse aus genießen zu können, hatten sie sogar die Bäume direkt am Seeufer fällen lassen und zu Kaminholz verarbeitet.

Mit Bedauern und Wehmut beobachteten sie im Spätsommer ein allmähliches Abebben dieses Lichterspiels, fanden aber stets tröstliche Zuversicht in der Gewissheit, dass der nächste Sommer dieselbe Darbietung für sie bereithalten würde.

 

Wenige Wochen später war es dann so weit. Wilhelm musste seinen letzten Weg antreten und Mathilda alleine zurücklassen. Einsam, hilflos und verloren fühlte sie sich, ohne ihren geliebten Mann, ihren Fels in der Brandung. Ihr einziger Lebensinhalt war nun auch ausgelöscht. Kummer und Schmerz drohten sie aufzuzehren, musste sie doch ein ähnliches Schicksal wie in jüngeren Jahren erneut durchleben. Zwar war sie dieses Mal darauf vorbereitet gewesen, was das Ganze aber nicht erleichterte, da sie nun niemanden mehr an ihrer Seite hatte, der sie auffing. Ihr Mut zusprach. Sie tröstete und im Arm hielt, wenn ein Tränenstrom sie fortzutragen drohte. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Mathilda völlig auf sich allein gestellt.

Lediglich das Versprechen am Sterbebett ihres Mannes hielt sie aufrecht und bewahrte sie davor, dumme Gedanken in die Tat umzusetzen. Ständig sah sie Wilhelm vor sich im Bett liegen, wie er mühsam seine letzten bewussten Sätze an sie richtete: „Tildchen, irgendwann sehen wir uns wieder. Aber den Zeitpunkt dafür bestimmen nicht wir. Kämpf so lange weiter - für dich, für mich, für Jonas und Tim. Versprich es mir. Wir werden immer bei dir sein und auf dich aufpassen. Ich werde dir ein Zeichen schicken. Tildchen, ich liebe dich ...“

Seitdem befand sich Mathilda in einem Dämmerzustand. Dieser wurde nicht nur durch das dumpfe Gefühl der unendlichen Trauer hervorgerufen. Nein, Mathilda hatte sich auch angewöhnt, die vom Hausarzt verschriebenen Beruhigungsmittel in recht großzügiger Dosierung einzunehmen und mit reichlich billigem Wein herunterzuspülen. Die dämpfende Wolke, die sie dadurch einhüllte, ließ ihr ihren Zustand erträglicher erscheinen. Der gleiche Trugschluss wie früher, nach dem Tod ihrer Zwillinge. Doch damals hatte Wilhelm sie behutsam aus ihrer betäubenden Lethargie herausgeholt, ihr den übermäßigen Alkohol- und Tablettenkonsum abgewöhnt. Ihr klargemacht, dass Jonas und Tim von da aus, wo sie jetzt wären, stets ein Auge auf ihre Eltern hätten und bestimmt nicht miterleben wollten, wie sich ihre Mutter selbst zugrunde richtet.

Später gönnten sie sich nur am Samstagabend gemeinsam eine Flasche Rotwein. Und Wilhelm durfte dazu seine geliebte Pfeife rauchen. Dies war ein schönes Ritual geworden, welches sie das ganze Jahr über auf ihrer überdachten und windgeschützten Terrasse zelebrierten. Im Sommer bis in die späte Nacht hinein leichtbekleidet, im Winter dick eingemummelt mit einem Heizstrahler an ihrer Seite. So wollten sie alt werden - so sind sie alt geworden.

 

Eines Nachts wachte Mathilda auf, nachdem Wilhelm ihr im Schlaf erschienen war. Im Traum hatten sie miteinander auf der Gartenbank gesessen und gemeinsam zu den Lichtern über dem See geblickt. Das Gefühl von Geborgenheit und Vertrautheit hielt Mathilda noch in ihrem Bett umfangen. Der Traum war so intensiv gewesen, dass Mathilda meinte, die Körperwärme ihres Mannes zu spüren und sogar seinen vertrauten Pfeifengeruch wahrzunehmen. Schnell wollte sie wieder einschlafen und in diesen Traum zurückkehren. Da der Schlaf sich aber nicht wieder über Mathilda senken wollte, entschied sie sich, diesem ersehnten Zustand mit einer weiteren Schlaftablette auf die Sprünge zu helfen.

Als sie auf dem Nachttisch neben der Tablettenschachtel die noch halbvolle Weinflasche vom Vorabend erblickte, fasste sie spontan einen anderen Entschluss. Seit Wilhelms Tod hatte sie noch nicht wieder auf der Terrasse gesessen. Vielleicht würde sie jetzt seine Nähe dort besonders intensiv spüren können. Zwar wären zu dieser Jahreszeit keine Lichter mehr über dem See zu sehen wie in ihrem Traum, aber sie würde das Windlicht auf dem Terrassentisch anzünden und die Flasche Wein leer trinken. Danach könnte sie bestimmt wieder einschlafen.

Sie zog ihren Morgenmantel über, schlüpfte in ihre Hausschuhe, wickelte sich die dicke Bettdecke um den Körper und schlurfte mit der Weinflasche vorsichtig aus dem Haus heraus auf die Terrasse.

Sie ließ sich schwerfällig auf die Bank fallen. Der Nachthimmel war bedeckt, sodass der Mond und die Sterne kaum eine Chance hatten, ein wenig Aufhellung in das tiefe Schwarz der Nacht zu bringen. Daher tastete Mathilda in der kleinen Schublade unter der Tischplatte nach dem Feuerzeug, mit dem sie das Windlicht anzünden wollte, wobei sie auf Wilhelms Pfeife stieß. Nahezu ehrfürchtig betastete sie dieses Relikt ihres Mannes, drückte es abwechselnd fest an ihren Körper und sog den Geruch tief ein. Besonders intensiv spürte sie die Präsenz ihres Mannes.

Plötzlich hielt Mathilda in ihren Bewegungen inne. Erst jetzt nahm sie etwas außerhalb der Terrasse wahr und fixierte einen Punkt in der Ferne. Sie rieb sich ungläubig ihre Augen. Sie blinzelte, kniff die Augen zusammen, presste ihre Handballen fest dagegen, und als sie die Augen erneut öffnete, entfuhr ihr ein staunendes „Ohh ...“ Zugleich kamen ihr Wilhelms Worte wieder in den Sinn: Ich werde dir ein Zeichen schicken.

Überwältigt starrte sie auf drei Lichter, nur knapp über dem See. Viel größer und intensiver als alle anderen Lichter, die sie jemals zusammen mit ihrem Mann beobachtet hatte, strahlten sie ihr entgegen. Das war eindeutig: Willi und ihre Jungen waren da! Für sie! Nur für sie!

Aufgeregt sprang sie auf und lief einige Male über die finstere Terrasse. Sie setzte sich wieder, nahm ein paar tiefe Schlucke aus der Weinflasche und blickte glückselig auf die drei Leuchtzeichen. Ergriffen von dem Anblick liefen ihr Tränen die Wangen hinunter und sie gab sich in tiefer Demut und Dankbarkeit der Vorstellung hin, dass dort ihre drei Liebsten für sie leuchteten.

Nach einer Weile begann Mathilda, mit den Lichtern zu sprechen. So, als säßen die drei geliebten Personen direkt vor ihr. Ein lange nicht empfundenes Wohlgefühl bemächtigte sich ihrer und ließ sie die Kälte um sich herum nicht spüren. Die Minuten wurden zu Stunden.

Aus ihrem entrückten Zustand wurde sie erst gerissen, als plötzlich eins der Lichter erlosch. Mitten im Gespräch. Einfach so von jetzt auf gleich. Weg. Wie sollte sie das deuten? Als Ablehnung des soeben von ihr Erzählten? Als Abwendung? Unruhe machte sich in ihr breit. Schnell griff sie zu der fast vergessenen Weinflasche und trank sie in großen Schlucken leer. Vielleicht würde das Licht gleich wiederkommen. Bestimmt sogar. Ganz sicher. Sie musste nur die Ruhe bewahren, alles würde wieder gut werden.

Aufgeregt und sehnsüchtig wartete sie auf das Wiedererscheinen des verloschenen Lichts. Allmählich wurde sie sich der Kälte bewusst, der ihr Morgenmantel nicht viel entgegenzusetzen hatte. Gerade, als sie sich wieder in die schon lange auf den Boden gerutschte Bettdecke hüllen wollte, erlosch das zweite Licht.

„Nein!“ Ein erstickter Schrei entrang sich ihrer Kehle, als sie aufsprang und in der Dunkelheit zum Seeufer stolperte. In einer Geste der Verzweiflung streckte sie die Arme in Richtung des einzigen verbliebenen Lichts aus, als wollte sie es daran hindern, sie auch zu verlassen. Es schien doch so nah, so greifbar! Sie stützte sich am vordersten der Baumstümpfe ab und setzte die Füße ins Wasser. „Wilhelm, bleib bei mir!“

Mathilda lief dem Licht panisch weiter entgegen und ignorierte die eisige Kälte, mit der das Wasser nach ihr griff, sowie die eiskalte Schwere, mit der sich der getränkte Bademantel um ihren Körper schmiegte. Sie bemühte sich, den Kopf über Wasser zu halten, um das Licht nicht aus den Augen zu verlieren, während sie sich zunächst laufend, später unbeholfen schwimmend dem Licht näherte.

Als Mathilda diesem aussichtslosen Kampf erlag und unter die Wasseroberfläche gezogen wurde, sah sie plötzlich Willi. Er erschien ihr in dem allumfassenden Dunkel in einem goldenen, strahlenden Lichtschein und breitete seine Arme für sie aus: „Komm zu mir, Tildchen.“

Glücklich, mit einem seligen Lächeln im Gesicht, öffnete auch sie ihre Arme und ließ sich sinken …

 

Früh am nächsten Morgen, auf der gegenüberliegenden Seite des Sees. Die beiden Bauarbeiter stapften in der Morgendämmerung auf die kleine gesicherte Baustelle zu, an der sie heute das abgesackte Pflaster des Gehwegs am See ausbessern sollten.

Plötzlich stieß Hannes seinen Kollegen an und wies mit dem Arm Richtung Baustelle: „Gut, dass hier zu dieser Jahreszeit kaum Leute unterwegs sind. Da sind doch heute Nacht tatsächlich gleich zwei der drei Warnleuchten ausgefallen ...“

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Bildmaterialien: pixabay - KleeKarl (Public Domain Dedication)
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2014

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