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Herzensschlüssel

Werner ließ sich auf seinem Stuhl am Küchentisch nieder und blätterte lustlos durch den Stapel Post, den er soeben aus dem Briefkasten geholt hatte. Das Übliche, Rechnungen und Werbeprospekte.

Doch plötzlich hielt er inne und blickte erstaunt auf einen Briefumschlag, der sich von den anderen abhob. Und zwar dadurch, dass seine Adresse dort in einer wunderschönen Handschrift geschrieben stand und nicht wie gewohnt maschinell aufgedruckt war. Neugierig wendete er den Brief, auch dort war kein Absender zu finden. Die Schrift kam ihm ebenfalls nicht bekannt vor. Aber wie lange hatte er schon nichts Handschriftliches von anderen Menschen mehr gesehen, geschweige denn so einen Brief bekommen? Das war wohl der natürliche Lauf der Dinge, dass man im Alter recht isoliert lebte, wenn man in seinem Leben keine Familie gegründet hatte. Und auch sonst nie im besonderen Maße Freundschaften und Kontakte gepflegt hatte.

Er hatte fest im Berufsleben gestanden und war sicherlich ein angesehener Kollege gewesen, aber zwischenmenschliche Beziehungen waren nie sein Ding. Mit den Frauen hatte es meist nur zu flüchtigen Bekanntschaften gereicht, wenn man einmal von einer knapp zweijährigen Ehe absah. Beziehungsweise dem Versuch einer Ehe, der eigentlich nur ein Bestreben danach war, normal sein zu wollen. Darum hatte er besonders in ganz jungen Jahren gekämpft, wobei das einzig Unnormale an ihm sein afroamerikanisches Aussehen war. Jetzt fiel er dadurch natürlich schon lange nicht mehr auf, aber in seiner Kindheit in der Nachkriegszeit war er damit der Schandfleck schlechthin gewesen. Der Sohn einer deutschen Frau, der doch offensichtlich nicht von ihrem Ehemann stammen konnte, der zu dem Zeitpunkt im Krieg war und nie mehr wiederkehrte. Eins der zahlreichen Kuckuckskinder dieser Zeit; leider durch sein Äußeres gebrandmarkt.

Gespannt öffnete Werner den Briefumschlag und ging dabei vorsichtig mit einem Messer zu Werke. Diesen Brief umgab eine Aura des Besonderen und die wollte er nicht durch achtloses Aufreißen zerstören. Als er den gefalteten Zettel aus dem Inneren befreite, rutschte daraus ein kleiner silberner Schlüssel hervor und landete klirrend auf der Tischplatte vor ihm. Werner betrachtete den augenscheinlich sehr alten Schlüssel und ihn durchfuhr ein Blitz der Erinnerung. „Ach Werner, Unsinn, das kann doch nicht sein“, brummelte er sich selber zu und schalt sich gedanklich einen alten Narren. Zitternd öffnete er den gefalteten Bogen und blickte auf folgende Zeilen:

 

Lieber Werner,

hier ist dein Schlüssel, vielleicht möchtest du mal wieder nachschauen.

Meinen trage ich nach wie vor an meinem Herzen ...

 

Das war alles. Eine Unterschrift stand nicht darunter, aber die stattdessen gezeichnete Rose und der Inhalt dieser Nachricht sprachen für sich.

„Röschen“, kam es Werner wehmütig über die Lippen. Während die Zeilen, auf die er gebannt starrte, vor seinen Augen allmählich verschwammen, brach eine Flut von Erinnerungen über ihn herein …

 

Als Werner zehn Jahre alt war, starb seine Mutter. Obwohl nie über die Todesursache gesprochen wurde, erschloss es sich ihm später, dass sie den Freitod gewählt hatte. Dafür war sicherlich auch er verantwortlich beziehungsweise die Schmach, mit der sie durch seine Existenz leben musste. Erstaunlicherweise erklärten sich aber

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: www.pixabay.com
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2014
ISBN: 978-3-7396-1751-0

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