Kaum war Tobias seit einer knappen Stunde bei seinen Eltern zu Hause, ging ihm sein Stiefvater Rolf schon wieder gehörig auf die Nerven. Dafür brauchte dieser nicht einmal wirklich etwas zu tun; es reichte schon die bloße Anwesenheit, die stets eine Aura von Blasiertheit und Selbstgefälligkeit umgab.
Tobias stand kurz vor seinem Abitur und war auf einem Elite-Internat in einiger Entfernung, in Hamburg, untergebracht. Es machte ihm nicht einmal etwas aus, dass er dahin offensichtlich von seinem Stiefvater, dem einflussreichsten Juristen der Stadt mit angesehener Kanzlei, abgeschoben worden war. So standen sie sich zumindest nicht ständig mit ihren völlig konträren Lebensansichten und Wertvorstellungen im Weg und Rolf konnte sich überdies noch in seinen Prahlereien gegenüber seinen Geschäftspartnern ergehen, auf was für einer erlesenen Lehranstalt sein Sohn doch verweilte. Lediglich die tiefe emotionale Bindung zu Anita, seiner Mutter, ließ Tobias alle paar Wochen ein Wochenende zu Hause verbringen.
Die drei saßen gemeinsam am Abendbrottisch und Tobias spulte wie von seinem Vater erwünscht seine durchaus beachtlichen Lernerfolge der letzten Zeit herunter. Dieses nahm Rolf wohlwollend zur Kenntnis; stand so doch einem erfolgreichen Jurastudium nichts im Wege, was der Grundstein zur Kanzleiübernahme sein sollte, wenn Rolf sich irgendwann in den verdienten Ruhestand begeben würde. Als Tobias gerade anfing, über seine in der übernächsten Woche beginnende Vernissage zu berichten, die in Hamburg stattfinden würde, fuchtelte Rolf mit einer Hand in der Luft herum, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen. „Deine Kleckserei interessiert mich nicht, das weißt du doch. Du solltest dich auf die wichtigen Dinge im Leben konzentrieren und nicht riskieren, dir durch zu viel Zeitverschwendung auf derartige Belanglosigkeiten deinen Abiturschnitt zu versauen.“
Anita warf schüchtern ein: „Aber mich interessiert das …“, und verstummte sogleich, als sie Rolfs missbilligenden und tadelnden Blick auffing. Sie senkte ihren Kopf und murmelte: „Da können wir nach dem Essen ja noch in Ruhe drüber reden“ und machte sich daran, die zweite Hälfte ihres Brötchens mit Margarine zu bestreichen. Allerdings verfehlte ihr Messer das Ziel, da Rolf schnell über den Tisch gegriffen und ihr die Hälfte vom Teller gerissen hatte, begleitet von den Worten: „Eine sollte reichen. Du bist in letzter Zeit ziemlich fett geworden. Denk bitte mal an den Empfang bei Dr. Schlüter übernächsten Samstag. Soll ich mich da mit dir blamieren, wenn dein Kleid aus allen Nähten platzt?“
Tobias sprang ruckartig von seinem Stuhl hoch und herrschte seinen Stiefvater an: „Sag mal, spinnst du? Wie kannst du Mama so beleidigen? Und noch dazu mit so einem Blödsinn … Mama hat eine Top-Figur - um die würde der Großteil meiner Klassenkameradinnen sie sogar noch beneiden!“
Anita packte ihren Sohn beschwichtigend am Arm: „Ach, lass doch. Papa hat schon recht. Ich habe in letzter Zeit wirklich zwei oder drei Kilos zugelegt.“
„Warum verteidigst du den auch noch? Das ist doch unglaublich, wie der mit dir umgeht.“ Mit diesen Worten verließ er den Küchentisch. „Mir ist der Appetit vergangen – schönen Abend noch!“
Am nächsten Morgen kam Tobias erst in die Küche, als er den BMW seines Stiefvaters die lange Hofeinfahrt des Hauses herunterrollen sah. Seine Wut vom Vorabend war nur unwesentlich verflogen, auf das „Guten Morgen, mein Junge“ zeterte er sofort los: „Mensch Mama, warum lässt du dir so etwas von dem gefallen? Das geht doch gar nicht.“
„Ach Tobi, du weißt doch wie er ist. Der meint das nicht so. Außerdem hat der viel Stress“, versuchte seine Mutter abzuwiegeln.
Das ergebene Verhalten seiner Mutter brachte Tobias sogleich wieder auf 180. „Der meint das nicht so? Der meint das genauso, wie er es sagt. Und hat seinen Spaß daran dich zu demütigen. Und du? Du schluckst das alles, nimmst ihn sogar noch in Schutz und als Belohnung machst du abends für ihn die Beine breit, quasi als Stressbewältigung.“ Über sich selber erschrocken blickte Tobias seine Mutter an, die aussah, als wollte sie im nächsten Moment in Tränen ausbrechen. Dieser Anblick verriet Tobias auch, dass sie unlängst geweint haben musste. Kleine gerötete Augen schauten ihn hilflos flackernd an. Er trat darauf sogleich an seine Mutter heran, nahm sie fest in den Arm und murmelte: „Entschuldige bitte, Mama. Das ist mir jetzt in meiner Wut so herausgerutscht. Aber der macht mich so aggressiv, da erkenne ich mich selbst nicht wieder.“
„Schon gut, mein Junge“, schluchzte Anita leise. „Er ist halt nicht einfach ... etwas eigen. Ich komme damit schon klar, nur manchmal wird es auch mir ein wenig zuviel. Das vergeht wieder …“
Tobias hielt seine Mutter noch ein Weilchen wortlos im Arm und löste sich erst von ihr, als er spürte, dass ihr Körper nicht mehr von unterdrückten Schluchzern geschüttelt wurde.
Sie setzten sich gemeinsam an den Küchentisch, Tobias nahm die Hände seiner Mutter und redete behutsam auf sie ein: „Mama, mal ganz im Ernst – warum erträgst du das alles? Ich bin ja nur selten hier, aber das wird doch jedes Mal schlimmer.“
„Ach Tobi“, seufzte Anita auf. „Wir müssen Rolf dankbar sein. Er hat so viel für uns getan und uns dies alles hier ermöglicht. Erinnerst du dich nicht mehr, wie schlecht es uns vorher ging?“
Doch, an früher erinnerte Tobias sich. An die Zeiten vor Rolf. Das war jetzt gut acht Jahre her. Tobias wohnte damals mit seiner Mutter in einem kleinen Haus am Waldrand. Die Bezeichnung „Haus“ war hier eher geschmeichelt, es handelte sich um eine Hütte in recht baufälligem Zustand, in der sie entsprechend gegen geringe Mietkosten wohnen konnten. Von Anitas vorheriger Beziehung war ihr neben den verblassenden Malen körperlicher Misshandlung nur ein großer Haufen Schulden geblieben. Dieser Mann war nicht Tobias’ leiblicher Vater; diesen hatte er nie kennengelernt, da er bereits vor seiner Geburt verschwunden war. Obwohl Anita eine intelligente Frau war, hatte sie einfach kein glückliches Händchen bei der Auswahl ihrer Männer. Daher stilisierte sie Rolf wohl auch zu so einem Glücksgriff hoch. Er trank nicht, er schlug sie nicht und er arbeitete. Mehr noch, er war als wohlhabend zu bezeichnen und ein angesehenes Mitglied der „besseren Gesellschaft“. Jetzt lebten sie auf einem nahezu herrschaftlichen Anwesen und standen nichts aus.
Tobias’ Gedanken schweiften zurück zu einem Tag in den zwei Jahren, in denen er mit seiner Mutter allein in dem alten Häuschen wohnte …
Anita holte Tobias nachmittags von der Schule ab. Er besuchte eine Ganztagsschule, da Anita tagsüber viel arbeitete, um irgendwie gegen den Schuldenberg anzukämpfen und ihr Überleben zu sichern. In den frühen Morgenstunden trug sie die lokale Tageszeitung aus, und nachdem sie Tobias danach für den Tag vorbereitet und in der Schule abgesetzt hatte, verbrachte sie den Tag bei verschiedenen Putzstellen.
Es war schon empfindlich kalt geworden, da der Winter mit den ersten Kälteschüben Einzug hielt. Als sie auf dem Nachhauseweg in der Armenküche Halt machten, um eine warme Mahlzeit einzunehmen, berichtete Anita strahlend: „Tobi, mein Schatz, ab jetzt wird für uns alles besser werden. Mami hat heute eine ganz tolle neue Stelle angeboten bekommen. Bei einem Anwalt hier in der Stadt, Dr. von Gützel, der in einem riesigen schönen Haus wohnt.“
Tobias schaute seine Mutter eifrig kauend an: „Ist der so richtig reich? Gibt der dir mehr Geld fürs Putzen als die anderen?“
Anita grinste. „Ja, der ist wohl richtig reich. Und ich werde bei dem nicht nur putzen, der stellt mich als Haushälterin ein.“
Auf den fragenden Blick ihres Sohnes führte sie aus: „Das heißt, ich bin da für alles verantwortlich. Natürlich muss ich das ganze riesige Haus sauber halten, außerdem kümmere ich mich noch um seine Wäsche und seinen Garten, kaufe für ihn ein und bereite ihm auch das Essen vor.“
Tobias sah von seinem Essen auf und bemerkte sachlich: „Hm, also machst du das, was du zu Hause auch machst. Und bekommst dafür noch Geld. Das ist toll!“ Anita bestätigte dies glücklich lächelnd.
Abends machten sie mit Decken das Nachtlager auf dem abgewetzten Sofa im Wohnzimmer bereit. Wenn es kalt war, schliefen sie hier immer gemeinsam, da in diesem Raum der alte Holzofen stand und eine angenehme Wärme spendete. Die anderen Räume waren nicht beheizbar. Tobias mochte diese Winterabende am liebsten. Sie kuschelten sich immer zusammen aufs Sofa, spielten Spiele oder erzählten sich selbsterfundene Geschichten. Und fast jeden Abend setzten sie sich gemeinsam an das Klavier, das alte Erbstück von Anitas Oma. Eines der wenigen mehr oder minder wertvollen Stücke, welches Anita über all die Jahre vehement verteidigt hatte und so verhindern konnte, dass es wie so vieles andere aus ihrem Besitz von ihrem Partner gegen wenig Geld für Alkohol oder Spielautomaten versetzt wurde. Tobias liebte es, wenn seine Mutter Klavier spielte und dazu sang – mit der schönsten Stimme, die es auf dieser Welt gab. Zumindest für ihn.
Nach ein paar Monaten als Hauswirtschafterin für Rolf hatte Anita sich zunächst zu seiner Geliebten entwickelt und nach einem knappen Jahr geschah das Unfassbare und er machte ihr einen Heiratsantrag. Ja, er hatte wohl tatsächlich Gefallen an ihr gefunden und sich in sie verliebt, auf seine Art und Weise. Und da sie neben einer umwerfenden Schönheit auch über Umgangsformen und einen angemessenen Intellekt verfügte, konnte er scheinbar darüber hinwegsehen, dass sie all dieses in der Vergangenheit wohl eher nicht einzusetzen wusste und daher auf den ersten Blick als nicht standesgemäß erschien. Nun ja, er wurde auch nicht jünger und hatte es bislang nicht geschafft, eine Ehefrau zu finden und den obligatorischen Stammhalter zu zeugen. Vielleicht passte da sogar Tobias gut in sein Bild, überdurchschnittlich intelligent, brav und bescheiden wie er war.
„Doch, Mama, ich erinnere mich.“ Mit diesen Worten tauchte Tobias aus seiner Gedankenwelt auf. „Wir waren arm und es war oft nicht leicht, aber wir hatten uns. Du hast Klavier gespielt und gesungen … und trotz allem viel gelacht. Aus vollem Herzen. Das habe ich schon lange nicht mehr an dir gesehen.“
Tobias wollte jetzt gar nicht weiter in der offenen Wunde bohren und seiner Mutter zum x-ten Male vorhalten, dass Rolf ihr nicht einmal ihr geliebtes Klavierspiel weiterhin vergönnt hatte. Das Thema hatten sie schon zu oft. Er könne das Geklimper nicht am Kopf haben. Geklimper! Mutters fantastisches Klavierspiel! Und als ob er den ganzen Tag daheim wäre und Anita nicht ausreichend Zeit finden könnte, in seiner Abwesenheit zu spielen. Aber so war Rolf eben, man konnte von ihm kein Verständnis für die feingeistigen Dinge im Leben erwarten. Genau wie Tobias’ wirklich beachtliche Malerei Gekritzel oder Kleckserei für ihn war. Das alte Klavier wurde mit der Bemerkung „So ein altes modriges Teil kommt mir nicht ins Haus“ entsorgt und Anita nahm diesen Verlust in Erwartung eines besseren, unbeschwerten Lebens für sich und in erster Linie auch ihren Sohn gerne in Kauf.
Tobias fügte eindringlich hinzu: „Mama, das sollte dir trotz allem nicht reichen. Ein Leben in demütiger Dankbarkeit als schmückendes Beiwerk, was auf Parties unterwürfig grinsend Häppchen reicht.“
„Amuse-Gueules“, warf Anita fast mechanisch ein.
Zu schmerzvoll war die Erinnerung an die Standpauke, die ihr Mann ihr vor ein paar Wochen gehalten hatte. Nach einem sehr schönen Empfang bei ihnen zuhause, für den Anita alles perfekt vorbereitet hatte und der offensichtlich zur vollsten Zufriedenheit aller Gäste verlaufen war. Manchmal konnten Worte schlimmer und nachhaltiger schmerzen als Schläge. Das konnte sie nur zu gut beurteilen.
Anstatt dass Rolf hinterher ein Wort des Lobes und der Anerkennung für seine Frau übrig hatte, herrschte er sie an, sobald der letzte Gast sich fröhlich winkend verabschiedet hatte: „Könntest du dich in Zukunft etwas mehr bemühen, deine Wurzeln aus dem Proletariat nicht so offensichtlich zur Schau zu tragen?“
Anita, die sich keiner Schuld bewusst war, schaute ihren Mann sprachlos an.
„Häppchen!“, spuckte dieser verächtlich aus. „Du hast Dr. Obermeier deine Häppchen angepriesen. Wir von Gützels servieren keine Häppchen, sondern Amuse-Gueules – merk dir das!“
„Was?“, fragte Tobias irritiert.
„Ach, nichts …“, wischte Anita ihre Gedanken fort.
Eine Woche später besuchte Anita ihren Sohn in Hamburg, um seine Exponate auf seiner ersten eigenen großen Vernissage zu bewundern. Sie hatte sich gegen ihren Mann durchgesetzt, der sie natürlich nicht zu der „überflüssigen Präsentation dilettantischer Kleckserei“ begleiten wollte. Aufgeregt stand Anita in der Halle und knetete an dem Taschentuch in ihrer Hand herum, das sie zwischendurch immer mal wieder dazu benutzen musste, sich klammheimlich ein Tränchen aus dem Augenwinkel zu wischen. Sie wandte sich an Tobias: „Ich bin so stolz auf dich, mein Junge. So viele so wundervolle Bilder.“ Sie machte mit einem Arm eine ausschweifende Geste und setze mit nicht leugbaren Stolz hinzu: „Und die vielen Menschen hier – überleg mal: die sind alle nur deinetwegen hier!“
„Ist ja gut, Mama“, spielte Tobias die Situation grinsend herunter, konnte aber auch nicht verbergen, dass er vor Aufregung und Freude über das offensichtliche Gelingen seiner Ausstellung und den großen Anklang, den diese fand, fast platzte.
Anita schaute ihren Sohn an, trotz all der Euphorie nachdenklich geworden. So gelöst und strahlend hatte sie ihn schon lange nicht mehr gesehen. Sie wusste, dass ihn die Situation mit seinem Adoptivvater sehr belastete und dass ein Jurastudium definitiv nicht seine erste Wahl gewesen wäre, wenn er nicht den Druck des Elternhauses und die Bürde als zukünftiger Kanzleierbe im Nacken hätte. Anita hatte den Eindruck, dass er das Ganze nicht aus Verpflichtung gegenüber Rolf, sondern vielmehr ihr zuliebe tat. Weil er wusste, wie stolz seine Mutter bei dem Gedanken war, dass ihr Sohn es später einmal mit der Kanzleiübernahme im Leben geschafft haben würde; trotz aller Stolpersteine, die ihnen schon so früh in den Weg gelegt worden sind. Sie hatte ihn stets ermuntert, dass für seine Malerei auch neben dem Studium und Beruf noch Zeit bleiben würde, und er hatte immer nur wortlos genickt und dabei traurig und hoffnungslos geschaut. Ihr war auch aufgefallen, dass sich Tobias’ Malstil im letzten Jahr deutlich verändert hatte. Nein, nicht so sehr der Malstil, sondern die Farbgebung. Auf allen Bildern, die auf das letzte Jahr datiert waren, herrschten dunkle Farben vor. Schwarz, Grautöne, Dunkelblau, Smaragdgrün. Zwar nicht weniger schön und beeindruckend als die vorher wesentlich helleren und bunteren Bilder, aber für sie ein eindeutiges Zeichen, dass er tief im Innersten unglücklich war und ihm etwas auf der Seele lag. Dieses „Etwas“ kannte sie natürlich.
Ein paar Wochen nach den mit Bravour bestandenen Abiturprüfungen hatte Tobias die Zelte in Hamburg an der Schule abgebrochen und war zu seinen Eltern zurückgekehrt. Sonntags hatte Anita ein besonders aufwändiges Essen zubereitet und sie machte sich auf den Weg in den ersten Stock des Hauses zum Zimmer ihres Sohnes, um ihn an den Mittagstisch zu bitten. Sie hatte ihn heute noch gar nicht gesehen, aber sie wusste, dass er wahrscheinlich die ganze Nacht gemalt hatte, da er am Vortag direkt nach seiner Ankunft seine Staffelei aufgebaut hatte. Dann versank er stets in Raum und Zeit, nahm seine Umgebung nicht mehr wahr und wollte ungestört sein.
Als sie anklopfte und ihren Kopf vorsichtig durch den Türspalt steckte, sah sie ihren Sohn schon wieder an der Staffelei stehen. Ihr verschlug es fast den Atem, als sie das Bild sah. Es schien von Innen heraus zu leuchten und war so wunderschön, dass Anita nur überwältigt starren konnte und ihr ein „Ohhh …“ entfuhr. Ein glänzender Goldton dominierte die Szene, harmonisch abgerundet durch sattes Rot und leuchtendes Orange. Sollte das die Reaktion auf seine vorangegangene Woche in Berlin sein? In der er schon einmal seine zukünftige Universität und die großzügige Wohnung besichtigt hatte, die ihm sein Vater für seine Studienzeit in Aussicht gestellt hatte?
Am Mittagstisch forderte Rolf seinen Sohn auch sogleich auf, von seiner Woche zu berichten. Und was für einen Eindruck die Universität, an der er selber auch promoviert hatte, auf ihn gemacht hätte.
„Ich weiß es nicht“, bekam er lapidar zur Antwort.
„Wie, du weißt es nicht? Du musst doch einen Eindruck haben!“, insistierte sein Vater.
„Nein, ich war nicht da“, entgegnete Tobias wie beiläufig.
Rolf ließ sein Besteck sinken und starrte ihn entgeistert an. „Wie – nicht da? Du warst doch in Berlin!“
Auch Anita war offensichtlich irritiert.
Tobias stand auf und ging Richtung Tür. Im Türrahmen drehte er sich um und führte in fester Tonlage mit Blick auf seinen Vater aus: „Bevor du jetzt gleich ausrastest, gehe ich lieber. Ja, ich war in Berlin. Aber nicht an der Humboldt-Universität, sondern ich habe meine Aufnahmeprüfung an der Universität der Künste abgelegt und bestanden. Ich werde Bildende Kunst studieren.“
Es vermittelte Tobias ein unbeschreibliches Gefühl des Triumphes, seinen Vater sprachlos zu sehen. Dieser war zu verdutzt, um ihm überhaupt ins Wort zu fallen und schien immer noch sichtlich darum bemüht, den Wortlaut des soeben Gehörten in einen für ihn sinnvollen Zusammenhang zu bringen.
Tobias wandte sich an seine Mutter: „Mama, es ist alles in die Wege geleitet. Ich habe direkt einen Vertrag für einen Job in einer Kunsthandlung unterschrieben, bei der mein Ausstellungsleiter aus Hamburg ein gutes Wort für mich eingelegt hat. Der Besitzer ist ein alter Studienkollege von ihm. Daher habe ich auch die Möglichkeit, in einer an die Kunsthandlung angrenzenden Wohnung zu wohnen.“
Rolf schnappte nun das erste Mal hörbar nach Luft und versuchte seiner Fassungslosigkeit Ausdruck zu verleihen. „Was zum Teufel soll diese Scheiße…?“, setzte er an.
Tobias unterbrach ihn tadelnd: „Na na na, wir werden doch nicht in die Fäkalsprache des Proletariats abgleiten?“ Und bevor er aus der Tür verschwand, wandte er sich an Anita: „Mama, die Wohnung ist zwar recht klein, aber ein zweites Bett lässt sich da unterbringen.“ Und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: „Ich bin mir sicher, wir würden sogar noch Platz für ein Klavier finden.“
Tag der Veröffentlichung: 20.02.2014
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