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Welcher der Bäume in der Waldlichtung gab nur dieses unangenehme Schrillen von sich? Verstört versuchte Anne, den Ursprung dieses störenden Geräusches auszumachen. Während sie mühsam die Augen öffnete, visualisierten sich allmählich leuchtende rote Zahlen vor ihren Augen. 1:37. Nur ein Traum, waberte die Erkenntnis durch Annes Gedankengänge, und als sie mit einem Zurechtknautschen des Kopfkissens versuchte, direkt wieder in ihre Traumwelt abzutauchen, ertönte erneut dieses Geräusch. Annes Herz begann schlagartig, schneller zu klopfen. Das war die Türklingel, eindeutig. Aber um diese Zeit? Sollte Björn doch vorzeitig von seiner Geschäftsreise zurückgekehrt sein und den Schlüssel vergessen haben? Würde er nicht eher auf ihrem Handy anrufen, anstatt sie mitten in der Nacht mit Geklingel an der Haustür zu erschrecken?

Zwei weitere langgezogene Klingeltöne ließen Anne den Entschluss fassen, trotz ihres Unbehagens nachzusehen. Nicht, dass Leonie im Obergeschoss auch noch wach würde. Ohne Licht zu machen, tappte sie also schnell in den Flur, um einen Blick auf den Bildschirm der Kameraüberwachung an der Haustür zu werfen. Irritiert wischte sie sich über die verschlafenen Augen, stutzte und rückte noch näher an das Display heran. Irgendwie sah der Mann wie Volker aus. Das ergab doch keinen Sinn. Jetzt und hier? Und er sah so verändert aus. Krank. Gealtert? Aber die kleine Stofftasche, die er mit einem Arm fest an seine Brust gepresst hatte, ließen ihre Zweifel verfliegen. Diese Tasche war unverkennbar!

Als Volker erneut eine Hand in Richtung der Klingel bewegte, griff Anne beherzt zum Hörer der Gegensprechanlage: „Ja?“

„Anne, bist du’s?“, kam es gehetzt durch die Leitung. „Ich bin’s - Volker. Bitte mach auf, es ist ganz dringend!“

Nachdem Anne die Tür geöffnet hatte, fiel ihr Volker um den Hals. „Anne, es ist so schön dich wiederzusehen! Aber ich habe absolut keine Zeit. Mir bleiben vielleicht zehn Minuten. Und was ich dir zu erzählen habe ...“ Er machte eine hilflose Geste mit der Hand und schaute gequält, wodurch er noch verlorener wirkte.

Anne war zwar immer noch irritiert und auch leicht schockiert über den augenscheinlich schlechten Zustand ihres besten Schulfreundes, schob ihn aber kurzerhand in Richtung des Wohnzimmers und merkte an: „Zum Hinsetzen wird die Zeit wohl reichen.“

 

Sie hatte ihn jetzt seit über drei Jahren nicht mehr gesehen; damals war er anlässlich der Beerdigung von Annes Sohn Damian für eine Woche aus den USA nach Deutschland gekommen. Obwohl er als Physiker bei der NASA extrem eingespannt war, und der Kontakt zu Anne aufgrund der großen Entfernung und unterschiedlichen Lebensführung nur sehr sporadisch war, war es für ihn selbstverständlich gewesen, ihr in so einem Moment beizustehen. War sie doch für ihn in den 13 Jahren ihrer gemeinsamen Schulzeit schnell zu seinem wichtigsten Bezugspunkt geworden – und ebenso seine ewige unerfüllte große Liebe. Davon wusste sie aber nichts (wenn sie es nicht erahnt hatte), denn an dem gemeinsamen Abend kurz vor dem Abitur, als er ihr endlich seine Gefühle offenbaren wollte, überraschte sie ihn mit einem anderen Geständnis. Sie wäre schwanger von dem jüngeren Geschäftspartner ihres Vaters, mit dem sie sich seit ein paar Monaten heimlich traf. Volker wusste als Einziger von dieser Liaison und hoffte auf etwas Unverbindliches, Kurzweiliges. Aber so …

Kurz nach diesem Zeitpunkt liefen ihre Lebenswege weit auseinander: Volker ging zum Physikstudium in eine entfernte deutsche Großstadt und bald nach Amerika. Anne, deren Traum ursprünglich auch ein Studium der Physik gewesen war, machte mit ihrem Björn Nägel mit Köpfen; sie zogen zusammen und heirateten noch vor der Geburt des ersten Kindes. Damian kam mit einem Herzfehler zur Welt, musste bereits als Baby und in frühen Kinderjahren zahlreiche Operationen über sich ergehen lassen und warf Annes Zukunftspläne natürlich komplett über den Haufen. An ein Studium oder sonstige Selbstverwirklichung war nicht mehr zu denken und sie gab sich mit voller Hingabe und Aufopferung ihrer Rolle als junge Mutter hin. Ein paar Jahre später kam das Schwesterchen Leonie dazu und das Familienglück hätte perfekt sein können, wäre da nicht Damians angeborenes schweres Herzleiden gewesen, was wie ein dunkler Schatten über der Familie lag. Und ihnen dann endgültig den Boden unter den Füßen wegriss, als Damian sie mit gerade einmal neun Jahren für immer verlassen musste.

 

Anne setzte sich neben Volker aufs Sofa und ergriff dessen Hand. Sie blickte ihm forschend in die Augen: „Du siehst nicht gut aus, Volker. Was um Himmels willen ist los?“

„Ich werde gar nicht lange drum herum reden - dazu fehlt mir sowieso die Zeit.“ Er räusperte sich und presste heraus: „Ich komme aus der Zukunft, genauer gesagt aus dem Jahr 2027. Halte mich jetzt bitte nicht für bescheuert.“

Anne brauchte ein paar Sekunden, um überhaupt ihre Sprache wiederzufinden. Sollte dieser Mann, der ihr neben ihrer eigenen Familie der wichtigste und vertrauteste Mensch auf der Welt war, übergeschnappt sein? Wobei, sein Anblick sprach dafür, dass er nicht wie sie 32 Jahre alt war. In ihrem Kopf tobten unzählige Gedanken durcheinander, aber sie reagierte, wie von Volker erhofft, in ihrer nüchtern-analytischen Art, auch weil sein auf sie gehefteter Blick etwas Verzweifeltes und Flehendes hatte: „Erzähl. Sag, was du mir zu sagen hast. Mein Urteil kann ich mir danach immer noch bilden.“

Volker schöpfte sichtlich Hoffnung. „Sag mir erst, wo genau ich gelandet bin. Also zeitlich.“

Trotz ihrer Fassungslosigkeit entgegnete Anne mechanisch: „Heute ist der 26. September 2012. Mittlerweile der 27., wie du eventuell bemerkt hast, ist es spät in der Nacht.“

„Perfekt!“, seufzte Volker erleichtert auf. „Dann hat zumindest das schon einmal geklappt.“ Mit einem Blick auf Annes ungläubige Miene führte er aus: „Wie du weißt, arbeite ich für die NASA. Geheime Forschungsprojekte. Dabei habe ich ein paar Leute kennengelernt, die sich intensiv mit meiner Lieblingsthematik beschäftigt und weitreichende Forschungen angestellt haben. Eigentlich unsere gemeinsame Leidenschaft von früher …“

„Zeitreisen“, fiel ihm Anne unvermittelt ins Wort. Wäre sie nicht so perplex gewesen, wäre ihr ein Lächeln über das Gesicht gehuscht bei dem Gedanken, wie sie in ihrer Jugend alles verschlungen hatten, was mit diesem Thema zusammenhing. Ihren absoluten Lieblingsfilm „Zurück in die Zukunft“ hatten sie mehrere Dutzende Male zusammen angeschaut und hinterher immer wieder aufs Neue darüber diskutiert und philosophiert. Und natürlich alles unter dem physikalischen Aspekt erörtert; nicht umsonst war Physik ihr absolutes Lieblingsfach in der Schule gewesen!

„Richtig“, bestätigte Volker. „Wie gesagt, diese vier Männer und ich nahmen ein privates Forschungsprojekt auf, außerhalb unserer Arbeit. Und im Mai 2027 war es dann so weit, nach über acht Jahren intensivster Arbeit gelang uns der Durchbruch. Wir haben eine Methode entwickelt, das Raum-Zeit-Kontinuum zu überwinden.“ Obwohl er ängstlich auf Anne blickte, die vom Sofa aufgesprungen war und begonnen hatte, ziellos durch das Wohnzimmer zu schreiten, konnte er einen gewissen Anflug von Triumph und Stolz in seiner Stimme nicht verhindern.

„Dir ist schon klar, dass du hier gerade einiges von mir verlangst? Mit dieser Story. Warum sollte ich dir das glauben?“ Während Anne sich neben Volker auf das Sofa fallen ließ, fügte sie fast flehend hinzu: „Volker, du weißt, ich mag dich sehr. Du bist mir unwahrscheinlich wichtig. Bitte sag mir irgendetwas, was mich das Ganze glauben lassen kann.“

Volker ergriff erneut Annes Hand. „Behalte mich genau im Auge. Wenn es dir auch verständlicherweise schwerfällt, mir zu glauben - ich werde nachher irgendwann einfach verschwunden sein. Entmaterialisiert, von jetzt auf gleich. Wie erwähnt, ist die Dauer dieses Zeitsprungs begrenzt. Hör mir bitte einfach genau zu. Wenn ich nachher verschwunden sein werde, hast du den Beweis. Lass mich schnell das Wichtigste erzählen; danach kannst du mir Fragen stellen, solange uns noch die Zeit dafür bleibt.“ Und mit einem Hauch seines von ihr geliebten trockenen Humors und einer Andeutung des gewohnten schelmischen Grinsens fügte er hinzu: „Wenn ich in einer halben Stunde immer noch hier sitzen sollte und auf dich einrede, kannst du die Männer mit den engen weißen Jacken ja anrufen.“

„Na gut“, seufzte Anne. „Schieß los.“

„Also“, begann Volker seine Erklärung und rückte die Tasche in den Fokus. „Hier in dieser Tasche habe ich Unterlagen. Beweismaterial aus der Zukunft quasi. Ich möchte von dir, dass du im Februar 2013 Kontakt zu mir aufnimmst. Genauer gesagt in der Woche vom 11. bis zum 15. Februar. Dann bin ich nämlich anlässlich einer Fachtagung in Berlin, im Hotel Regent. Du müsstest den Weg dorthin auf dich nehmen; es ist ganz wichtig, dass du mir diese Tasche persönlich übergibst. Ich würde dich nicht bitten, wenn es nicht überaus wichtig wäre. Vertrau mir bitte.“ Erwartungsvoll blickte er seine alte Freundin an, die sichtlich bemüht entgegnete: „Ok. Gesetzt den Fall, ich lasse mich darauf ein, was geschieht dann? Ich stehe mit der Tasche vor deiner Hoteltür und dann?“

Nun huschte ein Lächeln über Volkers Züge. „Dann, ja dann hast du dieselbe unrühmliche Aufgabe wie ich jetzt: mich von dieser Geschichte zu überzeugen.“

„Was? Wie?“ Anne schüttelte verstört den Kopf.

„Na, denk nach. Ich beginne die Forschungen mit meinem Team bezüglich Zeitreisen erst im Jahr 2019. Und obwohl das Thema mich immer gefesselt hat, ist es nächstes Jahr im Februar für mich überhaupt nicht aktuell.“ Und mit einem demonstrativen Grinsen fügte er hinzu: „Ich könnte dich für durchgeknallt halten.“

„Na prost Mahlzeit“, stöhnte Anne. „Das wird ja immer besser.“

„Deswegen habe ich die Unterlagen auch in diese spezielle Tasche gepackt“, beeilte sich ihr Gegenüber zu sagen. „Wenn du damit vor mir stehst, wird das Ganze für mich umso schneller glaubwürdig.“

Anne blickte sentimental auf die Stofftasche, die sie Volker zu seinem 13. Geburtstag geschenkt hatte. Mit viel Gefluche hatte sie diese damals in mühevoller Arbeit selber zusammengenäht, bestickt und verziert. Wie paradox und doch zugleich sinngebend kam es ihr vor, jetzt den mit mittlerweile abgestumpften Glitzerpailletten aufgestickten Filmtitel „Back to the future“ dort zentral zu lesen!

Volker rutschte unvermittelt vor Anne auf dem Sofa auf die Knie, fasste sie an beiden Armen und schaute ihr beschwörend in die Augen: „Anne, was ich jetzt sage, ist das Wichtigste. Du darfst nie, wirklich niemals einen Blick in diese Tasche werfen! Und auch sonst niemand. Nur wenn ich mich darauf verlassen kann, lasse ich die Tasche hier.“ Wieder hatte er diesen verzweifelt flehenden Blick. „Versprich es mir!“, setzte er nach.

„Was würde sonst passieren?“, kam die berechtigte Gegenfrage.

„Ähm, wenn jemand Einfluss auf das Raum-Zeit-Kontinuum nimmt und somit die eigentliche Ordnung durcheinanderbringt, wird das gefährlich. Für denjenigen ...“, gab Volker mit sichtlichem Unwohlsein zur Antwort.

„Nur anschauen bringt die Ordnung schon durcheinander?“, hakte Anne nach.

„Beim Anschauen würde es wohl nicht bleiben. Wenn man Bescheid weiß über Zukünftiges, ist die Gefahr sehr groß, dass man es beeinflussen möchte. Und danach handelt. Bewusst oder unbewusst. Da läge das Problem.“

„Ah, ok. Aber wenn ich dir die Unterlagen bringe - du willst doch offensichtlich etwas ändern! Sonst würden wir den Aufwand ja nicht betreiben“, gab Anne nachdenklich zurück.

„Das lass mein Problem sein. Ich habe das schon unter Kontrolle und weiß, was zu tun ist.“ Volker tat überzeugter als er tatsächlich war. „Also schwöre mir, dass du nicht hineingucken wirst und die Tasche sicher unter Verschluss aufbewahrst. Auf Leonies Leben!“, forderte Volker und kam sich im gleichen Moment unendlich gemein vor, als er sah, wie daraufhin Annes Blick zu einem großen Porträtfoto ihres verstorbenen Sohnes über dem Kamin wanderte und sie schluckte. „Entschuldige bitte“, beeilte er sich zu sagen. „Aber es ist wirklich sehr wichtig. Ich möchte dich und keinen deiner Lieben in Gefahr bringen. Das würde ich mir nie verzeihen. Und wenn es in meiner Macht stehen würde, würde ich euch Damian zurückbringen. Nur leider könnte ich im Nachhinein auch nichts tun, um seine Krankheit zu verhindern.“

„Ja, ich hab’s verstanden. Ich schwöre es dir bei allem, was mir lieb und heilig ist. Ich gucke nicht in diese Tasche und bringe sie dir im Februar nach Berlin.“ Nach einer kurzen Bedenkzeit fügte sie hinzu: „Warum bringst du dir die Tasche nicht selber? Also in die Vergangenheit? Dann fiele diese lästige Überzeugungsarbeit weg.“

„Das funktioniert leider nicht so einfach. Ich kann zwar den Ort, an den ich springen will, mittels Koordinaten haargenau eingeben. Wie hier zum Beispiel direkt vor deine Haustür. Allerdings hapert es noch mit der Eingrenzung der genauen Zeit. Da können wir nur das Jahr ansteuern, nichts Näheres. Daher wäre die Gefahr zu groß, dass man auf sich selber trifft. Das würde eine große Katastrophe auslösen.“

„Hm, klingt einleuchtend. Und warum kommst du ausgerechnet zu mir? Oder bist du bei anderen schon gescheitert?“, fragte Anne, die mittlerweile dazu übergegangen war, sich auf diese Gedankenspielereien einzulassen.

Mit ernstem Tonfall antwortete Volker: „Weil du der einzige Mensch bist, dem ich hundertprozentig vertraue.“ Am liebsten hätte er noch hinzugefügt und der mir am wichtigsten auf dieser Welt ist, aber das verkniff er sich. „Und übrigens kann man nur ein einziges Mal effektiv in die Vergangenheit springen, nach unserem derzeitigen Forschungsstand.“ Mit Blick auf Annes ratlose Miene ergänzte er: „Sobald man bei dem Zeitsprung irgendetwas macht, was Auswirkungen auf die Zukunft haben könnte, kann man nicht erneut zurückspringen. Ich habe schon zweimal hier vor deiner Tür gestanden und dich nicht angetroffen. Heute Nacht hatte ich Glück. Wenn ich bei einem dieser ersten beiden Versuche mit jemandem geredet hätte ... oder vielleicht auch nur ein Blümchen bei dir im Garten gepflückt hätte ... dann hätte ein erneuter Zeitsprung nicht geklappt. Dies ist folglich meine einzige Chance.“

„Du hast also das Jahr 2012 angesteuert, damit ich dir im Februar 2013 diese Tasche übergeben kann. Kannst du mir irgendetwas über deinen Plan verraten? Und kannst du mir versichern, dass du nichts Schlimmes tun wirst, wofür ich dann mitverantwortlich wäre?“, hinterfragte Anne.

„Ich würde dich nie im Leben in eine brenzlige Situation bringen, Anne! Ganz im Gegenteil ... Ich verrate dir nur so viel: Ich habe etwas Schreckliches miterlebt, was im März 2013 passiert und was weitreichende Konsequenzen hat. Und das muss ich verhindern. Hinterher wirst du Bescheid wissen.“

„Und da du offensichtlich irgendetwas planst, etwas beeinflussen willst … Warum bist du nicht einfach zu dieser Tat gesprungen? Also direkt aus der Zukunft, alles erledigen und gut?“, überlegte Anne laut.

„Na, wegen dieser Ungenauigkeit mit der Zeiteingrenzung. Und außerdem bleiben mir bei dem Zeitsprung nur etwa 10 Minuten - das wäre alles zu unsicher. Wenn man nur einmal kann, muss das schon erfolgversprechend sein“, erklärte Volker und blickte Anne fest in die Augen. Diese nickte mit nahezu feierlichem Ernst und sagte: „Gut.“

Das fasste Volker als Bestätigung auf und er drückte ihr die Tasche in die Arme, bevor er Anne fest an sich drückte und ihr einen Kuss auf die Stirn gab. Als er sich von ihr löste, blickte Anne ihn an und stellte verwundert fest: „Du flackerst ...“ Noch bevor sie die letzte Silbe vollenden konnte, war Volker verschwunden. Verpufft. Einfach so.

 

14. März 2013

Anne öffnete Volker spätabends die Tür; dieses Mal kam er allerdings mit Vorankündigung. Anne musterte ihn, er hatte wieder die Tasche in der Hand. „Das hat was von einem Déjà-vu“, empfing sie ihn lächelnd. „Allerdings siehst du dieses Mal jünger und bedeutend besser aus.“

 

Bei ihrem Treffen in Berlin im Vormonat war alles perfekt gelaufen. Anne hatte zuvor telefonischen Kontakt zu Volker aufgenommen und sich entsprechend für diesen Abend angekündigt. Sie hatten einen schönen Abend miteinander verbracht - ein ausgedehntes gemeinsames Essen, bei dem viele Kindheits- und Jugenderinnerungen aufgefrischt wurden. Erst danach war Anne zu dem eigentlichen Anliegen ihrer Verabredung gekommen und hatte dem erstaunten Volker seine Tasche, nebst den erforderlichen Erklärungen, überreicht.

 

„Ich will dich heute auch gar nicht lange stören. Sondern dir nur die hier bringen.“ Mit diesen Worten schwenkte er die Tasche in seiner Hand. Auf Annes fragenden Blick hin führte er aus: „Es sind dieselben Unterlagen drin wie beim letzten Mal. Ich habe die Aufzeichnungen herausgenommen, die für mich bestimmt waren. Der Rest ist eine Erklärung für dich. Morgen darfst du es dir anschauen, dann betrifft es nicht mehr die Zukunft. Aber erst morgen!“

„Also … also wirst du heute was … also das machen?“, stammelte Anne und fügte erstaunt hinzu: „Hier?“

„Ja, hier“, gab Volker knapp zur Antwort.

„Hm, und ich dachte, du würdest den Weltfrieden retten wollen. Oder zum Beispiel ein Attentat auf Obama verhindern“, versuchte Anne ihre Unsicherheit zu überspielen und die Situation durch einen Scherz aufzulockern.

„Nein, ganz so global ist mein Vorhaben dann doch nicht. Aber für mich wichtiger …“, ergänzte Volker nahezu wehmütig.

„Und danach?“, Anne schluckte. „Sehen wir uns nicht mehr wieder?“

„Schhhhhhh … Wer weiß das schon so genau?“, beschwichtigte Volker, konnte aber nicht verhindern, dass ihm selber Tränen in die Augen traten. Aus einem Impuls heraus schloss er Anne ganz fest in seine Arme und stammelte: „Ich liebe dich, Anne. Ich habe dich immer geliebt und werde dich immer lieben.“ Er löste sich von Anne, schaute ihr tief in die Augen und sagte: „Alles wird gut werden.“

Anne stand wie vom Donner gerührt da und verspürte einen Kloß im Hals. „Ach, Volker … du machst aber keinen Unsinn?“

Dieser drückte ihr die Tasche in die Arme und erwiderte: „Nein, du kennst mich doch!“ Mit einem letzten Kuss wandte er sich von ihr ab: „Denk dran, erst morgen!“

Anne nickte tränenblind und im Fortgehen rief Volker noch zurück: „Du hast eine tolle Familie – pass gut auf sie auf!“

 

Anne hatte die Nacht sehr schlecht geschlafen. Ständig ermahnte sie sich zu Geduld, dass sie die Tasche erst öffnen würde, wenn sie Leonie am nächsten Morgen zur Schule gebracht hätte. Als sie dann mit Leonie losfuhr, hatte sie arge Probleme, mit dem Auto überhaupt aus ihrer Wohnstraße herauszukommen, da ein Aufgebot an Polizeiautos vor dem Eckhaus nahezu die gesamte kleine Kreuzung der Wohnsiedlung blockierte.

Auf dem Rückweg hielt sie kurz an und wurde sogleich von Frau Kneifel, der Tratschtante der Siedlung, angesprochen: „Haben Sie’s schon gehört? Der Richtering wurde erschossen!“

„Was? Erschossen? Von wem?“, kam Anne nur über die Lippen.

„Keine Ahnung. Schon gestern am späten Abend. Aber man weiß wohl noch nichts Genaueres …“

In Annes Kopf tobten die Gedanken. Gestern Abend. Sollte Volker etwa … nachdem er bei ihr gewesen war …? Das machte doch keinen Sinn. Das war sicher nur ein Zufall. Was sollte Volker denn schon mit dem unscheinbaren Anton Richtering zu schaffen gehabt haben? Selbst Anne kannte ihn nur oberflächlich vom Grüßen her, obwohl sie nur ein paar Häuser von ihm entfernt wohnte.

Zuhause angekommen, schloss sie direkt den kleinen Safe in ihrem Arbeitszimmer auf und holte die Tasche heraus. Mit zitternden Fingern öffnete sie diese und holte eine Mappe heraus, in der zuoberst ein Brief lag:

 

Liebe Anne,

du kennst mich, ich mache jetzt nicht viele Worte. Wenn du dies liest, werde ich wohl „weg“ sein. Zumindest hat es das eine Mitglied aus unserer Gruppe auch ausgelöscht, nachdem er in die Vergangenheit eingegriffen hatte. Von ihm gab es hinterher keine Spuren mehr. Aber sei’s drum. 2027 sah meine Lebenserwartung sowieso nicht mehr rosig aus, man gab mir mit meinem Krebsleiden noch maximal ein Jahr. Daher konnte ich mein Leben genauso gut für etwas opfern, was es mir wert erschien. Aber lies den beigefügten Zeitungsartikel selbst ...

Ich weiß, dass du glücklich mit deinem Mann bist und dass ihr euch aufrichtig liebt. Das habe ich immer akzeptiert, auch wenn es mir eine Zeit lang sehr schwerfiel. Ich wünsche euch dreien von ganzem Herzen das Beste!

In ewiger Liebe

Volker

 

 

19. Mai 2016

Hannoversche Allgemeine Zeitung

 

Familiendrama nimmt seinen Lauf

Zwei Tage nach der Sprengung des Kinderpornorings um den 45-jährigen Anton R. und dem Fund der Leiche des Entführungsopfers Leonie S. nahm sich die Mutter Anne S. des am 16. März 2013 entführten Mädchens das Leben. Wir berichteten gestern ausführlich über das Mädchen, das mehr als drei Jahre im Keller von Anton R. festgehalten und missbraucht wurde und schließlich qualvoll verhungerte, als sich der vermeintliche Kopf der Bande Anton R. offensichtlich zwei Wochen vor Erstürmung seines Hauses aus dem Staub machte. Anton R. ist weiterhin flüchtig.

Impressum

Bildmaterialien: pixabay - Public Domain
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Volker, meinen besten Freund aus der Schulzeit. Zum Glück bist du heute ein Doktor der Rechtswissenschaften und nicht der Physik - ich habe also nichts Ähnliches zu befürchten. *g*

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