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Die Frauen K.

Träume – welch ein reichhaltiges Repertoire öffnet sich mir da! Ich habe immer viel und intensiv geträumt. Obwohl eigentlich alle Menschen gleich viel träumen sollen, nur das Erinnerungsvermögen an die Träume wohl unterschiedlich gut ausgeprägt ist.
Naja, ich habe hier jetzt einen Traum ausgewählt, der mich in meiner Kindheit lange und nachhaltig verfolgt hat. Ich habe nie (bzw. erst im späten Jugendalter) mit jemandem über diesen Traum gesprochen. So lächerlich er auch im Nachhinein vielleicht auf den einen oder anderen wirken mag oder als schlechte Kinderphantasie abgetan wird, er hat mich als Kind sehr stark beschäftigt und ich denke auch heute noch gelegentlich an ihn zurück, weil er eben so intensiv war.

 

Wenn ich so zurück denke, muss dieser Traum im Alter von sechs Jahren begonnen haben, noch vor meiner Einschulung, und mich mindestens zwei Jahre meines Lebens lang begleitet haben – mal häufiger, mal seltener, phasenweise gar nicht.

Aus heutiger Sicht kann ich das Ganze auch ansatzweise tiefenpsychologisch deuten: Kurz vor meinem 6. Geburtstag haben sich meine Eltern getrennt und ich als ausgesprochenes „Papa-Kind“ stand allein da und fühlte mich von der Welt verlassen. Nicht verstanden von meiner Mutter, zu der ich nicht so einen emotionalen Bezug hatte wie zu meinem Vater, und im Stich gelassen von meinem Vater.

 

Die wichtigsten Details zum Verständnis meines Traums kurz vorab:
Wir wohnten in einem großen Wohnblock, 18 Mietparteien verteilt auf drei einzelne Blöcke mit jeweils drei Stockwerken; jeder Block mit einem eigenen Vordereingang zum Treppenhaus und auf der Rückseite jeweils eine Treppe mit Kellereingang.

Meine Mutter, meine ältere Schwester und ich wohnten direkt im Erdgeschoss im 3. Block. Ganz oben in der 2. Etage wohnte ein Schwesternpaar, die damals beide altersmäßig in den 60ern stecken mussten. So etwas, was man als „typische alte Jungfern“ und Eigenbrötler bezeichnet. Ihr Leben lang haben die beiden zusammen gewohnt und lebten ohne großartige Kontakte zur Außenwelt. Gelegentlich kam ihr älterer Bruder zu Besuch, der in einer entfernten Stadt lebte; ansonsten niemand. Auch von uns Nachbarn hat nie jemand ihre Wohnung betreten. Die beiden haben zwar immer freundlich im Vorbeigehen gegrüßt, aber im Gegensatz zu sämtlichen anderen Nachbarn haben sich mit diesen beiden Damen nie wirklich Gespräche entwickelt. Ich nenne die beiden hier mal die „Frauen K.“ (bezugnehmend auf deren Nachnamen).

 

Es ist abends, schon etwas dunkel und Zeit ins Haus zum Abendessen zu gehen. Ich verabschiede mich von meinen drei Spielgefährten, wovon eine im 1. Block wohnt und zwei im 2. Block. Da die Kellertür in unserem 3. Block tagsüber nie abgeschlossen ist, möchte ich wie gewohnt über den Keller das Haus betreten. Dann brauche ich nicht um das Haus herum laufen, vorne an der Tür klingeln und warten bis meine Mutter öffnet, sondern kann direkt durch den Keller ins Treppenhaus laufen und die Haustür innen mit dem „versteckten“ Schlüssel aufschließen.

Als ich die Kellertreppe zur Außentür runter gehe, sehe ich, wie die Frauen K. in der geöffneten Tür stehen und sich unterhalten. Ich nicke ihnen wie immer freundlich und zugleich schüchtern zu und sage „Guten Abend“. Die beiden erwidern den Gruß und lächeln dabei auf eine ganz eigentümliche Weise. So habe ich sie noch nie lächeln gesehen.

Eine der beiden packt mich plötzlich an der Schulter, die andere am Arm und sie halten mich fest. Ziemlich unsanft. Ein wenig erschrocken schaue ich noch einmal zu den beiden Frauen auf, an denen ich eigentlich schon so gut wie vorbei gehuscht war. Mit Entsetzen stelle ich fest, dass sich ihr Äußeres verändert hat: Sie haben einen Buckel, eine große Hakennase, ein ganz runzliges Gesicht mit Warzen und einen abgrundtief bösen Blick mit einem feindseligen Lachen. Sie sagen nur folgende Worte zu mir, nein sie befehlen: „Du kommst mit zu uns!“

 

An dieser Stelle ist immer ein Bruch in meinem Traum gewesen und ich fand mich plötzlich im Treppenhaus wieder, wo die beiden mich auf dem Weg zu ihrer Wohnung schon in den 1. Stock gezerrt hatten.

 

Die beiden halten mich mit Kräften fest, die man ihnen nie zugetraut hätte und halten mir dabei den Mund zu, damit ich nicht rufen und schreien kann. Ich versuche mich nach Leibeskräften zu wehren, zu beißen, um mich zu treten und zu schlagen. Irgendwie gelingt es mir, mich loszureißen und die Treppen herunterzurennen in Richtung unserer Wohnung.

 

Hier bricht diese Episode ab. Im Nachhinein habe ich es während des Traums öfter geschafft, an dieser Stelle aufzuwachen und somit das Glück gehabt, ihn nicht zu Ende träumen zu müssen. Allerdings auch mit dem Erfolg, dass ich dann den Rest der Nacht meist nicht mehr geschlafen habe aus Angst, dass der Traum weiter geht ...

 

Ich sitze bei meiner Mutter in der Küche und es klingelt an der Haustür. Meine Mutter öffnet und die Frauen K. stehen davor. Sie begrüßen einander und eine der beiden fragt: „Ist Saskia zu Hause? Wir möchten gerne mit ihr Plätzchen backen.“

 

Hm, da in meiner kindlichen Traumwelt die beiden Frauen als Verkörperung des Bösen als Hexen dargestellt wurden, durfte dieses „Plätzchen backen“ wohl als unausweichliche Komponente nicht fehlen. Wird mir gerade jetzt erst bewusst, da ich an die böse Hexe im Pfefferkuchenhaus denken muss.

 

Ich bin mittlerweile zu der geöffneten Küchentür gehuscht und schiele durch den Türspalt. Entsetzt höre ich, dass meine Mutter sagt: „Oh, das ist eine tolle Idee! Saskia liebt Plätzchen backen; da kommt sie gerne mit.“

Kurz darauf zieht sie mich aus der Küchentür zu sich und schiebt mich den beiden Frauen in die Arme. Anfangs sage ich noch leise: „Mutti, ich möchte das nicht“, aber da keiner auf meinen Widerspruch hört, werde ich allmählich lauter, fange an zu schreien und zu weinen, dass ich das nicht will.

Warum sieht meine Mutter denn den bösen Blick und das fiese Lächeln der beiden nicht? Ich flehe meine Mutter tränenüberströmt an, dass sie mich nicht zu den beiden Frauen schicken soll. Aber sie sagt nur, ich solle mich nicht immer so fürchterlich anstellen, schiebt mich zur Wohnungstür raus und schließt die Tür hinter mir.

 

Hier wechselte die Szene plötzlich wieder und ich befand mich direkt in der Küche der beiden Frauen. Da ich diese Küche nie wirklich gesehen habe, sah sie in meinem Traum eigentlich genauso aus wie unsere Küche, nur irgendwie dunkler. Und auch das Szenario war ähnlich wie das in unserer Küche, wenn Plätzchen gebacken wurden: Auf dem Tisch war an einem Ende der Fleischwolf angeklemmt, durch den wir immer den Plätzchenteig drehten und mit Hilfe von einer Motivschiene davor verschiedene Plätzchenformen heraus bekamen, stückweise abschnitten und auf das vorbereitete Backblech legten.

 

Nur hier fehlen die vorbereiteten Backbleche, und auch die Schüssel mit dem fertigen Teig ist nirgends zu sehen. Die Frauen K. haben mittlerweile ihre Hexengestalt wieder angenommen, lachen bösartig und keifen unverständliches Zeug durch die Küche. Dabei halten sie mich fest und tun mir weh. Sie zerren mich rüber zu dem Fleischwolf, der immer größer wird, je näher wir an ihn heran kommen. Ich werde gepackt und unsanft oben in die mittlerweile riesengroße Öffnung des Fleischwolfes gesteckt ...

 

Und da diese Geschichte jugendfrei bleiben soll, male ich das nun folgende Szenario, bei dem ich früher oder später immer schweißgebadet, manchmal schreiend, aufgewacht bin, nicht weiter aus.

Es bleibt vielleicht noch zu erwähnen, dass ich den besagten älteren Damen seitdem so weit und gut wie möglich aus dem Weg gegangen bin. Und so manches Mal bekam ich von meiner Mutter ermahnend zu hören: „Du sollst alle Nachbarn immer freundlich grüßen!“
Selbst in späteren Jahren, als ich längst ausgezogen war, beschlich mich gegen meinen Willen und bestes Wissen immer noch ein mulmiges Gefühl, wenn ich bei gelegentlichen Besuchen bei meiner Mutter zufällig auf diese beiden Damen traf. Und das geschah noch recht häufig, da die Frauen vor Gesundheit nur so strotzten und beide fast 90 Jahre alt geworden sind ...

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Bildmaterialien: www.pixabay.com
Tag der Veröffentlichung: 02.08.2013

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