In Schatten und Zwielicht,
von Träumen gefangen,
ein Leben das kein Vertrauen kennt.
Wo ohne Vernunft alle Grenzen verschwammen,
und nichts mehr Wunsch von Wirklichkeit trennt.
Beherrscht von Zweifel und ewiger Angst,
von Trauer und bittrer Erfahrung enstellt,
taumelt die Seele, gezeichnet, verbrannt,
glücklich nur in der eigenen Welt.
Am Himmel die Sonne, vergessen, bedeckt,
von Wolken die der Wind nicht zerstreut.
Hoffnung, die sich im Herzen versteckt,
findet nur wer nicht mehr bereut.
1.Kapitel
Hier fängt meine Geschichte an. Die meisten Menschen denken wahrscheinlich, die Geschichte eines Menschen beginne mit seiner Geburt, seinem ersten Wort, seinem ersten Gedanken. Ich weiß es besser. Die Geschichte eines Menschen beginnt zu dem Zeitpunkt, an dem das Schicksal beginnt, sich einzumischen. Diesen Zeitpunkt erreichte ich in meinem fünfzehnten Lebensjahr, an einem Tag den ich wahrscheinlich für den Rest meines Lebens als meinen absoluten emotionalen Tiefpunkt bezeichnen kann. Es war der Tag an dem ich erfuhr dass meine Eltern sich scheiden lassen würden. Ich war gerade in meinem Zimmer und las, als jemand an meine Tür klopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten betrat dieser Jemand mein Zimmer. Es war meine Mutter, und hinter ihr hereingeschlichen kam mein Vater, mit dieser ernsten, ein bisschen abwesenden Miene, die er immer aufsetzte wenn man im “Kreise der Familie”, wie meine Mutter dass nannte, ein Problem zu besprechen sollte. Ich war mir allerdings keines Problems bewusst.
Besorgt legte ich das Buch beiseite und dachte nach. Ein Anruf des Schuldirektors? Unwahrscheinlich, dass hätte ich mitbekommen. Vielleicht ein Brief… Meine Mutter unterbrach meine Überlegungen: >>Schatz, dein Vater und ich, wir müssen mal mit dir reden. Also… du hast ja bestimmt mitbekommen dass es zwischen Papa und mir seit längerem nicht mehr so gut läuft und…<< Moment mal. Gar nichts hatte ich mitbekommen, denn wenn ich nicht gerade in der Schule war ( ich versuchte in letzter Zeit so viel Zeit wie möglich dort zu verbringen), war ich allein in meinem Zimmer und las oder zeichnete. Wenn ich mich mit meinen Eltern unterhielt, endete das oft in einem Streit, deshalb zog ich es vor, das nicht mehr so oft zu tun.
Selten erlebte ich dass meine Eltern sich untereinander stritten, aber da ich ja fast nie da war schloss das nicht aus dass das öfters vorkam. >>…na ja, wir
dachten uns dass, ähm, also eigentlich sollten wir, es wäre auf jeden Fall für alle das beste wenn…<< Sie bemerkte meinen verwirrten Blick und neigte verlegen den Kopf. Dann holte sie tief Luft und sagte hastig: >>Lilian, dein Vater und ich, wir werden uns trennen.<<
Aha. Seltsamerweise hatte ich das Gefühl, dass ihre Worte noch nicht ganz bei mir angekommen waren. Als die Schallwellen ihren Weg in mein Gehirn schließlich gefunden hatten, stand ich auf und verließ das Zimmer. Diese beiden Unmenschen denen ich gerade den Rücken kehrte wollten einen ganz üblen Scherz mit mir treiben, soviel war klar, deshalb flüchtete ich nach draußen um sie nicht sehen zu lassen dass ich beinahe darauf hereingefallen wäre. Tränen stiegen mir in die Augen und ich schluchzte so plötzlich auf dass ich selbst davon erschrak. Weinen war lästig, und deshalb versuchte ich den Kloß in meinem Hals zu ignorieren. Gefühlsausbrüche waren absolut nicht mein Ding.
Ich schlug die Haustür hinter mir zu und lief in Richtung Park. Ich begegnete niemandem und als ich begann meiner Umgebung etwas Beachtung zu schenken, verstand ich auch wieso. Es goss in Strömen, und ich war jetzt schon komplett durchnässt, hatte aber noch nichts davon bemerkt. Ich trat mitten in eine tiefe Pfütze und das eisige Wasser versuchte durch die Sneakers hindurch meine Füße zu ertränken. Ich beschleunigte meine Schritte und zog mir die Kapuze meiner Joggingjacke über den Kopf. Dieses miese Wetter ergänzte meine Stimmung perfekt.
Warum?, fragte ich mich. Warum, warum, warum…, ein endloser Monolog zum Rhythmus meiner Schritte, von der eintönigen Melodie des prasselnden Regens begleitet. Ich konnte nichts anderes mehr denken.
Ich hatte nicht darauf geachtet wohin ich lief, und als ich zum ersten Mal stehen blieb wunderte ich mich, wie weit ich schon gelaufen war. Ich hatte gerade das schmiedeeiserne Parktor passiert und befand mich nun auf einem breiten, von Laternen und Holzbänken gesäumten Weg, der mich, wenn ich ihm weiter folgte, quer durch den Park direkt in die Neubauviertel führen würde. Ich verließ den Weg und betrat einen kleinen Pfad, dem ich durch eine kleine Ansammlung von Bäumen, von denen mir das kalte Regenwasser in den Nacken tropfte, bis zu einem kleinen Kinderspielplatz folgte. Ich zwängte mich durch zwei Holzstäben hindurch in einen Turm, der zu einem hölzernen Klettergerüst gehörte, setzte mich auf den nassen, sandigen Boden und starrte auf den gegenüberliegenden Holzpfosten, allerdings ohne die Schmierereinen darauf wahrzunehmen. Hier konnten mich Wind und regen nicht erreichen, deshalb strich ich mir die Kapuze vom Kopf, woraufhin mir meine Haare in zerzausten Strähnen ins Gesicht fielen.
Ich versuchte darüber nachzudenken wie es so hatte kommen können. Was war mir entgangen? Warum hatte ich das nicht schon vorausgeahnt? Ich dachte an die letzten Monate, in denen ich wirklich kaum zu Hause gewesen war, konzentrierte mich dabei auf die wenigen Zeitabschnitte, die ich mit meinen Eltern verbracht hatte. Die Abende, die seltenen gemeinsamen Essen, die Wochenenden. Viel geredet hatten wir nicht, schon gar nicht über solche Dinge. Allerdings waren auch die sämtliche Gespräche, die die 5-Minuten-Grenze überschritten, nach denen ich mich in der Regel in mein Zimmer zurückzog. Mein Familienleben bestand also sozusagen aus Zeiten des Schweigens, unterbrochen von Gesprächen in überdurchschnittlicher Lautstärke. So gesehen war ich wirklich selbst Schuld, von dieser Nachricht so unerwartet getroffen zu werden. Eigentlich, sagte ich mir nüchtern, hättest du dir das doch denken können. Eine harmonische Großfamilie ist schließlich nur etwas für Leute, in deren Leben sowieso schon alles Friede, Freude, Eierkuchen ist. Wer Glück hat, Kriegt noch mehr Glück obendrauf, und das Pech kommt immer zu denen, die beileibe schon genug davon haben.
Ich lehnte meinen Kopf an den schmutzigen Holzbalken und bemitleidete mich selbst. Das Leben ist nicht fair, dachte ich, ein Satz, den mein armer Kopf schon viel zu oft hatte denken müssen. Aber irgendwie hatte ich ja Recht, denn besonders viel Glück hatte ich wirklich noch nie gehabt.
Ich hatte keine besonderen Fähigkeiten, wenn ich verliebt war, dann immer in den Falschen, und ich fand mich weder besonders hübsch noch überdurchschnittlich intelligent. Und vor meinen Problemen war ich schon immer davongelaufen, ich führte sozusagen ein Leben auf der Flucht. Meine von Grund auf pessimistische Art machte mir das Ganze auch nicht leichter, aber ich versuchte es mit meinem gnadenlos selbstironischen schwarzen Humor zu überspielen. So ging es mir zwar eigentlich immer schlecht, aber ich war auch immer in der Lage einen Witz darüber zu reißen, damit niemand sich Sorgen machte. Nichts hasste ich mehr als diese selbsternannten Pseudo-Pädagogen, die, immer wenn man schlecht gelaunt an ihnen vorüber lief, meinte sie müssten einem jetzt sofort aus der persönlichen Krise helfen. Bei denen gab es anscheinend nur zwei Sorten, in die die Menschen eingeteilt wurden: Immer gut gelaunt oder manisch depressiv.
Während ich so dasaß und über das Leben im Allgemeinen und seine Ungerechtigkeiten mir gegenüber im Besonderen nachdachte, kam ich irgendwann auf den Gedanken, dass es wohl ratsam wäre, bald wieder nach Hause zu gehen, auch wenn ich darauf absolut keine Lust hatte. Meiner Meinung nach hätte ich hier gut und gerne noch eine Stunde verbringen können, aber ich hatte das Gefühl, das , erstens, meine Meinung meinen Eltern gegenüber nicht mehr viel zählte, und das, zweitens, meine Mutter höchstwahrscheinlich bald die Polizei einschalten würde, weil ich schon so lange weg war.
Seufzend erhob ich mich. Wie es aussah war die Zeit für eine direkte Konfrontation mit dem Schicksal wohl gekommen, dachte ich mir, und machte mich auf den Weg.
*
Treppen, Treppen und noch mehr Treppen! Warum gab es in diesem verdammten Haus keinen Aufzug? Ich konnte Mamas Begeisterung für diesen wunderschönen Altbau am Rande von London ja durchaus nachvollziehen, aber warum gerade die Wohnung im vierten Stockwerk? >>Sieh mal, Liebling, dieses wundervolle Treppengeländer... oh, und diese schönen Verzierungen an den Wohnungstüren, ist das nicht faszinierend?<< >>Hmpf.<<, murmelte ich, eine meiner Meinung nach durchaus angebrachte Antwort, denn denjenigen, der in der Lage ist, die architektonischen Vorzüge eines Treppenhauses zu bejubeln, während er sich mit drei zentnerschweren Taschen in den vierten Stock quält, möchte ich gern einmal kennenlernen.
Meine Mutter tänzelte vor mir die breiten Stufen hoch und bekam vor Begeisterung den Mund nicht mehr zu, was aber auch damit zusammenhing, das sie ununterbrochen auf mich einplapperte. >>...und stell die vor, nur fünf Minuten bis zur nächsten Subway-Station, und deine neue Schule, sie wird dir gefallen, eine echte englische Privatschule, ganz in der Nähe, du musst nur... <<. Ich versuchte, den nicht enden wollenden Strom von Worten einfach auszublenden. Eine bonzige Spießerschule, na super, da würde ich bestimmt viele Freunde finden. Wenn ich Glück hatte, bestand auch noch Schuluniformenpflicht, absolut zum Kotzen.
Völlig außer Atem hievte ich meine Taschen die letzte Stufe hoch. Na endlich, dachte ich erleichtert, und schleppte mich meiner Mutter hinterher in die neue Wohnung. Schön war sie schon, das musste ich zugeben, aber ansonsten...
Ich seufzte und wuchtete meine Taschen auf das neue Bett. Erschöpft lehnte ich mich an den Fensterrahmen. Draußen ging ein leichter Wind, der den Regen gegen die Scheiben prasseln ließ. Mir wurde beinahe schlecht, als ich an die Schulbesichtigung dachte, die in ein paar Stunden bevorstand. Es würde mir zwar wahrscheinlich nicht schwer fallen, ein paar Leute zu finden, mit denen ich in Zukunft herumhängen konnte und die ich meiner Mutter als "Freunde" präsentieren konnte, aber trotzdem bezweifelte ich dass die Anpassung an die neue Umgebung problemlos von statten gehen würde. Unter anderem würde es eine Weile dauern, bis die Lehrer verstehen würden, das man mich zu nichts motivieren konnte, weder mit netten Worten noch mit Drohungen, und das ich eben nur das machen würde was mir notwendig erschien oder worauf ich Lust hatte. Diese Einstellung hatte schon in meinen ehemaligen Schulen meinen Beliebtheitsgrad im Kollegium nicht besonders positiv beeinflusst, die einzigen, die mich eigentlich immer gemocht hatten, waren die Kunstlehrer gewesen. Oder jedenfalls die meisten davon. Nun ja, wir würden ja sehen... und hoffen, nämlich das die Schule ein möglichst vielseitiges Angebot an Arbeitsgemeinschaften und sonstigen Freizeitangeboten aufwies, denn wenn dies nicht der Fall war, müsste ich mich wohl gezwungen sehen, diese Schule als meine persönliche Hölle zu betrachten. Resigniert über die Gedanken, zuviel Zeit hier in dieser trostlosen, leeren Wohnung verbringen zu müssen ( nicht dass es besser wäre wenn meine Mutter nicht den ganzen Tag arbeiten würde, aber trotzdem), wandte ich mich um und begann, die Umzugskisten aus- und die vielen Bücher, die daraus zum Vorschein kamen, in die schon aufgebauten Regale einzuräumen.
Es waren hauptsächlich dicke Romane, mit deren Hilfe man sich aus seinem Leben wegträumen konnte, in fremde Welten und weit entfernte Länder. Zwei Kisten waren mit ihnen gefüllt. Jedes mal aufs neue war es eine Überwindung das Buch, welches ich gerade in der Hand hielt auch gleich auf dem Regalbrett zu platzieren. Viel lieber hätte ich mir ein gutes Buch geschnappt, mich ins Bett gekuschelt und wäre für eine Weile in der Geschichte verwunden, nicht ansprechbar, für niemanden. Da jedoch zum Lesen keine Zeit war, ordnete ich Buch um Buch ein, bis sich auf den Regalen und im Schrank kein Platz mehr fand, der Rest wurde in und auf meinem Schreibtisch verstaut. Nachdem ich die Umzugskisten geleert und mein Zimmer soweit bewohnbar gemacht hatte (die Bücher waren das wichtigste), einen kleinen Spaziergang zu machen, zum einen um die Gegend ein wenig kennenzulernen, zum anderen um meiner Mutter keine Gelegenheit zu bieten mich von neuem zuzutexten. Ich schlüpfte in meine Jacke, verabschiedete mich mit einem gemurmelten >>Ciao, bis nachher.<< von meiner Mutter, die gerade zum mindestens zehnten mal den Garderobenschrank neben der Tür verschob, weil sie fand, das sein Braun nicht mit dem Blau der Wand dahinter harmonierte, und verließ die Wohnung. Nachdem ich mich wieder die vier Stockwerke hinuntergekämpft hatte, versuchte ich mich, leider erfolglos, an der Putzfrau vorbei zu schleichen, welche mich mit bösem Blick für die Fußspuren strafte, die ich auf ihren frisch gewischten Fließen hinterließ. Mit schuldbewusstem Gesicht und einem genuschelten >>Sorry.<< schlüpfte ich durch die einen Spalt breit geöffnete Haustür. Draußen nahm ich mir erstmal einen Augenblick Zeit, um einen von der vom Regen gesäuberten, kühlen Vorfrühlingsluft zu genießen. Ich sah mich langsam um und überlegte, wohin ich gehen sollte. An sich war es vollkommen egal, ich kannte mich kein bisschen aus, daher marschierte ich einfach drauflos. Ich nahm mir vor, mir den gegangenen Weg gut einzuprägen, denn sich gleich am ersten Tag in der neuen Stadt zu verirren erschien mir kein besonders erstrebenswertes Ziel. Nachdem ich einen ganze Weile gelaufen war, ein gutes Stück weiter als ich ursprünglich beabsichtigt hatte, gelangte ich zu einem großen Kaufhaus, vor dem ein paar Jugendliche, denen anzusehen war das sie sich unglaublich cool fühlten, Bier tranken und Zigaretten rauchten. Da mir immer kälter wurde, und es deprimierenderweise schon wieder angefangen hatte zu regnen, beschloss ich, hineinzugehen und mir die Zeit damit zu vertreiben, die Leute zu beobachten, die darin herumliefen und ihre diversen Einkäufe tätigten.
Im Erdgeschoss befand sich eine Ansammlung verschiedener Cafés und Fastfoodrestaurants, vor denen irgendein ästhetisches Genie eine bunte Gruppe von Stühlen und Tischen platziert hatte, die so weit in den Raum hineinragten, dass der gemeine Einkäufer Mühe hatte, sich verlustlos daran vorbeizubewegen. Ich ließ mich wahllos auf einen davon fallen und erntete einige schiefe Blicke der Umsitzenden, wahrscheinlich auf Grund der schlechtgelaunten Miene, welche sich, gefühlsmäßig jedenfalls, für immer in meine Gesichtszüge eingebrannt zu haben schien. Auch eine übereifrige Kellnerin, welche gleich nachdem ich mich hingesetzt hatte herbeigeeilt kam, schenkte mich einen verärgert - verwirrten Blick, da ich ihre Frage nach einer Bestellung verneinte. Wie konnte ich es nur wagen, mich auf einen der Caféeigenen Stühle zu setzen, wo ich doch nicht einmal vorhatte mein ohnehin nur in Maßen vorhandenes Taschengeld für einen wässrigen, widerlichen Milchkaffee zu verschwenden! Als mir kam, dass es mich tatsächlich nicht interessierte was diese minderwertigen Geschöpfe von meinem Verhalten dachten, wandte ich meine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu. Demonstrativ gelangweilt ließ ich meinen Blick über die Menschenmassen schweifen, welche in diesem Kaufhaus zeitweilig ihr tristes Dasein fristeten, und genoss es in vollen Zügen, dass ich hier, wo mich noch niemand kannte, das arrogante, supercoole und von allen bewunderte Mädchen spielen konnte, bevor ich mich an die neue Wohnsituation anpassen musste. Mein schweifender Blick fiel auf die besonders lange Schlange vor einer Imbissbude. Ein ., das sich gerade in entgegengesetzte Richtung durch die Schlange drängelte, fiel mir besonders ins Auge, da die Tüte Pommes, die sie in der Hand hielt, so mit Ketchup und Mayonnaise bedeckt war, das man die Pommes darunter kaum mehr erahnen konnte. Erwartungsvoll folgte ich ihr mit den Blicken, in der Überzeugung, dass ein reinweißes Oberteil plus eine Übermenge an auffallend farbintensiver Soßeplus von vielen nassen Schuhsohlen rutschiger Boden keine allzu intelligente Kombination waren. Mit einem trotz aller Schadenfreude mitleidigen Lächeln beobachtete ich sie und wartete auf das Unvermeidliche. Ich war auf absurde Weise gefesselt von dem Schicksal dieses Mädchens, was zweifelsohne daran lag dass ich immer noch angestrengt versuchte, mich selbst vom Denken abzuhalten. Aus diesem einfachen Grund, nur weil ich zu feige war mich mit meinem eigenem Leben auseinander zusetzen, saß ich nun auf einem billigen Plastikstuhl in einem Einkaufszentrum, wo ich mich, zweifellos ein erstes Anzeichen des Wahnsinns, vollkommen in eine banale Alltäglichkeit im Leben einer Anderen hineinsteigerte. Als ich begriff, wie armselig ich mich verhielt, stieg die Scham in mir auf. Es
muss bescheuert ausgesehen haben, wie ich da so plötzlich von meinem Stuhl aufschnellte und ihn dabei beinahe umwarf, doch meine von einer Sekunde auf die andere entstandene Ruhelosigkeit ließ mir keine Wahl. Ich hatte das Gefühl, sofort etwas tun zu müssen, um nicht in diesem erbärmlichen Sumpf aus Selbstmitleid zu versinken. Ich quetschte mich die mit Tüten bepackt umherlaufenden Menschen dem Ausgang entgegen, als ich ein lautes Platschen und einen hysterischen Aufschrei hörte. Trotz der nicht gerade glücklichen Situation grinste ich breit. Wie ich es liebte, Recht zu behalten! Das Leben war ja so vorhersehbar… Was sollte ich jetzt tun? Ich musste nicht lange überlegen: Ich würde auf den Platz vor unserem Haus zurückkehren (wenn ich denn dorthin fand) und mir Freunde suchen. Jawohl, das würde ich tun.
*
Auf dem weitläufigen Platz, der , nur ein paar Straßen weiter, in der Nähe der neuen Wohnung lag, setzte ich mich erstmal auf eine Bank und beobachtete die Leute um mich herum. Es wäre nur vernünftig gewesen endlich nach Hause zu gehen, da es mittlerweile wirklich eisig kalt war und das hungrigen Knurren meines Magens in der Kategorie "Angsteinflößendes" bestimmt schon mit dem von Wölfen und Bären in einer Liga spielte. Seit dem gestrigen Abend hatte ich schon keine feste Nahrung mehr zu mir genommen, (es sei denn, man zählt den unfreiwilligen Verzehr mehrerer Staubflusen beim Putzen der Wohnung als Nahrungsaufnahme) und war inzwischen fast am Verhungern. Da der Kühlschrank, der in meinem neuen Zuhause auf mich wartete, auch nicht voller war als mein hungergeplagter Magen, und ich zudem natürlich kein Geld parat hatte, um mir etwas essbares zu kaufen, würde ich wohl oder übel darauf warten müssen dass meine Mutter sich dazu herabließ einkaufen zu gehen und das Gefrierfach mit diversen Fertigprodukten zu bestücken, damit ich mich an den einsamen Nachmittagen nahrungsmitteltechnisch selbst versorgen konnte.
Als das permanente Grollen und Brummeln meines Verdauungstrakts begann, mich zu nerven, stand ich auf und lief quer über den Platz zurück zu der breiten Straße die zur Wohnung führte. Ich hatte keine Lust mehr auf diese langweilige Einsamkeit, und meine Mutter wartete bestimmt... Verdammt! Meine Mutter! Das Treffen zur Schulbesichtigung! Wie konnte es nur passiert sein dass ich das vergessen hatte? War ich wirklich so gut im Verdrängen unangenehmer Gedanken, oder hatte die abgasangereicherte Stadtluft sich schon auf mein Gedächtnis ausgewirkt? Ich musste so schnell wie möglich zu dieser dummen Schule finden, sonst würde meine Mutter mir die Hölle heiß machen. Ich war schon eine gute Stunde zu spät dran... Ich beschleunigte meine Schritte, als mich auf einmal das seltsame Gefühl überkam, beobachtet zu werden, und zwar so unangenehm und intensiv wie nie zuvor. Ruckartig blieb ich stehen.
>>Hi, du bist neu hier, oder?<<, fragte eine fröhliche Stimme hinter mir. Erschrocken zuckte ich zusammen und riss meinen Kopf so schnell herum, dass ich mir beinahe den Hals verrenkte. Gefragt hatte, allem Anschein nach, das Mädchen das nun genau vor mir stand und mich mit leicht schiefgelegtem Kopf neugierig ansah. Ich starrte verwirrt zurück. >>Hi!<<, wiederholte sie, in keiner Weise verunsichert von meinem verdutzten Blick, und grinste mich breit an. >>Ich bin Emily<<, sagte sie nach ein paar Sekunden, und schien sich immer noch nicht daran zu stören dass ich sie bisher weder zurückgegrüßt, noch ihre Frage beantwortet hatte. >>Hi,<<, entrang ich mir schließlich, >>ich heiße Lilian, aber... nenn mich Lilly, okay? Du hast Recht, ich bin heute hergezogen.<< Ich war mir nicht sicher ob sie mein Herumgestammele verstanden hatte, aber seltsamerweise lächelte sie immer noch, schien also noch nicht an meiner Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln.
>>Und, wie gefällt dir London so?<<, fragte sie mich mit einem seltsamen Unterton, den ich nicht deuten konnte. >>Ganz... ganz gut?<<, erwiderte ich zögernd, es klang eher nach einer Frage als nach einer Aussage, ich war immer noch verwirrt von ihrem überraschenden Anfang dieses Gespräches. Erst als ich begann, Emily näher zu betrachten, verdrängte die Neugierde meine anhaltende Verunsicherung. Sie kam mir vage bekannt vor, als hätte ich sie schon einmal irgendwo gesehen. Andererseits, dachte ich mir, hätte ich mir das wahrscheinlich gemerkt, denn so auffällig wie sie gekleidet war, wäre es mir nicht möglich gewesen, diesen Anblick so schnell wieder zu vergessen. Ich hatte in meinem Leben schon viele sogenannte Gothics gesehen, von denen manche mehr, manche weniger stilvoll gekleidet waren. Mein Gefühl für sie hatte sich im Laufe der Zeit von Angst ( mit fünf), über Bewunderung ( mit zehn), zu Gleichgültigkeit entwickelt. ES gab bestimmt auch viele, die sich einfach nur so anzogen, weil es ihnen gefiel, oder weil eins ihrer Idole genauso herumlief, aber den meisten von ihnen, so dachte ich, ging es wahrscheinlich so ähnlich wie mir: Sie hatten das Gefühl, nicht so richtig in diese Welt zu passen, und wollten das auch zeigen. Die Springerstiefel und die Ledermäntel, die Nietenhalsbänder und Netzstrumpfhosen wirkten auf mich wie schlechte Verkleidungen, mit denen sich so manch einer Die Realität vom Leib halten wollte. Ich war froh, das ich diese Phase schon hinter mir hatte, und hatte für alle anderen, die noch mittendrin steckten, nur Mitleid übrig.
Emily jedoch passte in ihren eng geschnittenen, knielangen und tiefschwarze Ledermantel wie Bella Swan zu Edward Cullen. Der Mantel war allerdings auch schon das einzige an ihr, das einem sofort ins Auge stach. Die Kleider darunter waren( wenn auch, wie ich fand, verdammt cool) geradezu auffällig unauffällig. Ihre Haare waren beinahe genauso schwarz und glänzend wie das Leder ihres Mantels, und reichten, soweit ich das von vorne beurteilen konnte, ungefähr bis zur Mitte ihres Rückens. Aus ihrem schmalen Gesicht leuchteten zwei unnatürlich grüne Augen, die mich ihrerseits interessiert zu beobachten schienen.
Ich machte mich daran, ihre Frage zu beantworten, und versuchte dabei, sie den irren Eindruck, den ich zweifellos zuvor bei ihr gemacht hatte, vergessen zu lassen. >>Na ja, bisher hab ich ja auch noch nicht viel davon gesehen,<<, begann ich, >> aber ich denke ich werde mich schon einleben.<<
>>Hm...<<, machte sie, sah zu Boden und nickte wissend. Irritiert sah ich sie an. Seltsamerweise gab sie mir das Gefühl, gerade eine Befürchtung von ihr bestätigt zu haben. Sie lächelte mich noch einmal an, diesmal wirkte es irgendwie mitleidig, und sagte, wieder mit diesem undeutbaren Unterton:
>> Nun... wir werden uns noch sehen. Bis bald.<< Dann war sie verschwunden. Moment mal. Sie war verschwunden? ich blinzelte und sah mich geschockt um. Vor mir stand niemand, hinter mir auch nicht. Ich war allein inmitten der Menschen, die mit geschäftigen Mienen an mir vorbeieilten und mich keines Blickes würdigten.
*
Wieder zu Hause angekommen, legte ich mich auf mein Bett und versuchte herauszufinden, ob ich das alles gerade, so abgedroschen es auch klingen mag, vielleicht nur geträumt hatte. Ich wurde aus dieser mysteriösen Aussage am Schluss einfach nicht schlau, so oft ich sie mir auch durch den Kopf gehen ließ. Als ich schließlich eine geschlagene Stunde über das geheimnisvolle Mädchen mit ihren geheimnisvollen Worten nachgedacht hatte, beschloss ich, eine reine Selbstschutzmaßnahme, sie einfach als eine durch Reizüberflutung, auf Grund der neuen Situation, meines Gehirns hervorgerufene Halluzination abzutun und mich mit anderen, aktuelleren Problemen zu beschäftigen. Zum Beispiel wie ich meiner Mutter die verpasste Schulbesichtigung erklären sollte, wenn sie erstmal nach Hause gekommen war. Nachdem ich soviel Zeit mit den absurden Ausgeburten meiner in letzter Zeit sehr lebhaften Fantasie verschwendet hatte, hätte es ohnehin keinen Sinn mehr gemacht, noch bei der Schule aufzukreuzen, und so war ich einfach nach Hause gegangen. Bestimmte war sie stinksauer weil sie eine halbe Ewigkeit vor der Schule auf mich hatte warten müssen. Die Ausrede, ich hätte mich verirrt, kaufte sie mir bestimmt nicht ab, und die Wahrheit wäre neben ausschweifenden Drogenexzessen oder Autodiebstahl eine der letzten Geschichten, die ich ihr erzählen würde, da ich nicht vorhatte, meinen nächsten Lebensabschnitt in einer geschlossenen Anstalt zu verbringen.
Nachdem ich die seltsame Begegnung fürs erste erfolgreich aus meinen Gedanken verdrängt hatte, machte ich mich daran, eine halbwegs glaubhafte Ausrede für meine Abwesenheit zu erfinden. Ich dachte zuerst an eine komplett erfundene Geschichte, entschloss mich dann allerdings für eine, die so nahe an der Wahrheit war wie nur irgend möglich: Ich hatte auf meinem kleinen Spaziergang ein paar nette Leute getroffen (Lüge eins), mit welchen ich dann nett ins plaudern gekommen war (Lüge zwei) und schließlich, nach einem längeren Gespräch (Lüge drei), ich ein Café gegangen und zusammen einen schönen Tee getrunken hätte (Lüge vier). Sollte sich meine Mutter sich trotzdem dazu entscheiden, mir wegen dieser Nichtigkeit von einer zweistündigen Verspätung (beziehungsweise vollkommener Abwesenheit) böse zu sein, würde ich ihr zuerst wegen des Umzugs ein schlechtes Gewissen machen, um ihr dann anschließend zu erklären, dass das Fehlen jeglicher sozialer Kontakte in einer neuen Stadt für ein armes, ohnehin schon durch die Trennung der Eltern psychisch belastetes Kind wie mich sehr schädlich sein konnte, und dass das Unterbinden des Knüpfens selbiger aus pädagogischer Sicht absolut nicht zu verantworten war. Wenn sie mich dann schuldbewusst ansah, würde ich ihr gnädigerweise verzeihen und sie dazu überreden, mit mir irgendwo Essen zu gehen, damit dieses fiese Loch in meinem Bauch nicht noch zu einer dauerhaften Erscheinung wurde.
Mit diesem perfekten Plan im Kopf und immer noch leerem Magen schwang ich mich aus dem Bett und marschierte aus der trostlosen, stillen Wohnung um meiner Mutter entgegenzutreten.
Warum? Warum hatte meine Mutter gerade heute entschieden dass die Zeit, auf meine genialen Ausreden/Lügen/Geschichten hereinzufallen jetzt schlagartig vorbeigehen musste? Sie war so schön gewesen, so leicht und unbeschwert... mehr oder weniger jedenfalls. Jetzt würde mein Leben wahrscheinlich kalt und langweilig werden. Kalt auf jeden Fall, da aus irgendeinem mysteriösen Grund die Heizung in unserer Wohnung noch nicht funktionierte, langweilig ziemlich sicher aus dem simplen Grund, das ich alles was ich ab jetzt tat so realitätsnah und glaubhaft wie möglich würde erklären müssen. Was soviel heißt wie immer die Wahrheit sagen... wie langweilig und unaufregend. Und das Beste war natürlich die Tatsache, dass der Direktor meiner neuen Schule mich wahrscheinlich jetzt schon verabscheute. Das war ein neuer Rekord, ich hatte es, meines Wissens, noch nie geschafft von jemandem gehasst zu werden den ich noch nicht einmal kennen gelernt hatte. Was natürlich
keine Leistung war auf die besonders stolz war. Seufzend lehnte ich die Stirn an das kalte, beschlagene Autofenster, gegen das von der Außenseite immer noch der Regen prasselte. Zum wahrscheinlich hundertsten Mal war meine Mutter gezwungen
vor einer der enervierenden Ampeln, die in London leider in einer schier unzählbaren Anzahl vorhanden waren, anzuhalten. Innerhalb der letzten zwanzig Minuten hatte ich einen außergewöhnlich großen Hass auf rote Ampeln entwickelt, welcher
hauptsächlich aus dem Sachverhalt heraus entstanden war, dass die unfreiwilligen Aufenthalte an mindestens jeder zweiten der leuchtenden roten Augen, die mich von den Spitzen ihrer Pfosten schadenfreudig anfunkelten, die eigentlich recht kurze
Fahrt um ein vielfaches verlängerte. Jeder, der schon einmal nach einem Streit mit einer/der beteiligten Person für längere Zeit auf kleinem Raum eingepfercht war, kann die Erleichterung die ich empfand, als es mir endlich erlaubt war aus dem geparkten
Auto ins Treppenhaus der Tiefgarage zu flüchten, sicherlich nachvollziehen. Ich atmete tief durch - und bereute es sofort. Der widerliche Gestank nach Benzin und Abgasen löste unverzüglich einen Brechreiz aus. Die Luft in Tiefgaragen auf übelste verfluchend, rette ich mich schnellen Schrittes in das kühle, neonerleuchtete Treppenhaus, von welchen ich angenommen hatte, dass die Luft dort noch so etwas wie Sauerstoff enthielt, aber enttäuscht feststellen musste dass dem nichts so war. Auch die Sache mit dem Gestank hatte sich hier nur geringfügig gebessert. Ich lehnte mich an die Wand, um auf meine Mutter zu warten. Es war mir zwar zutiefst unangenehm, ihrem vorwurfsvollen Blick zu begegnen, der ja, wie ich genau wusste, zu einem guten Teil berechtigt war, aber wie es der Zufall wollte (welcher mir heute definitiv nicht wohlgesinnt war) hatte ich meinen Schlüssel in meinem Zimmer liegen gelassen und war somit gezwungen, dieses Opfer auf mich zu nehmen. Ansonsten, dessen war ich mir sicher, würde meine Mutter es fertigbringen mich im Treppenhaus übernachten zu lassen. Ich hörte wie die Tür ein Stockwerk unter mich mit voller Wucht zugeknallt wurde. Kurz darauf stöckelte sie an mir vorbei, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Resigniert stapfte ich ihr hinterher, um die nächste Strafpredigt über mich ergehen zu lassen.
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für irgendeinen Menschen da draußen, den ich einmal lieben werde, ich weiß noch nicht wann.