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Trugschluss

Alles war grau in grau, es regnete schon seit Tagen. Blitze webten ein eigenwilliges Muster am Himmel. Die Kälte kroch einem unter die Haut. Der Wind war eindringlicher als dieser Kerl, der mir schon seit Stunden im Club auf die Pelle rückte und egal, wohin mein Blick schweifte, stets begegnete ich seinem. Jedes Donnern war wie ein Schlag der Uhr. Es wurde vom Mal zu Mal lauter, es dröhnte in meinen Schläfen, schnürte mir die Kehle zu und meine innere Stimme flüsterte mir ins Ohr, meine Zeit wäre abgelaufen.

Ich schüttelte mich ab, bevor ich ins Auto stieg. Um die Wirkung der düsteren Stimmung von mir abzuwerfen, um die erfrorenen Gliedmaßen wieder zum Leben zu erwecken, um diesen eindringlichen Blick des Fremden aus dem Gedächtnis zu verbannen und um das zu tun, was mir der Türsteher nahe legte: zusehen, dass ich nach Hause käme. Ich fuhr los, gab Gas. Die Blitze griffen nach mir und ich gab noch mehr Gas. Mir schien, als würde der Himmel hinter mir auf die Erde stürzen und ich wollte diesem Inferno entkommen. Die Äste der Bäume am Straßenrand bogen sich im Wind bis zum Boden. Entweder wollten sie mich fangen - oder mich am Weiterfahren hindern. Beides käme den zwei Lichtern, die mich schon seit Kilometern verfolgten, sehr recht und ich gab noch mehr Gas.

„Nein!“, jaulte ich erschrocken auf. Ein grelles Licht, ein ohrenbetäubendes Grollen, ein Herz zerreißendes Krächzen und ein toter Baum auf der Straße, genau vor meiner Stoßstange. „Nein!“, jauchzte ich erneut, meine Augen füllten sich mit Tränen, mein Herz kroch mir die Kehle hoch, meine zittrigen Finger konnten den Zündschlüssel nicht fassen. Der Motor keuchte, hustete, aber sprang nicht an. „Nein!“, flüsterte ich ein drittes Mal. Angst raubte mir die Stimme, mein Handy war ohne Empfang und die zwei Lichter im Rückspiegel verwandelten sich plötzlich in die Augen des Fremden. „Nein!“, kam mir gar nicht mehr über die Lippen. Es hallte nur in meinem Kopf, als ich hilflos im Gurt zappelte, mir die Heels von den Füßen abstreifte, während ich das Auto mit laufendem Motor im Hintergrund nicht aus den Augen ließ.

 

Zwei Türen gingen auf. Eine dunkle Gestalt stieg aus dem fremden Wagen in den Regen und kam mit langen Schritten auf mein Auto zu. Ich war längst weg. Ohne Jacke, die lag im Kofferraum.

 

Äste knackten und ich kauerte mich zusammen, durchnässt bis auf die Haut. Das Wasser lief mir in Strömen übers Gesicht und mischte sich mit meinen Tränen. Kieselsteine kullerten den Hang hinab, hupften an mir vorbei. Ich hielt den Atem an. Es raschelte im Gebüsch. Mein eigener Herzschlag dröhnte in meinen Schläfen und raubte mir die Sinne. Ich schluchzte in meine Hand, um keinen Laut von mir zu geben. Platsch. Das angesammelte Regenwasser fiel vom Blatt in einem riesigen Tropfen auf meine Schulter. Vor Schreck kippte ich nach vorne und tauchte mein Gesicht ins nasse Moos. „Du stirbst hier!“, pfiff mir der Wind ins Ohr. Ich hauchte meine durchgefrorenen Fingerspitzen an, nicht um sie aufzuwärmen, sondern um meinen Atem zu spüren, zu fühlen: Ich lebte noch. Mit einem haarsträubenden Ächzen verabschiedete sich der Baum hinter mir vom Leben. Es rauschte, als er die Äste angrenzender Bäume mit sich riss. Es knirschte, als sich Rinde an Rinde rieb, es fühlte sich wie ein Erdbeben an, als mein Herz in Panik erzitterte. Der entstandene Luftzug überbrachte mir eine Botschaft, die mich wachrüttelte: „Du stirbst hier!“.

 

Jetzt saß ich schutzlos im Schlamm. Der Himmel war bedeckt, keine Sterne in Sicht. Ich konnte meine Nasenspitze nicht erkennen. Aber ich hörte ihn. Er kam immer näher. Gezielt, als wüsste er genau, wo ich mich versteckte. Wie ein Tier bewegte er sich zielsicher in dieser alles verschlingender Dunkelheit, die alles mit sich nahm, nur mich hier alleine ließ, meinem Schicksal ausgeliefert. Konnte er etwa meine Angst riechen? „Du wirst hier sterben!“, prasselten die schweren Regentropfen auf mein nasses Haupt. Es war nur Wasser, aber es fühlte sich an, als wäre mein Kopf eine Trommel und die Elemente legten ein Schlagzeugsolo ein. Er kam immer näher. Es war ein ständiges Knistern und Schlurfen. Wieder rollten Kieselsteine an mir vorbei, Sträucher raschelten, Äste brachen, Blätter rauschten, der Wind säuselte, die winterlichen Temperaturen verwandelten die Regentropfen in messerscharfe Kristalle, die mir tief ins Fleisch schnitten. „Ich werde hier sterben!“, zeichnete mein Atem atemberaubende Bilder in die Luft. Mit jedem meiner Herzschläge kam er mir näher, sprang gekonnt über den entwurzelten Stamm, landete sanft wie ein Raubtier in dem Moos, in dem ich vorhin meine Seufzer begrub und sah sich um.

 

Ich war nicht mehr dort, denn ich rannte um mein Leben. Ich lief, ich stolperte und ich fiel, mit fremden Schritten im Nacken. Nur in Strümpfen, mit zerrissener Bluse, zerzaustem Haar und Augen voller Tränen. Wie ein verängstigtes Tier hetzte ich davon, ohne nachzudenken. Ich sprang über Wurzeln, rutschte im Schlamm, blieb im Dickicht stecken. Mein Haar verhedderte sich in den Gebüschen, dünne Äste ritzten mir ihre Initialen ins Gesicht. Ich verlor meinen Ohrring, den ich von meiner Mutter geschenkt bekam, aber ich hatte noch mein Leben. Wie lange noch? Er war groß und schwer und nicht zum Überhören. „Ich will nicht sterben!“, das Regenwasser fror mir unter den Füßen ein. Ich fand keinen Halt mehr, schlitterte blind den Hang hinab. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Plötzlich wurde es ruhig, ganz still, nur mein Herz schlug, als ob es nichts anderes auf der Welt gäbe. Denn ich nahm nichts anderes mehr wahr.

 

Ein Blitz riss die Wolken auf und es wurde hell. Hell am Himmel, hell im Wald, hell auf meinem Weg, zwischen den Bäumen, an den Sträuchern vorbei, mitten durchs Dickicht, direkt auf eine Schlucht zu. Ich hielt die Luft an, aber mein Herz schlug weiter. Ich flog ungebremst in den Abgrund – direkt in seine Hände.

 

Mein Krampf löste sich langsam auf, nur das Tränenmeer wollte nicht versiegen. Ich seufzte und schluchzte, wischte mir mit dem nassen Arm die Tränen aus den Augen. Von der Bluse blieb nicht viel übrig. Ich zupfte mir die Haare aus dem Gesicht, holte tief Luft, atmete mehrmals kräftig durch und sah in die Augen, in die ich regelmäßig blickte und dankte der Hand, die ich täglich zum Gruß schüttelte, dass sie mich auffing. „Du bist es. Mein Gott, ich dachte, ich müsste sterben“, mischte sich mein Wimmern mit einem erleichterten Lachen - oder eher einem Gurgeln, als mir der nächste Blitz mein Schicksal offenbarte. „Noch nicht“, grinste mich der Türsteher selbstgefällig an. Mein Herz blieb stehen. Mein Atem zeichnete keine einmaligen Bilder mehr in die eisige Luft, plötzlich regnete es nicht mehr, die Wolken waren verschwunden und der Mond schien. Ich blickte hoch, wie in Trance, starrte Sekunden lang diese grelle Kugel am Himmel an und fragte mich, ob er persönlich meinem Untergang zusehen wollte. „Was?“ Ich runzelte nur die Stirn, der Anblick der glänzenden Klinge in seiner Rechten verschlug mir die Sprache. „Na, komm schon, sei ein braves Mädchen, dann hast du es bald hinter dir.“ In seiner Linken erschien ein völlig durchnässtes Seil. Ich wischte mir mit meinen nassen Händen übers Gesicht, aber es half nichts. Es war real, kein Albtraum. Nein, eigentlich ein real gewordener Albtraum. Denn er stand immer noch da, grinste mich an, fixierte mich mit seinen leuchtenden Augen und war bereit, mich an jeder unüberlegten Bewegung zu hindern. Er nickte leicht mit seinem Kopf und sein Blick rutschte die Knopfleiste meiner Bluse runter. Ich begriff und begann meine Hose auszuziehen. Ich kam mir vor, als wäre ich nicht ich, als würde ich mir aus einem sicheren Versteck zusehen. Keinen einzigen klaren Gedanken konnte ich fassen, mein Kopf war leer, meine Tränen versiegt, mein Atem ruhig, mein Herzschlag kaum bemerkbar. Habe ich mich etwa damit abgefunden, was kommen sollte? Ich spürte nicht mal mehr die Kälte, als ich die Hose in der Hand hielt, es herrschte Windstille. Der Regen schien nur darauf gewartet zu haben, mich ihm in die Hände zu treiben und jetzt hatte er keinen Grund mehr, auf die Erde zu fallen.

 

Ich faltete die Hose zusammen und suchte apathisch nach einem geeigneten Platz, um sie abzulegen. Schließlich war ich ein ordnungsliebender Mensch. Als hätte es noch einen Sinn. Ich bemerkte einen Baumstumpf und machte einen Schritt auf ihn zu. Dabei stieg ich aufs glitschige Laub, rutschte ab, stieß mit dem Fußballen gegen den Stumpf, verlor den Halt, balancierte mit den Händen, warf meine Hose in die Luft und traf ihn mit den Nieten auf dem Hosenbein ins Auge. „Autsch!“, zischte er laut und kniff vor Schmerz die Augen zu. „Entschuldige“, rutschte mir automatisch über die Lippen und mit dieser höflichen Geste kehrte schlagartig das Leben in mich zurück. Der laute Herzschlag pumpte das Blut in meine steifen Glieder, die Muskeln bekamen Kraft, meine Beine Halt, mein Gehirn Sauerstoff. Noch bevor meine Entschuldigung verstummte, war ich hinter den ersten Bäumen verschwunden. „Ich krieg dich!“, bombardierte mich das Echo von allen Seiten, sogar die Natur wollte mich verwirren. Sollte ich die Orientierung verlieren und ihm wieder in die Hände laufen? „Verschwinde!“, fauchte ich den Mond an. Jeden Abend habe ich ehrfürchtig diese Kugel auf dem Himmelszelt angebetet und jetzt sollte sie sich als mein Feind entpuppen. Als ob mich die Elemente erhört hätten, brach die Himmelsdecke auf und das Wasser fiel hinab. Ich lief nicht mehr, ich schwamm davon, glitt, wurde vom Schlamm weggetragen. „Ich kriege dich!“, hallte mir immer noch im Kopf, als ich auf dem Hintern den Hang hinab schlitterte. „Nur über meine Leiche!“ Ich biss die Zähne zusammen. Der erste Blitz zeichnete die Klinge seines Messers auf dem Himmel nach und spornte mich an, die schmerzenden Glieder nicht zu beachten. „Ich kriege dich!“, rief mir jeder abgebrochene Ast, jeder herum rollende Kieselstein, jeder seiner Schritte zu. Ich konnte es nicht mehr hören, ich wollte es nicht mehr hören. Ich hatte keine Lust mehr, ich hatte keine Kraft mehr, um für mein Leben zu kämpfen. Mit letztem Atemzug flog ich übers Dickicht auf die Straße und blickte grellen Scheinwerfern entgegen. „Nur über meine Leiche!“ Ich blieb wie angewurzelt stehen, wie ein geblendetes Tier. Es hupte, Reifen quietschten, es knisterte im Wald, raschelte im Gebüsch und ich stand da - wie angewachsen, starrte in das Licht und da war er wieder, dieser scharfe, aufdringliche Blick…

 

Ein Aufprall, ich wurde weggerissen, von der Straße gefegt, es schmerzte überall. Ich fragte mich, ob sich Bäume so fühlen, wenn sie gefällt werden. Plötzlich schlug ich mit dem Kopf auf und es wurde noch finsterer - als es schon war.

 

„Prellungen, Schürfwunden, eine Beule am Kopf und ein Schock, nicht mehr.“ Mich hielt der Blick immer noch in seinem Bann. Es war der lästige Typ aus dem Club, der sich als Polizist entpuppte. Der Türsteher wurde verdächtigt, fünf Frauen vergewaltigt und umgebracht zu haben. Man beschattete ihn.

 

Ich lag ich im Krankenhaus, fror nicht mehr, meine Schmerzen hielten sich in Grenzen, der Schock lähmte meine Zunge und so hörte ich nur zu und freute mich über mein Leben.

 

Es war der Morgen danach und dieser Morgen war sonnig und klar.

Impressum

Texte: Zoe Zander
Cover: Zoe Zander/Jeanette Peters
Lektorat: Zoe Zander
Tag der Veröffentlichung: 25.09.2018

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