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Schnipp

Es war eine düstere Winternacht und ich war allein im Haus. Der Hund bellte die ganze Zeit, erst gegen Mitternacht gab er endlich Ruhe. Ich wälzte mich noch eine Weile hin und her, hörte das alte Haus ächzen und knarren und war gerade am Einschlafen, als ich merkte, dass es ganz hell im Zimmer geworden war. Ich öffnete die Augen und sah zu meinem Schreibtisch rüber. Ganz oben auf dem Stapel meiner sorgfältig sortierten Unterlagen befand sich etwas. Es war so winzig, dass ich es kaum erkennen konnte. Aber es strahlte so grell und machte in meinem Zimmer die Nacht zum Tag.

Neugierig stahl ich mich aus dem Bett, warf mir den Morgenmantel über und schlurfte barfuß zum Tisch. Dort angekommen, drehte ich mich um und sah zum Bett hin, ob ich etwa schlafwandelte, oder gar träumte. Prüfend blickte ich auf die Uhr und zwickte mich schließlich in den Oberarm. Der Schmerz trieb mir sofort die Tränen in die Augen und den Schrei konnte ich mir nur mit einem beherzten Biss in die Unterlippe verkneifen. Ich wollte nicht die ganze Straße zusammentrommeln.

Ich rieb mir ungläubig die Augen, während ich auf meinem Computersessel Platz nahm. Es passierte nicht täglich, dass ich eine Fee in meinem Zimmer zu Besuch hatte. „Eine Fee? Ich habe sie doch nicht alle“, sagte ich leise zu mir und betrachtete das filigrane Wesen auf dem Papierstapel. Sie schien mich zuerst gar nicht bemerkt zu haben. Ich ertappte mich dabei, ernsthaft nachzudenken, ob alle Feen weiblich waren. Nüchtern schüttelte ich meinen Kopf und schrieb diese Begegnung dem Cocktail aus Schlaftabletten, Alkohol und extremen Stress zu, dem ich in der letzten Zeit ausgesetzt war.

„Was guckst du mich so an, hast du etwa noch nie eine Fee gesehen?“ Ihre Stimme ähnelte mehr dem zarten Klingeln einer Glocke, das von einer sanften Brise von der Ferne zu mir geweht wurde, als einem gesprochenen Wort. Zwei winzige Augen sahen mich dabei an. Für Augenblicke verlor ich mich in diesem bodenlosen Grün. Mir war, als wäre ich in eine andere Welt eingetaucht. Weit weg von der Realität.

„Nein“, flüsterte ich angetan. Langsam schob ich meine Hand über den Tisch. Ganz vorsichtig, als würde ich mich einer Seifenblase nähern. Wie ein erkundender Junge versuchte ich einen Blick unter ihr Kleid zu erhaschen. Meine Fingerspitzen kribbelten vor Neugier.

„Autsch!“, biss ich mir vor Schreck in die Zunge und pustete den Schmerz von den Fingern. Die Fee hatte mir mit ihrer winzigen Hand einen Hieb verpasst. Es fühlte sich an, als hätte ich in eine Steckdose gefasst.

„Was sind es für Manieren!“, fauchte mich dieses Wunderwesen empört an. Ich runzelte die Stirn.

„Was machst du hier?“, fragte ich. Sie richtete sich zuerst ihr Kleid zurecht und sah mich dann bedrückt an.

„Ich habe mir den Finger gebrochen, jetzt kann ich nicht schnippen und komme hier nicht weg.“ Ungläubig schüttelte ich meinen Kopf und führte das Fortbestehen dieser Wahnvorstellung dem schweren Abendessen und den ungelösten Serienmordfällen zu, die mich beschäftigten.

„Können Feen etwa nicht zaubern?!“ Mir kamen die Märchen meiner Oma in den Sinn, als ich noch ein Kind war.

„Hallo, du Schlauberger!“ Streckte sie mir ihr Ärmchen, so dünn und klein wie ein Streichholz, entgegen. „Hörst du schlecht? Finger gebrochen!“ Stellte sie sich dabei sogar auf die Zehenspitzen. Viel größer wirkte sie dadurch nicht. „In meiner Welt würde mir so ein Missgeschick gar nicht passieren. Aber hier“, wurde sie plötzlich traurig und fügte weinerlich zu, „kann ich mir ohne den da, nicht helfen.“ Schielte sie verzweifelt ihren krummen Finger an. Wortlos stand ich auf. Langsam, denn schnellere Bewegung könnte einen Luftwirbel erzeugen, welcher das kleine Zauberwesen ordentlich durchrütteln würde. Ich holte aus dem Schrank meinen Arbeitskoffer heraus.

 

Mit vierzig glaubte ich längst nicht mehr an Zauberwesen. Seit Jahren arbeitete ich bei der Spurensicherung. In dieser Zeit habe ich einiges gesehen. So eine kleine Fee konnte mich nicht aus der Fassung bringen. Und weil ich eben vieles erlebte und sah, war mir das Lachen längst vergangen. Dies war auch der Grund, warum mich meine Frau eines Tages vor die Tür setzte. Ich war ein Trauerkloß geworden, der das Lachen verlernt hatte. Jetzt wohne ich bei meinen Eltern unterm Dach und teile mir mein Zimmer mit meiner geliebten Modelleisenbahn.

 

Mit ernster Miene und hoch konzentriert, so wie immer, machte ich mich an die Arbeit. Ich schaltete die Tischlampe ein, fixierte das Vergrößerungsglas, denn die zu behandelnde Stelle war äußerst winzig, und machte mich ans Werk.

„Weißt du auch, was du da tust?“ Nur zaghaft vertraute sie mir ihren gebrochenen Finger an. „Mach dir keine Sorgen.“ Ich war längst in meinem Element – dem Miniaturmodellbau.

„Erzähle mir was von dir“, versuchte ich, meine Patientin abzulenken. „Was macht ihr Feen den ganzen Tag so?“ Ich bastelte gerade aus einer Haarnadel eine Schiene. „Und wo kommt ihr her?“ Sollte ich eines Tages in der Irrenanstalt landen, so würde ich meinen Gummizellengenossen was zu erzählen haben.

Die kleine Fee setzte sich auf den Radiergummi, seufzte tief und fing an, zu erzählen: „Ach, weißt du“, sah sie mich belehrend an. „Wir Feen sind weder männlich noch weiblich.“

„Ach so“, brummte ich in meinen Bart.

„Jedes Mal, wenn ein Mensch lacht und dieses Lachen wie ein Spiegel auseinander bricht, entstehen aus den Scherben Feen.“ Sie erzählte und beobachtete mich, wie ich in akribischer Kleinstarbeit aus einem Wattebausch die Polsterung für die Schiene bastelte. Feen sind ja schließlich sehr empfindlich – hatte wenigstens meine Oma stets erzählt …

 

„Hörst du den Busch singen?“, flüsterte mir meine Oma ins Ohr, als ich gerade mal vier Jahre alt war. „Das ist der Gesang der Feen.“ Sie streifte mir mit ihrer schwieligen Hand durchs Haar. „Und siehst du die Tautropfen in der Morgensonne schimmern?“ Ich ließ mich ins Gras fallen und steckte meine Nase zwischen die Kleeblätter. „Das sind in Wirklichkeit die Tränen der Feen, weil die Menschen viel zu wenig lachen und es deshalb immer weniger von ihnen gibt.“ Mein naives Herz war damals erschüttert. „Dort, schau, der Regenbogen!“ Sie zeigte mit ihrem zittrigen Finger in die Ferne. „Tausende kleiner Feen haben ihn mit winzigen Pinseln auf den Horizont gemalt …“

 

„… und nachts trösten wir kleine Kinder, die sich in der Dunkelheit fürchten, bescheren den Menschen schöne Träume und tauschen die Milchzähne gegen Geschenke aus“, beendete meine außergewöhnliche Patientin ihre Geschichte. Auch ich war mittlerweile mit der Arbeit fertig und gemeinsam begutachteten wir mein Werk. „Was bist du für eine Fee?“ Mit einem tiefen Atemzug pustete ich ihr die Haare aus dem Gesicht. „Ich bin eine Fee in Ausbildung“, sagte sie voller Stolz. Ich kratzte mich gerade am Bart, mir war etwas Interessantes eingefallen. „Sag mal, kannst du nicht mit den Fingern der anderen Hand schnippen?“ Erstaunt betrachtete sie ihre gesunde Hand, mit der sie vorhin meine neugierigen Finger zurecht gewiesen hatte und blickte anschließend zu mir hoch. Einige Augenblicke sahen wir uns schweigend in die Augen und fingen dann an zu lachen.

Als wir uns nach langen Minuten besannen, wischte ich mir die Lachtränen aus dem Gesicht. Im Inneren fragte ich mich, wann ich das letzte Mal so ausgiebig lachte und ob ich überhaupt jemals so erfrischend gelacht hatte. Eine Frage richtete ich noch an meinen nächtlichen Gast: „Und was macht eine Fee in Ausbildung?“ Schnippbereit stand sie auf: „Menschen zum Lachen bringen, damit es jede Menge neue Feen gibt…“  

Impressum

Texte: Zoe Zander
Cover: Zoe Zander/Jeanette Peters
Lektorat: Zoe Zander
Tag der Veröffentlichung: 25.09.2018

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