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Gerade noch war ich vom Vogelgezwitscher umgeben. Nun war es verschwunden. Ob es die leichte Brise mit sich fort trug, die mich auch nicht mehr unter der Nase kitzelte? Der Geruch der süßen Waldfrüchte hat sich auch verflüchtigt, dafür stieg mir jetzt der ölige Gestank des Metallrostes in die Nase, auf dem ich lag.
Langsam rappelte ich mich auf die Knie und sah mich um. Meine zwei Verfolger waren verschwunden, genauso wie der Wald und alles, was dazu gehörte.
Vorhin zwar auf der Flucht - dafür frei, saß ich nun in einem kleinen Raum fest. Der Rost unter meinen Knien wackelte, die kleinen Lichtanzeigen auf den Wänden blinkten. Überall zischte es und pfiff. Aus den undichten Rohrleitungen entlang der Wände schoss mir ein übel riechender Dampf entgegen. Meine Augen füllten sich sofort. Ich glitt mir mit den Händen übers Gesicht, als wollte ich alles wegwischen. Die Tränen und auch den Schweiß, den mir die Hetzerei durch den Wald aus den Poren trieb. Aber vor allem diesen bösen Traum.

Wahrscheinlich war ich gegen einen Baum gelaufen und lag nun bewusstlos im Gras. Doch das dazu passende Gefühl wollte sich nicht einstellen. Ich fühlte mich nicht unbeschwert, sondern – angekommen. Zur richtigen Zeit, am richtigen Ort.
Ich erhoffte mir von meinem unbekannten zweiten Ich weitere Informationen. Es schien sich jedoch in den Ästen des Baumes verheddert zu haben, der meinem Bewusstsein das Licht ausknipste und mir diesen Alptraum bescherte. Ich war also auf mich alleine gestellt. Sogar das unerklärliche Gefühl der Sicherheit war auf einmal weg, geblieben war mir nur ein einziger Gedanke: So war das alles nicht geplant. Weder die Umstände in dem Wald, noch in dieser kleinen, blinkenden und fiependen Blechbüchse.

Mir fiel ein Sitz auf. Er war nur einen Schritt vor mir im Boden verankert. Seitlich konnte ich zwei Arme erkennen. Finger in Handschuhen, die über die Bedienerkonsole liefen. Zu den Fingern und Armen musste es jedoch auch einen Körper geben und diesen vermutete ich hinter der hohen Sitzlehne.
„Wo bin ich hier?“ Richtete ich meine Worte an die unbekannte Person. „Wo bin ich? Was geht hier vor?“, fragte ich noch lauter, aber die Gestalt schien mich entweder nicht zu hören, oder war zu beschäftigt, um zu antworten.
Ich brauchte allerdings dringend Antworten. Irgendwas, was mich innerlich beruhigen würde. Etwas so Unreales, damit es keine Zweifel mehr gab, dass dies hier nur ein Traum war. Leider gab es außer den blinkenden Lichtanzeigen keine andere Lichtquelle und das erschwerte meine Suche nach den gewünschten Hinweisen.

Über meinem Kopf knallte es plötzlich. Als wäre ein großer Stein gegen eine Glasscheibe gekracht. Ich erwartete Glassplitter und schlug meine Arme schützend über meinem Kopf zusammen. Doch der Splitterregen blieb aus. Dafür knallte es gleich noch mal. Vor Schreck kauerte ich mich zusammen, dass nur ein Häufchen Elend von mir übrig blieb und sah mich gleichzeitig nach einem Versteck um. In diesem winzigen Raum gab es nichts, wohin ich mich hätte verkriechen können. Die einzige Möglichkeit war, mich gegen die Wand zu drücken, als würde ich versuchen, so flach wie ein Papierblatt zu werden.
Ich tat mein Bestes und blickte erst danach nach oben.
„Mein Gott!“, schrie ich entsetzt.
Ein Anblick, bei dem jedem Landwirt das Lachen vergehen würde.
Eine ganze Horde vom fliegenden Irgendwas, das sich wie Heuschrecken auf ein Ernte reiches Feld stürzen wollte. Nur saß ich nicht zwischen goldgelben Maiskolben, sondern in einer knirschenden und ächzenden Blechdose mitten im Nichts. Als ob das nicht reichen würde, verspürte ich ein Brennen in der Brust, das sich schlagartig zu einer alles verschlingender Hitze entwickelte und mich keuchend und hustend nach Luft ringen ließ.

Eine Panikattacke? Womöglich. Wenn ich schon das Fürchten lernen soll, dann anscheinend ordentlich. Wären mir bei dem schmerzhaften Brennen die Gesichtszüge nicht entglitten, hätte glatt ein sarkastisches Grinsen herzaubern können.

Während ich die Knöpfe meiner Bluse öffnete, in der Hoffnung, mehr Luft zu bekommen, verlor sich mein Blick in den schier endlosen Weiten des Weltalls.
Die Angreifer waren in dem Licht der weit entfernten Sterne nur schwer erkennbar. In dem Blitzgewitter ihrer Schüsse sah es so aus, als würden sie jedes Mal aus dem Nichts auftauchen, um anzugreifen. Und bei jedem weiteren Aufblitzen wurden sie immer größer. Ein Zeichen dafür, dass sie uns näher kamen.
Plötzlich fühlte ich mich winzig und ihnen schutzlos ausgeliefert. Ich steckte in dieser zittrigen Blechbüchse mit einem Glasdeckel, der den Einschlägen nicht mehr lange stand halten würde. Meinem Sportwagen mutete ich jedenfalls bessere Knautschzonen zu, als diesem intergalaktischen Vehikel.
Obwohl ich in die Dunkelheit blickte, galt mein sorgenvoller Blick dem Piloten. Wenn es der Gestalt am Steuer nicht gelingen sollte, uns bald aus dem Feuerhagel raus zu bringen, würden uns diese insektenartigen Dinge in Tausend Teile zerlegen.

Eigenartig - wurde ich mir plötzlich meiner Gedanken bewusst.
Nun dachte ich auf einmal nicht mehr ans Aufwachen, nicht ans feuchte Gras und eine Beule auf der Stirn, sondern stelle mir die Frage, was schiefgelaufen war.

Mit tiefen Atemzügen versuchte ich das Gefühl, beim lebendigen Leibe verbrennen zu müssen, aus meinem Inneren zu befördern. Und mit jedem dieser Atemzüge verbannte ich auch Fragen wie diese aus meinem Kopf. Nach einer Weile grübelte ich nicht mehr darüber, wie ich dazu kam, zu denken, dass es hier nicht so lief, wie es laufen sollte. Ich beschäftigte mich auch nicht mehr damit, was das Es sein sollte, wo sich das Hier befand und wann das Jetzt wohl war, sondern fand endlich zu der Vivien zurück, die ich von je her kannte.

Dieser Traum findet bald sein Ende.

Die gepanzerten Ungeheuer beschossen uns weiterhin. Sobald die Glashülle nachgibt, sterben wir. Ob im Kreuzfeuer ihrer Laser, oder in dem eiskalten Vakuum, das uns umgab. Ich musste also bald aufwachen, es ging gar nicht anders. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie gehört und auch nicht darüber gelesen, dass jemand von einem Alptraum getötet wurde.

Ein Alptraum. Etwas anderes konnte es gar nicht sein. Vielleicht eine Koma-Halluzination. Mir kamen die zwei Männer wieder in den Sinn und mein Fluchtversuch, der wohl an einem Baumstamm ein Ende nahm. Mein Erinnerungsvermögen funktionierte also noch.
Wie erfreulich – hätte ich schon wieder frech grinsen können.
Es war keine Erklärung für diesen futuristischen Traum, schon gar nicht ein Beweis dafür, dass mein Körper bis auf ein paar Schrammen und eine Beule unversehrt geblieben war. Trotzdem nahm ich es mir zum Anlass, mich zu beruhigen.

Ich stand vorsichtig auf. Dabei stutzte ich mich mit den Händen an den Wänden, denn von einem ruhigen Flug konnte hier keine Rede sein. Bei diesen Turbulenzen wäre ein Sicherheitsgurt angebracht. Leider gab es für mich keinen entsprechenden Sitzplatz.
Kaum gedacht, wurde ich stutzig. Kein zweiter Sitz? Richtiger Ort zu richtiger Zeit? War es etwa das, was nicht stimmte?

Mit lautem Knirschen breiteten sich die Risse in dem Glass immer mehr aus, aber ich schenkte dem keine Aufmerksamkeit. Da ich wusste, dass ich jeden Moment mit einem Schrei aufwachen würde, wollte ich mir nun die Gestalt hinter der hohen Sitzlehne ansehen. War es Kapitän Corell aus dem Film, den ich mir in meinem letzten Bereitschaftsdienst im Spital angesehen habe? Oder der Weltraumvagabund aus dem Buch, mit dem ich mir die Zeit während Saschas Dienstreisen vertrieb.
Ich sollte mir so einen Schund weder ansehen, noch lesen. Das hatte ich jetzt davon.

Bevor ich die Lehne mit meiner Hand erreichen konnte, um mich festzuhalten, kippte diese brüchige Nussschale zur Seite und ich stürzte erneut auf den öligen Gitterrost.
„Autsch!“, schrie ich vor Schmerz. Mein Fuß war sofort voller Blut. Durch das ständige Rütteln hatten sich einige Teile von den Wänden gelöst. Nun lag der ganze Mist um mich herum, über und auch unter mir, so dass ich im ersten Augenblick sofort meinen Fuß abtastete, ob meine Zehen noch alle dran waren. Ich habe mich irgendwo geschnitten. Ob an den herumliegenden Teilen, oder den Roststäben, das konnte ich mit Sicherheit nicht sagen. Ich suchte meine Hosentaschen nach Taschentüchern ab, aber – wie sollte es auch anders sein - auch diese lagen in der Handtasche und die war ja im Wagen.

So einen saublöden Traum hatte ich noch nie!

„Ist ja egal“, murmelte ich halblaut und meinte damit meine Bluse, von der ich mir nun den Ärmel runter riss, um damit meine aufgeschlitzte Zehe zu verarzten.
Während ich darüber nachdachte, wie weit man Schmerz im Traum wahrnehmen konnte, versuchte ich Halt zu finden. Mittlerweile rasten wir nämlich kopfüber ins Nirgendwo. Die mir - dank des unfreiwilligen Loopings - immer noch unbekannte Gestalt versuchte die Steuerung dieses Flugobjektes wieder in den Griff zu bekommen.
Mitten auf der Glaswand über der Steuerkonsole erschien nun ein Bild. Zu all dem Sausen, Knirschen und Zischen gesellte sich jetzt auch noch eine fremde Stimme. Die Sprache verstand ich nicht. Ich hatte nicht einmal eine Ahnung, was es für eine Sprache hätte sein können. Sie glich keiner, die ich jemals gehört habe.
Während ich mir den verbundenen Zehen zusammen presste, um die Blutung zu stoppen und auch das weit aufgeschlitzte Fleisch wieder zusammen zu führen, betrachtete ich den Mann auf dem Bild.
Es war eine Gestalt im eng anliegenden Gewand. Man hätte glauben können, dass sich seine Muskeln durch den Stoff abzeichneten. Ich aber glaubte eher, es war der Kleidung zu verdanken, dass er einem so muskulös erschien. Sein Gewand sah aus wie ein Panzer mit tiefen Rillen und Wölbungen, als wäre Adonis persönlich für den Entwurf Modell gestanden.
Am Kopf trug er einen Helm, wobei ich rätselte ob das Teil, hinter dem sich sein Gesicht verbarg, einen Tierkopf darstellen sollte, oder einfach nur verbeult war. Hätte er geschwiegen, hätte ich nicht sagen können, dass es sich dabei um einen Mann handelte. Trotz der Muskelandeutungen des Gewandes. Die Arme und der Brustkorb waren dafür viel zu schmächtig. Das Gesamtbild wirkte fast schon grotesk.

Noch ein Beweis, warum dies hier nicht real sein konnte. Ich hatte also weiterhin keinen Grund zur Sorge.
Das Feuer in meiner Brust schien bei diesem Gedanken zu ersticken.

Die Gestalt wirkte trotz allem nicht männlich auf mich. Jedoch die Stimme...
Na ja - erinnerte ich mich an eine meiner Patientinnen. Es war eine preisgekrönte Bodybuilderin, die zu dem Kette rauchte. Sie bestritt zwar, jemals irgendwelche illegalen Substanzen eingenommen zu haben. Vielleicht lag es tatsächlich nur an den vielen Zigaretten, dass ihre Stimme an Marlon Brando erinnerte, als er den Paten spielte.

Der Mann im Bild wirkte angespannt, sofern ich das bei der Kostümierung beurteilen konnte. Er gestikulierte wild und seine Stimme klang aufgeregt. Dies konnte ich auch nicht mit Sicherheit sagen, denn es lag womöglich an der Sprache.
Die Gestalt am Steuer gab nur einige Worte von sich. Nachdem ich nun auch diese Stimme hörte, ging ich davon aus, dass der Pilot, der uns in den sicheren Verderb flog, auch ein Mann war.

Die Wand hinter meinem Rücken fing an zu vibrieren. Ich starrte immer noch das Bild des Mannes an und versuchte in irgendeinem seiner Worte eine Ähnlichkeit mit einer mir bekannten Sprache zu erkennen. Doch dann wendete er sich plötzlich mir zu. Der Sitz vor der Steuerkonsole drehte sich auch zur Seite und ich blickte auf einmal einer Maske entgegen, die mich im weitesten Sinne an die Schutzhelme im Fechtsport erinnerte.

Ich konnte nicht erkennen, wohin genau ihre Blicke zielten. Ob sie wirklich mich musterten, oder nur in den hinteren Teil der kleinen Kabine guckten. Aus einem unerklärlichen Grund war ich mir jedoch sicher, dass sie jemanden vermissten.
War ich hier falsch?
Doch nicht der richtige Ort?
Nein. Meine Anwesenheit überraschte sie nicht. Doch ich hätte nicht alleine sein sollen.

Die zwei wechselten noch einige Sätze miteinander. Danach verschwand das Bild wieder und der Mann am Steuer versuchte weiter, uns vor dem sicheren Ende zu bewahren.
Ich saß nur da und konzentrierte mich auf den Schmerz. Ich legte meine Hand um meine Zehe und presste sie fest zusammen. Das schmerzte zusätzlich und war kaum noch auszuhalten. Ich hoffte, mich damit endlich aus dem Tiefschlaf zu reißen. Stattdessen verfiel ich in einer Trance ähnlichen Zustand und nahm die Schüsse und all die anderen Geräusche nun mehr als Rauschen wahr.

„Wow“, hauchte leicht berauscht vor mich hin. Daran war nicht der Schmerz schuld. Der Anblick, der sich mir plötzlich bot, war einfach phänomenal. „Es ist phantastisch.“ Phantastisch war es im wahrsten Sinne des Wortes. Meine Phantasie ging mit mir durch. Nicht nur, dass ich mich mitten in einer Weltraumverfolgungsjagd befand, nun drohten wir auch noch auf einem Planeten abzustürzen. Er war bunt und schien voller Leben zu sein.
Ich habe schon immer mit besonderem Interesse Reportagen über Weltraum, die näheren und weit entfernten Himmelskörper verfolgt. Somit überraschte es mich weniger, dass meine rege Phantasie so einen wunderschönen Planeten erschuf. Und so absurd es auch klingen mochte, ich freute mich regelrecht darauf, dort abzustürzen.

Ich hab sie nicht mehr alle - riss ich mich wieder bewusst zusammen, ohne die Augen von der berauschenden Farbkomposition abzuwenden.

Wahrscheinlich wurde mein Endorphindepot leer, denn der Rausch verflüchtigte sich von einer Sekunde auf die andere und ich musste meine Finger von meiner Zehe nehmen, um mir die Ohren zuzuhalten. Der Krach schmerzte in den Ohren und ich befürchtete, mein Trommelfeld würde genau so rissig werden, wie die Glasdecke über uns. Die Ersten Splitter rieselten auf mich hinab, doch da preschten wir bereits durch die Wolkendecke hin durch. Ich riskierte erneut einen Blick nach oben. Würde nicht alles um mich herum vibrieren, würde ich denken, man hätte uns in Watte gepackt. In diesem beruhigenden Weiß waren unsere Verfolger aus meiner Sichtweite geraten.

Als ich mich wieder dem Mann am Steuer zuwandte, hatten wir bereits irgendwas gestreift. Einen Fels oder einen Baum, ich wusste es nicht. Es geschah alles so schnell, wie eben im Flug.
Die kleine Flughülse geriet dadurch noch mehr ins Wanken, bis wir uns schließlich im Kreis drehten.
Binnen Sekunden wusste ich nicht mehr, wo oben und wo unten war. Ich versuchte nur mit meinen Armen meinen Kopf und mein Gesicht zu schützen, da ich in den kleinen Raum wie ein Satz Socken in einer leeren Waschtrommel herum geschleudert wurde. Ich wartete auf einen riesigen Knall, wo alles in seine Bestandsteile zerbersten würde. Es knallte nicht, dafür glaubte ich, wir werden gleich in Streifen gerissen, wie im Reißwolf. Die Felskanten schnitten die Hülle aus Metall auf, als wäre sie aus Seidenpapier. Das Glas gab endgültig nach und es regnete plötzlich winzige messerscharfe Splitter.
Und dann gab es doch noch diesen Knall, der alles zum Stillstand brachte.

Ich lag eine Weile, ohne mich zu rühren. Nichts rührte sich, alles schien still zu stehen. Wenigstens hier drinnen. Auch wenn das hier drinnen nur mehr zur Hälfte bestand, denn der gesamte Glasbestand schimmerte in dem Sonnenschein wie kleine Diamanten und ich lag darunter begraben. Ich hielt mir die Augen mit den Händen bedeckt. Nicht nur wegen dem Glas. Die Sonne war viel zu grell und die Glassplitter wirkten wie Tausende Vergrößerungsgläser.
Langsam schüttelte ich die Scherben von mir und richtete mich auf. Das Licht tat mir in den Augen weh, aber es war endlich so hell, dass ich mich richtig umsehen konnte.

Auch der Mann erwachte wieder zum Leben. Er löste die Gurte des Sitzes und stand auf. Seine Größe fiel mir sofort auf. Er überragte mich mehr als um einen ganzen Kopf. Er trug auch so ein enges Gewand. Nun konnte ich genau erkennen, dass es nicht aus Stoff war, nicht mal Nähte besaß. Es schien, als wäre es in diese Form gepresst, oder gegossen worden. Ich fragte mich, wie er da rein kam, da ich weder Knöpfe, noch einen Reisverschluss und auch keine Schnallen entdecken konnte.
Er kam ein Schritt auf mich zu. Ich war nicht gerade klein, deshalb fand ich seine Größe so faszinierend, dass ich im ersten Augenblick nicht daran dachte, ihn als eine mögliche Bedrohung anzusehen.
Als ob sich mit dem Knall all meine Gefühle verabschiedet hätten. Nur der Schmerz war mir geblieben. Ich hatte keine Bedenken, fühlte mich auch nicht in Sicherheit. Es war mir nichts fremd, aber auch nicht bekannt. Als hätte ich eine unsichtbare Schutzhülle um mich, die mich von allem abschirmte.
Der Mann machte einen halben Schritt auf mich zu. Dabei hob er mir seinen rechten Arm entgegen. Mir fiel sofort der silberne Aufsatz auf. Wie ein enger Armreif saß er auf seinem Unterarm fest, reichte ihm von dem Handgelenk bis fast zu dem Ellenbogen. Nun hob ich meinen Arm hoch, da sich die Sonne in dem polierten Metall spiegelte und mich blendete. Ich wollte mich schon abwenden, weil mein Arm mir nicht genügend Schutz bot, als der Mann auf mich zu sprang.
„Freya!“, rief er mit seiner tiefen Stimme und stieß mich mit viel Kraft weg.
Ich besaß doch keine Schutzhülle. Der Schubs befördert mich bis zur Rückwand. Es war genau ein halber Schritt, als wüsste er genau, wie viel Kraft er einsetzen musste, um mich nicht gegen die Rückwand zu stoßen.
Im ersten Augenblick war ich völlig perplex, weil ich mich fragte, woher er meinen Namen kannte. Vor allem, diesen Namen. Es war mein erster Vorname. Ich benutzte ihn nie. Er stand nur in meinen Dokumenten geschrieben. Niemand in meinem Bekanntenkreis kannte ihn und sogar Sascha erfuhr davon erst, als ihm bei der Hochzeitsvorbereitung meine Unterlagen in die Hände fielen.
„Was…“ Zuerst wollte ich den Unbekannte fragen, woher er dies wusste. Doch nach diesem Stoß war es mir wichtiger rauszubekommen, was er von mir wollte.
Dies war anscheinend nicht der richtige Augenblick, um das in Erfahrung zu bringen.

Bei dieser missglückten Landung haben wir einige Bäume wie reife Karotten aus dem Boden gezogen. Einer widersetzte sich bislang der Schwerkraft und fiel erst jetzt um. Seine Krone rauschte an mir vorbei und der Stamm brach das, was von dem kleinen Flugobjekt übrig geblieben war, in zwei Teile.

Was der Mann mir ersparen wollte, tat der Baum und schob mich mit Wucht zuerst gegen die Rückwand, dann zum Boden. Wieder in den Glassplittern sitzend, wartete eine Weile, dass mir der Pilot zur Hilfe kommt. Alleine sah ich hier nämlich keinen Ausweg.
Aber - es tat sich nicht.
Ging er etwa ohne mich los? War das kein Angriff, sondern ein Versuch, mich zurück zu lassen? Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich hoffte auf ein Gefühl, Intuition oder den sechsten Sinn, aber sogar mein Kopf war auf einmal wie leer gefegt. Kein einziger Gedanke geisterte in ihm herum.
Nun kam mir wieder der schmale Pfad am See in den Sinn, die möglichen Blessuren und die wahrscheinliche Kopfverletzung. Ich sah mich immer noch auf der schmalen Lichtung am Sternensee bewusstlos liegen und so versuchte ich nun, einen Sinn, eine Pointe in diesem Traum zu finden.

Es tat sich nichts. Es zirpte, der Wind glitt mir durch mein zerzaustes Haar, es raschelte hinter den Bäumen. Aber kein Mann in Sicht, nicht mal eine Männerstimme. Ich richtete mich auf, soweit es mir möglich war. Ich drängte mich zwischen den Ästen durch und lehnte mich mit dem Rücken gegen den Baum. Dann stemmte ich die Füße gegen die noch intakte Wand. Ich hielt den Atem an und drückte mit aller Kraft dagegen.
„Das reicht nicht“, kommentierte ich laut meinen ersten Versuch. Ein Teil von der Wandverkleidung war runter gerutscht und versperrte mir nun den Weg nach oben. Es wäre vielleicht leichter die Wandverkleidung weg zu schieben. Aber dahinter zischte es und ich sah Funken sprühen. Ich musste bereits einen pochenden Zeh ertragen und kämpfte mit der Taubheit, die mir langsam die Wade hoch kroch. Ich hatte keine Lust auf einen Stromschlag oder gar Verbrennungen. Also hielt ich nochmals die Luft an und drückte erneut gegen den Stamm. Die scharfen Kanten der seitlichen Metallhülle des Flugobjektes fraßen sich durch die Baumrinde. Das dabei entstandene Quietschen kroch mir unter die Haut und ließ mich erzittern. „Noch ein Stückchen“, spornte ich mich selbst an, da niemand anderer mehr da war, der mich zu solch einer Leistung motivieren könnte.
Doch nichts ging mehr.
Für einen weiteren Versuch war mir keine Kraft mehr geblieben. Ich schlängelte mich durch den schmalen Spalt, riss mir dabei die Bluse an der runter hängenden Wandverkleidung auf und schnitt mir mit der abstehenden Baumrinde eine tiefe Furche in die Schulter. Ich verfluchte Gott, die Welt und auch alle Bäume, vor allem den, gegen den ich gelaufen war und der mir jetzt so einen saublöden Traum bescherte.

„Ach du Scheiße!“, landete mein Blick auf der anderen Seite des Baumrumpfes. Der Mann wollte mich nicht los werden und scheinbar wollte er mir auch nichts Böses, sondern mich beschützen. Nun lag er in den Glasscherben, bedeckt mit giftgrünem Blattwerk.
Einer der stärkeren Äste hat beim Eindrücken der Wand ein Teil aus dem porösen Verrohrungssystem rausgerissen. Nun steckte das daumendicke Stück in seiner Brust.

Ein lautes Geräusch näherte sich uns. Etwas irritiert blickte ich dem Geräusch entgegen.

Zuerst war ich eingeschlossen, nun lag er halbtot da. Das war zu viel Ablenkung. Die Verfolger hatte ich ganz vergessen.
Unsere Bruchlandung hinterließ eine richtige Schleuse der Verwüstung in der Landschaft. Es würde also nicht lange dauern, bis man uns fand. Wer das sein sollte, darüber machte ich mir keine Gedanken. Für einen Moment glaubte ich sogar, tief in meinem Inneren zu wissen, um wen es sich dabei handelte.

„Ich muss ihn hier weg schaffen“, erteilte ich mir selbst Anweisungen. Ich musste laut mit mir selbst sprechen, denn ich fühlte mich plötzlich erschöpft, so als könnte ich jeden Moment umfallen und einschlafen. Vielleicht war das ein Zeichen, dass ich aus dem Traum aufwachen sollte. Nun fand ich jedoch, dass dies nicht der passende Augenblick war. Die Ärztin in mir war gefragt und ich fühlte mich verpflichtet, diesem Mann zu helfen.
Ich kletterte über den Baumstamm und kniete mich zu ihm runter.
“Das war wohl nix mit dem Panzer”, betrachtete ich das Loch in seiner Kleidung.
„Lauft weg!“ Ich drehte mich um, aber da war niemand.
„Na super, jetzt höre ich auch noch Stimmen. Als wäre der Alptraum nicht genug.“ Ich wollte seinen Puls fühlen, aber ich konnte die Kleidung an keiner Stelle zur Seite schieben, um an seinen Körper ran zu kommen. Der Helm saß fest und bedeckte nicht nur den ganzen Kopf, sondern auch noch Hals und einen Teil der Schultern. Die Handschuhe schienen fest mit den Ärmeln verbunden zu sein. „Mein Gott, wer hat denn so was erfunden?“, motzte ich vor mich hin, während ich ganz primitiv seine Atmung und Herzschlag kontrollierte, in dem ich ihm einfach meine flache Hand auf seine Brust legte.
Es war nicht viel zu spüren, aber er lebte. Noch.

Ein lautes Zurren näherte sich uns und als ich nach oben sah, flog eine Libelle über uns vorbei. Der Schreck lähmte mich für eine Sekunde, so dass ich kraftlos meinen Hintern in die Scherben plumpsen ließ. Die Libelle war um einiges Größer als die Trümmer, die von dem Flugobjekt des verletzten Piloten übrig blieben. Es sah so aus, als ob jemand oder etwas auf dem Rücken dieses überdimensionalen Insektes säße. Mir wurde klar, dass ich den Verletzten dringend von hier weg schaffen musste. Dass ich auch in Gefahr schweben könnte, bedachte ich gar nicht.

Ich stand auf. Jetzt reichte mir die rechte Seitenwand dieses Wracks nur bis zur Taille. Ich würde problemlos darüber klettern können. Ob ich ihn auch hier raus bekommen würde, wagte ich zu bezweifeln.
Bevor ich zupackte, musste ich eine Entscheidung treffen. Während er reglos vor meinen Füßen lag, haderte ich mit mir selbst. Hatte das Ende in seiner Brust scharfe Kanten, könnte ich ihm bereits bei der kleinsten Bewegung weitere und womöglich auch tödliche Verletzungen zufügen. Würde ich das Ding jetzt raus ziehen, könnte er mir binnen kürzester Zeit verbluten.
Ich sah mich um. Nichts in diesen Trümmern hatte eine Ähnlichkeit mit einem medizinischen Notfallkasten.
„Na gut“, seufzte ich laut und beraubte meine Bluse auch des zweiten Ärmels. „Ist eh schon egal.“ Ich kniete mich über ihn, packte die dünne Stange mit beiden Händen und zog sie mit einem Ruck raus. Noch während ich diese mit der linken Hand hinter mich warf, stopfte ich den vorher zusammen gefalteten Ärmel in das Loch in seinem Anzug. Zum Glück war das Gewand so eng anliegend, dass es fast wie ein Druckverband wirkte.
„Lauft weg!“, rief mir erneut jemand zu.
Ich hatte jedoch nicht vor, ihn hier zu lassen. Mit aller Kraft zerrte ich ihn aus dem verbeulten Wrack. Hierbei wünschte ich mir, er wäre viel kleiner, denn er wog entsprechend seiner Größe und diese erwies sich nun als äußerst unpraktisch. Egal wie ich mich anstellte. Meine Arme waren viel zu kurz, um ihn ausreichend zu stützen. Der schlaffe Körper rutschte mir ständig aus den Händen. Ich musste schließlich meinen ganzen Körper einsetzen. Die Knie, die Hüfte und sogar die Stirn, bis er dann doch noch mit einem bemitleidenswerten Seufzer in dem niedrigen Nadelgehölz landete.
Nun war ich an der Reihe und kletterte aus dem Trümmerhaufen.
Ich nahm ihn unter den Achseln und zog ihn weg von den Funken sprühenden Überresten und auch weg von dem pieckenden Bodendecker. Dabei zischte ich bei jedem Schritt, denn es fühlte sich an, als würde ich über Reisnägel laufen. Auch wenn meine Wade taub war, meine Fußsohle war empfindlicher denn je.
„Lauft weg!“ Die unbekannte Stimme ermahnte mich erneut und ich sah mich abermals um. Weit und breit war niemand zu sehen.
„Statt mir auf die Nerven zu gehen, könntest du lieber mit anpacken!“, rief ich, ohne den Mann los zu lassen, oder auch nur für einen Augenblick anzuhalten und mir eine Verschnaufpause zu gönnen.
Weitere überdimensionale Insekte mit riesigen Flügeln und zahlreichen Beinen rauschten suchend über den dichten Baumkronen hinweg, derweilen ich darunter nach einem geeigneten Versteck suchte.



Es dauerte lange, bis ich eine geeignete Stelle fand. Hinter einem Hügel gab es einige alte entwurzelte Bäume. Sie lagen wie Mikado Stäbe übereinander. Es machte den Eindruck, als würden sie so schon eine ganze Weile liegen, denn sie waren dicht mit irgendwelchen Schlingpflanzen bezogen und boten so einen guten Sichtschutz nach oben. Dazu ein trockenes Versteck, falls es regnen sollte.
Ich schob den schlaffen Körper in die niedrige Nische und setzte mich selbst auf den Boden davor. Dabei achtete ich gar nicht, worauf ich Platz nahm. Meine Hose war bereits voller Ölflecken und mit dem Grün der Pflanzen verfärbt. Ein Fleck mehr würde gar keinen Unterschied mehr machen.
Ich betrachtete meine blutbeschmierten Finger und wischte mir anschließend mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
„Wir brauchen Wasser“, sagte ich laut zu mir, auch zu ihm und in der Hoffnung, der Unbekannte, der mich ständig ermahnte, würde mir endlich zur Hilfe kommen, war diese Feststellung auch an ihn gerichtet. Doch es meldete sich niemand. Nicht die ermahnende Stimme und auch nicht der Mann in der Nische, der noch vor kurzem laut röchelte. „Na gut, dann gehe ich eben alleine suchen“, rappelte ich mich zuerst auf die Knie hoch, denn nach dieser Schlepperei war mein Körper wie gerädert und ich fühlte mich, als hätte ich den schweren Körper vorhin nicht mit den Händen getragen, sonder als säße er mir jetzt auf den Schultern.
Ich bückte mich nach vorne, um mich mit den Händen am Boden abzustützen, als…
„Du elender Mistkerl!“, sprang ich auf, als hätte mich etwas gestochen. „Ich fasse es nicht!“, streifte ich mir mit den Händen über meinen Hintern, als wollte ich die Spuren seiner Berührung wegwischen. „Ich reiß mir fast die Arme aus den Leib, um dich in Sicherheit zu bringen und du hast nichts Besseres zu tun, als mir am Arsch zu grapschen?!“ Hätte ich die Stange nicht bei dem Wrack gelassen, hätte ich ihm jetzt damit eine über gebraten.
Doch die Lust ihm weh zu tun, war gleich wieder verflogen. Der Mann lag auf der Seite zusammen gefallen und rührte sich nicht. „Nein!“, rief ich verzweifelt. Nicht jedoch, weil es gerade zu regnen begann. „Nein, nein, nein“, fügte ich leiser hinzu, denn wozu gab ich mir die Mühe mit der Verstecksuche, wenn ich jetzt den Feind mit meinem Gebrüll auf uns aufmerksam machen würde. „Nein“, zerrte ich ihn wieder aus der Nische heraus und drehte ihn auf den Rücken. Mit beiden Händen tastete ich seinen Brustkorb ab. Es war nichts zu spüren. Weder ein flacher Atemzug, noch ein Herzschlag. „Nicht doch. Du stirbst mir nicht unter den Fingern weg.“ Ich packte mit beiden Händen den Helm und versuchte ihn ihm vom Kopf zu ziehen. Das Ding saß fest, als wäre es mit dem engen Anzug zusammen gegossen. Ich steckte meine Fingernägel in jeden Spalt und schmale Ritze über seinem Gesicht, in der Hoffnung, die Maske aufbringen zu können. Doch es tat sich nichts. „Was ist es, ein Sarg? Hast du es angezogen, um darin zu sterben? Das hättest du mir gleich sagen können, dann hätte ich mir die Plackerei ersparen können“, schimpfte ich mit ihm, aber nur, damit mich meine Verzweiflung und die Sorge um ihn, nicht handlungsunfähig machten.
Es hatte keinen Sinn, mir noch weitere Nägel abzubrechen und die Finger an der harten Schale wund zu drücken. Ich begann mit der Herzmassage, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob meine Kraft ausreichte, damit mein Handeln durch den panzerartigen Anzug auch die gewünschte Wirkung zeigte. Während ich in meinen Gedanken zählte, so wie ich es in den Kursen für Rettungssanitäter vortrug, suchte ich mit den Augen weiter nach einer Möglichkeit, zu seinem Gesicht zu gelangen.

„Bitte, bitte, bitte“, flehte ich alle Geister, Götter und sonstige Elemente an, als ich doch noch etwas entdeckte, was nicht zu dem übrigen Musterverlauf seines Anzuges passte.
„Na also“, riss ich ihm mit einem Lächeln der Erleichterung den unteren Teil der Maske vom Gesicht – und auch vom restlichen Helm. Es war wohl die Wut auf seinen Anzug, oder die Angst um ihn, die mir so viel Kraft verlieh.
Ein Teil war weg. Jetzt wollte ich mich nicht damit beschäftigen, ob dieser Panzer aus vielen Puzzleteilen bestand, die man je nach dem körperlichen Bedürfnis des Trägers ablegen konnte. Ich verschaffte mir Zugang nur zu dem unteren Teil seines Gesichtes. Seine Augen blieben mir nach wie vor verborgen. Doch das war jetzt auch nicht so wichtig. Nun presste ich meine Lippen auf seine und pustete ihm den ganzen Inhalt meiner Lunge in den Rachen.

„Komm schon, streng dich an“, massierte ich auch schon wieder fest seinen Brustkorb.

Ich dachte nicht nach. Weder über mich, noch über diesen Traum, schon gar nicht über ihn oder sonst was anderes. Ich handelte genau so, wie ich bei vollem Bewusstsein jeder Zeit und an jedem anderen Ort handeln würde und so saß ich einige Zeit später erneut vor der Nische, wischte mir mit den schmutzigen Händen übers Gesicht, glitt mir mit den Fingern durch mein zerzaustes Haar, blickte kurz durch die Baumkronen hindurch in die Ferne und rieb mir anschließend meine blutende Handkante.
Als es plötzlich so schnell gehen musste, habe ich mich auf seinem Armreif geschnitten. Bei der Zerrerei durch den Wald ist das Schmuckstück – dafür hielt ich es nämlich – irgendwo hängen geblieben. Dabei wurde ein dreieckiges Stück herausgerissen, wahrscheinlich ein Edelstein. An der offenen Fassung habe ich mir die Kante meiner linken Hand aufgeschlitzt, als ich ihn aus der Nische zog. Die Wunde schien zwar tief zu sein, aber nicht lebensbedrohlich. Ich würde an keiner meinen Verletzungen sterben.
Ich seufzte laut.
Ich nicht.

„Tue mir das bitte nicht noch einmal an“, drehte ich mich zu ihm um und betrachtete kurz seinen sich langsam hebenden und senkenden Brustkorb. „Ich hoffe, deine Freunde suchen bereits nach dir.“ Es war mir gelungen, ihn zurück ins Leben zu holen. Ich befürchtete jedoch, ich würde ihn hier nicht lange halten können.

Ich hatte aus den herumliegenden Blättern eine Schale gebastelt. Diese war inzwischen voll mit Regenwasser und nun tauchte ich einen Stofffetzen hinein, der noch vor kurzem zu meiner Bluse gehörte. Ich drückte es ihm über den Lippen aus, wartete, bis die Tropfen in seinem Mund gekullert waren und glitt ihm anschließend damit über den Teil seines Gesichtes, zu dem ich mir so mühsam Zugang verschafft hatte. Dann setzte ich mich wieder hin und wartete.
Dies war die anstrengendste Zeit. Einfach nur da zu sitzen, den verschiedenen Geräuschen zuzuhören und warten, ohne zu wissen worauf.

Was passierte gerade mit mir? Dies dauerte schon eine Ewigkeit. Läge ich bewusstlos auf der Waldlichtung am Sternensee, müsste ich längst wieder zu mir gekommen sein. War mein Aufprall etwa heftiger, als was ich annahm? Habe ich etwa lebensbedrohliche Kopfverletzungen davon getragen? Diese Fantasiegeschichte sprach jedenfalls dafür. Hat man mich bereits gefunden?
Hoffentlich.
Etwa auch schon ins Krankenhaus gebracht? Lag ich vielleicht im Koma?
Mein Gott, dann findet dies hier nie ein Ende!

Ich schüttelte den Kopf und sah dabei wieder zu meinem Patienten rüber. Dabei versuchte ich mir vorzustellen, was für verrückte Geschichten in seinem Kopf gerade stattfanden. Mir entging ein müdes Lächeln.



„Lauft weg!“, meldete sich die Stimme nach Stunden des Schweigens wieder zum Wort.
Ein beschädigtes Trommelfeld? Tinnitus? Vielleicht war das stets nur ein Rauschen und bildete mir diesen Wortlaut nur ein.

Der Regen hatte längst aufgehört, die Sonne sorgte wieder für eine fast schon unangenehme Hitze und meine Wasservorräte waren mittlerweile verbraucht. Ich stellte mich mühsam und seufzend auf die Beine und diesmal ohne dass mir jemand an den Hintern griff.
Leider. Wie sehr ich mich jetzt über ein Zeichen der Besserung seines Zustandes gefreut hätte.
„Lauft weg!“ Schon beim letzten Mal gab ich mir nicht die Mühe, mich suchend umzusehen. Mittlerweile erkannte ich, dass es keinen unsichtbaren Unbekannten gab, der mich zum Weglaufen animierte. Die Aufforderung ertönte in meinem Kopf. Nun war ich jedoch zu müde, um mir über meinen gesunden Verstand Sorgen zu machen. Also bückte ich mich und hob die blutgetrunkenen Überreste meiner Bluse vom Boden.
„Es hört sich an, als würde dort unten Wasser plätschern“, sagte ich, als könnte er mich hören. „Ich gehe nachsehen. Dies hier könnte eine Wäsche vertragen und trinken sollten wir beide auch wieder.“ Ich machte mich auf den Weg.
Jeden Schritt habe ich mir sorgsam überlegt. Seit längerem war es um uns herum ruhig geworden. Sie hatten mit Sicherheit das Wrack längst gefunden, nur liefen sie wahrscheinlich und auch hoffentlich in die falsche Richtung.
Mein Körper war schwerfällig, die Glieder schlaff, meine Füße und mittlerweile sogar die Fußsohlen taub. Ich spürte kaum, worauf ich trat und musste umso mehr aufpassen, um nicht mit lautem Knacken der Äste auf mich aufmerksam zu machen.

„Ah“, freute ich mich. „Trotz Ohrensausen doch noch richtig gehört“, wollte ich mich nicht weiter von der unbekannten Stimme in meinem Kopf irritieren lassen. Ich kniete mich zu dem kleinen Bach, trank erstmals von dem kühlen Wasser und wusch dann das dunkle Blut aus den Stofffetzen raus. Anschließend steckte ich meine dreckigen Füße hinein und genoss die Kälte, die sich rasend schnell durch meinen müden Körper breitete, mich wieder mit Energie versorgte und meine taube Zehe wieder zum Pochen brachte.

Nun betrachtete ich andächtig die Gegend. Abgesehen von den Umständen, die uns hier her verschlugen, fühlte ich mich hier recht wohl. Auch wenn hier alles irgendwie merkwürdig wirkte. Die Pflanzen waren mehr türkis als grün. Das Nadelholz zu klein, dafür ragten die Laubbäume bis in den Himmel. Die Sonne leuchtete in einem grellen Orange. Das erfrischende Wasser in dem kleinen Bach hatte eine milchige Konsistenz und schmeckte sogar süß. Dennoch hatte ich keine Bedenken es zu trinken. Ich würde mich im Traum wohl schwer vergiften können.

Komische Welt.

Ohne jeden Zusammenhang kam mir plötzlich Marlies in den Sinn. Vielleicht sollte ich ihr bei der nächsten Gelegenheit sagen, dass ich hier die Flitterwochen verbringen möchte. Als uns die Hochzeitsplanerin beim ersten Treffen nach unseren Wünschen und Vorstellungen fragte, behauptete sie, es gäbe nichts, was sie nicht fertig bringen würde. Dies hier wäre dann doch wohl eine unlösbare Aufgabe.
Bei diesen Gedanken konnte mir ein schelmisches Lächeln nicht verkneifen.

"Lauft weg!" Ich sammelte die gewaschenen Blusenreste ein. "Bringt Euch in Sicherheit!" Auf das hin sah mich sofort um. Diese warnenden Worte habe ich mir bestimmt nicht eingebildet. Es raschelte im Wald und dann tauchte wieder eines dieser Monster über den Baumkronen auf. "Lauft weg!" Der plötzliche Adrenalinschub brachte mein Herz zum Rasen. Das Feuer in meiner Brust entfachte erneut. Dazu gesellte sich auch noch ein unerträglicher Druck in den Schläfen. Ich musste mich schon wieder entscheiden. Nur ging es diesmal nicht vorrangig um mein Leben, sondern vor allem um seinen Tod.
Das Rascheln kam immer näher. Würde ich jetzt zurück zu ihm laufen, würde ich dort bestimmt auf die Feinde treffen.
"Lauft weg!" Meine Nase juckte, mir war nach Heulen zumute. Nur Tränen konnte ich mir jetzt nicht erlauben, sie würden meine Sicht trüben.
"Es tut mir leid." Ich dachte, das Feuer in meiner Brust würde mein Herz in Asche verwandeln. Ich hätte ihn womöglich retten können. Ihn so lange am Leben erhalten können, bis ihn seine Freunde gefunden haben. Rette ich mein Leben, liefere ich ihn dem Feind aus.
Mein Gewissen reichte nicht aus, um einen Kampf zu gewinnen.

"Es tut mir unendlich leid." Ich ließ die nassen Lappen fallen und rannte los. Dabei gab ich mir keine Mühe mehr, leise zu sein. Ich wollte nur schnell voran kommen, weg von den Verfolgern, was gleichzeitig auch weg von ihm bedeutete.
Erneut flog etwas über meinem Kopf. Es war nicht so laut, wie die feindlichen Flugobjekte. Die Baumkronen waren jedoch zu dicht, so dass ich nicht erkennen konnte, um was es sich handelte. Ich lief einen Hügel hoch, bis zu einem Punkt, von dem ich die Stelle am Bach sehen konnte, über der sich sein Versteck befand. Eines dieser mehrbeinigen Insekten schwebte dort über den Bäumen.

Alles umsonst.
Der Schmerz des Verlustes war unerträglicher, als all die Blessuren, die ich mir während des Fluges, der Landung und auch danach zugezogen habe.

Der Wind trug die lauten Geräusche von der Stelle in den ganzen Wald hinaus und nun konnte ich mir die Tränen nicht mehr verkneifen.
"Es tut mir so unendlich leid." Ich hatte ihn verloren, denn ich gab ihn auf. Das tat mir mehr weh, als wäre er mir unter den Fingern weg gestorben.
Dann bemerkte ich einige Furcht einflößende Gestalten am Bach. Ich war zu weit entfernt, um mehr zu erkennen, als dass sie dunkel gekleidet waren und dass ihre abstrus geformten Anzüge ihnen ein Angst verbreitendes Erscheinungsbild verliehen. Ich konnte nur rätseln, ob sich Menschen darin befanden, oder…
Ich war zu erschöpft, um hierzu meine Phantasie zu bemühen.
Einer von ihnen hielt etwas in seinen Händen und deutete damit in meine Richtung. Das Ding piepte so laut, dass sogar ich es hören konnte und genau dieses Piepen veranlasste mich, mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen und weiter zu rennen.

Ich irrte ziellos durch den Wald. Vielleicht lief ich sogar im Kreis. Üblicherweise konnte ich mich überall sehr gut orientieren, aber hier, oder besser gesagt – jetzt… Als hätte ich mich selbst aufgegeben.

Es raschelte überall. Entweder waren im Dickicht irgendwelche Tiere unterwegs, oder sie haben mich längst umzingelt. Gebückt streifte ich an den Sträuchern vorbei. Falls es Tiere waren, wollte ich sie nicht aufscheuchen. Ich wollte nicht von ihnen angegriffen und verletzt werden. So wäre ich meinen Verfolgern völlig ausgeliefert.
Plötzlich knisterte es direkt im Gebüsch hinter mir und jemand fasste mir an die Schulter. Reflexartig griff ich nach dem erstbesten losen Ast, der am Boden lag und schlug damit um mich. In dem Augenblick, als ich losgelassen wurde, rannte ich weiter, ohne mich umzusehen. Ich befürchtete, der Anblick einer nicht menschlichen Gestalt könnte mich zum Erstarren bringen und ich wollte mich nicht freiwillig ausliefern.

Meine Flucht dauerte nicht lange. Meine Kraftreserven waren bis zum letzten Atemzug verbraucht. Außerdem humpelte ich wegen meiner verletzten Zehe von Anfang an wie ein Seeräuber mit einem Holzbein und kam auch deshalb nicht so schnell voran, wie ich es gerne hätte. Mein Top war bis auf die letzte Faser durchgeschwitzt, die Hose klebte an meiner Haut, was ich zu all dem anderen Übel als zusätzlich störend empfand.
Irgendwann schleppte ich mich nur mehr wie ein Verdurstender in der Wüste.
„Schluss jetzt“, blieb ich stehen. „Wozu soll das hier noch gut sein?“ Ich krümmte meinen Rücken und ließ meine Arme hängen. Wahrscheinlich sah ich jetzt aus, wie ein Primat, aber wenn kümmerte das noch. "Ich habe alles getan, was in meiner Macht stand“, versuchte ich mich vor einer unsichtbaren Jury rechtfertigen. „Gut, dann habe ich eben kläglich versagt. Ich bin ja auch nur eine vom Leben verwöhnte Prinzessin aus einer perfekten Welt und kein abgebrühter Krieger!" Rief ich diesmal so laut, dass mich der Feind hören musste. Wahrscheinlich legte ich es sogar darauf an. Jede Faser meines Körpers tat mir weh und ich wollte diese Schmerzen nicht weiter ertragen müssen. „Ich will hier raus!“, brüllte ich als hätte ich jetzt tatsächlich meinen Verstand verloren und weil mir ein kleiner Schwächeanfall aus dem Gleichgewicht brachte, machte ich einen kurzen Schritt nach vorne, um nicht umzufallen.
Doch dort, wo vor einem Augenzwinkern noch dichtes Gras war, befand sich nun ein alles verschlingendes dunkles Loch, in das ich hinein gezogen wurde.

Hier gab es nichts.
Nicht einmal mich.
Nur eine Stimme, die sagte:
„Wir müssen hier weg.“

Impressum

Texte: Copyright by Zoe Zander
Tag der Veröffentlichung: 25.09.2011

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