„Liebling, ich muss jetzt los“, flüsterte mir Sascha ins Ohr.
„Aber…“ Ich nickte mit dem Kopf in Richtung der Hochzeitsplanerin, die seit einer geschlagenen Stunde ununterbrochen redete. Gleichzeitig schwenkte ich mit dem Arm durch die Luft als Andeutung all der Entscheidungen, die wir noch treffen wollten. Besser gesagt, treffen mussten und das, als würde unsere Hochzeit bereits morgen und nicht erst in einem halben Jahr stattfinden. Wenn ich mir zudem vor Augen führte, dass ich nach zwanzig Jahren Beziehung und unzähligen Versuchen, mir von Sascha einen Ring an den Finger stecken zu lassen, endlich einer Hochzeit zugestimmt habe, war meine Enttäuschung umso größer. Mir lag so Einiges auf der Zunge, dennoch sprach ich nichts davon aus.
„Du schaffst es auch ohne mich, Liebes. Ich vertraue dir.“ Sascha drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und lief aus dem Festsaal. Das Klopfen seiner beschlagenen Absätze hallte noch im Raum, als die Reifen seines Sportwagens längst den feinen Kiesel auf dem Schlosshof durch die Luft wirbelten. Aber die Hochzeitsplanerin redete weiter, als hätte sie nicht einmal das laute Hupen vernommen, mit dem sich Sascha seinen Platz im Stoßverkehr streitig machte. Sogar mein lauter Seufzer blieb ohne unbemerkt und so folgte ich der Frau im elfenbeinfarbenen Sommerkleidchen in den nächsten Raum und dachte über die vielen Termine meines zukünftigen Ehemannes nach. Dabei machte ich mir mehr Sorgen um seine Gesundheit, als um die vielen einsamen Stunden, die mir bevorstanden.
„Vivi!“, riss mich die Hochzeitsplanerin aus den Gedanken. „Ist das nicht himmlisch?!“, deutete sie auf die Deckenmalerei in dem Festsaal.
„Vivien“, bemerkte ich ärgerlich. Außer meinem Vater durfte mich niemand so nennen. Sascha benutzte auch hin und wieder diesen Kosenamen. Meist dann, wenn er wieder mal unerwartet zu einem Termin musste. Dabei sah er mich stets mit seinen Rehaugen an, als fühlte er sich für all das Elend auf dieser Welt verantwortlich, so dass ich ihm nie böse sein konnte. Weder für die ungeplanten Termine, noch für den ungeliebten Kosenamen.
„Ist das nicht etwas übertrieben?“, starrte ich die pummeligen Himmelsboten an, wie sie auf ihren flauschigen Wolken herum tollten.
„Ihr Vater wünscht sich für Sie eine Märchenhochzeit, Vivi“, deutete sie auf eine vollbehängte Kleiderstange. Ein Laut des Entsetzens rutschte mir über die Lippen. Nicht nur wegen dem verhassten Kosenamen. Vor allem wegen dem Anblick, der sich mir bot.
„Diesen Rokokofummel werde ich nicht anziehen!“ Ich war schon immer Vaters kleine Prinzessin, obwohl ich mich nie als solche benahm. Stets war er dahinter, mir das Blaue vom Himmel zu holen, auch wenn ich dies nie von ihm erwartete. Dazu las er mir jeden Wunsch von den Augen ab, trotz dass ich meist wunschlos glücklich war.
So wie nun mit Sascha.
Eine perfekte Welt.
Sascha und ich kannten uns schon seit der Schulzeit. Damals verspottete er mich wegen meiner Zöpfe. Oft hat er mich sogar daran gezogen. Ich war ihm nie böse. Schon zu der Zeit schwärmte ich von ihm und konnte mich seiner dunkelbrauner Augen nicht satt sehen. Wenn es nach ihm ginge, wären wir längst verheiratet und obwohl ich mir schon immer Mann und Kinder wünschte, fühlte ich mich zwanzig lange Jahre nicht zu diesem Schritt bereit. Nun wollte ich ihn nicht längst vor mir auf den Knien rutschen sehen, sondern ihm aufrecht in die Augen blicken, wenn ich mein Jawort gebe. Am liebsten in genau so einem Hauch von Nichts, wie die Hochzeitsplanerin es trug. Läge es nicht an den gesellschaftlichen Verpflichtungen meines Vaters, hätten wir es mit einem schlichten Gang zum Standesamt erledigt. Nur ihm zuliebe ließ ich mich auf diese pompöse Zeremonie ein. Aber diese historische Robe ging mir eindeutig zu weit.
„Marlies“, seufzte ich nochmals, schlug dabei mit den Armen durch die Luft, als wollte ich die Ohnmacht vertreiben, die sich mich zweitweise bemächtigte. Einen Moment lang starrte ich sie mit weit offenem Mund an, denn für Argumente fehlten mir die Worte. Ich konnte auch kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Die Fenster des Saals waren nach Süden gerichtet. Die Sonne schien hinein, als wollte sie jedes Detail der Planung mitbekommen. Die Luft war stickig und sollte bald ihren Siedepunkt erreichen. Mein Gehirn war mit all dem nicht nur überfordert, sondern längst weichgekocht. „Marlies, ich muss mir das alles durch den Kopf gehen lassen.“
„Aber Vivi?!“ Ihre übertriebene Freundlichkeit verflüchtigte sich so schlagartig, wie die Eiswürfel in dem Champagnerkühler. „Wir müssen die Vorbereitungen abschließen, sonst wird uns die Zeit knapp.“ Ich stoppte sie mit ausgestreckten Armen und stieß sie dabei sogar unsanft von mir. Ich befürchtete tatsächlich, sie würde mich packen und schütteln, damit ich zur Vernunft kam.
„Nein!“, sprach ich ein Machtwort. Ich wusste schon immer, was ich wollte und konnte mich bei Bedarf durchsetzen. Mein Vater hat mich stets zur Eigenständigkeit ermutigt, ich musste mich noch nie hinter ihm, seinem Namen oder seinem Geld verstecken. „Ich möchte jetzt alleine sein, Marlies. Ich muss mir das alles durch den Kopf gehen lassen.“ Bevor sie darauf reagieren konnte, lief ich aus dem Raum.
„Vivi!“, hörte ich sie mir hinterher rufen. Anfangs noch freundlich, fast schon Süßholz raspelnd. „Vivi!“, hallte mir hinterher, als ich die Stufen runter lief. „Vivien“, kreischte sie mir durch das offene Fenster hinterher. Aber da saß ich längst in meinem Wagen und fragte mich, wie ich am besten all diese Gedanken von mir abschütteln könnte. Gedanken über die Hochzeit, aber auch über die eigenartigen Worte, die mein Vater gestern beim Abendessen an mich richtete.
Wir trafen uns jeden Freitagabend, um gemeinsam zu dinieren. Dieses gemeinsame Abendessen war seit je her eine Tradition in unserer kleinen Familie. Egal wohin meinen Vater unter der Woche seine Geschäfte führten. Jeder Freitagabend gehörte seit ich mich erinnern konnte mir. Und weil er sein Leben nach diesen gemeinsamen Stunden richtete, tat ich es auch. Nicht nur einmal musste ich wegen einer inszenierten Magenverstimmung vom Ferienlager oder Schulausflug frühzeitig nach Hause zurück fahren. Später brach ich die Urlaube mit meinen Freundinnen ab und flog sogar während meiner Studienzeit etliche Meilen hin und her, nur um mit meinem Vater an einem Tisch zu sitzen und um uns auszutauschen. Jedes Mal redeten wir stundenlang über Gott, die Welt und sonst noch was, außer…
„Willst du mir nicht endlich etwas über meine Mutter erzählen?“ Schnitt ich wiedermal dieses Thema an.
„Nicht schon wieder, Vivi“, raunzte er in den vollen Suppenlöffel.
„Ich werde bald heiraten, Papa. Denkst du nicht, dass es allmählich an der Zeit wäre, mir etwas über meine Mutter zu erzählen?“ Er tupfte sich mit der Serviette den Schnurrbart ab. Das tat er jedes Mal, wenn ich ihn beim Essen nach meiner Mutter fragte. Und jedes dieser Male hoffte ich, dass er, sobald er damit fertig wäre, mir endlich etwas über diese Frau verraten würde. Doch er sagte kein einziges Mal ein Wort zu diesem Thema und genau das Gleiche tat er auch jetzt. Er legte die Serviette neben den Teller und griff nach dem Weinglas.
Wir schwiegen eine Weile, beschäftigten uns dabei mit dem Hauptgang.
„Ich denke, sie hat dich verlassen“, reimte ich mir etwas zusammen. „Uns verlassen“, verbesserte ich mich sofort und blickte ihm dabei in die Augen. Ich erhoffte mir eine Reaktion. Einen Blitz der Wut, ein Runzeln der Stirn, oder wenigstens einen verzogenen Mundwinkel. Doch mein Vater blieb ohne jede Gefühlsregung und das sah ihm gar nicht ähnlich.
„Ich denke nicht, dass sie tot ist, oder dass sie gar bei meiner Geburt starb“, fuhr ich mit meinen Hypothesen fort. Er nippte völlig apathisch an seinem Glas, als hätte er einen Hörschaden. „Wäre sie nämlich tot, könntest du es ja ohne Weiteres sagen. Vivien, es war eine schwere Geburt, sie hat es nicht überlebt. Oder: Vivien, es war ein Unfall, eine schwere Krankheit… irgendwas!“ Zum Schluss erhob ich sogar die Stimme, aber mein Vater ließ sich auch davon nicht beeindrucken.
„Wo ist Sascha?“, fragte er plötzlich, als hätte ich die letzten fünf Minuten kein Wort von mir gegeben.
„In London“, schoss aus mir wie aus der Pistole und ich ärgerte mich sogleich, dass ich mich so einfach vom Thema abbringen ließ. „Ein Klient hat Probleme mit der Software und Sascha…“
„Das ist nicht wichtig“, lächelte mich mein Vater wieder so liebevoll an, wie ich es von ihm gewöhnt war. Das war auch so eine komische Bemerkung, denn eigentlich mochte mein Vater Sascha. Vielleicht nur meinetwegen. Aber wenn, dann hat er mich das bis heute nicht spüren lassen. „Den Nachtisch nehmen wir auf dem Balkon ein, Mila.“ Das Hausmädchen nickte und räumte schweigend den Tisch ab.
„Papa, wieso weichst du mir immer aus? Ich bin kein Kind mehr.“ Dafür jammerte ich ihn aber genau wie ein Kind an. Er legte mir seinen Arm um die Schulter und führte mich auf den Balkon. Sein Arm fühlte sich muskulöser an als der von Sascha. Sogar muskulöser als jeder Arm, der jemals um meine Schulter gelegt wurde. Zwangsläufig tauchte in meinem Kopf die Frage auf, wann er bei seinem übervollen Terminkalender Zeit zum Trainieren fand. Ich wunderte mich auch darüber, wie gut er in seinem Alter noch in Form war.
Plötzlich bekam sein Gesicht kantige Züge und er nahm seinen Arm runter. Als hätte er meine Gedanken gelesen und als wäre seine hervorragende Kondition genau so ein Geheimnis, wie der Verbleib meiner Mutter.
„Es ist nicht wichtig, Vivi“, wich er erneut meiner Frage aus. „Nur du bist wichtig. Du und deine Aufgabe.“ Ich blieb wie angewurzelt stehen. So sehr überraschten mich seine Worte.
„Welche Aufgabe?“ Noch nie hat er mir irgendwelche Aufgaben aufgetragen. Als Kind räumte ich mein Zimmer auf, ohne dass er mich darauf aufmerksam machen musste. Meine Leistungen in der Schule waren immer gut, auch ohne dass er mich dazu angespornt hätte. Wenn er etwas von mir wollte, dann bat er mich darum und ich tat es, ohne jemals in Erwägung gezogen zu haben, seiner Bitte nicht nachzukommen.
Eine perfekte Welt.
„Du wirst schon deine Berufung erkennen, wenn es so weit ist.“ Ich empfand sein Lächeln plötzlich ganz merkwürdig und dann leuchtete es mir endlich ein.
Mein Gott, wollte er etwa mit mir über Sex und Kinderkriegen reden? Mir wurde flau im Magen.
„Das ist jetzt noch nicht wichtig“, bediente ich mich seiner Worte, um dieses Thema im Keime zu ersticken, noch bevor mir das Essen hoch kommen sollte. Diesmal legte ich ihm meinen Arm um die Taille und wir machten die letzten Schritte zum Balkon.
„Das ist sehr wohl wichtig, Vivi. Wichtiger als alles andere auf der Welt.“ Ich musste schmunzeln und als ich mir wieder vor Augen führte, worüber mein Vater versuchte mit mir zu sprechen, trieb mir die Verlegenheit die Röte ins Gesicht.
„Sehe dir den Himmel an, Papa. Die vielen Sterne. Alles fremde Galaxien. Ob dort auch jemand gerade auf dem Balkon steht und zu uns rüber schaut?“ Bemühte ich mich erneut um ein neues Thema.
„Die haben im Augenblick andere Sorgen.“ Mein Vater erstaunte mich erneut, weil er mit solch einer Überzeugung antwortete, als hätte er diesbezüglich eine Nachricht von einem anderen Planten erhalten. „Wann warst du das letzte Mal am See?“ Obwohl es in dieser Gegend eine Handvoll Sees gab, wusste ich sofort, welchen er meinte. Früher war er in jeder freien Minuten seiner so knappen Freizeit mit mir hingefahren. Bei jedem Wetter spazierten wir stundenlang am Wasser entlang und sprachen über Gott und die Welt. Nur nicht über meine Mutter.
„Ist schon lange her“, blickte ich sehnsüchtig zu den Sternen, als wollte ich auch eine Nachricht aus einer fremden Welt erhalten.
Ich fuhr mit Vollgas von der Straße runter, preschte durch das hohe Gras des holperigen Waldweges und tauchte in den Wald hinein. Ich war schon Ewigkeiten nicht hier und es schien auch so, als wäre nicht nur das Gras darüber gewachsen, sondern auch die Bäume, Büsche und Sträucher. So dicht bewachsen hatte ich den Wald gar nicht im Gedächtnis.
Es war keine Straße, auch kein regelmäßig befahrener Waldweg. Der See samt dem angrenzenden Wald gehörte zum hiesigen Naturschutzgebiet. Die regelmäßige Baumbestandspflege erforderte den Einsatz von schweren Maschinen. Deren breite und vor allem schwere Reifen planierten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Der eingedrückte Boden brauchte lange, um wieder etwas sprießen zu lassen. Obwohl offensichtlich der nächste Beschnitt kurz bevor stand, hatte sich der Boden noch vom letzten Einsatz nicht erholt. So schaffte ich es rasch und ohne größere Hürden bis zum Wasser.
„Der Sternensee“, schmunzelte ich innerlich bei all den Erinnerungen, die der Anblick des Wassers in mir weckte. Seit ich mich entsinnen konnte, fuhr mein Vater regelmäßig mit mir hier her. Manchmal blieben wir bis spät in die Nacht und starrten fasziniert ins Wasser, in dessen ruhigen Oberfläche sich bei klarem Himmel die Sterne spiegelten.
„Sternensee“, versuchte ich nun in einer imaginären Handlung die grässlichen Roben der Hochzeitsplanerin darin zu ertränken. Dabei musste meiner Enttäuschung Luft machen und seufzte. „Oh Sascha, warum warst du nicht geblieben.“ Auch diesmal war ich nicht verärgert. Ich konnte ihm für keine der geplatzten Verabredungen böse sein. Er war die Liebe meines Lebens und in der wenigen Zeit, die wir miteinander verbrachten, trug er mich stets auf Händen. Jede meiner Entscheidungen war ihm bislang recht gewesen. Doch vor dem Altar wollte er mich bestimmt in keinem der vorgestellten Kleider neben sich stehen sehen. Es wäre nur um so viel leichter gewesen, hätte er es Marlies gesagt. Nun lag es an mir, meinen Vater davon zu überzeugen, dass sie sich nicht dafür eignete, unsere Hochzeit zu organisieren. Das Schloss, seine Räume und ihre Ausstattung, das alles würde den Ansprüchen der Windsors stand halten können. Obwohl ich Prunk und viel Geld gewöhnt war, entsprach nichts davon meinem Geschmack.
„Na ja, der Schlosspark vielleicht“, schluchzte ich laut, zog mir die Pumps aus und stieg mit den nackten Füßen in das seichte Wasser in der Ufernähe. Ich schmunzelte erneut. Als Kind weigerte ich mich immer, ins Wasser zu gehen. Zu groß war meine Angst, auf einen der Sterne zu steigen. Ich dachte stets, tagsüber würden sich diese am Boden des Sees vor der prallen Sonne verstecken, da sie am Himmel nicht zu sehen waren.
„Nicht doch, meine Prinzessin“, streifte mir mein Vater jedes Mal durch mein Haar. „Die werden schon zur Seite rücken, um für deine königlichen Füße Platz zu machen.“ Auch damals hatte ich dabei gekichert, weil ich wusste, dass er mich auf den Arm nahm. Aber schon zu der Zeit schmeichelte es mir sehr, weil er mich, soweit meine Erinnerungen reichten, so behandelte, als wäre ich etwas ganz Besonderes.
Ich hatte alles, was ich mir je erträumt hatte. Eine behütete Kindheit, die beste Ausbildung, einen tollen Job, einen fleißigen, verlässlichen und vor allem liebevollen Verlobten…
„Eine perfekte Welt“, schüttelte ich etwas ungläubig den Kopf.
„Nicht wirklich“, ein Wunsch blieb mir bislang verwehrt. Für eine einzige Information über meine Mutter hätte ich wohl auf den Großteil meines Glücks verzichtet.
Meine Gedanken kehrten wieder zum gestrigen Gespräch zurück. Dabei landete mein Blick etwas weiter, in den dunklen Tiefen des Sees.
„Sie wird doch nicht!“, entwickelte sich plötzlich ein Horrorszenario in meinem Kopf. Meine Augen wanderten über das Wasser, als versuchte ich mit dem Blick den Grund abzutasten. Bei dem Gedanken daran, was ich dort vorfinden könnte, erzitterte ich am ganzen Leibe.
Mama! Es zog mich schon immer hier her, auch wenn oft nur in Gedanken. Plötzlich fühlte ich mich mit diesem Ort noch mehr verbunden, als sonst.
Wieso konnte ich nichts über sie rausfinden? Warum hat sie mir nichts hinterlassen? Nicht nur einmal stellte ich mein elterliches Haus in Abwesenheit meines Vaters auf den Kopf. Nie habe ich etwas gefunden. Weder Fotos, noch Schmuck, schon gar nicht irgendwelche Frauenkleider. Kein Erinnerungsbild von meiner Geburt, meiner ersten Geburtstagsfeier oder Weihnachten. Es gab kein leer stehendes Ankleidezimmer, keinen Schminktisch, nicht einmal ein zweites Waschbecken im Bad. Als hätte sie nie in dem Haus gelebt. Und ich konnte mich nicht entsinnen, wo anders gewohnt zu haben.
Irgendwas muss es hier geben… Ich sah mich nun auch am Ufer um. Mein Vater legte mir den See stets ans Herz. Ob ich mich schlecht fühlte, oder vor Glück hätte springen können. Bei jeder Gelegenheit erwähnte er diesen See. Immer und immer wieder erzählte er davon, wie er mit mir in meiner frühen Kindheit hier her fuhr. Als ich noch ein Baby war, zahnte und weinte, oder nicht einschlafen wollte. Hier fühlte ich mich wohl. Hier vergingen alle meine Wehwehchen. Hier fand ich wieder zur Ruhe, hier schlief ich ein.
Vielleicht… Ich blickte zu den Bäumen, die am Ufer wuchsen. Vielleicht würde ich dort etwas finden.
Ein Kreuz, falls… Ich vertrieb den Gedanken wieder.
Oder ein Herz mit Initialen, in die Baumrinde geritzt.
Mein Vater war ein Romantiker. Wenigstens hatte ich diesen Eindruck von ihm. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er früher mit meiner Mutter hier her kam. Um zu spazieren. Gespräche zu führen… Ich schmunzelte. Vielleicht fühlte ich mich hier aus einem anderen Grund wohl.
Ich konnte mir nicht vorstellen, mit meinem Vater über Sex zu sprechen. Aber mir war klar, dass er auch welchen hatte. Früher auf jeden Fall.
Das Lächeln verschwand mir wieder aus dem Gesicht und ich machte mich aus dem Wasser, um mich am Ufer umzusehen, noch bevor es dämmerte.
Das Knacken der Äste glitt mir durch Knochen und Mark wie ein Stromschlag. Ich fuhr erschrocken zusammen und duckte mich sogar, als wollte ich mich auf dieser kleinen, jedoch übersichtlichen Lichtung in dem kniehohen Gras verstecken.
„Wow, tolle Karre!“ Die leichte Brise trug mir eine unbekannte Männerstimme entgegen. Ich erstarrte wie ein überraschtes Tier. Noch nie waren wir hier anderen Menschen begegnet. Der See war für jeden frei zugänglich und dennoch fanden wir hier nie Spuren von anderen Wanderern. Keine weggeworfenen Mitbringsel und auch keine Schuhspuren in der weichen Erde nach einem Regenguss. Ich rechnete nicht damit, dass ich hier auf jemanden treffen könnte und so ließ ich meinen Wagen mit offener Fahrertür stehen und sogar meine Handtasche auf dem Beifahrersitz liegen.
„Sieht aus, als wäre die Autobesitzerin alleine“, grunzte ein zweiter Mann lachend vor sich hin.
Vor meinen Augen sah ich den rosa Plüschbuschel am Schlüsselanhänger. Auch ein Idiot könnte daraus ableiten, dass eine Frau am Steuer saß. Der Schlüssel steckte natürlich im Zündschloss. Eine Einladung für jeden Dieb. Der Beifahrersitz war mit meiner Handtasche belegt, ein Signal, dass ich alleine war.
Mist! Fluchte ich in meinen Gedanken. Mein Handy befand sich in der Handtasche. Keine guten Voraussetzungen für einen positiven Ausgang.
„Ob die Autobesitzerin auch so ein geiles Gestell hat wie diese Karre?“ Mein Blick fiel auf die Schuhe. Sie lagen im Gras, nur einige Schritte von mir entfernt. Um sie anzuziehen, müsste ich ein Stück auf den Wagen zugehen. Darauf hatte ich nun wirklich keine Lust. Ich begab mich leise in die andere Richtung. Noch bevor ich mir hinter den ersten Bäumen ein Verstecken suchen konnte, rief mir bereits einer von ihnen nach.
„Bleib stehen!“
Es hat mich noch nie interessiert, wie viel Geld mein Vater wirklich besaß. In bestimmten gesellschaftlichen Kreisen war er sehr bekannt, aber in der Öffentlichkeit war er noch nie so präsent, als dass es ihm oder mir gefährlich werden könnte. Das Dienstmädchen in seinem Haus ging ihm mit dem Haushalt hilfreich zur Hand. Von Prestige hat er noch nie viel gehalten. Personenschutz war in unserer Familie noch nie ein Thema gewesen. Trotzdem oder gerade deshalb ging ich kontaktfreudig und gutgläubig durchs Leben. Ich fürchtete mich weder vor Spinnen, noch vor Spritzen oder dem Zahnarzt. Schon gar nicht vor dunklen Gassen oder unbeleuchteten Parkplätzen. Natürlich hatte ich von vergewaltigten Frauen und toten Überfallopfern gehört. Doch irgendwie war ich immer der Meinung, so was passierte nur außerhalb meiner perfekten Welt.
Merkwürdig. Während ich rannte, wie noch nie in meinem Leben, schien die Zeit in meinem Kopf stehen geblieben zu sein. Nein, sie liefen sogar rückwärts und mir kam die gestrige Unterhaltung mit meinem Vater erneut in den Sinn. Zähflüssig wie Honig und hartnäckiger als Disteln. Genau so hätte man diese Endlosschleife in meinem Hinterkopf beschreiben. Egal wie ich mich bemühte, ich konnte das Wort Aufgabe nicht abschütteln, nicht vergessen, nicht runter schlucken und wenn ich die Lider kurz schloss, tanzten die überladenen Kleider der Hochzeitsplanerin vor meinen Augen.
Es war vielleicht gerade eine Minute vergangen, seit dem imaginären Startschuss, doch binnen dieser kurzen Zeit hat sich meine Flucht in eine Treibjagd in den Wahnsinn verwandelt.
„Du und deine Aufgabe.“ Dröhnte mir das Echo Vaters Worte in den Schläfen. Scheinbar war ich tatsächlich an dem Punkt in meinem Leben angekommen, wo ich das Fürchten lernen sollte. Nur machten mir nicht die zwei Typen im Nacken eine Heidenangst, sondern ich selber. Ich und dieses unbekannte Bewusstsein, dass in genau diesem Augenblick in mir zum Leben erwachte. Es schien zu wissen, dass es eine Aufgabe tatsächlich gab. Doch nicht hier, sondern irgendwo anders und dort hin versuchten mich gerade meine Beine hinzutragen.
Ich lief, ohne nachzudenken wohin und auch ohne nach dem Weg zu schauen. Wie ein Vogel, der nur seinem Instinkt folgt.
Ich lief, ohne auf die Verfolger zu achten, als spielten sie keine Rolle mehr.
Ich lief und sah dabei ohne jeden ersichtlichen Grund auf die Uhr. Es war sechs Uhr am Nachmittag, aber obwohl es meinen Augen so wichtig war, dies in Erfahrung zu bringen, spielte für mein eigenartiges Bewusstsein diese Uhrzeit keine Rolle.
„Bleib stehen!“, rief mir einer der Männer nochmals nach. Die Stimme rüttelte mich etwas wach. Riss mich aus dem merkwürdigen Gedankennebel für einen Moment heraus und nun nahm ich erst wirklich wahr, dass mein Herz wie verrückt raste und dass ich gerade wie ferngesteuert die platt gewalzte Reifenspur verließ und mir den Weg durch das dichte Gestrüpp bahnte. Mit den Armen schützte ich mein Gesicht vor den Ästen. So sah ich jedoch nicht, wohin ich trat und so waren meine bloßen Füße bereits nach den ersten Metern wundgestochen und zerkratzt. Es war wie ein Impuls, der mich von diesem Ort fort trieb, denn das, was die Uhr nicht verriet, flüsterte mir das unbekannte Bewusstsein zu. Ich war spät dran.
Tief in mir spürte ich eine Gefahr. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Schon alleine deshalb merkwürdig, weil diese Gefahr nicht von meinen zwei Verfolgern zu kommen schien. Es war auch nicht diese Art Vorahnung, wie kurz bevor man die heiße Herdplatte anfasst, oder im dichten Verkehr gegen einen anderen Wagen fährt. Es war genau so eigenartig, wie der Drang von hier, von diesem Ort, von dieser Stelle weg kommen zu müssen, um wo anders – ankommen zu können.
Kalter Schauer kroch mir den Nacken entlang. Nun musste ich auch noch an meine Mutter denken. An den Sternensee und daran, dass sie sich in dem tiefen Wasser vielleicht das Leben nahm. Womöglich vom Wahn getrieben.
So wie ich jetzt.
Raus aus meiner perfekten Welt.
Ein Anflug von Müdigkeit malte mir tiefe Falten auf die Stirn, als er versuchte, mir die Lider runter zu drücken. Meine Glieder schienen davon nicht betroffen zu sein, sie funktionierten wie eine Maschine. Ich war schlank und mein Gestell hat sich sehr wohl mit dem aerodynamischen Erscheinungsbild meines Sportwagens messen können, dennoch war ich kein Fitnessfreak. Meine ungeahnte Kondition würde mich wohl erschrecken, gäbe es dafür noch Platz in meinem überforderten Gehirn.
Das Keuchen der Männer wurde immer leiser. Es schien, als würde ich ihnen entkommen. Doch während mein Körper in eine ungeahnte Höchstform lief, habe ich den Kampf der Gedanken verloren und ergab mich innerlich dem unbekannten Impuls, der mich durch den Wald, rund um den See trieb. Aber je tiefer ich mich in das dichte Gewächs verstrickte, umso breiter machte sich das Gefühl der Sicherheit in mir, als wäre ich endlich auf dem richtigen Weg.
Während ich über dicke Wurzeln sprang und mich unter tiefhängenden Ästen duckte, blickte ich flüchtig zu dem See, der zwischen den Baumstämmen durchschimmerte. Plötzlich kam mir das Wasser viel dunkler vor, wie sonst. Dabei stand die Sonne noch hoch. Als ich mir vorhin die Füße im Wasser kühlte, spiegelte sie sich in der ruhigen Wasseroberfläche und blendete mich zeitweise. Nun war das Wasser so dunkel, wie bei einem bewölkten Nachthimmel. Je weiter ich darüber nachdachte, umso beklemmender wurde das Gefühl in meiner Brust.
„Gefahr!“ Schrillte in meinem Kopf und ich gab dieser Warnung recht, denn ich lief Gefahr – verrückt zu werden. Der Wirbelsturm meiner Gedanken saugte die Energie aus meinem Körper, wie ein Blutegel. Ich hörte die Männer weit hinter mir stampfen, keuchen und fluchen. Immer wieder riefen sie mir zu, ich solle stehen bleiben, ich würde von diesem Ort sowieso nicht weg kommen. Mit meinem Rennen verschwände ich nur meine Energie. Ich wäre am liebsten stehen geblieben, um ihnen zu sagen, dass ich gerade mit weitaus größeren Problemen zu kämpfen hätte, als mich mit ihnen beiden zu beschäftigen. Mit Problemen, die nicht zu meiner perfekten Welt gehörten.
Beginnender Wahnsinn? Meldete sich die Ärztin in mir zum Wort.
Mit einem langen Sprung über einen ausgewurzelten Baum erreichte ich eine schmale Lichtung. Rechts und links von hohen Bäumen umrahmt, die bis in den Himmel ragten und sich über dem langen Pfad beugten, als wollten sie ein Gewölbe bilden. Ich nannte es immer Allee und war hier früher oft mit meinem Vater spazieren. Er sagte stets zu mir, es sei ein Weg. Wenn ich genau hinschauen würde, könnte ich ihn erkennen. Er schickte mich immer voraus, lies mich auf und ab laufen. Ich sollte ein Gespür dafür entwickeln. Mir machte es jedes Mal Spaß. Es duftete hier immer frisch. Im Sommer nach Waldbeeren, im Frühling nach irgendwelchen Blüten, die ich nie zu sehen bekam, aber meine Nase sich sogar jetzt daran erinnern konnte. Sogar im Winter roch es hier gut. So vertraut, so beruhigend. Nur jetzt wirkte hier alles um mich düster. Genau so, wie es sich in meiner Brust anfühlte. Die Bäume schienen mich erdrücken zu wollen. Sie waren wesentlich tiefer geneigt als ich es in Erinnerungen hatte. Ich dachte, sie würden jeden Moment zum Boden stürzen. Nun spielten mir auch noch meine Augen einen Streich. Je weiter ich diesen lichten Pfad lief, umso schmäler erschien er mir. Als wären die Bäume näher zueinander gerückt. Und das bei jedem Augenzwinkern. Als würde er in der Ferne zusammen laufen. Als würde das satte Grün vor mir einen Tunnel bilden, eine lange runde Röhre, die sich dazu noch zu drehen schien.
Mir wurde schwindlig. Ich zwinkerte einige Male, um dieser optischen Täuschung ein Ende zu bereiten. Doch das undefinierbare Gebilde wollte sich nicht verflüchtigen.
Illusion? Halluzination? Oder tatsächlich – Wahn? Ich erschauerte.
Ich öffnete gerade wieder meine Augen, machte einen langen Schritt und wunderte mich über die Ruhe, die mich plötzlich umgab, als ich unerwartet gegen eine unsichtbare Wand klatschte.
Nein, es fühlte sich an, als wäre ich durch ein Sieb gelaufen. Als wäre ich in Tausend Teile geborsten.
Es schmerzte überall.
All das Licht wurde von undurchdringlicher Dunkelheit verschlungen.
Eine erdrückende Stille betäubte mein Gehör.
Ich verlor den Boden unter den Füßen.
Alles schien aufgehört haben zu existieren.
Ich stürzte zum Boden.
Texte: Copyright by Zoe Zander
Tag der Veröffentlichung: 20.09.2011
Alle Rechte vorbehalten