Die Sage von Roland
Zwölf Recken hatte Kaiser Karl, der Herrscher über das Reich von dem Strand des Ozeans bis an die Waldgebirge der Elbe, von der Küste der Nordsee bis zu den Schneebergen der Alpen, als seine Paladine stets um sich. Unter ihnen ragte durch Jugendkraft und Kühnheit der heldenhafte Roland hervor. Er war der Neffe des Kaisers, denn dessen Schwester Berta war mit dem Herzog Milan von Anglant verheiratet gewesen, der bald nach Rolands Geburt in Hispanien im Kampf gegen die Ungläubigen gefallen war. Später hatte Frau Berta mit dem Ritter Ganelon die Ehe geschlossen, der zu den Paladinen Kaiser Karls gehörte.
Roland war einer der stärksten Heerführer des Frankenherrschers, und als Kaiser Karl, den man den Großen nennt, zu neuem Feldzug gegen die heidnischen Sarazenen rüsten mußte, vertraute er seinem herrlichen Neffen wiederum eine starke Heeresmacht an. So zogen sie ins sonnige Hispanien, der streitbare Erzbischof Turpin an der Spitze, neben Roland sein Freund Held Oliver, Gottfried von Anjou und Herzog Neimes von Bayern, der kühne Graf Walther und Graf Otto, Herzog Richard von der Normandie und der kluge Ogier von Dänemark, der listige Graf Ganelon und die vielen anderen Ritter aus dem Frankenland.
Sehr bald mußten sich alle festen Burgen und Plätze, die unter der grünen Fahne mit dem Halbmond des Propheten standen, der Gewalt des großen Kaisers beugen. Nur die Stadt Saragossa im fruchtbaren Tal des Ebro hatte dem Ansturm der Frankenkrieger noch widerstehen können.
Doch als Kaiser Karl seinen Heerbann zum Sturm ansetzte, ließ sich Marsilias, der König der heidnischen Mauren, einen arglistigen Rat eingeben, wie er dem überlegenen Gegner entgehen könne. Er bot dem Frankenkaiser die Unterwerfung an, gelobte Frieden und erklärte sich bereit, dem Glauben des Islam abzuschwören und mitsamt seinem Volke zum christlichen Glauben überzutreten.
"Wenn Kaiser Karl über die Pyrenäenberge ins Frankenland zurückzieht", erklärten die Boten, "so bietet König Marsilias Euch siebenhundert Kamele und vierhundert Maultiere, alle beladen mit Gold und kostbarem Gerät, dazu dreitausend Faß Wein. In kurzer Frist wird er Euch sodann mit seinen Mannen ins Frankenland folgen und in der Kaiserstadt Aachen die christliche Taufe annehmen."
Im Kreise seiner kampfbewährten, raterfahrenen Waffengefährten überdachte Kaiser Karl das Angebot des Heidenkönigs. "Laßt mich einen Rat hören, ihr Paladine", rief er und blickte in die Runde.
Erzbischof Turpin hielt mit seinen Bedenken nicht zurück, und auch Roland, der aufrechte Held, wollte nichts wissen von einem Vertrag mit dem Sarazenenfürsten; er ahnte den Verrat. Oliver, sein getreuer Waffengefährte, stimmte ihm bei. Doch da trat Rolands Stiefvater, Graf Ganelon, den beiden Helden ungestüm entgegen. "Höret auf den Rat eines erfahrenen Mannes, Herr Kaiser", rief er, "und verschonet Eure Getreuen vor weiterem Blutvergießen!"
Auch andere Reichsbarone, unter ihnen Herzog Neimes von Bayern, traten dieser Meinung bei. Man solle den blutigen Krieg beenden und die vielen Heiden zu Christen machen.
Da ließ sich der Kaiser von den Vorschlägen bestimmen. Als seinen Gesandten an den Heidenfürsten wählte er auf Rolands Rat sodann Graf Ganelon aus, der als Eifrigster den Plan befürwortet hatte.
Roland, der aufrechte Recke, ahnte nicht, daß er sich durch diesen Vorschlag seinen Stiefvater zum Todfeind gemacht hatte. Denn sosehr Graf Ganelon ein Ende des Feldzuges erstrebte, fürchtete er doch die Hinterlist des Sarazenenfürsten, der bereits einmal die Abgesandten des Kaisers getötet hatte. In seinem Zorn nannte er Roland einen Schurken, der ihn durch die Entsendung ins Kriegslager der Ungläubigen tödlicher Gefahr ausgesetzt habe.
Doch König Marsilias empfing den kaiserlichen Boten mit allen Ehren. Gar bald entdeckte der listige Sarazene die Schwäche des haßerfüllten Grafen für Wohlleben, Gold und kostbaren Schmuck, und beim festlichen Gelage ließ sich der geldlüsterne Ganelon durch eine Fülle ausgesuchter Gastgeschenke verleiten, heimtückischen Verrat zu begehen. Er verband sich mit den Feinden des Frankenkaisers zum Verderben des herrlichen Helden Roland: Beim Rückmarsch des Heeres durch die Bergtäler sollte er als Führer der Nachhut von den Sarazenen überfallen und mitsamt seiner Nachhut vernichtet werden.
So klug war der arglistige Plan gesponnen, daß Kaiser Karl sich durch die Worte des treulosen Ganelon täuschen ließ. Dieser hatte dem Frankenherrscher im Auftrage des Königs Marsilias die Schlüssel der Stadt Saragossa zum Zeichen der Unterwerfung gebracht, dazu Geiseln und Maultiere mit kostbarem Tribut.
"So laßt uns heimwärts zur Pfalz nach Aachen ziehen", gebot Kaiser Karl zufrieden, und er ließ Roland und dessen unzertrennlichen Waffengefährten Oliver zu seinem Schutz zurückbleiben, dazu den streitbaren Erzbischof Turpin und Graf Walther.
Da erklang froher Jubelruf, es wehten die bunten Kriegswimpel, und tausend Hörner begleiteten den Abmarsch des riesigen Heeres. Die Zurückbleibenden sollten das Tal von Ronceval überwachen, wo sich die Straße durch wilde Schluchten nordwärts windet.
Schon nach wenigen Tagen Marsch hatten die heimwärts ziehenden Heerscharen - der tapfere Ogier von Dänemark führte die Vorhut - die Pässe der Pyrenäen erreicht. Hoch und abschüssig ragten die Bergwände, die sie überqueren mußten, und dunkel und eng waren die Täler, die sie durchzogen.
Am letzten Paß ließ Kaiser Karl das Heer an sich vorüberziehen. Düstere Vorahnungen quälten ihn, denn ein Traum hatte ihn erschreckt: Es war ihm ein Engel des Herrn erschienen, der ihn vor Ganelon warnte. "Er riß mir den Speer aus der Hand und zertrümmerte ihn an einer Felswand, daß die Splitter zum Himmel hinaufflogen", berichtete Karl voller Sorge seinem vertrauten Paladin, dem Herzog von Neimes. "Und als ich gleich darauf wiederum Schlaf fand, träumte mir nochmals: Ich war in Aachen, meiner guten Stadt, da sprangen ein Bär und ein Panther mich an, und der Bär zerfleischte mir den rechten Arm, daß der bloße Knochen zutage trat, und vergeblich versuchte mein getreuer Hund, das Untier zu verscheuchen. Und meine Franken schrien entsetzt: 'Welch gewaltiger Kampf!' Doch niemand eilte zur Hilfe herbei."
Die Deutung des Traums war dem Kaiser naheliegend. Nun plötzlich wurde ihm klar, daß Ganelon auf Verrat sinne und den aufrechten Roland mit Hilfe der Sarazenen vernichten wolle. In bitterem Selbstvorwurf klagte er sich an, den Neffen ohne ausreichenden Schutz zurückgelassen zu haben.
Doch nun war es zu spät. Denn von der Höhe überblickte Graf Walther die weite Ebene am Fuße der riesigen Bergkette, und was er sah, ließ ihn erschauern: "Rüstet euch zum Streit, ihr Freunde", rief er tief bestürzt und schnallte den Helm fester, "und nehmt sogleich die Waffen zur Hand! Marsilias naht mit einem riesigen Heere. Roß und Reiter strömen heran, zahllos wie die Sterne am Himmel. So weit das Auge reicht, blitzt es von Waffen!"
"Das ist Ganelons Werk!" stieß Roland voll Ingrimm hervor.
Marsilias, der Sarazenenkönig, hatte die Menge seiner kampffähigen Krieger aufgeboten, mehr als hunderttausend Mannen. Er besprach mit den Heerführern seinen Plan. "Wenn Allah mit uns ist", rief er, "so muß der Sieg unser sein, denn wir sind in der Überzahl, und der Prophet Mohammed vermag mehr als Sankt Peter zu Rom. Ich selber will euch führen und in der Bedrängnis des Kampfes nicht von euch weichen, das schwöre ich euch bei meinem Schwerte! Seht hier die blanke Klinge aus Toledo! Sie werde ich im Kampfe mit Rolands Schwert kreuzen, und gar bald sollt ihr erkennen, wessen Waffe bessere Streiche führt!"
Weithin erklang die Luft vom Klirren der Sarazenenwaffen und vom Hörnerschall. "So reiten nicht Männer, die ihren Herrn nach Aachen zur Christentaufe geleiten", rief Oliver; "das ist ein Kriegsheer, das heranstürmt, uns zu überwältigen." Er stand mit seinem Waffengefährten Roland auf der Höhe eines Felsvorsprungs. Von dort blickten die beiden Recken über das Land hin und überblickten die weißgepanzerten Scharen, unabsehbar an Zahl.
"Blast Euer Horn, Freund Roland!" rief Oliver. "Kaiser Karl wird es hören und mit seinem Heere umkehren, um uns Hilfe zu bringen."
Doch der Recke schüttelte ingrimmig den Kopf. "Nur ein Feigling täte so etwas" versetzte er. "Für immer wäre mein Ruhm dahin, wenn wir es nicht allein wagten, den Kampf mit den Heiden aufzunehmen!"
Oliver, der treue Waffengefährte, wiederholte seine Bitte. "Blast Euer gutes Horn Olifant!" mahnte er. "Kaiser Karl wird umkehren und uns zu Hilfe eilen. Seht doch nur, wie alle Berge von Feinden übersät sind und wie es ringsum von Heidenwaffen blinkt!"
Roland der Recke wußte, daß er sich auf sein gutes Schwert Durandal verlassen konnte. "Lieber sterbe ich den Tod auf dem Schlachtfelde hier im Pyrenäental, als daß ich den Maurenfeinden den Stolz lasse, mich für feige zu halten." Jeden seiner Getreuen wies er an, wie sie ihre Heerhaufen gegen den übermächtigen Feind verteilen sollten. Segnend breitete der kampfgewaltige Erzbischof Turpin seine Hände über die Scharen der Krieger und bat den Himmel um Beistand; dann stiegen alle, zum Entscheidungskampfe entschlossen, zu Pferde.
Roland und Oliver, die kampfbewährten Waffengefährten, ritten Seite an Seite. Mit Sorge beobachteten sie, wie der Ring der Feinde sich eng und enger um die Franken schloß. "Mir will scheinen", stieß Oliver bitter hervor, "dies ist die letzte Nachhut unseres Lebens, die wir führen werden."
König Marsilias hatte als Führer des Vortrupps seinen Neffen Adolart in den Kampf geschickt. Der kühne Heidenritter hatte in früheren Kämpfen schon manchen Feind aus dem Sattel geworfen und brannte nun vor Kampfbegier, auf die Frankenkrieger zu stoßen. "Ich werde dir Rolands Haupt vor die Füße legen!" hatte er seinem Oheim versprochen.
"Allah, il Allah!" brauste der Schlachtruf der Sarazenen über die Ebene hin, als Adolart auf feurigem Berberhengst gegen die Reihen der Franken sprengte. "Heute wird Kaiser Karl seinen Kriegsruhm schmählich verlieren!" schrie er wild. Seine Krieger folgten ihm in blinder Kampfbegeisterung.
"Reitet an, ihr Freunde!" befahl auf der andern Seite Roland seinen Getreuen, gab seinem edlen Streitroß die Sporen und stürzte mit eingelegter Lanze auf den prahlerischen Gegner los. Furchtbar war der Zusammenprall. Roland rannte dem Heiden den Speer so tief in den Kettenpanzer, daß Adolart mit gebrochenem Rückgrat auf die Felsen stürzte. "Kaiser Karl wird seinen Ruhm nicht verlieren!" rief Roland voll ingrimmiger Kampfeswut. "Schlagt mit euren Schwertern drein, ihr Freunde!" feuerte er dann die Waffengefährten an. "Nur uns winkt der Sieg!"
Jubelnd nahmen die Franken seinen Ruf auf. Mit dem Schlachtgeschrei des Kaisers stürzten sie sich in die Reihen der feindlichen Mauren. Doch wenn diese auch erbitterten Widerstand leisteten, so hatte Rolands Vorbild den Kampfesmut der Frankenkrieger aufs höchste angestachelt. In dem furchtbaren Kämpfen, das nun anhub, hatten sie die Oberhand. Der sarazenische Heerführer Falfaron, ein Bruder des Marsilias, drang auf den kühnen Oliver ein, doch er sank leblos in den Staub, als der Held ihm seine Lanze durch das doppelringige Kettenhemd stieß. "Unser ist der Sieg!" schrie Oliver wild.
Viele Stunden lang währte der grausige Kampf. Das ganze Tal hallte wider von Waffengetöse und wildem Kampfgeschrei, von Rossegewieher und vom Schmerzenslaut der Verwundeten. Wer von den Feinden nicht weichen wollte, starb unter dem unwiderstehlichen Ansturm der Frankenhelden; ihre Rosse traten bis über die Knöchel in Blut.
Doch immer neue Kämpfer drangen nach, und auch manch tapferer Franke mußte der Übermacht erliegen.
Karls Paladine, Roland und Oliver und der Erzbischof Turpin, kämpften Schulter an Schulter. Roland selber vollführte mit seinem guten Schwerte Durandal Wunder der Tapferkeit. Als die Sonne auf der Mittagshöhe stand, brach den Sarazenen der Mut. Sie wandten sich zur Flucht und überließen den Frankenhelden das Schlachtfeld.
Rasend vor Wut empfing König Marsilias seine flüchtenden Krieger. "Beim Barte des Propheten", rief er ingrimmig, "die grüne Fahne mit dem Halbmond soll zum Siege voranwehen!"
Sogleich bei Sonnenaufgang standen frische Kämpfer in unendlicher Zahl zum Kampfe bereit. Mit Sorge hörten die Franken, die todmüde nach dem schweren Ringen in den Schlaf gesunken waren, den Klang der tausend Kriegshörner, und mit Bestürzung sahen sie die Höhen und Felder ringsum von Sarazenen bedeckt, die in wildem Ungestüm und in hundertfacher Übermacht heransprengten.
Der Kampf war ungleich geworden, denn die Franken waren geschwächt von dem lang währenden Kampfe des Vortages, und ihre Waffen waren zerbrochen oder schartig.
An der Spitze der Angreifer ritt Climorin von Saragossa, ein starker, hochgemuter Held. Sein brauner, sehniger Arm wog die wurfgerechte Lanze, und er richtete sie auf den Herzog Engelir, einen der kampfbewährten Paladine des Kaisers. Sein Panzerhemd war in den Kämpfen des Vortages mehrfach durchlöchert. Nun traf ihn die Waffe des Sarazenen und warf ihn tot zur Erde.
Für die Franken war dieser Tod des Helden ein schlimmes Vorzeichen. Zwar blieb dem Sieger der Ruhm nicht lange, denn Oliver gab sogleich seinem Streitroß die Sporen und ritt gegen den Überwinder seines Freundes an. So furchtbar sauste sein berühmtes Schwert Alteklere auf Climorins Haupt nieder, daß er lautlos vom Pferde sank. Noch sieben arabische Fürsten, die Oliver umdrängten, sanken unter seinen gewaltigen Schwertstreichen entseelt zu Boden.
Weiter wogte das grausige Morden mit wechselndem Kriegsglück hin und her. Wie wilde Löwen stürmten Oliver und sein Waffengefährte, der Herzog Sansun, über das Schlachtfeld, Tod und Schrecken verbreitend; reihenweise sanken die Sarazenen zu Boden. Doch da drang Valdabrun aus dem Araberland, einer der stärksten Kämpfer aus König Marsilias' Reihen, gegen Herzog Sansun an.
"Jetzt gilt es Mohammed oder Sankt Peter!" schrie der Heide. Er überraschte Karls Paladin beim Kampf mit einem Saragossaner und durchbohrte ihn mit der Lanze, daß Sansun leblos vom Pferde sank. Aus der Ferne hatte Roland den Fall des Kampfgefährten beobachtet. In wilden Sätzen trug ihn sein Streitroß herbei, und mit einem unwiderstehlichen Schlag seines Wunderschwertes Durandal rächte Roland den Tod des erschlagenen Freundes an dem starken Sarazenen. Auch die andern Paladine, voran der Erzbischof Turpin, taten es Karls streitbarem Neffen gleich an Tapferkeit.
Wieder wurde der Boden von Blut getränkt, wieder konnten die Sarazenen nicht der fränkischen Heldenkraft widerstehen. "Mohammed, hilf uns!" erklang es aus den Reihen der Heiden, und dann wälzte sich ein Strom von Flüchtenden zu der Höhe, wo Marsilias mit erlesenen Helden auf seinem andalusischen Streithengst hielt und die Schlacht lenkte.
Mit bösem Ingrimm sah der König, wie seine Sarazenen dem wütenden Ansturm der Frankenkrieger weichen mußten und von den erbarmungslosen Schwertern dahingerafft wurden. Da ließ er die Kriegshörner blasen und führte selber seinen riesigen Heerbann den Kämpfern des Frankenkaisers entgegen. Marsilias' Krieger waren trefflich gerüstet und wohl ausgeruht. Diesen ausgewählten frischen Kämpfern konnten die zu Tode erschöpften Frankenkrieger nicht widerstehen. Reihenweise sanken sie erschlagen in den Staub. Auch vier der Paladine fanden den Tod auf dem Schlachtfelde.
Aus dem dichten Kampfgewühl hatte sich Roland mit seinem Freund Oliver und dem Erzbischof Turpin auf eine Höhe zurückgezogen, um die Kampflage zu beraten. Ihn trieb die Verzweiflung beim Anblick der vielen erschlagenen Kampfgefährten. Sollte er nicht sein Horn blasen, um den Kaiser mit der Hauptmacht des Heeres zur Hilfe herbeizurufen?
Er wollte den Rat der Freunde. "Es ist nun zu spät", sagte der Erzbischof dumpf. Und doch riet er ihm zu, das Horn zu blasen. "Kaiser Karl wird unsern Hilferuf vernehmen und herbeieilen, uns zu rächen. Ob uns die Sarazenen auch das Leben rauben - uns wird in geweihter Heimaterde eine Grabstätte, und mancher Franke wird an unserm Grabe ein frommes Gebet verrichten."
Da setzte Roland sein Horn an die Lippen. Und so gewaltig blies er den Olifant, daß ihm das Blut aus dem Munde quoll und seine Schläfenadern fast zersprangen.
Der Klang des Wunderhornes schwang sich weit über die Berge hin und erreichte das Ohr des Kaisers, der mit seinen Getreuen nordwärts zog. "Roland ist in Not", sagte Karl dumpf. "Daß er das Horn so bläst, zeigt mir an, daß er einen Kampf auf Leben und Tod zu bestehen hat." Sogleich wollte er Befehl geben, den Heereszug umkehren zu lassen.
"Wer sollte es wohl wagen, deine starke Nachhut anzugreifen?" rief der treulose Ganelon. "Wir haben ja Frieden mit den Männern unter dem Halbmond geschlossen. Was Ihr vernehmt, Herr Kaiser, ist das Jagdhorn Eures Neffen. Sicherlich hat er in den Waldbergen einen starken Bären erlegt und bläst vor Freude über sein Jägerglück."
Doch Karl hatte Ganelons Arglist durchschaut und drängte auf Umkehr. Den Verräter ließ er fesseln und auf ein Maultier binden. In aller Eile strebte das Frankenheer zurück ins Tal von Ronceval.
Die Frankenhelden hatten sich dort enger zusammengeschart und erwehrten sich mit verzweifeltem Mut der feindlichen Übermacht. Wie grimmige Löwen wüteten Roland und Oliver unter den Angreifern.
Da kam Marsilias über das Schlachtfeld gesprengt, ihm zur Seite sein Sohn Jurfalu. Der Maurenkönig wies ihm den starken Frankenkrieger: "Das ist Roland, der tapferste der Paladine des Kaisers. Wenn er in den Staub sinkt, so wird die grüne Fahne unseres Propheten weiterhin über Spanien wehen."
Der junge Sarazene ritt mit eingelegter Lanze gegen den mächtigen Recken an. Roland stieß sie mit seinem Schild kampfgeübt beiseite und ließ sein Wunderschwert Durandal auf den Helm des Königssohnes niedersausen, daß Jurfalu lautlos aus dem Sattel fiel.
Dieser Zweikampf war so schnell beendet, daß König Marsilias kaum Zeit fand, die grausame Wahrheit aufzunehmen. Voller Entsetzen starrte er auf den im Staube Liegenden. Doch dann senkte er die Lanze, um seinen tapferen Sohn blutig zu rächen. Aber Rolands Schwert sauste mit gesteigerter Wucht auf ihn nieder. Mit wendiger Kraft wich der Sarazene den Schlägen aus und brachte den Gegner mit seinen Wechselhieben in Bedrängnis. Lange stand die Entscheidung aus. Doch da sah der Frankenheld seinen Vorteil, ließ sein Schwert Durandal niederfahren und traf des Königs Hand, daß sie, am Gelenk abgehauen, mit dem Speer zu Boden fiel.
Mit heulendem Wehruf wandte der schwerverwundete Sarazenenfürst sich ab, und auf seiner Flucht riß er den Rest seiner Krieger, die noch den Franken widerstanden hatten, mit sich.
Es mochte scheinen, daß den ausdauernden Kämpfern der fränkischen Nachhut, die das grausige Gemetzel überstanden hatten und das Schlachtfeld behaupteten, nun doch noch der Sieg zufallen sollte. Doch da rückte ein neues Heer zum Angriff gegen Karls Krieger heran, das zugleich die flüchtenden Sarazenen aufnahm. An der Spitze der neuen Kämpfer, die mehr als fünfzigtausend Mann zählten, erschienen die Könige von Äthiopien und von Karthago. Sie hatten mit ihren Scharen von Afrika her das Meer überquert und waren wild entschlossen zum Kampf gegen den verhaßten Frankenkaiser.
Mit Entsetzen sah Roland die Übermacht der kampfesfrischen Krieger gegen seine todmatten Gefährten andringen. Bald waren die Überlebenden des Frankenheeres ganz von Feinden umringt.
Da ritt Morganich, der König von Äthiopien, gegen den tapferen Oliver an. Er traf ihn von hinten in den Rücken, daß der Speer zur Brust herausdrang. Doch der riesenstarke Held hielt sich im Sattel. Blitzschnell wandte er sich um und ließ sein Schwert Alteklere auf den Gegner niedersausen, daß es ihm den Schädel zerschmetterte. Noch an die zwölf Sarazenen erschlug der Held, bis seine Kraft erlahmte. Roland erschrak auf den Tod, als er des Freundes entfärbtes, geflecktes Gesicht sah; Olivers Hände zitterten wie die eines Greises. Behutsam ließ Roland den treuen Paladinen aus dem Kampfgetümmel herausführen.
Doch die Not, in der Oliver seine Kampfgenossen wußte, ließ ihn keine Ruhe finden. Er hatte sich die Wunden verbinden lassen, hatte sich nach der Kampfeshitze an stärkendem Trunk gelabt und verlangte nach seinem Streitroß. "Ich bin stark genug, um mit dem Schwerte dreinzuschlagen", wies er die Einwände seiner Freunde zurück, "und ich will nichts als einen ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfeld."
So stürzte er sich wieder ins Kampfgetümmel. Doch sein Blick war so umwölkt, daß er nicht mehr Freund noch Feind unterscheiden konnte. Wahllos schlug er dort auf dem Schlachtfelde mit dem Schwerte drein. Laut klang es wider, als seine Waffe auf die Brünne eines Streiters einhieb, den er nur undeutlich erkannte. Oliver hob den Schild, den erwarteten Gegenschlag abzuwehren, aber da rief ihn eine Stimme an: "Erkennet Ihr mich denn nicht, Freund Oliver? Warum greift Ihr mich an?"
Es war Roland selber, den er mit seinen Streichen getroffen hatte.
Behutsam führte Roland den Freund zum zweiten Male aus dem Schlachtgetümmel und bettete ihn in dem nahen Wäldchen sicher ins Moos.
Dort lag der kühne Oliver und faltete die Hände zum Gebet. Laut beichtete er seine Sünden und bat Gott um Gnade und Sühne. Sein letzter Segenswunsch galt seinem Freunde Roland. Dann stockte ihm der Atem. Friedlich schied der wackere Held aus der irdischen Welt. In unendlichem Schmerz sah Roland den Freund sein Leben aushauchen; so stark war sein Kummer, daß er ohnmächtig neben dem Toten niedersank.
Als er sein Bewußtsein zurückfand, sah er den Erzbischof Turpin mit Graf Walther vor sich stehen. "Nur wir drei sind noch am Leben", berichtete der tapfere Graf, den Roland vorher zum Schutz der anliegenden Höhen ausgesandt hatte. Er war vor der Übermacht der Feinde zurückgewichen. Die ganze Nachhut hatte auf der Ebene und den Bergabhängen ringsum den Tod gefunden.
Roland, Turpin und Walther kämpften ihren letzten Kampf. Sie waren entschlossen, gemeinsam als Helden zu sterben. Die Felswand bot ihnen im Rücken und von der Seite her Schutz, so daß die Sarazenen nur von vorn angreifen konnten. Im Schutze des Gesträuchs schlichen diese herbei, schleuderten blitzschnell ihre Speere und schossen ihre Pfeile ab. Die Helden schützten sich mit ihren Schilden, und immer wieder sprangen Roland und seine Mitkämpfer in überraschendem Ausfall hervor und streckten einen der Verwegenen nieder. Zwar häufte sich rings um die einsamen Verteidiger ein Wall von erschlagenen Sarazenen, doch ihre Schilde und Brünnen klafften zerfetzt von den zahllosen Geschossen, und bald darauf traf den Grafen Walther so schwer eine feindliche Wurflanze, daß er todwund zur Erde sank. Roland fand im Kampfgewirr nicht die Zeit, dem Tapferen das Sterben zu erleichtern. Wortlos verschied der Waffenbruder, die Augen auf den starken Roland gerichtet. Auch der Erzbischof Turpin war zu Tode getroffen; drei Lanzen aus der Faust der Angreifer staken ihm im Panzer. Doch unerschütterlich stellte er sich den andringenden Feinden entgegen.
"Freund Roland" stieß er dann mit letzter Kraft hervor, "blast noch einmal Euer gutes Horn Olifant! Vielleicht vernimmt Kaiser Karl unsern Hilferuf."
Der starke Paladin des Frankenkaisers blickte wehmütig über das Schlachtfeld hin, das von den Leichen der erschlagenen Mitstreiter bedeckt war. Er selber war zu Tode erschöpft. Doch dann tat er nach dem Geheiß des streitbaren Kampfgefährten und setzte das Horn an die Lippen. Und ob sie auch ausgedörrt waren nach dem erbarmungslosen Kämpfen, er blies so gewaltig, daß der Klang weit über das Schlachtfeld und weit in die Berge hinein drang. Er blies mit so markiger Kraft, daß sein ganzer Körper zitterte und daß die Schläfenader sprang. Wie der Seufzer eines Sterbenden drang der Hornruf durch die Lüfte - aber Karl vernahm ihn. Mit seinen schnellsten Reitern war er, von Sorge getrieben, dem Hauptheere vorausgeeilt und befand sich schon nicht mehr fern der grausigen Kampfstätte im Tal von Ronceval. Nun war ihm nicht mehr zweifelhaft, daß Roland, der beste seiner Paladine, in Todesnot war. Würde er noch rechtzeitig zur Rettung erscheinen?
"Blast mit Macht die Kriegshörner, damit meine Helden unsern Ruf vernehmen und wissen, daß Hilfe naht!" drängte der Kaiser die Seinen.
Doch nur noch die beiden überlebenden Frankenhelden, nur Roland und der todwunde Graf Turpin, vernahmen den Hornruf der Retter. Angsterfüllt aber hörten ihn zugleich die Sarazenen. Nur ein Gedanke trieb sie: Roland und seinen Waffengefährten zu Tode zu treffen und dann vor der Rache des Kaisers zu fliehen.
Vierhundert erlesene Sarazenenkrieger drangen auf Roland und Graf Turpin ein.
"Der Kaiser ist nah!" rief Roland seinem Kampfgefährten zu. Neue Kraft beseelte den herrlichen Helden. In wildem Kampfesgrimm bestieg er sein edles Streitroß und sprengte mitten in die Heidenritter hinein. Niemand konnte seinen wütenden Streichen widerstehen, doch unter der übermächtigen Zahl der feindlichen Speere, die aus der Ferne auf ihn wie Gewitterregen niederprasselten, brach sein starkes Streitroß Vaillantif leblos zusammen. Das Schwert in der Faust, stand der Held, aus ungezählten Wunden blutend, zu Fuß zu weiterem Kampf bereit.
Doch keiner der Sarazenen wagte dem unbezwinglichen Frankenkrieger entgegenzutreten. Da schritt Roland zu Graf Turpin, dem sterbensmüden Kampfgefährten, zurück. Sorgsam löste er dem Freund die beengende Rüstung, verband ihm die Wunden und reichte ihm zu trinken. Dann blickte er über das grausige Kampffeld hin. Scheu hielten die Sarazenen sich in sicherem Abstand. Da raffte Roland sich zu einer letzten Tat auf, die die Freundestreue ihm gebot. "Ich will die erschlagenen Paladine herbeitragen und sie hier vor Euch niederlegen", sagte er zu dem todgeweihten Erzbischof, "damit sie aus Eurer Hand den heiligen Segen erhalten."
So schritt er durch die Reihen der Gefallenen und hob sie auf. Leichnam auf Leichnam legte er vor dem Erzbischof nieder, und mit tränenerstickter Stimme hob Turpin die Hände und segnete sie: "Möge Gott eure Seele ins Paradies aufnehmen", sagte er, "und auch meine dazu, denn noch heute werde ich mit euch vereint sein!"
Die unerbittliche Kampfeswut unter der glühenden Sonne und die unendliche Mühsal, der Schmerz um den Tod der Kampfgefährten und der Zorn über den Erfolg der Feinde waren zuviel für Rolands Ritterkraft. Zu Tode erschöpft, sank er neben der Reihe der gefallenen Frankenkrieger ins blutgetränkte Moos des Felsengrundes. "Nur einen Schluck Wasser!" stieß er mit ausgedörrter Kehle hervor.
Mit übermenschlicher Kraft richtete Graf Turpin, zu Tode verwundet und sterbensmatt, sich auf. Er ergriff Rolands Horn Olifant und schleppte sich mit wankenden Knien zum nahen Bach, um es mit Wasser zu füllen. Doch die Mühe dieser edlen Freundestat ging ihm über die Körperkraft. Hier traf ihn der Tod: ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust, und dann sank der fromme Gottesmann, der ein so wackerer Streiter seines kaiserlichen Herrn gewesen war, in das Moos.
So fand ihn Roland: die Hände friedlich über die Brust gekreuzt, lag der tote Erzbischof und hielt die gebrochenen Augen zum Himmel gerichtet, als wolle er Gott den Herrn bitten, ihn in sein ewiges Reich aufzunehmen. Weinend kniete Roland vor dem getreuen Mitstreiter. Dann bettete er ihn behutsam neben die gefallenen Paladine.
Er fühlte, daß nun auch ihm der Tod nahe war. Da schritt er, schwer sich stützend auf Durandal, sein treues Schwert, zur nahen Waldlichtung, wo vier mächtige Felsblöcke Schatten boten. Mit dem Rücken lehnte der Held sich dort an, um den Tod zu erwarten.
Unter den Gefallenen, die ringsum verstreut lagen, hatte sich einer der Maurenkrieger versteckt. Er hatte sich totgesteIlt, um in einer Kampfpause entfliehen zu können. Als er nun Kaiser Karls treuesten Paladin allein in seiner Nähe ruhen sah, glaubte er, es biete sich ihm eine leichte Gelegenheit, dem verhaßten Frankenhelden Schwert und Horn zu rauben. Katzengleich schlich er sich heran. Welchen Triumph würde es im Sarazenenlager bedeuten, wenn er Durandal und Olifant, Rolands berühmte Kampfbegleiter, heimbrächte!
Roland fuhr aus seiner Ohnmacht auf, als der heimtückische Mann ihm das Schwert abziehen wollte. Mit seinem Olifant traf Roland ihn so hart aufs Haupt, daß der Sarazene, zu Tode getroffen, hinsank. Traurig betrachtete der Held sein zersprungenes Horn: "Nie wieder wirst du bei froher Jagd oder auf dem Kriegszuge erklingen!"
In bitteren Gedanken wog er Durandal, sein gutes Schwert, in der Hand. Sollte er zulassen, daß es nach seinem Tode in Feindeshand falle? Da raffte er sich mit letzter Kraft auf und trat vor die Felswand. Mit einer Heldenkraft, wie sie ihm zu den besten Zeiten seines Kämpferlebens erfüllt hatte, führte er mit dem Schwerte einen furchtbaren Schlag auf den Stein, um die Klinge zu zerschmettern.
Doch war Roland der schwertgewaltigste unter Kaiser Karls Paladinen, so war Durandal das beste und härteste der Schwerter: es zerbrach nicht, ja es bekam unter dem wuchtigen Schlag nicht eine Scharte - anstatt zu zerspringen, spaltete Rolands Schwert den harten Felsen in zwei Teile!
"O Durandal", rief der Frankenheld voll inniger Rührung, "du treuer Kampfgefährte! Kaiser Karl, mein Oheim, hat mich einst mit dir umgürtet, und wie viele Schlachten hast du mit mir siegreich bestanden - nun willst du auch auf dem letzten Wege nicht von mir lassen!"
Er ließ sich zu Boden gleiten und lag auf dem Rücken, den Blick zum Himmel gerichtet. Wie sollte er die Schmach verhüten, daß die herrliche Waffe den Heiden in die Hand falle? Mit schwindender Kraft raffte Roland sich auf seinem letzten Lager auf und legte das blanke Schwert unter sich, so daß er es ganz mit seinem Leibe deckte. Dann sprach er sein Gebet und bat Gott voll Demut um Vergebung seiner Sünden. Seine letzten Gedanken galten dem Kaiser, der mit seinen Franken bald von den Höhen herabsteigen würde.
In der Ferne, weit im Süden, wußte Held Roland die weichenden Sarazenen. Dorthin, nach Saragossa, richtete er das Haupt, um im Tode noch als Sieger feindwärts zu blicken.
So ereilte den Helden der Tod und entführte ihn in sein Reich; ohne Schmerzen verschied Roland, der treueste und tapferste von Kaiser Karls Paladinen. Wetterwolken zogen über den Abendhimmel, Blitze zuckten auf, und lautlos breitete sich dann milde die Nacht über die blutgetränkte Walstatt, über die Leichen so vieler erschlagener Krieger.
Mit dem Morgengrauen ertönte Hörnerschall von den nahen Waldbergen herüber. Mit Schrecken nahm Karl mit seinen heranrückenden Franken wahr, daß seine Paladine keine Antwort gaben. Warum ließ Roland nicht sein Horn erklingen? Entsetzen packte den Kaiser, als er mit seinen Helden ins Tal hinabspähte. Grauenvoll war der Anblick dieser Stätte des Todes. Der Kaiser wußte sich nicht zu fassen in Schmerz und bitteren Selbstvorwürfen. Warum hatte er dem Heere nicht zur Seite gestanden?
"Jetzt ist keine Zeit zum Klagen!" mahnte Herzog Neimes die Helden. "In der Ferne zeigt sich noch der Staub der flüchtenden Feinde. Wir müssen sie einholen, um den Verrat zu bestrafen und den Tod unserer Kampfgefährten zu rächen!"
Der Kaiser ließ zwei Grafen als Totenwache im Roncevaltal zurück und machte sich sogleich an die Verfolgung. Gräßlich war die Vergeltung, die seine Mannen übten; nur wenige Heiden entrannen dem Rachewerk.
Dann kehrten die Frankenkrieger zur Walstatt des Todes zurück und machten sich an die schmerzvolle, fromme Aufgabe, die Gefallenen zu bestatten. Das ganze Heer beweinte mit Karl die herrlichen Paladine und ihre vielen Getreuen, die ihr Leben geopfert hatten. Sie wurden alle mit Wein und Salben gewaschen und dann eingesalbt in alexandrinische Tücher gehüllt, damit ihre Leichen unverwest mit in die Heimat geführt werden konnten. Auf sein breites Schwert gestützt, stand Karl lange vor der Reihe der erschlagenen Paladine und vor seinem herrlichen Neffen, der wie schlafend im Grase ruhte. "Nie mehr wird es einen Helden für mich geben wie dich, stark und tapfer, treu bis in den Tod", stieß er leise hervor. "Keinen besseren Freund hatte ich auf Erden als dich, lieber Neffe Roland!" Tränen schossen ihm aus den Augen, und der mächtige Kaiser schämte sich ihrer nicht. Mit inniger Rührung nahm er Rolands Schwert Durandal an sich, das der Held mit seinem Leibe geschützt hatte.
Aber noch standen die Franken vor einem schweren Strauß, denn dem König Marsilias, der sich mit wenigen seiner Sarazenenkrieger über den Ebrostrom gerettet hatte, eilte mit gewaltiger Streitmacht der Kalif Baligan von Babylon zur Hilfe. Hochfahrend verlangten seine Gesandten Unterwerfung und Tribut der Franken. Als Antwort stellte der Kaiser seine Krieger in zehn Heerbannen zum Kampf bereit und ließ die Kriegshörner blasen. Er selber setzte sich dem Heer an die Spitze. Die Kämpfer unter dem Drachenbanner Babylons glaubten leichtes Spiel zu haben, und in dem mörderischen Kampf, der zwei volle Tage in der weiten Ebene hin und her wogte, wurde auch mancher Frankenschild zerhauen und mancher Frankenkrieger leblos aus dem Sattel geworfen. Doch die Heidenkrieger unterlagen dem Siegesmut und dem Schwerte der Frankenhelden. Wild entschlossen suchte Kalif Baligan den Zweikampf mit Kaiser Karl selber, doch er war der Heldenkraft des Frankenkaisers nicht gewachsen. Erschlagen sank er mit Babylons Drachenbanner in den Staub, seine Mannen flohen voller Entsetzen.
Als Sieger zog Kaiser Karl in Saragossa ein. Nachsichtig verschonte er alle Feinde, die sich ihm unterwarfen.
Dann ging der reisige Zug heimwärts ins Frankenland nach Aachen. Mit Lorbeerzweigen bekränzt hielten die Sieger ihren Einzug in die Kaiserstadt. In Fesseln wurde Ganelon mitgeführt.
Den Kaiser drängte es, Gericht zu halten über den Verräter, der aus Rachsucht und um schnödes Geld den edelsten der Frankenhelden samt zwanzigtausend Kriegern den Untergang gebracht hatte.
Mit trotziger Miene stand Ganelon vor der Gerichtsversammlung, zu der der Herrscher die Weisesten aus allen Teilen seines Reiches berufen hatte. Der Angeklagte bestritt hartnäckig jede Schuld. Da erkannten die beratenden Richter auf Gottesurteil. Der riesenstarke Graf Pinabal, ein Freund Ganelons, war bereit, für ihn einzutreten. Die Sache des erschlagenen Roland vertrat Gottfried von Anjou, schlank und von behender Gewandtheit. "Ganelon ist ein Verräter", rief er, "und ich will Roland verteidigen, ob auch Pinabal ein hochberühmter Recke ist."
Auf freiem Felde vor der Kaiserstadt Aachen standen die beiden Kämpfer einander gegenüber. Schon beim ersten erbitterten Zusammenprall zersplitterten die Lanzen. Da sprangen sie vom Pferde und setzten den Schwertkampf zu Fuß fort. Pinabal, seinem Widersacher an Kraft überlegen, konnte den von Anjou schwer am Halse verwunden und wollte ihm Gelegenheit geben, sich zu unterwerfen. "Gäbe ich nach, so wäre ich ein Schurke gleich Ganelon, den du schuldlos nennst", rief Rolands Stellvertreter keuchend, und damit führte er einen so wuchtigen Schlag auf den Helm des Gegners, daß sein Schwert tief in Pinabals Haupt eindrang. Leblos sank der starke Recke zu Boden.
Auch die Ritter, die Ganelons Partei ergriffen hatten, mußten nun erkennen, daß ein Gottesurteil gesprochen war. Der Kaiser ließ die Gerichtsversammlung über die Vollstreckung entscheiden, und die weisen Richter erkannten für Recht, daß der verräterische Vasall, der so furchtbares Unheil über Kaiser Karls Getreue heraufgeführt hatte, von wilden Hengsten zu Tode geschleift werden sollte.
Wieland der Schmied
In Seeland am Ostmeer lebte einstmals der Riese Wate, der aus königlichem Geschlecht stammt, seine Mutter Waghilde aber war eine Meerfrau. Wate besaß drei starke Söhne. Die beiden älteren, Slagfider und Egil, wurden Krieger; Wieland, den jüngsten, aber tat der Vater in die Handwerkslehre, damit er ein tüchtiger Schmied werde. Mime, der berühmte Meister in Nordland, unterwies den geschickten Knaben drei Jahre, und nachdem Wieland lange bei kunstfertigen Zwergen gearbeitet hatte, galt er im Lande als ein unübertrefflicher Meister seines Handwerks.
Mit seinen beiden Brüdern zog Wieland in die Einsamkeit; sie hausten gemeinsam am Wolfsee in einem Tal, das ihnen bei Jagd und Fischfang alles Nötige zum Leben bot. Eines Tages gewahrten sie über dem See drei Schwäne, die sich herabsenkten. Als die Schwäne das Ufer des Sees erreicht hatten, warfen sie ihr Federkleid ab und standen da als drei wunderschöne Jungfrauen. Es waren Walküren.
In schnellem Entschluß schlichen die drei Brüder hinzu und nahmen die Schwanenhemden an sich. So hatten sie die Jungfrauen, die sich ohne Hemden nicht verwandeln konnten, in ihrer Gewalt; die Walküren mußten in Menschengestalt bei den Brüdern bleiben, und diese vermählten sich mit ihnen.
Sieben Jahre lebten die drei Paare in ungetrübtem Glück, und die Brüder ahnten nicht, wie sehr sich die Walküren nach ihrem früheren Leben zurücksehnten. Wielands Weib Herwör schenkte ihrem Gatten einen kostbaren Ring, der die Kraft haben sollte, ewige Liebe zu erhalten. Der kunstfertige Mann schmiedete nach diesem Muster andere und reihte sie alle auf eine Schnur.
Eines Tages aber, als die Brüder von der Jagd heimkehrten, war das Haus leer. Die drei Frauen hatten ihre Federhemden, die ihre Gatten vor ihnen versteckt gehalten hatten, gefunden und waren davongeflogen. Da zogen Wielands Brüder bekümmert in die Welt hinaus, um die verlorenen Geliebten zu suchen; Wieland aber blieb zurück, denn er vertraute auf die Kraft des Ringes.
Nidung, der König der Njaren, hörte von Wielands Kunstfertigkeit und sann darauf, ihn sich dienstbar zu machen und seinen Reichtum zu gewinnen. Heimlich ließ er Wieland in seinem einsamen Hause gefangennehmen. Er raubte den Ring der Schwanenjungfrau samt den Kostbarkeiten und entführte Wieland in sein Reich.
Zornbebend fügte sich dieser der Gewalt.
"Hüte dich vor seiner Rache! Sieh nur, wie seine Augen glühen!" raunte die Königin ihrem Gatten zu. "Zerschneide ihm die Sehnen, damit er nicht entfliehen kann."
Da folgte König Nidung dem heimtückischen Rat seiner Frau und ließ den Unglücklichen auf eine nahe Insel bringen. Lange dauerte es, bis die schrecklichen Wunden heilten. "Nun wirst du deine Kunstfertigkeit zeigen", sagte der König, "und für mich alles schmieden, was in deinen Kräften steht."
Tagsüber stand der einst kraftvolle, nun verkrüppelte Mann am Amboß und mußte für den König arbeiten; doch im Schutze der Nacht schuf er ein Werk, das noch keinem Menschen gelungen war: ein Federkleid, das ihn befähigte, sich in die Luft zu erheben.
Eines Morgens kamen die beiden jungen Königssöhne, ohne daß es jemand wußte, auf Wielands Insel, um seine Werkstatt anzusehen. Nun fand der so schändlich Verstümmelte endlich die Gelegenheit zur Rache. Er erschlug die beiden Knaben und warf sie in die Grube unter der Esse. Mit den Schädeln aber vollbrachte er ein grausiges Werk. Er faßte sie in Silber und fertigte Trinkschalen daraus, die er König Nidung zum Geschenk machte.
Bald darauf geschah es, daß die Königstochter Bathild den Ring der Herwör, den sie als ihren schönsten Schmuck trug, aus Unachtsamkeit zerbrach. Niemand anders als Wieland konnte, wie sie wohl wußte, das Kleinod wiederherstellen, und so vertraute sie sich aus Furcht vor des Vaters Zorn dem kunstfertigen Schmiede an. Mit heuchlerischer Freundlichkeit empfing Wieland die schöne Bathild und beschwichtigte ihre Sorge. Dann betörte er die Königstochter mit einem Zaubertrank, daß sie zu heimlichem Ehebund mit ihm bereit war.
Damit sah Wieland seine Rache erfüllt. Während die verführte Königstochter weinend sein Haus verließ, schlüpfte er in sein Federkleid und flog auf König Nidungs Burg. Auf der höchsten Zinne ließ er sich nieder.
"Wie? Bist du ein Vogel geworden?" rief Nidung aus, als er den Schmied mit Entsetzen dort oben gewahrte. Er ahnte jetzt, wer ihn seiner Söhne beraubt hatte.
Aber bevor Wieland ihm auf seine Frage die letzte Gewißheit gab, ließ er den König schwören: "Bei Schildes Rand und Rosses Bug, bei Schwertes Schärfe und Schiffes Bord sollst du mir geloben, daß nicht Wielands Weib noch seinem Kind ein Leid geschieht!"
König Nidung leistete den Eid, und nun ließ Wieland ihn das Schicksal seiner Söhne wissen. "Verstehst du nun, was es mit den silbernen Trinkbechern auf sich hat?" rief er mit Hohnlachen. "Da du einen Eid geschworen hast", fügte er hinzu, "sollst du auch wissen, daß deine Tochter heimlich mein Weib geworden ist und dir einen Enkel schenken wird!"
Diese Nachricht dünkte den stolzen König die schwerste Schmach. In ohnmächtigem Zorne richtete er die Waffe auf den Schmied, der sich so grausam an ihm gerächt hatte; doch kein Pfeil erreichte den flügelbewehrten Wieland, der sich in die Lüfte hob und in den Wolken entschwand.
Das ist die Sage von Wieland dem Schmied. Sein Sohn, den die Königstochter gebar, wurde Witege genannt. Als Witege groß und stark geworden war, sandte ihn seine Mutter Bathild in die Ferne zu seinem Vater, der ihn freundlich aufnahm und in allen Fertigkeiten unterwies, deren ein Held bedurfte, um in Ehren zu bestehen.
In einer prächtigen Rüstung, die sein Vater ihm geschmiedet hatte, zog Witege in die Welt hinaus und wurde später Kampfgefährte des Helden Dietrich von Bern, dessen Tatenruhm schon damals die Lande erfüllte.
Die Schlacht vor Raben
Im Streite um das Vatererbe war Dietrich vor seinem Oheim Ermenrich aus dem Lande gewichen und hatte an König Etzels Hof gastfreie Aufnahme gefunden. "Ich werde dir einst helfen, dein Reich zurückzuerobern", versprach ihm der Hunnenkönig, und Dietrich dankte ihm die Gastfreundschaft, indem er Etzel auf seinen Kriegsfahrten begleitete und ihm im Kampfe tapfer zur Seite stand.
Als das Heer sich nun zum Rachezuge rüstete, um Dietrich die Herrschaft zurückzugewinnen, ließen Etzels zwei Söhne nicht ab zu bitten, man möge sie doch mitreiten lassen. Ihre Mutter wollte nicht zustimmen, denn sie hatte geträumt, ein Drache habe die beiden Jünglinge entführt und vor ihren Augen zerrissen. Da bat Dietrich, die unerfahrenen Knaben seiner Hut anzuvertrauen: "Ich werde treu auf eure beiden Söhne achtgeben", versprach Dietrich den Eltern. So gab Etzel nach, weil auch Königin Helche Dietrichs Worten vertraute, und ließ sie ziehen.
Als der heimkehrende Dietrich die Grenzen seines Landes überschritt, zeigte es sich, daß die Heimat ihn nicht vergessen hatte. Seine Königsstadt Bern öffnete ihm willig die Tore, und viele Getreue scharten sich um ihn. Man rüstete sich zum Kampfe gegen Ermenrich, der sich bei der Stadt Raben mit seinem Heere zur Entscheidung stellte.
Etzels Söhne, Ort und Scharf, dazu seinen jungen Bruder Dieter hatte Dietrich dem kühnen Elsan anvertraut. Mit seinem Leben mußte dieser dafür bürgen, sie nicht vor die Stadt ziehen zu lassen. Doch heimlich übertraten die kühnen Jünglinge das Verbot und ritten ohne Elsan davon. Ohne es zu wissen, gerieten sie auf die Straße nach Raben. Vor dieser Stadt stießen sie auf den starken Witege, der einst Dietrichs Gefolgsmann gewesen und in Ermenrichs Dienst getreten war.
"Wir müssen unsern Herrn Dietrich an dem Verräter rächen!" riefen die drei Jünglinge voller Kampfeseifer und drangen auf den Helden ein. Vergeblich mahnte Witege sie, vom Streite abzulassen, da sie ihn doch nicht bestehen könnten. Er mußte sich jedoch ihres Ungestüms erwehren und erschlug mit Mimung, seinem guten Schwerte, König Etzels beide Söhne, dann Dieter, den jungen Bruder des Berners.
Während Dieter und die Etzelsöhne mit Witege kämpften und sich ihr Schicksal vollzog, entbrannte vor der Stadt Raben eine schwere Schlacht zwischen den Mannen Dietrichs und König Ermenrichs. Lange Zeit tobte der Kampf hin und her. Dann gelang es Dietrich und seinen Recken, den Widerstand von Ermenrichs Scharen zu brechen. Der harterkämpfte Sieg hatte schwere Opfer gekostet. Viele Erschlagene und Verwundete lagen in ihrem Blute, und Dietrich befahl, die Verwundeten zu pflegen und die Toten zu bestatten.
Da sah er, wie eben Elsan auf die Walstatt geritten kam. Dietrich fragte sogleich nach den Jünglingen, die er dem Schutz des Recken anvertraut hatte. Er erfuhr, Schlimmes fürchtend, Elsan habe sie aus den Augen verloren, und bald darauf kamen Boten, die meldeten, Dieter und die Söhne Etzels lägen erschlagen auf der Heide.
"Habe ich sie dir, Elsan, nicht auf Leben und Tod übergeben?" rief Dietrich klagend aus. Dann übermannte ihn der Zorn, und er erschlug Elsan auf der Stelle. Als er die Toten fand und ihre Wunden untersuchte, erkannte er den Täter. Nur das Schwert Mimung schlug solche Wunden, und Witege war es, der dieses Schwert führte. Das Verlangen, den Tod der Jünglinge zu rächen, wurde übermächtig in ihm. Aber wo sollte er den Mörder finden?
Der treue Rüdeger von Bechelaren, dessen junger Sohn in der Rabenschlacht gefallen war, hatte Dietrich zur Todesstätte begleitet. Er war es auch, der Witege und seinen Neffen Rienold über die Heide reiten sah.
Dietrich nahm sofort die Verfolgung auf, als beide vor dem berserkerhaft wütenden Feinde flohen. Schließlich stellte sich der junge Rienold Dietrich entgegen und griff ihn mutig an. Er konnte jedoch Dietrichs rasendem Zorn nicht widerstehen und fiel nach kurzem Kampfe.
Witege, von furchtbarem Schrecken erfüllt, vergaß das Gebot der Ehre und suchte das Heil in der Flucht, auf die Schnelligkeit seines Pferdes vertrauend.
Aber der Abstand zwischen Witege und seinem Verfolger wurde immer kleiner, und da der Fliehende die Richtung auf das Meer nahm, hoffte Dietrich ihn am Strande zum Kampfe zu stellen. Schon verzweifelte Witege selbst an der Rettung, da erhob sich aus den Fluten eine Meerfrau, seine Urahne Waghild, die den letzten Sproß ihres Geschlechtes samt seinem Roß mit sich in die Tiefe zog. Vergeblich harrte Dietrich lange am Strande, in der Hoffnung, der Feind werde wieder auftauchen. Aber nichts zeigte sich über der weiten Flut, und Dietrich mußte erkennen, daß Witege seiner Rache für immer entzogen war.
Trotz des Sieges über Ermenrich blieb Dietrich bei den harten Verlusten seines Heeres nichts anderes übrig, als an Etzels Hof zurückzukehren. Durfte er aber wagen, nach dem Tode der Königssöhne, für deren Leben er sich verbürgt hatte, vor König Etzel und Königin Helche hinzutreten? In dieser Not bat er Rüdeger von Bechelaren um Beistand, und der wackere Kampfgenosse übernahm es, das hunnische Hilfsheer zurückzuführen und die Verzeihung des Königspaares zu erwirken.
Noch bevor er eintraf, erschienen die herrenlosen Rosse der beiden Königssöhne vor dem Palast. Sie hatten allein den Weg in die Heimat gefunden. Die blutigen Sättel kündeten von unheilvollem Geschehen.
Der Schmerz übermannte Etzel und Helche, als sie durch Rüdeger über das Schicksal der Söhne Gewißheit erlangten. Den Zorn des Königspaares über Dietrichs Wortbruch wußte Rüdeger jedoch zu besänftigen, indem er auf die unglückselige Fügung hinwies, die das Zusammentreffen der Jünglinge mit Witege bewirkt hatte.
Als Dietrich bald darauf vor Etzel und Helche erschien, neigte er sich bis zur Erde und bat, der König möge sein Leid an ihm rächen und ihn töten. Da Helche die Erniedrigung des Helden sah, brach sie in Tränen aus. König Etzel aber nannte ihn schuldlos und versicherte ihn seiner Huld. Lange Jahre lebte Dietrich noch an Etzels Hof, wegen seiner Tapferkeit und seines klugen Rates hoch geehrt und geachtet. Als Etzel nach Frau Helches Tod die schöne Kriemhild als Gattin heimführte und diese, voll Rachedurst gegen Sigfrids Mörder, die Burgunden ins Land lockte, um sie zu verderben, war es Dietrich, der König Gunther und den starken Hagen von Tronje im letzten Kampf überwand.
Nach dem Untergang der Burgunden war das Leben an Etzels Hofe grau und trostlos geworden. Etzels Lebensmut war gebrochen. Seine besten Mannen, unter ihnen Markgraf Rüdeger, waren im Kampfe gegen die Burgunden gefallen. Der einzige Sohn aus der Ehe mit Kriemhild hatte durch Hagens Schwert den Tod gefunden. Dietrich hielt nichts mehr im Hunnenlande zurück.
Er verließ Etzels Hof, um die Herrschaft in Bern zu übernehmen. Den alten Hildebrand, seinen getreuen Waffenmeister, schickte er voraus. An der Landesgrenze trat Hildebrand ein wehrhafter Recke entgegen; der Alte erkannte ihn nicht. Drohende Reden flogen hin und her, und bald ritten die beiden Kämpfer erbittert aufeinander los. Die Speere zersplitterten, die Schilde krachten, die Recken sprangen von den Pferden und begannen den Schwertkampf. Keiner konnte den andern überwinden, und schließlich wurden sie so müde, daß sie rasten mußten.
"Nenne mir deinen Namen und gib deine Waffen heraus!" rief Hildebrands Gegner zornig. Der Alte lachte höhnisch und verlangte von dem andern das gleiche. Da hieben beide wieder aufeinander ein, bis ihnen die Kräfte schwanden.
Schließlich schlug Hildebrand dem jungen Recken mit seinem Schwerte eine schwere Wunde, und endlich schien sich dieser besiegt zu bekennen. "Hier, nimm mein Schwert, denn du bist stärker als ich", sagte er und reichte es dem Alten. Doch als Hildebrand danach griff, schlug der Junge zu. "Diesen Schlag lehrte dich ein Weib!" schrie der Alte voller Zorn und drang auf den andern ein. Er warf ihn zu Boden und richtete das Schwert dem Liegenden auf die Brust, dann nannte er ihm seinen Namen. Nun gab auch der Unterlegene den eigenen preis: Es war Hadubrand, Hildebrands Sohn.
Da warf der Alte das Schwert von sich, schloß den Sohn voller Freude in die Arme und küßte ihn unter Tränen. Gemeinsam ritten sie zu Frau Ute. Die wunderte sich über den fremden Gast. "Ich bringe dir meinen Vater Hildebrand", sagte Hadubrand. Da umarmte Ute den Gatten, den sie über drei Jahrzehnte nicht gesehen hatte.
Nur kurze Zeit rasteten Vater und Sohn, dann ritten sie zusammen nach Bern an König Dietrichs Hof. Ermenrich, der ihm so lange die Herrschaft streitig gemacht hatte, war im Kampfe gefallen, und nun endlich konnte Dietrich sich in Rom, der Ewigen Stadt, mit der Königskrone schmücken lassen, die ihm rechtmäßig zustand. Die lange Zeit der Trennung von der Heimat hatte ihn erfahren und weise gemacht.
Viele Jahre trug der Gotenkönig in strahlendem Ruhm die Krone auf dem Haupte, und alles Volk verehrte seine Macht und seine Gerechtigkeit, seine Milde und wahre Mannestugend.
Vom Anfang der Welt
Es gab eine Zeit, da alles nicht war. Da war nicht Sand noch See, nicht das Meer und die Erde, nicht der Himmel mit seinen Sternen. Im Anfang war nur Ginnungagap, das gähnende, lautlose Nichts. Da schuf Allvaters Geist das Sein, und es entstand im Süden Muspelheim, das Land der Glut und des Feuers, und im Norden Niflheim, das Land der Nebel, der Kälte und Finsternis. Aus dem Norden, in Niflheim, entsprang ein tosender Quell, aus dem zwölf Ströme hervorbrachen. Die stürzten in den Abgrund, der Norden und Süden trennte, und erstarrten zu Eis.
Aus Muspelheim flogen Funken auf das Eis, die Starre begann zu schmelzen, und der Riese Ymir taute daraus hervor und danach Audhumbla, eine riesige Kuh, von deren Milch Ymir sich nährte. Eines Tages sank Ymir, nachdem er sich satt getrunken hatte, in tiefen Schlaf, und aus seinen Achselhöhlen wuchsen zwei Riesenwesen, Mann und Weib. Diesen beiden entstammt das Geschlecht der Frost- und Reifriesen.
Audhumbla, die nirgends Gras fand, leckte an den salzigen Eisblöcken, und ihre Zunge löste am dritten Tage einen Mann aus dem Eise, der war stark und schön und nannte sich Buri. Er erschuf aus eigener Kraft einen Sohn, der hieß Börs und nahm Bestla, die Tochter des Riesen Bölthorn, zum Weibe.
Börs zeugte mit Bestla drei Söhne: Odin, Wili und We. Mit ihnen kam das Göttergeschlecht der Asen in die Welt.
Odin, Wili und We zogen aus, um die Herrschaft über die Schöpfung zu gewinnen. Sie erschlugen den alten Riesen Ymir. Die Blutströme aus Ymirs Wunden überfluteten die Welt, und alle Frostriesen ertranken. Nur ein einziger, Bergelmir, rettete sich mit seinem Weibe in einem Boot. Diese beiden wurden die Ahnen der späteren Riesengeschlechter.
Den toten Leib Ymirs warfen die Brüder Odin, Wili und We in den Abgrund zwischen Muspelheim und Niflheim und schufen aus ihm die Erde. Aus Ymirs Blut entstanden die Wasser der Ströme und Meere, aus seinem Fleisch die Erde, aus Knochen und Zähnen Berge und Felsen, aus seinem Schädel wurde die Wölbung des Himmels geschaffen. Als die Asen das Hirn des Riesen in den Himmel schleuderten, blieb es als Wolken in den Lüften hängen. Die Haare wurden zu Bäumen, die Augenbrauen bildeten einen Wall, der Midgard, das Land der Menschen, gegen das Meer und die Riesen schützen sollte.
Aus Funken, die von Muspelheims Feuer herüberstoben, schufen die Götter die Sterne, denen sie Namen gaben, und jedem wiesen sie seine Bahn.
Die Erde ward trocken und war vom Meere umgeben, und die Erde begann zu grünen.
Als Odin und seine Brüder einst am Ufer des Meeres wanderten, sahen sie am Strande zwei Bäume, die Esche und die Ulme. Die gefielen ihnen sehr.
Odin formte aus dem einen Baum, der Esche, den ersten Menschen, einen Mann. Aus der Ulme aber wurde ein Weib geschaffen. Odin hauchte ihnen Leben und Geist ein, Wili gab ihnen Verstand und Gefühl, und We schenkte ihnen die Sinne des Gesichts und Gehörs, dazu die Sprache.
Neun Reiche erschufen die Götter in der Welt, drei unterirdische, drei irdische und drei himmlische.
Tief im Innern der Erde liegt Niflheim, das Land des Eises und der Toten. Niflhel ist der tiefste Abgrund, in dem die Verbrecher und Meineidigen ihre Strafe erleiden. Schwarzalfenheim heißt das Land der Nachtzwerge, die verwachsen und häßlich sind, so daß von ihnen gesagt wird, es sei besser, sie nicht zu beschreiben. Sie sind vieler Künste kundig, schmieden köstliche Kleinodien und scharfe Schwerter und Waffen. Sie schrecken und quälen bei Nacht die Menschen, sind aber auch dankbar, wenn jemand ihnen in der Not geholfen hat.
Auf der Erde liegen Midgard, das von den Menschen bewohnt wird, und Riesenland, in dem die Frost- und Reifriesen hausen, dann Wanenheim, das Reich der Erd- und Wassergötter, die sich das Geschlecht der Wanen nennen.
Im Himmel ist Muspelheim, das Feuerland, gelegen, und Lichtalfenheim, wo die Lichtzwerge leben, schön von Gestalt und immer fröhlich. Sie sind Freunde der Menschen. Vor allem aber ist Asgard zu nennen, das heilige Land der Asen. Dort wohnen die Götter in zwölf Schlössern, die sie sich erbaut haben. Eine gewaltige Brücke, Bifröst, der Regenbogen, verbindet Erde und Himmel. Nur die Götter können die Brücke überschreiten, die von dem klugen Heimdall bewacht wird. Er trägt ein Horn, Giallar genannt, mit dem er am Tage der Götterdämmerung die Asen zum Kampf rufen wird.
Aus Leib und Blut des gewaltigen Riesen Ymir haben Odin und seine Brüder die Welt erschaffen. Midgard heißt die Erde, wo die Menschen wohnen. Niflheim ist das Reich der Toten. Genau in der Mitte der Welt, in Asgard, bauten sich die Götter, die Asen, ihre eigenen Wohnungen.
Dort thront Odin, der höchste Gott, den die Menschen auch Wodan nennen, in Walhalla, der größten und prächtigsten Halle, und waltet über der Welt und über den Menschen. Auf seinen Schultern sitzen zwei Raben, Hugin, der Gedanke, und Munin, das Gedächtnis, die auf sein Geheiß täglich ausfliegen, und raunen ihm ins Ohr, was sie gesehen und gehört haben.
In heiligen Nächten sprengt Odin auf weißem Rosse mit seinem Gefolge in wilder Jagd über die sturmgepeitschten Baumwipfel durch die Lüfte dahin. Oft steigt er auch in menschlicher Gestalt, einen blauen sternbesäten Mantel um die Schultern und einen breitkrempigen Hut auf dem Haupt, zur Erde hinab, um den Sterblichen sein Mitgefühl zu zeigen, ihnen zu helfen und ihre Gastfreundschaft zu erproben.
Im Getümmel des Kampfes trägt der Waffengewaltige eine strahlende Rüstung und Gungnir, seinen mächtigen Speer. Er nimmt am Kampfe nicht selbst teil, sondern reitet auf seinem achtfüßigen Roß Sleipnir über die Walstatt und zeichnet mit dem Speer die Männer, denen er den Tod bestimmt hat. Die Walküren, Schlachtenjungfrauen von herrlicher Schönheit, begleiten ihn und tragen die Gefallenen auf ihren feurigen Rossen nach Walhalla empor.
Odins Sohn Thor, der auch Donar heißt, ist der kraftvolle Donnergott. Er hilft Göttern und Menschen und gewährt besonders den Schwachen seinen Beistand; er hat Gewalt über Wind und Wogen, über Blitz und Donner. Im rollenden Wagen, der von Böcken gezogen wird, fährt er auf den Wolken dahin, in der Rechten Mjölnir, den Hammer, der nach dem Wurfe in seine Hand zurückkehrt. Wie alle Götter wird auch er von den Menschen nicht in Tempeln verehrt, sondern in Hainen, von den Bäumen ist ihm die sturmfeste Eiche heilig.
In der Reihe der Göttinnen ist Odins Gemahlin Frigga, die mit Walvater den Thron in Asgard teilt, die Königin der Götter und Menschen; sie wird verehrt als gütige Frau, die für die Menschen sorgt, als Beschützerin der Ehe und der häuslichen Arbeit, sie gilt als Spenderin des Kindersegens. Der Wagen, auf dem sie durch die Lande fährt, wird von Katzen gezogen, diese und andere häusliche Tiere, auch Schwalbe und Storch, sind ihr geheiligt, und der wahrsagende Kuckuck.
Segenspendend und Licht schenkend schreitet Baldur, der Gott der Frühlingssonne, der für das Gute und Gerechte kämpft, über die Erde. Sein Bruder ist der blinde Hödur, der Gott des Winters, der Finsternis und Kälte. Niemand liebt ihn, und überall, wo er herrschen darf, erstickt das Leben.
Odins Bruder Loki, der Gott des Feuers, das die Leichen verzehrt, zeigt wankelmütigen, oft tückischen Sinn und hält es bald mit den Asen, bald mit den Riesen, die im rauhen Nordland hausen und den Frieden in der Welt zu stören trachten; der Fenriswolf und die Midgardschlange sind Lokis furchtbare Kinder.
Ein alter Wahrspruch kündete den Asen, daß der Wolf Fenris ihren Untergang herbeiführen werde. Da fesselten die Götter ihn mit List, banden das Untier an einen Felsen im Meer und sperrten ihm den Rachen mit einem Schwert. Schauerlich heulte der Wolf in Schmerz und Wut. Am Tage der Götterdämmerung aber wird er sich befreien und gegen die Asen kämpfen, ebenso wie die Midgardschlange, die auf dem Grunde des Meeres ruht und die ganze Erde mit ihrem Leib umschlingt.
In der Mitte von Asgard steht Yggdrasil, die immergrünende Weltesche, die mit ihrer Krone hoch über das Himmelsgewölbe hinausragt und ihre Äste über die ganze Welt hin breitet und mit ihren Wurzeln die Hel, das Reich der Gewesenen, deckt. Am Urdbrunnen, an dem die Esche steht, wohnen die Nornen, sie heißen Urd, Werdandi und Skuld, und wissen um das Schicksal aller Götter und Menschen. Denn niemand sonst kennt ganz das zukünftige Geschick, selbst Odins Wissen ist Stückwerk.
Nicht immer wird Yggdrasil grünen, denn Nidhogg, der Drache, nagt an ihren Wurzeln, und einst wird der Tag kommen, da die Weltesche welken muß. Dann bricht Ragnarök, der Tag der Götterdämmerung, über Asgard herein; der Fenriswolf reißt sich von seinen Fesseln los, die Midgardschlange erhebt sich aus dem Meer, und die Riesen kommen, Götter und Helden sammeln sich zum letzten Kampf. Dann werden Asgard und Midgard vergehen, und alles Leben erlischt.
Thor holt seinen Hammer
Eines Morgens bemerkte Thor mit Schrecken, daß sein Hammer fehlte. Vergebens durchsuchte er, wild sich den Bart raufend, alle Räume seines Hauses.
Da kam Loki, der listenreiche Gott, daher. Er konnte sein schadenfrohes Lächeln kaum verbergen, als Thor ihm sein Mißgeschick erzählte. "Die Riesen werden ihn gestohlen haben", versetzte Loki jedoch gleichmütig. "Wenn du willst, werde ich bei ihnen nachforschen." Und Thor willigte ein.
Von Frigga entlieh sich der verschlagene Loki das Federgewand, flog nach Riesenheim und brachte schnell in Erfahrung, daß der Riese Thrym, der König der Unholde, den Hammer gestohlen und acht Meilen tief unter der Erde verborgen habe.
"Nur um einen Preis werde ich den Hammer herausgeben", rief der Riese hohnlachend; "nur wenn Frigga, die schönste Göttin, meine Frau wird!"
Als Loki den Asen diese Forderung überbrachte, schrie Frigga auf vor Scham und Zorn, und in großer Sorge versammelten sich die Götter und hielten Rat; denn wenn Thor den Hammer nicht zurückerhielt, so drohte für Asgard der Untergang.
Widerstrebend ließ Thor sich schließlich durch Odins klugen Sohn Heimdall, der als Gott des Frühlichts auch der Wächter des Himmels ist, zu einer List überreden. Als Braut verkleidet, sollte er in Friggas Gewand und Schmuck nach Riesenheim ziehen und selber den Hammer holen. Loki, der verschlagene Gott, erbot sich, ihn als seine Dienerin zu begleiten.
Voller Freude empfing der Riese Thrym die Braut, die tief verschleiert vor ihn trat. Er ließ sogleich ein Festmahl herrichten. Man nahm mit den Gästen in der Halle Platz und tat sich gütlich bei fettem Ochsenbraten und schäumendem Met. Mit Verwunderung sahen Thrym und seine Gäste, wie die vermeintliche Braut einen ganzen Ochsen, dazu acht Lachse verzehrte und drei Kufen Met hinuntergoß.
"Acht Tage lang hat meine Herrin nicht gegessen, so sehr quälte sie die Sehnsucht nach dir!" sagte der kluge Loki zur Erklärung des seltsamen Gebarens.
Das hörte der Riese gern. Mit plumpen Fingern lüftete er ein wenig den Schleier, um das holde Antlitz der Braut zu sehen. Doch entsetzt fahr er zurück vor den Augen, die wie loderndes Feuer blitzten. "Meine Herrin", versetzte der als Magd verkleidete Loki, "hat acht Nächte kein Auge geschlossen, so sehr verzehrte sie das Verlangen nach dir."
Solche Worte erfreuten Thrym sehr, darum rief er befehlend: "Bringt jetzt den Hammer des mächtigen Thor!"
Wie frohlockte Thor in seinem Herzen, als man ihm, der vermeintlichen Braut, feierlich den Hammer als Hochzeitsgabe in den Schoß legte!
Mit ingrimmiger Wut ergriff er den Hammer, wog ihn in der Hand und schleuderte ihn gegen den Riesen Thrym, so daß dieser mit zerschmettertem Schädel von seinem Sitz sank. Ein wildes Getümmel erhob sich, als Thor nun mit dem Hammer Mjölnir auf die übrigen Riesen einhieb, bis keiner aus Thryms Geschlecht mehr am Leben war.
Der Himmel lachte und donnerte zugleich, als Thor und Loki vom rauhen Riesenheim hinauffuhren zu Asgards leuchtenden Höhen.
Baldurs Tod
Baldur, Odins und Friggas Sohn, war der schönste und edelste unter den Göttern. Der blühende Jüngling, der Gott des Lichtes und des Frühlings, des Guten und des Gerechten, wurde von allen Asen am meisten geliebt.
Eines Tages träumte die Göttermutter Frigga einen bösen Traum. Sie sah, wie Hel, die Todesgöttin, ihren Lieblingssohn Baldur entführte. Auch Baldur träumte, daß sein junges Leben von Gefahren bedroht sei. Da beschwor Odin die uralte Wala, die Seherin der Hel, aus ihrem Grab, um sichere Kunde zu erfahren. Auf die Frage, wen man im Reiche der Hel erwarte, erhielt er die Antwort: "Baldur, den Guten, erwartet man. Hödur, sein blinder Bruder, wird ihn töten."
Die Asen und Göttinnen hielten, voll Sorge um das Leben ihres Lieblings, Rat und faßten den Beschluß, daß alle Geschöpfe, die im Himmel und auf Erden sind, einen heiligen Eid schwören sollten, Baldur niemals etwas anzutun. Frigga selbst nahm Feuer und Wasser, Riesen und Elben, Menschen, Tiere und Pflanzen in strenge Eidespflicht.
Von nun an verfehlte jede Waffe, die man, um den neuen Bund zu erproben, gegen Baldur richtete, ihr Ziel. Ja es wurde zu fröhlicher Kurzweil unter den Asen, nach Baldur Geschosse zu werfen; doch keines traf ihn.
Am Rate der Götter hatte auch der verschlagene und ränkesüchtige Loki teilgenommen. Während die Götter nun mit Baldur ihr Spiel trieben, wandte er sich, als Bettlerin verkleidet, an die gütige Frigga und entlockte ihr ein Geheimnis: auf einer Eiche vor Walhallas Tor wuchs der Mistelstrauch. Diesen, so verriet Frigga, hatte sie nicht schwören lassen, weil er ihr zu schwach und unbedeutend erschienen war.
Schnell entfernte sich Loki, nahm seine wahre Gestalt an und eilte zur Eiche. Er schnitt ein Zweiglein der Mistelstaude ab und kehrte in den Kreis der Götter, die immer noch ihr fröhliches Spiel trieben, zurück. Untätig abseits stand nur Baldurs Bruder, der blinde Hödur. "Wie soll ich mitspielen, da ich doch des Augenlichts beraubt bin?" versetzte er mißmutig auf Lokis Frage.
"Spanne den Bogen, hier ist ein Pfeil", sagte Loki und reichte ihm den Mistelzweig, "ich werde für dich zielen!"
Der blinde Hödur tat nach dem Geheiß des bösen Gottes, und, wie vom Blitz getroffen, sank Baldur entseelt zu Boden. So hatte sich die Weissagung der Wala grausam erfüllt.
Nur Odins Wort, daß Hödur ein dem Baldur vorherbestimmtes Schicksal vollzogen habe, schützte den Mörder vor der Rache der Götter. Dann schickten sie sich auf Geheiß des Göttervaters an, Baldurs Leichnam zu bestatten.
Nie zuvor hatte in Asgard und auf der Menschenerde so tiefe Trauer geherrscht wie jetzt um Baldur, den lieblichen Gott. Am Strande des Meeres hatten die Asen Baldurs Schiff aufgestellt und auf ihm den Scheiterhaufen errichtet. Als sie den Leichnam obenauf legten, konnte Nanna, die Gattin Baldurs, den Anblick nicht länger ertragen, und ihr Herz brach vor Gram. So betteten die Asen sie an Baldurs Seite.
Alle Götter gaben dem toten Sonnengott Worte der Hoffnung mit auf den Weg. Niemand jedoch weiß, was Odin dem edlen Toten ins Ohr flüsterte.
Thor legte die Flamme an den mächtigen Scheiterhaufen. Dabei stieß er ein Zwerglein, Lit mit Namen, das ihm vor die Füße kam, mit einem Tritt in die Flamme, daß es verbrannte.
Dann schoben die Riesen das Schiff in die Fluten und ließen es die hohe See gewinnen. Immer mächtiger griff in dem wilden Fahrtwind die Flamme um sich, und einer riesigen Opferfackel gleich jagte Baldurs Schiff zum letzten Male über das Meer.
Als die Springflut gierig nach den brennenden Balken griff und ihre Glut in die Tiefe zog, war es den am Gestade harrenden Asen, als versinke die ganze Welt ringsum in Dämmerung.
Niemand trauerte mehr um Baldurs Tod als seine Mutter Frigga. War Baldur, der Frühlingsgott, den Asen und der Menschenwelt nun für immer entrissen? Sollte Hel, die Göttin des Totenreichs, sich nicht erweichen lassen, den Götterliebling freizugeben?
Auf Friggas inständige Bitten entschloß sich Hermodur, der Götterbote, seinen Bruder zu befreien.
"Ich gebe dir Sleipnir, mein Roß, für die lange Wegstrecke", sagte Odin zu seinem Sohne, "es wird dich sicher ans Ziel führen, denn ihm ist der Weg bekannt."
Neun Nächte ritt der Götterbote, bis der achtfüßige windschnelle Renner die Brücke, die zur Hel hinabführte, erreichte.
Hermodur wagte es kühn, in das Reich der Toten einzudringen. Bald sah er Baldur, den geliebten Bruder, schlafbefangen und bleich, an Nannas Seite sitzen. Er flüsterte ihm Worte des Trostes zu. Aber lange mühte sich der Götterbote vergeblich, die düstere Hel zur Milde zu stimmen. Mit eisiger Kälte blickte sie ihn an. Dann ließ sie ihre Stimme vernehmen: "Wer gestorben ist, bleibt meinem Reiche verfallen. Auch Baldur gehört der Hel. Trotzdem will ich die Bitte der Götter erfüllen und ihm die Freiheit wiedergeben, wenn alle Geschöpfe der Welt, ob lebende oder tote, ihn beweinen. Verweigert auch nur ein einziges Geschöpf diesen Anteil der Tränen, so bleibt Baldur für alle Zeit im Reiche der Toten!"
Hermodur eilte, zum Asenhof zurückzukehren. Baldur und Nanna gaben ihm Geschenke mit auf den Weg, die er Odin und Frigga mitbringen sollte.
Dort in Walhalla warteten alle voller Spannung auf den abgesandten Boten. Und voller Hoffnung sandte Frigga sogleich die Alben, ihre Boten, in die Welt hinaus, um alle Geschöpfe für Baldurs Heimkehr zu gewinnen. "Denkt an meinen geliebten Sohn, den Frühlingsgott", ließ sie ihnen sagen, "und weinet über seinen Tod, so wird die Göttin der Unterwelt ihm die Heimkehr gewähren."
Friggas Mühen schien nicht umsonst: alle Geschöpfe, zu denen ihre Boten kamen, waren voller Erbarmen und weinten um den toten Lichtgott. Schon machten sich die Alben auf den Heimweg.
Alle Wesen, sogar die starren Steine, hatten Anteil an Baldurs Schicksal gezeigt. Da trafen die Alben in düsterer Felsenhöhle eine grimmige Riesin, Thögg mit Namen, die hatte um Baldurs Tod keine Träne geweint, und kein Bitten und Flehen konnte sie rühren.
So blieb Baldur im Reiche der Hel.
Nicht wenige der Asen, die mit Betroffenheit die Weigerung des finsteren Weibes vernahmen, glaubten, daß hier Loki sein haßerfülltes Werk fortsetze.
Wo war der hinterhältige Mörder geblieben? Inmitten des Entsetzens, das bei Baldurs Ermordung alle gepackt hielt, hatte der heimtückische Loki entkommen können. Er floh nach Riesenheim und verbarg sich dort in einem einsamen Versteck. Die Götter aber fanden seine Spur. Doch als sie sich dem Hause, dessen vier Fenster nach allen Himmelsrichtungen gingen, näherten, machte sich der verschlagene Loki eilig davon. Er verwandelte sich, wie er es oft zu tun pflegte, in einen Lachs und verbarg sich unter einem Wasserfall. Vorher hatte er ein Netz, das er sich eben fertigte, um zu erproben, ob man ihn damit fangen könne, ins Feuer geworfen.
Das wurde ihm zum Verhängnis, denn in der Asche noch erkannten die Götter die Form des Netzes und wußten nun, wo und mit welchem Mittel sie ihn fangen sollten. Mochte Loki sich auch immer wieder der Verfolgung entziehen, die Götter fingen ihn schließlich in den Maschen des von ihm erfundenen Netzes.
Die Rache der Asen war so schrecklich wie das Verbrechen, das Loki begangen hatte. Sie führten ihn auf eine Insel im Reiche der Hel und schmiedeten ihn dort an einen scharfkantigen Felsen, daß er kein Glied regen konnte. Über dem Haupte des Verräters befestigten die Rächer eine Natter, die ihm unablässig ihr Gift aufs Antlitz träufelte. Zwar teilte Sigyn, Lokis Gattin, das schwere Los des Verdammten. Tag und Nacht saß sie neben dem Gefangenen und fing das Natterngift in einer Schale auf. Doch wenn die Schale voll war und das treue Weib sich erhob, um sie auszuleeren, wurde Loki von brennendem Schmerz gequält, dann wand er sich, daß ganz Midgard erschüttert wurde und die Erde erzitterte. Dieses Erzittern nennen die Menschen Erdbeben. In solchen grausigen Nächten heult der Fenriswolf, und die Midgardschlange regt sich in der Tiefe des Meeres, die Wogen rauschen wild empor, und Sturmfluten branden wider den Wall, mit dem die Götter Midgard gegen die See geschützt haben.
Die Götterdämmerung
Bei Menschen und Göttern herrschte tiefe Trauer, seit der Todespfeil Baldur ins Herz getroffen hatte. Nur die finsteren Riesen, die Unholde und die mißgestalten Zwerge frohlockten, denn mit dem Erlöschen des Sonnenglanzes wuchs ihre Macht der Finsternis.
Böse Zeichen kündeten dem Walvater das Ende der goldenen Zeit, die Blätter der Weltesche Yggdrasil wurden welk, und die Asen begannen zu altern. Denn die schöne Iduna, die Göttin der Jugend, tränkte Yggdrasil nicht mehr mit lebenspendendem Met.
Die Göttin Iduna war vermählt mit Odins Sohn Bragi, dem Skalden, der die Gabe der Weisheit und der Dichtkunst besaß. Wenn er in Asgard im Kreise der Götter die Harfe erklingen ließ, dann hingen alle an den Lippen des edlen Sängers und priesen die hohe, bezwingende Macht seines göttlichen Gesanges. Und wie Bragi, den liebenswürdigen Odinssohn, verehrten die Asen seine Gemahlin Iduna, deren Name "Immergrün" bedeutet und die im wundertätigen Met den Zauberschatz ewiger Jugend bewahrte.
Auf Iduna und ihre Hilfe setzte Odin seine Hoffnung. Er sandte nach ihr, doch mit Schrecken erfuhr er, daß die schöne Göttin verschwunden sei. Vergebens ließ Odin seine Raben ausfliegen, um nach der Entschwundenen zu suchen. Als sie nach langer, langer Zeit zurückkehrten, brachten sie schlimme Kunde: Iduna, die strahlende Göttin, weilte im Totenreich der Hel, von wo es keine Rückkehr gibt, und auch Bragi, ihr Gatte, war ihr dorthin gefolgt, und noch andere unheilvolle Zeichen wußten die Raben zu berichten. Den Geschöpfen auf der Erde entschwinde die Lebenskraft, und in Mimirs heiligem Brunnen beginne die Weisheit zu versiegen.
Voll düsterer Ahnungen hatte Walvater die unheilschwere Botschaft vernommen. Er erkannte, daß das schicksalhafte Verhängnis unaufhaltsam seinen Lauf nehmen werde, nachdem der lichte Baldur und die jugendfrische Iduna zur Hel gefahren waren. In den Nächten hörten die Asen aus den Abgründen der Unterwelt den Fenriswolf heulen, Lokis schrecklicher Sohn zerrte gierig an seinen Ketten, denn er witterte, daß die Stunde seiner Befreiung nahe.
Als mit Baldurs Tod die Sonne ihren Glanz verlor, fiel ein harter langer Winter, der Fimbulwinter, ins Land. Schneegestöber dauerte an und starker Frost, rauhe Winde tobten, und der Winter schien kein Ende mehr zu nehmen.
In dem Wüten der Elemente war es, als liege Dämmerung auch in den Seelen der Menschen. Arges geschah unter Göttern und Menschen. Krieg erfüllte die Welt, Brüder töteten einander aus Habgier, Meineid und Mord, Ehebruch und Verletzung der Gastfreundschaft geschahen, und Gier und Gottlosigkeit herrschten.
Mit bitterer Sorge sahen die Götter im hohen Asgard, wie alle Ordnungen sich auflösten. Vergeblich schleuderte Thor seinen Hammer Mjölnir gegen die Riesen; denn unverletzlich saßen sie hinter den schützenden Eiswänden des Fimbulwinters. Vergebens ritt Odin auf pfeilschnellem Roß zum alten Mimir, dem Weisen; der Weisheitsbrunnen war wie von wildem Sturm bewegt, in ratloser Ohnmacht stand Mimir vor dem Verhängnis.
Da sprengt der Göttervater auf windschnellem Renner zurück nach Walhall, um Götter und Helden zum Kampfe zu rufen; denn das Unheil naht. Laut kräht der hellrote Hahn auf Asgards Dach, und krächzend antwortet der dunkelrote auf Hels Halle. Die Midgardschlange erhebt ihr furchtbares Haupt aus den Fluten des Meeres, und der Grenzwall, der Midgard schützt, bricht. In Todesangst fliehen die Menschen in die Gebirge und bergen sich in Höhlen, denn nun reißt sich der Fenriswolf aus seinen Banden los, daß die Erde im Innersten erbebt.
Stürmisch braust das Meer über seine Ufer, und es kommt ein Schiff gefahren, das von Loki gesteuert wird, und alle Riesen sind bei ihm. Es ist Naglfari, das Nägelfahrzeug: es ist aus Finger- und Zehennägeln der Toten erbaut, welche die Menschen ehrfurchtslos seit langem zu schneiden unterlassen hatten. Der Fenriswolf, dessen gähnender Rachen Himmel und Erde berührt, verschlingt Sonne und Mond, und Finsternis breitet sich über die Welt.
Ragnarök, der Tag der Entscheidung, bricht an. Es birst der Himmel, und in unendlichen Scharen kommen Muspelheims Söhne geritten. Surtur, der Urweltriese, reitet an der Spitze, und rings um ihn her lodert alles von Brandfackeln. Wild entschlossen ziehen sie nun hinaus auf das Feld Wigrid, die Kampfebene, und mit ihrem Heereszuge sammeln sich zum Streite alle Mächte der Finsternis.
Da dröhnt über Asgard hin das Giallarhorn, mit dem Heimdall die Götter zum Kampfe ruft. Es ertönt so laut, daß man auf der ganzen Welt seinen Schall hört. Wenn es zum drittenmal gellt, öffnen sich Walhalls Tore weit, und der glänzende Heerwurm der Götter und Helden reitet hervor. Die Spitze führt Walvater in leuchtender Rüstung, den Goldhelm auf dem Haupte, und Gungnir, den nie fehlenden Speer, in der Faust.
Auf Wigrid, der Walstatt des Weltenringens, beginnt die letzte entsetzliche Schlacht. Wodans Waffe wütet unter den herandrängenden Riesen, und gleich dem herabsausenden Blitz fährt Thors Hammer gegen die Scharen der Unholde; in den Reihen der Asen wütet, Schrecken verbreitend, Lokis Sohn, der grimmige Fenriswolf; unverwundbar zeigt er sich gegen alle Waffen der Götter. Loki und Heimdall töten sich gegenseitig. Mit Mjölnir, dem Hammer, zerschmettert Thor den Kopf der Midgardschlange; doch auch für ihn ist es der letzte Kampf: der Gifthauch des sterbenden Drachen reißt den gewaltigen Asen mit in den Tod.
Tyr stößt auf Garm, den Höllenhund; doch während dieser dem Kriegsgott die Kehle zerreißt, führt der Ase mit seinem Schwerte gegen das Untier den Todesstoß.
Lange kämpft Odin mit dem Fenriswolf, der sich mit entfesselter Kampfesgier auf den Göttervater stürzt, und am Ende verschlingt der Weltenwolf Walvater.
Was hilft es, daß Widar, Odins gewaltiger Sohn, zur Rache herbeieilt und den Wolf zermalmt? Walvater, der Herr von Asgard, ist tot! Für die Asen ist das Ende gekommen.
Surtur dringt in Asgard ein und schleudert den Feuerbrand in die Halle, daß ringsum die glühende Lohe zum Himmel emporschlägt, und auch Midgard geht in der gierigen Flamme auf. Die ganze Welt geht in Flammen auf, und die wohlgefügte Ordnung des Weltalls, einst von den Asen in weiser Sorge geschaffen, ist dahin, der allgemeine Untergang ist da. Der Abgrund der Hel öffnet sich und verschlingt die Toten.
Schwarz wird die Sonne, die Erde versinkt. Vom Himmel fallen die heiteren Sterne.
Glutwirbel umwühlen die allnährende Weltesche. Die heiße Lohe bedeckt den Himmel. - So heißt es in dem Liede aus altersgrauer Zeit, und wenn Yggdrasil, der Weltenbaum, donnernd zusammenstürzt, ist die Welt der Götter und der Menschen in den Wassern versunken.
Doch bedeutet nach der Sage der ungeheure Weltenbrand, der Asgard und Midgard vernichtet hat, nicht das Ende. Das Feuer hat alles geläutert, alle Schuld gesühnt, und das goldene Zeitalter, das einst geherrscht hat, kann wiederkehren. Ein Weltentag mit seinem Guten und Schönen, aber auch mit seiner Schuld und seinen Fehlern ist abgelaufen, und ein neuer Tag ist angebrochen. Aus dem Meere, dessen Wogen die Welt der Asen verschlungen haben, erhebt sich eine neue Erde mit grünen Fluren, die keines Menschen Hand besät hat. Und wie jener erste Tag beginnt auch dieser mit dem Zustand der Unschuld und des Friedens, mit dem vollkommenen Glück.
Auch die Sonne hat eine Tochter geboren, die nicht minder schön ist als die Mutter und die nun in ihrer Bahn wandelt.
Und unter den Wurzeln der Weltesche in Urds Brunnen haben sich zwei Menschenkinder verborgen gehalten, Lif und Lifthrasir, das Leben und die Lebenskraft. Aus ihnen erwächst ein neues Geschlecht, das die Erde bewohnt.
Ein neues Asgard ersteht. Baldur, der strahlende Lichtgott und sein Bruder Hödur, der Gott der lichtlosen Winterzeit kehren aus Hels Totenreich zurück. Auch Thors Söhne, die ihres Vaters gewaltigen Hammer auf dem Schlachtfelde fanden, nehmen Besitz von den goldenen Götterstühlen. Nicht gilt es mehr, die Frost- und Eisriesen zu zermalmen; denn das finstere Riesengeschlecht ist nicht zu neuem Leben erstanden; nur friedlichem Tun dient der Hammer. Ungetrübter Friede herrscht von nun an in den himmlischen Höhen.
Das Schauerfeld
Eine Rübezahlsgeschichte
(Friedrich de la Motte-Fouqué)
Am Fuße des Riesengebirges, in einer blühenden schlesischen Landschaft, hatten sich, einige Zeit vor dem Westfälischen Frieden, unterschiedliche Verwandte in die Erbschaft eines reichen Bauern zu teilen, der ohne Kinder verstorben war und dessen mannigfache Grundstücke hier und dort durch die fruchtbare Gegend hin zerstreut lagen. Man kam zu diesem Endzwecke in einer Schenke des Hauptdorfes zusammen und wäre bald über die Anordnung des Teilungswesens einig geworden, hätte es nicht unter der Nachlassenschaft einen wunderlichen Acker gegeben, welcher das Schauerfeld geheißen war.
Dort blühete es von vielen Blumen und war mannigfach wucherndes Gesträuch aufgeschossen, allzumal des Bodens kräftige Fruchtbarkeit bezeugend, aber ebensosehr dessen Vernachlässigung und Verödung beurkundend. Denn seit vielen Jahren war keine Pflugschar drüberhingezogen, seit vielen Jahren keine Saat darauf gefallen. Oder hatte man desgleichen ja hin und wieder versucht, so waren die Stiere unter dem Joch in eine unbegreifliche Wut geraten, und selbst die Ackerknechte und Säeleute hatten den Platz mit wildem Entsetzen geräumt, beteuernd, es ziehen dort gräßliche Gestalten umher, die sich in furchtbarer Vertraulichkeit zu den Arbeitern gesellten, so daß kein menschlicher Sinn davor ausdauern könne und einem schon immer der Wahnwitz drohend über die Schulter blicke.
Wer nun die verrufne Stelle in seine Erbschaft mit aufnehmen sollte, das war die große Streitfrage. Jedem kam es vor, als werde, was ihm selbst unerträglich und untunlich schien, der andere leicht ertragen und ausrichten können, wie es denn wohl in der Welt zu gehen pflegt, und so stand man rechtend einander gegenüber bis in den späten Abend. Da fiel einer von den Erben auf eine Auskunft, aber freilich auf eine gar nichtsnutzige. - "Wir sollen ja", sagte er, "nach dem Testamente irgendeine fromme Huld erweisen an der armen Muhme, die hier im Dorfe wohnt. Nun ist uns das Mädchen doch nur sehr weitläufig verwandt; zudem auch fände sie wohl ohne alle Aussteuer einen wohlhabenden Mann, denn sie ist gut und wirtlich, und man heißt sie ja nur die schöne Sabine. Da denke ich, wir treten ihr das ganze Schauerfeld ab; so sind wir unsrer Verpflichtung mit einem Male los, und es ist doch fürwahr ein gar reichliches Geschenk, falls sie sich nur einen Ehemann schafft, der damit umzugehen versteht." - Die andern stimmten allesamt ein, und man fertigte einen der Vettern ab, der Beschenkten die erwiesene Huld anzuzeigen.
Derweil hatte in der einbrechenden Dämmerung jemand an Sabinens Hintertür geklopft, und auf ihre Frage, wer draußen stehe, kam eine Antwort zurück, vor der sich die Riegel des kleinen Fensterleins alsbald auftaten. Es war eine langersehnte Stimme, denn sie gehörte dem jungen Kunz, der, schön und gut wie Sabine, aber ebenso arm, sich vor zwei Jahren in Kriegsdienste begeben hatte, um auf diese Weise vielleicht die Heirat mit dem geliebten Mädchen möglich zu machen, deren Herz auch ihm in frommer Liebe gänzlich zugehörte. Es war hübsch anzusehen, wie Sabine mit hellen Tränen in den wunderschönen Augen zwischen den Efeuranken des Hüttchens hervorlächelte, und der hohe schlanke Soldat voll sittiger Freude nach ihr aufschaute und ihr die treue Rechte entgegenbot. - "Ach Kunz", flüsterte sie verschämt, "gottlob, daß du lebendig wiedergekommen bist! Das ist alle Abend und alle Morgen mein herzliches Beten gewesen, und solltest du auch übrigens gar nichts von dem gehofften Glück erringen." - "Mit dem Glück", entgegnete Kunz und schüttelte lächelnd den Kopf dazu, "mit dem Glück sieht es auch nur sparsam genug aus. Aber es ist doch besser als da ich wegging, und wenn du Mut genug hast, denke ich, wir können einander heiraten und uns mit Ehren durchbringen." - "Ach", seufzte Sabine, "du treuer Kunz! Dein Wohl und Weh so fest an das einer blutarmen Waise zu knüpfen!" -"Liebchen"' sagte Kunz, "nicke mir ein freundliches Ja heraus, wenn du Vertrauen zu mir hast. Ich versichere dich, es geht, und wir leben vergnügt miteinander, wie die Könige." - "Und hast deinen Abschied? Bist kein Soldat mehr?" - Kunz suchte aus einem ledernen Beutelchen, das sein gewonnes Gut enthielt, einen Silbertaler heraus und reichte ihn Sabinen hin, welche sich so damit stellte, daß der Schein des Lämpleins im Zimmer auf die Münze fiel. Mit altväterlichem Witze war eine zersprungene Trommel darauf gebildet, und darüber standen die Worte: "Gottlob, der Krieg hat" - "Gottlob, der Krieg hat ein Loch, soll es heißen", fügte der erläuternde Kunz hinzu. "Es ist zwar noch nicht Friede; aber mit dem Kriege will's' auch nicht recht mehr fort, und da hat mein Oberster seine Schar auseinandergehn lassen."
In Friedens- und Liebesfreude hielt Sabine ihre Hand dem Liebling hin und vergönnte nun auch dem Bräutigam, in das Stübchen zu treten, wo er sich neben sie setzte und ihr erzählte, wie er seine wenigen Gold- und Silbertaler im ehrlichen, offnen Kampfe von einem tapfern Welschen gewonnen habe, den er bezwungen und ihm für diese Ranzion das Leben geschenkt. Ein holdes Lächeln auf den mutigen Verlobten fallen lassend, drehte die fleißige Braut wieder emsig ihre Spindel und freute sich, daß weder an ihrem noch an Kunzens dereinstigem Erwerb das mindeste Unrecht haften werde.
Da trat eben der Vetter herein und wollte seine Botschaft anbringen. Sabine stellte ihm mit sittigem Erröten den heimgekehrten Kunz als ihren Bräutigam vor, und sagte: "Nun, da komm ich just zur rechten Zeit, wie bestellt; denn wenn der Verlobte nicht eben Reichtümer aus dem Kriege mitgebracht hat, wird ihm wohl sehr willkommen sein, die ich der Braut im versammelten Erben anzubieten habe, da es ja der Testor so verfügt hat, daß wir sie mit irgendeiner guten Gabe bedenken sollten." - Für Kunz lag etwas zu Hochmütiges in der Art, wie ihm das neue Glück angeboten ward; er konnte gar keine Freude darüber empfinden. Aber die demutsvolle Sabine nahm nur Gottes Gnade darin wahr, durchaus nicht beachtend, wie sich die Menschen bei deren Austeilung bezeigten, und so senkte sie freundlich das Haupt mit dankbarem, herzensfrohem Lächeln. Aber als sie nun hörte, man habe ihr das Schauerfeld zur gänzlichen Abfindung beschieden, da drang ihr die feindliche Kargheit der Vettern mit schmerzhafter Kälte ans Herz, und sie konnte die hervorstürzenden Tränen der getäuschten Hoffnung nicht zurückhalten. Der Vetter lächelte höhnisch dazu, sprechend, es tue ihm leid, wenn sie sich noch auf mehr Rechnung gemacht habe. Dies sei doch ein ungleich größeres Glück der Erbschaft als ihr eigentlich zukomme.
Damit wollte er zur Tür hinaus, aber Kunz vertrat ihm den Weg und sagte voll der ruhigen Kälte, die oftmalen den sich ganz überlegen fühlenden Mut zu begleiten pflegt: "Herr, ich sehe, daß Ihr mit dem guten Willen des Abgeschiedenen Euern Spott zu treiben beliebt und daß Ihr allzusammen gesonnen seid, meiner Jungfer Braut auch keinen nutzbaren Heller zukommen zu lassen. Aber wir nehmen in Gottes Namen Euer Anerbieten an, verhoffend, es könne vielleicht unter den Händen eines braven Kriegsmannes dennoch mehr aus dem Schauerfelde werden, als es sich neidische und geizige Memmen einzubilden vermögen."
Der Vetter, vor Kunzens soldatischem Anstande scheu, wagte nichts zu erwidern und machte sich etwas bleich davon. Darauf küßte der Bräutigam seiner Braut die Tränen ab und eilte freudig zu dem Pfarrer, die Trauung zu bestellen.
Nach wenigen Wochen waren Kunz und Sabine Eheleute und fingen ihren kleinen Haushalt an. Der junge Mann hatte seine Gold- und Silbertaler meist alle dazu angewandt, sich ein paar herrliche Stiere zu kaufen; das übrige davon war auf Saat und den nötigsten Hausrat verwandt worden und an Gelde nicht mehr in der kleinen Wirtschaft zu finden, als gerade hinreichen mochte, um aufs spärlichste und arbeitsamste bis gegen die Ernte im künftigen Jahre auszureichen. Aber als Kunz mit Stieren und Pflug auf das Feld hinausging, lachte er fröhlich nach seiner holden Sabine zurück, sprechend, daß er nun das rechte Gold aussäe und es übers Jahr um ein gut Teil reichlicher dabei zugehn solle. Sabine sah ihm ängstlich nach und wünschte, er möge nur erst von dem verrufenen Schauerfelde wieder heim sein.
Wohl kam er heim, und zwar noch ehe die Abendglocke läutete, nur bei weitem nicht so freudig, als er es um die Morgenstunde in seinem zuversichtlichen Mute gehofft hatte. Den zertrümmerten Pflug schleifte er hinter sich drein, führte mühsam den einen, sehr verletzten Stier mit fort und blutete selbst an Schulter und Haupt. Aber er sah doch immer noch frisch und freundlich drein und tröstete mit ungedämpftem Soldatensinne die weinende Sabine. - "Halte dich nur zum Einsalzen fertig", sagte er lachend, "denn ,der Spuk auf dem Schauerfelde hat uns eine große Menge Rindfleisch beschert. Der Stier nämlich, den ich mit hereinbrachte, hat sich in toller Angst dermaßen beschädigt, daß er zu keiner Arbeit mehr taugt, der andere lief in die Berge hinein, und ich mußte zusehn, wie er sich von einer Klippe in den reißenden Bach stürzte, wo er gewiß nun und nimmer wieder zum Vorschein kommt."
"Die Vettern, die bösen Vettern!" klagte Sabine. "Nun hat ihr verderbliches Geschenk dich noch gar um dein mühsam erfochtnes Eigentum gebracht, und, was viel schlimmer ist, dich auch verwundet, du herzenslieber Mann!"
"Damit hat es nichts zu sagen!" entgegnete der wackre Kunz. "Die Stiere kriegten mich nur einmal zwischen sich, als sie just in der tollsten Wut waren und ich sie nicht loslassen wollte. Aber es ist gottlob noch gut abgelaufen, und morgen geh ich wieder auf das Schauerfeld hinaus."
Nun trachtete Sabine auf alle Weise, den geliebten Mann davon abzubringen, aber er sprach, ungenutzt solle das Feld bei seinen Lebzeiten nicht liegen, was man nicht umpflügen könne, müsse man umgraben, und er sei ja kein scheues Ackertier, sondern ein erprobter, standhafter Soldat, dem der Spuk nichts anhaben solle. Dann schlachtete er den wunden Stier, zerhieb ihn, und während Sabine am frühen Morgen das Geschäft des Einsalzens begann, war Kunz schon wieder auf dem gestrigen Wege und eben nicht viel minder vergnügt als damals, wenn er gleich statt der kraftvollen Stiere und des gut gezimmerten Pfluges nur Karst und Spaten zur Arbeit mit hinausnahm.
Etwas spät kam er diesmal am Abende heim, etwas ermattet und bleich, aber sehr heiter und die sorgliche Frau bald beruhigend. - "Diese Art der Arbeit greift etwas an", sagte er lächelnd, "denn es geht ein gespenstischer Kerl, bald so, bald anders aussehend, neben mir her und foppt mich mit Worten und Werken, aber er scheint sich doch selber zu wundern, daß ich mich gar nicht all ihn kehre, und eben daraus hol ich mir neue Kraft. Zudem kann die ja niemals einem tüchtigen Manne ausgehn, der in seinem Berufe steht!"
So ging es denn nun viele Tage hindurch. Der treue Kunz blieb unverdrossen am Graben und Säen und Ausraufen des Unkrautes. Freilich konnte er nun mit dem bloßen Spaten nur einen ganz kleinen Teil des Schauerfeldes bestellen, aber er hielt sich desto sorgsamer dazu und sah endlich eine Ernte heraufblühen, die, wenn auch nicht reichliches, doch genügendes Auskommen versprach und hielt. Auch das Geschäft des Einschneidens und vom Felde Karrens verrichtete er ganz allein, denn Tagelöhner hätten ihm wohl um vielen Gewinn auf dem verrufenen Schauerfelde nicht geholfen, und daß Sabine sich dahin wagte, ließ er gar nicht zu, um so minder, seitdem er Hoffnung hatte, bald von ihr mit einem Kindlein beschenkt zu werden. - Das Kindlein ward geboren, und in drei Jahren wurden es noch zweie, ohne daß sich außerdem eine Veränderung in Kunzens Lage gezeigt hätte. Mit Anstrengung und Mut wußte er dem furchtbaren Schauerfelde Frucht auf Frucht abzugewinnen und löste sein Wort, daß er Sabinen gut durchbringen wolle, als ein ehrlicher Mann.
Eines Herbstabends, als es schon tief zu dunkeln begann, brauchte Kunz noch fleißig seinen Spaten. Da stellte sich ein sehr großer, starkgegliederter Mann neben ihn, schwarz und rußig wie ein Köhler, eine Schürstange in der Hand, und sagte: "Gibt es denn gar keine Stiere mehr im Lande, daß du dich mit deinen beiden Fäusten so abarbeitest? Du solltest doch, dem Umfang deiner Grenzen nach zu urteilen, ein reicher Bauer sein." - Kunz wußte wohl, wer ihn anrede, und tat, wie er es gewöhnlich mit dem Spuk des Feldes zu tun pflegte. Er schwieg, wandte alle Gedanken nach Kräften von ihm ab und förderte seine Arbeit rüstig. Aber der Köhler tat nicht, wie es in des Spukes gewöhnlicher Art war, der auf solch ein Betragen zu verschwinden pflegte, um furchtbarer oder doch verstörender in andrer Gestalt wiederzukommen. Diesmal sagte er bloß ganz freundlich: "Gesell, du tust mir Unrecht und dir auch. Antworte mir zutraulich und wahrhaft! Vielleicht weiß ich für dein Übel ein gutes Mittel." - "Nun, in Gottes Namen", entgegnete Kunz. "Wenn du mich mit freundlichen Worten betrügst, ist es deine Schuld und nicht meine." - Damit hub er an, alles zu erzählen, was seit der Besitznahme des Ackers vorgefallen war, ehrlich und getreu, verhehlte auch seinen Unwillen gegen den Spuk gar nicht und ebensowenig, wie sauer es ihm werde, unter den beständigen Neckereien, mit Karst und Spaten allein ausgerüstet, die Seinigen zu ernähren. Der Köhler hörte sehr ernsthaft zu, schwieg dann eine lange Weile, nachsinnend und brach endlich in folgende Worte aus: "Ich meine, Gesell, du kennst mich, und da ist es recht brav von dir, daß du der Ehrlichkeit nichts vergibst, sondern rein heraussprichst, wie sehr du unzufrieden mit mir bist. Die Wahrheit zu sagen, fehlt's dir auch nicht an Ursache dazu; aber weil ich dich als einen gar tüchtigen Kerl erprobe, will ich dir einen Vorschlag tun, der manches wiedergutmachen kann. Sieh, bisweilen, wenn ich mich in Feld und Wald und Gebirg recht ausgetollt habe, kommt mir's lustig und wünschenswert vor, in einen Haushalt einzutreten und ein halb Jährchen lang recht ehrbar und ordentlich zu leben. Wie wär's, du nähmst mich auf sechs Monate zu deinem Knecht an?" - "Es ist schlecht von Euch", sagte Kunz, "einen ehrlichen Mann zu foppen, der Euch Zutrauen beweist." - "Nein, nein", sprach der andre zurück, "nicht foppen; es ist mein voller Ernst! Ihr sollt einen wackeren Arbeiter an mir haben; und solang ich Euch diene, wird sich kein einziges Schreckbild auf dem Schauerfelde sehen lassen, so daß Ihr ganze Herden Stiere darauf umhertreiben könntet." - "Das wäre mir schon lieb", entgegnete Kunz nach einigem Besinnen, "wenn ich nur wüßte, ob Ihr Wort haltet, und dann hauptsächlich, ob ich auch recht daran tue." - "Das mache mit dir selbst aus", sagte der Fremde, "aber mein Wort hab ich noch nimmermehr gebrochen, solange das Riesengebirge steht, und ein feindseliges Wesen bin ich auch nicht, etwas lustig und neckisch und wild bisweilen, das ist es alles!" - "Ich glaube gar" sagte Kunz, "daß Ihr der bekannte Rübezahl seid!" - "Höre", unterbrach ihn der Köhler etwas finster, "wenn du das glaubst; so denke daran, daß der mächtige Gebirgsgeist jenen Namen nicht leiden kann, sondern sich den Herrn vom Berge nennen läßt." - "Das wär ein wunderlicher Knecht, den ich den Herrn vom Berge nennen müßte!" lachte Kunz. - "Du kannst mich Waldmann heißen", entgegnete jener. - Kunz sah wieder eine Zeitlang still vor sich nieder, dann sagte er endlich: "Gut! Es gilt! Ich denke, ich tue nicht unrecht, Euch anzunehmen. Hab ich ja doch wohl oftmalen gesehen, daß man unvernünftige Tiere zum Bratenwenden und andern Hausdiensten gebraucht, warum nicht auch einen Spuk?" - Der Köhler lachte herzlich und sprach: "Nun, so ist es meinesgleichen wohl noch im Leben nicht geboten worden! Aber eben drum, es gefällt mir und schlagt ein, lieber Brotherr!" - Kunz machte noch die Bedingung, der neue Diener dürfe nicht wagen, sich es vor Sabinen und den Kindern merken zu lassen, daß er eigentlich vom Schauerfelde herstamme oder wohl vielmehr aus den weltalten Höhlengängen des Riesengebirgs; auch solle er nie irgendeine Spukerei in Haus und Hof treiben, und als Waldmann das alles recht treuherzig versprach, war der Handel in Richtigkeit, und sie gingen miteinander freundlich heim.
Sabine wunderte sich über den unvermuteten Zuwachs ihres Haushaltes und empfand auch einige Scheu vor dem schwarzen, riesengroßen Knecht; die Kinder wollten zu Anfang gar nicht aus der Tür, wenn er im Gärtchen oder im Hofe arbeitete; aber sein stillfreundliches und fleißiges Benehmen söhnte bald alle mit ihm aus; und wenn er auch manchmal in eine Art von toller Lustigkeit fiel, sich mit dem Hunde herumjagend oder mit dem Federvieh, so fand man es mehr spaßhaft als befremdend; auch genügte ein einziger Blick des Brotherrn, ihn wieder in die gewohnten Schranken zurückzuweisen.
Auf das Wort des Berggeistes trauend, hatte Kunz den zeither gesparten Geldvorrat wieder unbedenklich zum Ankauf zweier schöner Stiere verwandt und zog nun mit dem zurechtgezimmerten Pflug lustig zu Felde. Sabine schaute ihm ängstlich nach, ängstlich am Abende nach dem Heimkehrenden aus, fürchtend, er werde mit zerstörter Hoffnung und wohl gar noch schlimmer verwundet als das erstemal zu Hause kommen. Aber singend und seine folgsamen, glänzenden Stiere vor sich hertreibend, schritt Kunz unter dem Läuten der Abendglocke durchs Dorf heran, küßte in großer Freudigkeit Weib und Kind und schüttelte dem Knechte zufrieden die Hand.
Manchmal zog nun auch Waldmann mit den Stieren hinaus, während Kunz in Hof und Garten arbeitete. Man riß ein gewaltiges Stück des Schauerfeldes um, und alles ging einen trefflichen Gang, zum Erstaunen aller Einwohner des Dorfes und zum neidischen Mißbehagen der geizigen Vettern. Freilich dachte Kunz oftmalen bei sich: "Es ist nur auf eine kurze Zeit, und wie ich's mit der Ernte anstellen werde, weiß Gott, denn alsdann ist Waldmanns Dienstzeit schon lange um und der Spuk auf dem Schauerfelde vielleicht wieder in bester Lust." Doch das Einsammeln des Segens meinte er, sei eine Arbeit, die von selbsten Arm und Herz stärke, und vielleicht halte ihm sogar Waldmann noch bis dahin aus alter Freundschaft den Acker rein, wie auch dieser bisweilen in fröhlichen Augenblicken wohl zu verstehen gab.
Der Winter war darüber herangekommen, die Arbeit auf dem Schauerfelde beendigt, und Kunz fuhr nun mit seinen Stieren fleißig zu Holze, den Feuerungsbedarf für Ofen und Herd einholend. Das war auch einstmalen geschehen, als Sabine zu einer armen Witwe im Dorfe gerufen ward, die am Fieber darniederlag und der sie fleißig, soweit es ihr beginnender Wohlstand vergönnte, beizustehen gewohnt war. Sie wußte nur nicht recht, wo sie derweil ihre Kinder lassen sollte, aber Waldmann erbot sich, auf sie Achtung zu geben, und weil die Kleinen an seine Märchen gewöhnt auch recht gern bei ihm blieben, trat Sabine unbesorgt ihre fromme Wanderung an.
Etwa eine Stunde darauf kam der Hausherr aus dem Bergforste zurück. Er führte den Karren in den Schuppen, brachte die Tiere zu Stalle und ging dann frohgemut nach dem Hause zu, die erstarrten Glieder am behaglichen Herdesfeuer zu wärmen. Da scholl ihm das ängstliche Weinen seiner Kinder entgegen. Pfeilschnell hinzustürzend und die Tür des Zimmers aufreißend, fand er die Kleinen schreiend hinter dem Ofen zusammengedrängt und Waldmann mit wildem Gelächter in der Stube umherspringend, abscheuliche Fratzen schneidend, einen Kranz von Funken und Flammen im aufgesträubten Haar.
"Was geht hier vor?" fragte der Hausherr mit strengem Zorn, und der unheimliche Schmuck in Waldmanns Haaren verlosch, demütig und still stand der Knecht, sich entschuldigend, er habe nur ein Späßchen mit den Kindern machen wollen. Aber diese kamen schmeichelnd und klagend um den Vater und erzählten, Waldmann habe ihnen erst so häßliche Geschichten vorgesprochen und sei dann bald mit einem Widderkopfe, bald mit einem Hundehaupt vor sie hingetreten. - "Es ist genug", unterbrach sie Kunz. "Fort mit dir, Gesell! Wir bleiben keine Stunde mehr unter einem Dach." Damit faßte er Waldmanns Arm und schob ihn heftig bis zu der Hintertür des Gartens hinaus, den Kindern gebietend, sie sollten ruhig in der Stube bleiben und sich vor nichts in der Welt mehr bange sein lassen. Der Vater sei nun daheim und sie so sicher als in Abrahams Schoß.
Der wunderliche Knecht ließ sich alles schweigend gefallen, aber als er nun mit Kunz einsam in der winterlichen Gegend stand, sagte er lachend: "Hört, Brotherr, ich dächte, wir vertrügen uns wieder! Ich hab einen gar dummen Streich angefangen, jedoch es soll gewißlich nicht wieder geschehen. Die alte tolle Laune überfiel mich nur so." - "Eben deswegen, weil sie das kann", entgegnete Kunz. "Du möchtest mir leicht noch meine Kindlein bis zum Wahnsinn erschrecken. Mit unserm Kontrakt ist es zu Ende." - "Mein halbes Jahr ist noch nicht um", sagte Waldmann trotzig. "Ich will wieder ins Haus." - "Nicht an die Schwelle!" rief Kunz. "Du hast den Vertrag gebrochen mit deinen verwünschten Spukereien. Alles, was ich an dir tun kann, ist, daß ich dir dein volles Lohn gebe. Da nimm's und packe dich fort!" - "Mein volles Lohn?" hohnlachte der Berggeist. "Kennst du meine reichen Kammern unten in den Höhlengängen?" - "Es ist mehr um mich als um dich", sagte Kunz, "ich will niemandem etwas schuldig bleiben." - Und damit drängte er ihm das Geld gewaltsam in die Taschen. - "Was soll aus dem Schauerfelde werden?" fragte Waldmann ernst, beinahe grimmig. "Was Gott will", entgegnete Kunz. "Mir wären sechzehn Schauerfelder nichts gegen ein Härlein vom Haupt meiner Kinder. Hinaus mit dir, oder ich treffe dich, daß du dran denken sollst!" - "Sachte!" rief der Berggeist. "Wenn meinesgleichen leibliche Gestaltung annimmt, sucht man sich eine tüchtige aus. Du könntest bei der Schlägerei leichtlich unten zu liegen kommen, und dann sei dir Gott gnädig." - "Das ist er immerdar gewesen", sprach Kunz, "und meine leibliche Gestaltung hat er mir auch recht tüchtig ausgesucht. In deine Berge zurück, du häßliches Untier! Ich warne dich zum letztenmal."
Da fiel Waldmann im gereizten Grimme über Kunz her, und es entstand ein hartnäckiges Gefecht. Man rang hin und wider, man schwang sich miteinander herum, ohne daß sich der Sieg für den oder jenen entscheiden wollte, bis endlich Kunz durch ein geschicktes Ringerstück seinen Gegner zum Fallen brachte und ihm auf die Brust kniete, wobei er wacker mit beiden Fäusten auf ihn losarbeitete, sprechend: "Ich will dich's lehren, dich an deinem Brotherrn vergreifen zu wollen, du verfluchter Herr vom Berge!"
Der Herr vom Berge aber lachte so herzlich dazu, daß Kunz, in der Meinung, er verspotte ihn, immer heftiger zuschlug, bis jener endlich die Worte herausbrachte: "Laß doch ab! Ich lache ja nicht über dich, ich lache über mich und bitte um Pardon." - "Da ist's ein andres", sagte Kunz ehrbar, richtete sich in die Höhe und half dem Besiegten auch auf die Beine. - "Ich habe das Menschenleben recht aus dem Grunde kennengelernt", sagte dieser noch immer lachend. "Es hat wohl noch keiner meinesgleichen das Studium so gar genau getrieben. Aber höre, Gesell, das mußt du mir zugestehn, ehrlichen Krieg hab ich geführt! Denn du wirst doch wohl einsehn, daß ich mir leicht ein halb Dutzend Berggeister hätte zu Hülfe rufen mögen. Freilich konnte ich vor Lachen nicht gut dazu kommen."
Kunz sah den noch endlos fort lachenden Rübezahl bedenklich an und sagte: "Ihr habt nun wohl einen Zahn auf mich, und das wird mir nicht nur auf dem Schauerfelde, sondern vielleicht auch anderwärts schlecht bekommen; aber, Herr, bereuen kann ich dennoch nicht; was ich tat! Ich habe Hausrecht geübt, und zwar um meiner lieben Kindlein willen. Wär es noch zu tun, ich tat es mit voller Überlegung wieder."
"Nein, nein", lachte Rübezahl, "inkommodier dich nicht! Ich hab an einem Mal vollkommen genug. Aber das sag ich dir: Auf dem Schauerfelde kannst du künftig ackern jahraus, jahrein, und es soll sich kein unheimlicher Schatten darauf regen, von nun an, so lange das Riesengebirge steht. Gehabt Euch wohl, mein freundlich-gestrenger Brotherr!"
Damit nickte er zutraulich und verschwand, und Kunz hat ihn nachher im Leben nicht wieder gesehn. Aber Rübezahl hielt Wort und tat noch viel mehr. Ein ungewöhnlicher Segen zeigte sich in allen Geschäften des Hausherrn, und er ward bald der reichste Bauer im Dorfe. Auch wenn seine Kinder auf dem Schauerfelde spielten, welches sie und Sabine jetzt ohne alle Furcht betraten, erzählten sie bisweilen abends, der gute Waldmann sei gekommen und habe ihnen artige Märchen vorgesagt. Sie pflegten dann in ihren Taschen gewöhnlich Näschereien oder blankes Spielzeug oder wohl gar schöne Goldtaler zu finden.
Wunderbare Reisen, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen:
Erstes Kapitel: Reise nach Rußland und St. Petersburg
Ich trat meine Reise nach Rußland von Haus ab mitten im Winter an, weil ich ganz richtig schloß, daß Frost und Schnee die Wege durch die nördlichen Gegenden von Deutschland, Polen, Kur- und Livland, welche nach der Beschreibung aller Reisenden fast noch elender sind als die Wege nach dem Tempel der Tugend, endlich, ohne besondere Kosten hochpreislicher, wohlfürsorgender Landesregierungen, ausbessern müßte. Ich reiste zu Pferde, welches, wenn es sonst nur gut um Gaul und Reiter steht, die bequemste Art zu reisen ist. Denn man riskiert alsdann weder mit irgendeinem höflichen deutschen Postmeister eine Affaire d'honneur zu bekommen, noch von seinem durstigen Postillion vor jede Schenke geschleppt zu werden. Ich war nur leicht bekleidet, welches ich ziemlich übel empfand, je weiter ich gegen Nordost hin kam.
Nun kann man sich einbilden, wie bei so strengem Wetter, unter dem raschesten Himmelsstriche, einem armen, alten Manne zumute sein mußte, der in Polen auf einem öden Anger, über den der Nordost hinschnitt, hilflos und schaudernd dalag und kaum hatte, womit er seine Schamblöße bedecken konnte.
Der arme Teufel dauerte mir von ganzer Seele. Ob mir gleich selbst das Herz im Leibe fror, so warf ich dennoch meinen Reisemantel über ihn her. Plötzlich erscholl eine Stimme vom Himmel, die dieses Liebeswerk ganz ausnehmend herausstrich und mir zurief. "Hol' mich der Teufel, mein Sohn, das soll dir nicht unvergolten bleiben!"
Ich ließ das gut sein und ritt weiter, bis Nacht und Dunkelheit mich überfielen. Nirgends war ein Dorf zu hören noch zu sehen. Das ganze Land lag unter Schnee; und ich wußte weder Weg noch Steg.
Des Reitens müde, stieg ich endlich ab und band mein Pferd an eine Art von spitzem Baumstaken, der über dem Schnee hervorragte. Zur Sicherheit nahm ich meine Pistolen unter den Arm, legte mich nicht weit davon in den Schnee nieder und tat ein so gesundes Schläfchen, daß mir die Augen nicht eher wieder aufgingen, als bis es heller lichter Tag war. Wie groß war aber mein Erstaunen, als ich fand, daß ich mitten in einem Dorf auf dem Kirchhofe lag! Mein Pferd war anfänglich nirgends zu sehen; doch hörte ichs bald darauf irgendwo über mir wiehern. Als ich nun emporsah, so wurde ich gewahr, daß es an den Wetterhahn des Kirchturms gebunden war und von da herunterhing. Nun wußte ich sogleich, wie ich dran war. Das Dorf war nämlich die Nacht über ganz zugeschneiet gewesen; das Wetter hatte sich auf einmal umgesetzt, ich war im Schlafe nach und nach, so wie der Schnee zusammengeschmolzen war, ganz sanft herabgesunken, und was ich in der Dunkelheit für den Stummel eines Bäumchens, der über dem Schnee hervorragte, gehalten und daran mein Pferd gebunden hatte, das war das Kreuz oder der Wetterhahn des Kirchturmes gewesen.
Ohne mich nun lange zu bedenken, nahm ich eine von meinen Pistolen, schoß nach dem Halfter, kam glücklich auf die Art wieder an mein Pferd und verfolgte meine Reise.
Hierauf ging alles gut, bis ich nach Rußland kam, wo es eben nicht Mode ist, des Winters zu Pferde zu reisen. Wie es nun immer meine Maxime ist, mich nach dem Bekannten "ländlich sittlich" zu richten, so nahm ich dort einen kleinen Rennschlitten auf ein einzelnes Pferd und fuhr wohlgemut auf St. Petersburg los. Nun weiß ich nicht mehr recht, ob es in Estland oder in Ingermanland war, so viel aber besinne ich mich noch wohl, es war mitten in einem fürchterlichen Walde, als ich einen entsetzlichen Wolf mit aller Schnelligkeit des gefräßigsten Winterhungers hinter mir ansetzen sah. Er holte mich bald ein; und es war schlechterdings unmöglich, ihm zu entkommen. Mechanisch legte ich mich platt in den Schlitten nieder und ließ mein Pferd zu unserm beiderseitigen Besten ganz allein agieren. Was ich zwar vermutete, aber kaum zu hoffen und zu erwarten wagte, das geschah gleich nachher. Der Wolf bekümmerte sich nicht im mindesten um meine Wenigkeit, sondern sprang über mich hinweg, fiel wütend auf das Pferd, riß ab und verschlang auf einmal den ganzen Hinterteil des armen Tieres, welches vor Schrecken und Schmerz nur desto schneller lief. Wie ich nun auf die Art selbst so unbemerkt und gut davongekommen war, so erhob ich ganz verstohlen mein Gesicht und nahm mit Entsetzen wahr, daß der Wolf sich beinahe über und über in das Pferd hineingefressen hatte. Kaum aber hatte er sich so hübsch hineingezwänget, so nahm ich mein Tempo wahr und fiel ihm tüchtig mit meiner Peitschenschnur auf das Fell. Solch ein unerwarteter Überfall in diesem Futteral verursachte ihm keinen geringen Schreck; er strebte mit aller Macht vorwärts, der Leichnam des Pferdes fiel zu Boden, und siehe, an seiner Statt steckte mein Wolf in dem Geschirre. Ich meines Orts hörte nun noch weniger auf zu peitschen, und wir langten in vollem Galopp gesund und wohlbehalten in St. Petersburg an, ganz gegen unsere beiderseitigen respektiven Erwartungen und zu nicht geringem Erstaunen aller Zuschauer.
Ich will Ihnen, meine Herren, mit Geschwätz von der Verfassung, den Künsten, Wissenschaften und andern Merkwürdigkeiten dieser prächtigen Hauptstadt Rußlands keine Langeweile machen, viel weniger Sie mit allen Intrigen und lustigen Abenteuern der Gesellschaften vom Bonton, wo die Frau vom Hause den Gast allezeit mit einem Schnaps und Schmatz empfängt, unterhalten. Ich halte mich vielmehr an größere und edlere Gegenstände Ihrer Aufmerksamkeit, nämlich an Pferde und Hunde, wovon ich immer ein großer Freund gewesen bin; ferner an Füchse, Wölfe und Bären, von welchen, so wie von anderm Wildbret, Rußland einen größern Überfluß als irgendein Land auf Erden hat; endlich an solche Lustpartien, Ritterübungen und preisliche Taten, welche den Edelmann besser kleiden als ein bißchen muffiges Griechisch und Latein oder alle Riechsächelchen, Klunkern und Kapriolen französischer Schöngeister und - Haarkräuseler.
Da es einige Zeit dauerte, ehe ich bei der Armee angestellt werden konnte, so hatte ich ein paar Monate lang vollkommene Muße und Freiheit, meine Zeit sowohl als auch mein Geld auf die adeligste Art von der Welt zu verjunkerieren. Manche Nacht wurde beim Spiele zugebracht und viele bei dem Klange voller Gläser. Die Kälte des Landes und die Sitten der Nation haben der Bouteille unter den gesellschaftlichen Unterhaltungen in Rußland einen viel höhern Rang angewiesen als in unserm nüchternen Deutschlande; und ich habe daher dort häufig Leute gefunden, die in der edlen Kunst zu trinken für wahre Virtuosen gelten konnten. Alle waren aber elende Stümper gegen einen graubartigen, kupferfarbigen General, der mit uns an dem öffentlichen Tische speiste. Der alte Herr, der seit einem Gefechte mit den Türken die obere Hälfte seines Hirnschädels vermißte und daher, sooft ein Fremder in die Gesellschaft kam, sich mit der artigsten Treuherzigkeit entschuldigte, daß er an der Tafel seinen Hut aufbehalten müsse, pflegte immer während dem Essen einige Flaschen Weinbranntwein zu leeren und dann gewöhnlich mit einer Bouteille Arrak den Beschluß oder nach Umständen einige Male da capo zu machen; und doch konnte man nicht ein einziges Mal auch nur so viel Betrunkenheit an ihm merken. - Die Sache übersteigt Ihren Glauben. Ich verzeihe es Ihnen, meine Herren; sie überstieg auch meinen Begriff. Ich wußte lange nicht, wie ich sie mir erklären sollte, bis ich ganz von ungefähr den Schlüssel fand. - Der General pflegte von Zeit zu Zeit seinen Hut etwas aufzuheben. Dies hatte ich oft gesehen, ohne daraus nur Arg zu haben. Daß es ihm warm vor der Stirne wurde, war natürlich, und daß er dann seinen Kopf lüftete, nicht minder. Endlich aber sah ich, daß er zugleich mit seinem Hute eine an demselben befestigte silberne Platte aufhob, die ihm statt des Hirnschädels diente, und daß alsdann immer aller Dunst der geistigen Getränke, die er zu sich genommen hatte, in einer leichten Wolke in die Höhe stieg. Nun war auf einmal das Rätsel gelöset. Ich sagte es ein paar guten Freunden und erbot mich, da es gerade Abend war, als ich die Bemerkung machte, die Richtigkeit derselben sogleich durch einen Versuch zu beweisen. Ich trat nämlich mit meiner Pfeife hinter den General und zündete, gerade als er den Hut niedersetzte, mit etwas Papier die aufsteigenden Dünste an; und nun sahen wir ein ebenso neues als schönes Schauspiel. Ich hatte in einem Augenblicke die Wolkensäule über dem Haupte unsers Helden in eine Feuersäule verwandelt, und derjenige Teil der Dünste, der sich noch zwischen den Haaren des Hutes verweilte, bildete in dem schönsten blauen Feuer einen Nimbus, prächtiger, als irgendeiner den Kopf des größten Heiligen umleuchtet hat. Mein Experiment konnte dem General nicht verborgen bleiben; er war aber so wenig ungehalten darüber, daß er uns vielmehr noch manchmal erlaubte, einen Versuch zu wiederholen, der ihm ein so erhabenes Ansehen gab.
(Ältere Edda)
Sigurdharkvida Fafnisbana fyrsta edha Grîpisspâ
Das erste Lied von Sigurd dem Fafnirstöter oder Gripirs Weissagung
Gripir hieß ein Sohn Eilimis, der Hiördis Bruder. Er beherrschte die Lande und war aller Männer weisester; auch wußte er die Zukunft. Sigurd ritt allein und kam zur Halle Gripirs. Sigurd war leicht erkennbar. Vor dem Tor der Halle kam er mit einem Mann ins Gespräch, der sich Geitir nannte. Da verlangte Sigurd von ihm Bescheid und sprach:
Wie heißt, der hier die Halle bewohnt?
Wie nennen die Leute den König des Landes?
Geitir:
Gripir heißt der Herrscher der Männer,
Der des festen Lands und der Leute waltet.
Sigurd:
Ist der hehre Fürst daheim im Land?
Kann der König mit mir zu reden kommen?
Der Unterredung bedarf ein Unbekannter:
Bald begehr ich Gripirn zu finden.
Geitir:
Der gute König wird Geitirn fragen
Wie der Mann genannt sei, der nach ihm fragt.
Sigurd:
Sigurd heiß ich, Sigmunds Erzeugter;
Hiördis heißt des Helden Mutter. -
Da ging Geitir Gripirn zu sagen:
"Ein Unbekannter ist angekommen;
Von Antlitz edel ist er zu schauen,
Der gern zusammen käme, König, mit dir."
Aus dem Gemach ging der mächtige Fürst
Und grüßte freundlich den fremden König:
"Nimm vorlieb hier, Sigurd; was kamst du nicht längst?
Du geh, Geitir, nimm den Grani ihm ab."
Sie begannen zu sprechen und sagten sich manches,
Da die ratklugen Recken sich fanden.
"Melde mir, magst du's. Mutterbruder,
Wie wird dem Sigurd das Leben sich wenden?"
Gripir:
Du wirst der mächtigste Mann auf Erden,
Der edelste aller Fürsten geachtet.
Im Schenken schnell und säumig zur Flucht,
Ein Wunder dem Anblick und weiser Rede.
Sigurd:
Laß, Fürst, erfahren genauer als ich frage,
Weiser, den Sigurd, wähnst du's zu schauen:
Was wird mir Gutes begegnen zuerst,
Wenn ich hinging von deinem Hofe?
Gripir:
Zuvörderst erfichst du dem Vater Rache
Und dem Eilimi Ahndung alles Leides.
Du wirst die harten Hundings Söhne,
Die schnellen, fällen und den Sieg gewinnen.
Sigurd:
Sag, edler König, mir Anverwandter,
Gib volle Kunde, da wir freundlich reden.
Siehst du Sigurds Siege voraus,
Die zuhöchst sich heben unter des Himmels Rändern?
Gripir:
Du fällst allein den gefräßigen Wurm,
Der glänzend liegt auf Gnitaheide.
Beiden Brüdern bringst du den Tod,
Regin und Fafnirn: vor sieht's Gripir.
Sigurd:
Schätze gewinn ich, wenn so mir gelingt
Zu kämpfen mit Männern wie du mir kund tust.
Im Geiste erforsche ferner und sage mir,
Wie lenkt mein Lebenslauf sich hernach?
Gripir:
Finden wirst du Fafhirs Lager,
Wirst heimführen den glänzenden Hort,
Mit Golde beladen Granis Rücken
Und zu Giuki reiten, kampfrüstiger Held.
Sigurd:
Noch sollst du dem Fürsten in freundlicher Rede,
Weitschauender König, weiteres künden.
Gast war ich Giukis, nun geh ich von dannen:
Wie lenkt mein Lebenslauf sich hernach?
Gripir:
Auf dem Felsen schläft die Fürstentochter
Hehr im Harnisch nach Helgis Tode:
Mit scharfem Schwerte wirst du schneiden,
Die Brünne trennen mit Fafnirs Töter.
Sigurd:
Die Brünne brach, nun redet die Braut,
Die schöne, so vom Schlaf erweckt.
Was soll mit Sigurd die Sinnige reden,
Das zum Heile mir Helden werde?
Gripir:
Sie wird dich Reichen Runen lehren,
Alle, die Menschen wissen möchten,
Dazu in allen Zungen reden,
Und heilende Salben: so Heil dir, König!
Sigurd:
Nun laß es gelungen sein, gelernt die Stäbe,
Von dannen zu reiten bin ich bereit;
Im Geist erforsche ferner und sage mir,
Wie lenkt mein Lebenslauf sich hernach?
Gripir:
Du wirst zu Heimirs Behausung kommen,
Wirst dem Volksfürsten ein froher Gast sein.
Zu End ist, Sigurd, was ich voraus sah:
Nicht fürder sollst du Gripirn fragen.
Sigurd:
Nun schafft mir Sorge das Wort, das du sagtest,
Denn Ferneres siehst du, Fürst, voraus.
Weißt du unsägliches Unheil dem Sigurd,
Darum du, Gripir, nicht gerne redest?
Gripir:
Mir lag der Lenz deines Lebens
Hell vor Augen anzuschauen.
Nicht mit Recht bin ich ratklug genannt,
Noch vorwissend: was ich wußte, sprach ich.
Sigurd:
Auf Erden ahn ich den andern nicht,
Der so vieles, Gripir, vorschaut als du.
Nicht sollst du mir bergen was Böses ist,
War es auch Meintat, in meinem Geschick.
Gripir:
Nicht Laster liegen in deinem Lose,
Halt das, herrlicher Held, im Gedächtnis.
Dieweil die Welt steht wird erhaben,
Schlachtgebieter, bleiben dein Name.
Sigurd:
Trennen, seh ich, muß sich nun trauernd
Von dem Seher Sigurd, da es so sich fügt.
Weise den Weg (gewiß ist doch alles)
Mir, Mutterbruder, vermagst du es doch.
Gripir:
Nun will ich Sigurden alles sagen,
Da mich drängt der Degen dazu.
Wisse gewiß, die Wahrheit ist es:
Dir ist ein Tag zum Tode bestimmt.
Sigurd:
Nicht reizen will ich dich, reicher König,
Deinen guten Rat nur, Gripir, erlangen.
Wissen will ich und sei es auch widrig,
Welch Schicksal weißt du Sigurds warten?
Gripir:
Eine Maid ist bei Heimir, herrlich von Antlitz,
Mit Namen ist sie Brünhild genannt,
Die Tochter Budlis; aber der teure
Heimir erzieht die hartgesinnte.
Sigurd:
Was mag mir schaden, ob schön die Maid
Von Antlitz sei, die Heimir aufzieht?
Das sollst du mir, Gripir, von Grunde melden,
Denn alles Schicksal schaust du voraus.
Gripir:
Schier alle Freude führt dir dahin
Die Schöne von Antlitz, die Heimir aufzieht.
Schlaf wirst du nicht schlafen, nicht schlichten und richten,
Die Männer meiden, du sähst denn die Maid.
Sigurd:
Was lindert das leidige Los dem Sigurd?
Sage mir, Gripir, siehst du's voraus.
Mag ich die Maid um Mahlschatz kaufen,
Des Volksgebieters blühende Tochter?
Gripir:
Ihr werdet euch alle Eide leisten,
Hoch und heilig, doch wenige halten.
Warst du Giukis Gast eine Nacht,
So hat Heimirs Maid dein Herz vergessen.
Sigurd:
Wie so denn, Gripir? Sage mir an.
Weißt du Wankelmut in meinem Wesen?
Werd ich mein Wort nicht bewähren der Maid?
Ich schien sie zu lieben aus lauterm Herzen.
Gripir:
Das wirst du, Fürst, durch fremde Tücke;
Der Räte Grimhilds wirst du entgelten:
Die Weißgeschleierte wird sie dir bieten,
Die eigene Tochter: so betrügt sie dich, König!
Sigurd:
Schließ ich Verschwägerung mit Giukis Geschlecht
Und gehe den Bund mit Gudrun ein,
Wohl gefreit hätte der Fürst,
Müßt ich mich nicht um Meineid ängstigen.
Gripir:
Grimhild wird dich gänzlich betören:
Sie bringt dich dazu, um Brünhild zu werben
Zu Händen Gunnard des Gotenkönigs.
Zu früh gelobst du die Fahrt des Fürsten Mutter.
Sigurd:
Meintaten geschehen, das merk ich wohl:
Übel wankt Sigurds Wille,
Wenn ich werben muß um die wonnige Maid
Einem andern zu Handen, der ich hold bin selber.
Gripir:
Ihr werdet euch alle Eide leisten,
Gunnar und Högni, und du, Held, der dritte.
Unterwegs wechselt ihr Wuchs und Gestalt,
Du und Gunnar: Gripir lügt nicht!
Sigurd:
Warum tun wir das? Warum täuschen
Wir unterwegs Wuchs und Gestalt?
Schon fürcht ich, es folge noch andre Falschheit,
Gar grimme: sprich, Gripir, weiter.
Gripir:
Du hast nun Gunnars Gang und Gestalt;
Hast eigne Rede und edeln Sinn.
So verlobst du dich dem erlauchten
Hutkind Heimirs: das verhütet niemand!
Sigurd:
Das Schlimmste scheint mir, Sigurd gilt dann
Dem Volk für falsch, fügt es sich so.
Ungern möcht ich mit Arglist trügen
Die Heldentochter, die ich die hehrste weiß.
Gripir:
Liegen wirst du, Lenker des Heers,
Keusch bei der Maid wie bei der Mutter.
Drum wird erhaben so lange die Welt steht,
Volksgebieter, dein Name bleiben.
Zumal werden beide Bräute vermählt,
Sigurds und Gunnars, in Giukis Sälen.
Wieder wechseltet ihr Wuchs und Gestalt
Daheim, nicht das Herz: das behielt jedweder.
Sigurd:
Wird gute Gattin Gunnar erwerben,
Der herrliche Held? Verhehl es nicht, Gripir,
Wenn des Degens Braut bei mir drei Nächte,
Die hochherzge, lag? Unerhört ist solches.
Wie mag zur Freude noch frommen danach
Der Männer Verwandtschaft? Melde mir, Gripir.
Wird Glück dem Gunnar danach noch gönnen
Solche Sippe, oder selber mir?
Gripir:
Dir gedenkt der Eide, mußt dennoch schweigen.
Zwar Gudrunen liebst du in guter Ehe;
Doch bös verbunden dünkt Brünhild sich,
Die Schlaue sinnt sich Rache zu schaffen.
Sigurd:
Was wird zur Buße der Brünhild genügen,
Da wir mit Tücke betrogen die Frau?
Eide geschworen hab ich der Edeln
Und nicht gehalten; auch hat sie nicht Frieden.
Gripir:
Die Grimme geht dem Gunnar sagen,
Ihm habest du übel die Eide gehalten,
Da dir der Herrscher von ganzem Herzen doch,
Giukis Erbe, Vertrauen gönnte.
Sigurd:
Wie ergeht das, Gripir? Gib mir Bescheid.
Werd ich schuldig sein in dieser Sache,
Oder verlügt mich das löbliche Weib,
Und sich auch selber? Sage mir, Gripir.
Gripir:
Aus Herzensharm wird die hehre Frau
Und aus Überschmerz euch Unheil fügen.
Du gabst der Guten nicht Grund dazu,
Obwohl ihr die Königin mit Listen kränktet.
Sigurd:
Wird ihrem Reizen der ratkluge Gunnar,
Guthorm und Högni, dann Folge geben?
Werden Giukis Söhne in mir Gesipptem
Die Schwerter röten? Rede, Gripir.
Gripir:
Der Gudrun vergeht vor Grimm das Herz,
Wenn dir ihre Brüder Verderben raten.
Ledig lebt aller Lust
Das weise Weib: das wirkte Grimhild.
Dir bleibt der Trost, Gebieter der Heerschar,
Die Fügung fiel auf des Fürsten Leben:
So edeln Mann wird die Erde nicht mehr
Noch die Sonne schauen, Sigurd, als dich.
Sigurd:
Heil uns beim Scheiden! Das Geschick bezwingt man nicht.
Mir ward der Wunsch hier, Gripir, gewählt.
Du hättest gerne mehr Glück verheißen
Meinem Lebenslauf, lag es an dir.
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
an alle freunde und an alle anderen