Cover

GEGENWART

 

 

 

Nichts schmerzt so sehr wie

fehlgeschlagene Erwartungen,

aber gewiss wird auch durch nichts

ein zum Nachdenken fähiger Geist

so lebhaft wie durch sie erweckt,

die Natur der Dinge und seine eigene

Handlungsweise zu erforschen,

um die Quelle seiner irrigen

Voraussetzungen zu entdecken und

womöglich künftig richtiger zu ahnen.

 

 

- Benjamin Franklin

 

Winter

Es gibt zwei Sachen, die ich während meines ganzen Lebens gelernt habe.

1. Gib niemals auf!

2. Hör niemals auf zu kämpfen!

So ist es immer, egal, ob man auf dem Fußballfeld steht oder es um dein eigenes Leben geht.

 Bleib immer vorne und in der ersten Reihe, sonst verlierst du alles. Deinen gesamten Gewinn. Alles, was für dich zählt.

Ich sitze dort auf dem Platz im Station und schaue zum allerletzten Mal hinab auf den grünen Rasen.

Jedes Mal wenn ich atme, stoße ich weiße Atemwölkchen aus. Draußen ist es kalt. Es ist Mitte Februar. Ein Glück, dass ich warm angezogen bin, denke ich.

Das Stadion ist leer, nur der Hausmeister ist zu sehen. Er räumt gerade auf.

Zwei Monate ist es nun her, als mir dieser Schicksalsschlag alles genommen hat. Aber es kommt mir so vor, als wäre es erst gestern gewesen. Etwas nervös reibe ich meine Knie. Unter meiner Trainingshose von Adidas fühle ich noch die Narbe an meinem rechten Knie heraus, die fast verheilt ist aber nie wirklich verschwinden wird. Der Schmerz, den ich erlitten habe, ist nicht so schmerzhaft, wie damit zu leben, nie mehr einen Schritt auf den Fußballrasen zu setzen. Ich schließe die Augen, spule alles nochmal ab. Alles von vorne. Das erste Mal als ich auf den Fußballplatz stand, war ich vier Jahre alt. Und selbst im Bauch meiner Mutter, konnte ich es kaum erwarten, endlich einen Ball in der Hand zu halten. Ich schaue auf mein Handy. Es ist bereits 20 Uhr und wird immer kälter, aber das ist wahrscheinlich gerade mein geringstes Problem. Es ist seltsam und ungewohnt ein allerletztes Mal im Station zu sein. Allerdings bin ich mir noch nicht mal sicher, ob das heute mein letzter Besuch ist, aber ich werde niemals mehr dieses grünen Rasen betreten und das fühlt sich komisch an. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es ertragen könnte dabei zuzusehen, wie meine Mannschaftskollegen dort spielen und ich nicht. Das Schlimmste ist aber, dass ich nicht nur meinen Fußball verloren hab, sondern auch ein wundervolles Mädchen. Noch immer ist sie in meinen Gedanken und diese verfolgen mich Tag und Nacht. Ich habe sie von mir weg gestoßen und habe sie endgültig verloren. Und jetzt ist es einfach zu spät, das weiß ich. Wahrscheinlich dachte ich immer mein Leben wäre ohne meinen Fußball nicht komplett und auf eine kranke und verrückte Art und Weise stimmte das auch, aber jetzt weiß ich, dass Fußball zu verlieren nichts war im Gegensatz zu ihr. Fußball ist mein Leben, das muss auch keiner verstehen, aber jetzt hab ich nichts mehr. Kein Fußball, eine vollkommen zerstörte Familie und kein Mädchen, welches noch länger auf mich wartet. Hinter mir höre ich Schritte. Man könnte fast meinen es wären ihre Schritte, aber mein Verstand versichert mir, dass ich paranoid bin.

Als ich mich umdrehe entdecke ich meinen Co-Trainer Steffen. Als er mich auch entdeckt, sieht er mich verwundert an. Er trägt ebenfalls Trainingsklamotten. Mit Steffen habe ich mich schon immer gut verstanden. Er hat mir von Anfang an geholfen gut in die Mannschaft reinzukommen und mich wohlzufühlen. „Leon, was machst du hier?“, fragt er, räuspert sich und nimmt neben mir Platz.

„Den Ausblick genießen!“, sage ich und lache auf. Es hört sich bescheuert an.

„Werde ich jemals wieder spielen können? Hier?“, frage ich, obwohl ich die Antwort längst weiß.

Er schüttelt den Kopf. Ich nicke.                            

„Du warst ein verdammt talentierter Spieler“ sagt er.   

„Das bringt mir jetzt auch nichts mehr!“, sage ich verbittert.                                                

„Hör mir zu, mein Junge“ beginnt er. „Das ist nicht die Welt. Dieses Geschäft ist hart. Du bist wahnsinnig talentiert. Du hättest Profi werden können. Aber du hast nichts verloren. Das, was du wirklich verloren hast, sind dein Mut und dein Kampfgeist! Aber du bist immer bei uns willkommen!“ Dann geht er davon.                         

Ich hab so viel mehr verloren, als nur meinen Mut. Es war immer geplant, niemanden nah genug an mich heranzulassen.

Immer noch ist sie in meinen Gedanken. Ihr Lächeln, ihre Haare, ihre Augen, ihr Duft. Sie nicht mehr im Arm zu halten, ist so viel härter, als niemals den Traum leben zu können, der greifbar nahe war. Denn sie war mein Traum. Ist es noch.  Ich liebe Fußball. Aber Fußball würde niemals ausreichen, um meine Liebe zu ihr zu beschreiben. Ich hätte alles für sie getan, aber ich bin nicht mehr bereit zu kämpfen. Denn darin besteht das Leben! Nie aufgeben, sonst bist du ein Verlierer!

VERGANGENHEIT

 

 

 

 

 

 

WIR KÖNNEN DEN WIND NICHT ÄNDERN,

ABER DIE SEGEL ANDERS SETZEN

 

 

 

- Aristoteles

15. September

 Damals spielte ich beim FC Augsburg in der B-Jugend. Ich spielte Abwehr links und im Mittelfeld links an der Außenbahn. Im Mittelfeld fühlte ich mich schon immer wohler als in der Abwehr, aber ich war in beiden Positionen gut einsetzbar. Damals hatte ich gar nicht daran gedacht, dass ich es so weit schaffen könnte und es war unerwartet und überraschend, als mir der FC Bayern München ein Angebot machte, das ich unmöglich absagen konnte. Ich bekam das Angebot, nachdem wir das Spiel gegen den FSV Frankfurt zu 1:0 gewonnen hatte, nachdem durch mich und meinen Mannschaftkameraden, der mir den Ball zu passte, das Tor in die rechte untere Ecke erzielte.       

Das Problem war nur ich stellte alles auf den Kopf. Wir mussten wegziehen aus Augsburg. Ich hatte meiner Mutter klargemacht, dass ich dort in das Fußballinternat gehen könnte, aber Mama bestätigte, dass sie es nicht zulassen würde ihren eigenen Sohn gehen zu lassen, also zogen wir um. Ich ließ mein komplettes Leben hinter mir, meine Heimat, meine Freundin Vanessa, aber ich wusste, dass ich das machen wollte. Meine kleine Schwester Luna war damals noch sehr klein. Und da uns mein Vater verlassen hatte, meinte Mama, Luna und ihr würde der Mann im Haus fehlen und das konnte sie einfach nicht zulassen. Das Gute war, dass Mama eine Wohnung in der Nähe des Fußballclubs fand, was uns der Vater meines Cousins Paulo, der in München lebte, organisiert hatte. Der Vater von Paulo war mein Onkel und somit Mamas Bruder. Von mir wurde er immer Onkel Pavlo genannt.    

Onkel Pavlo hatte ein italienisches Restaurant bei dem ich ab und zu meine Brötchen verdiente, also dann, wenn ich Zeit hatte. Ich bekam immer reichlich Trinkgeld, das war das Gute. Komischerweise hieß das Restaurant auch Pavlo & Paulo. Ich arbeitete nicht oft dort, denn mein Fußball und die Schule nahm viel Zeit in Anspruch. Mein Ziel war schon immer, dass ich in der Bundesliga spielen würde. Dieses Ziel hatte ich ja auch erreicht, allerdings würde es ein steiniger Weg werden, um Profi zu werden. Im Moment ging ich auf die FOS. Ich war auf der Realschule und würde jetzt weitermachen, um das Abitur zu bekommen. So richtig arbeiten würde für mich gar nicht in Frage kommen, da Fußball viel zu viel Zeit nahm, aber das war mir nur recht. Egal, was ich tat Fußball wird immer an erster Stelle stehen.           

Im Moment war ich siebzehn und wenn ich weiterhin darüber nachdachte, dann war mir klar, dass ich nie etwas anderes im Kopf hatte als Fußball und natürlich Familie. Fußballspielen war wie fliegen, so als würde man über das Feld schweben. Man spielte es mit den Füßen, aber alles was man brauchte, ist Herz und Kopf. Das Herz für die Liebe zum Spiel und den Kopf, um immer am Ball zu bleiben.

16. September

Am Donnerstag holte ich meine kleine Schwester Luna von der Schule ab. Sie war in der fünften Klasse und heute war ihr dritter Tag auf dem Gymnasium. Sie war gerade mal neun und würde im Dezember erst zehn werden. Luna konnte schon im Kindergarten Lesen und Schreiben. Sie war einfach verdammt klug. Meine Mutter wollte sie nicht eher einschulen, aber die Erzieherinnen aus dem Kindergarten und auch viele Lehrer versicherten, dass sie für ihr Alter sehr weit wäre und so wurde beschlossen, dass sie mit fünf in die Grundschule kam. Sie war einfach schon immer die Schlauere von uns beiden. Aber auch wenn sie in den sprachlichen Fächern sehr begabt war, tat sie sich in Mathe um einiges schwerer. Meine Mutter war mit einer Lehrerin des Gymnasiums befreundet. Sie hieß Frau Bayer. Frau Bayer unterrichtete Französisch und organisierte Nachhilfe für Luna in Mathe.Ich kam gerade direkt von der Schule, die nur ein paar Straßen entfernt waren. Ich tat mich im Gegensatz zu Luna in der Schule schon immer sehr schwer. Im Moment war es zwar noch leicht, aber ich musste immer sehr aufpassen, damit ich alles wirklich verstand.Meine Schwester stand vor mir und grinste mir zu. Ich streichelte über ihre dunkle Mähne und lächelte sie an.

Dann winkte sie einem Mädchen zu.                       

„Wer ist das?“, fragte ich Luna.                         

„Das ist Mia! Sie gibt mir Nachhilfe in Mathe“, erzählte sie. Mia stand auf der anderen Straßenseite. Sie lachte und winkte meiner kleinen Schwester zu. Das erste Mal als ich sie sah, dachte ich mir nichts Großartiges. Sie war sehr hübsch, hatte eine schöne Figur und ein schönes Lächeln. Aber ich hatte mir erstmal nicht mehr dabei gedacht. Ihre blonden, langen Haare wehten im Wind und ihre grünen Augen leuchteten.                                 

„Wie alt ist sie?“, fragte ich.                             

„Fünfzehn, sie wird aber in zehn Tagen sechzehn. Warum willst du das wissen? Bist du etwa verliebt?“, scherzte sie. Ich lachte und wuschelte durch ihre Haare. Dann verengten sich ihre Augen zu bedrohlichen Schlitzen. Sie hasste das so sehr. Aber ich liebte es, wenn sie sich darüber ärgerte. Ich sah Mia an. Sie war eindeutig wunderschön. Ich wand meinen Blick von ihr und nahm die kleine und zierliche Hand meiner Schwester. Mia überquerte die Straße und kam auf uns zu. „Warte, Luna. Du hast deine Übungsblätter auf dem Tisch vergessen!“, sagte sie und reichte die Blätter meiner kleinen Schwester. Sie nahm sie ihr entgegen. Dabei sah ich Mia genauer an und auch intensiver, ohne es eigentlich zu wollen. Wahrscheinlich war sie nicht das schönste Mädchen auf diesen Planeten. Sie war durchaus auf ihre Art wunderschön und unter uns männlichen Wesen galt sie sicher als sehr attraktiv.                                          

„Kannst du am Mittwoch nach der Schule? Dann kann ich dir den Rechenweg nochmal erklären?“, fragte Mia Luna und lächelte. Luna nickte. „Dann bis morgen“, sagte Mia zu Luna, sah mich dabei kurz an, lächelte und ging davon. Ich sah Mia noch hinterher und mein Blick wandernte von ihren kurvigen Hüften hinunter zu ihren Hintern. Nicht schlecht, dachte ich. Selten hatten Mädchen einen solchen Hintern wie diesen. Zuhause angekommen schmiss ich meine Tasche in die Ecke. Unsere Wohnung war zwar sehr klein, aber ich hatte mein Zimmer wohnhaft und klassisch eingerichtet. Es war mein ganz persönlicher Ort.  An den Wänden hingen die Bayerntrickos von Bastian Schweinsteiger und David Alaba, die auch von ihnen signiert wurden. Ich lebte in diesen unrealen Traum.

Seit ungefähr einem Jahr spielte ich beim FC Bayern München. Wenn ich mich anstrengte, dann würde ich nächstes Jahr in der Nationalmannschaft U18 spielen. Das hatte mir mein Trainer versichert. Ob ich gut genug dafür war, war fragwürdig. Ich wusste nur, dass ich alles geben musste. Der Druck für mich war enorm. Ich durfte Fußball jetzt nicht vernachlässigen. Ich musste jetzt dran bleiben. Der Rest würde mich sowieso nur ablenken. Abends saß ich mich zu meiner Mama an den Küchentisch. S

ie sah mich verwundert an. „Müsstest du nicht im Training sein?“, meinte sie und schaute auf die Uhr.

„Das Training wurde auf morgen verschoben.“, sagte ich.

Sie schüttelte ihren Kopf. „Ich hab dir immer gesagt du sollst dein Abitur machen oder eine Ausbildung, dich auf deine berufliche Zukunft konzentrieren! Und jetzt trainierst wie ein Verrückter. Das du nicht müde bist!“ meinte sie streng. Selbst wenn meine Mutter mit mir umgezogen war und versuchte mich im Fußball zu unterstützen und zu verstehen, verstand sie es oft trotzdem nicht, aber so war sie eben.                                  

„Später geh ich doch arbeiten, Mama!“, sagte ich und gab ihren Kuss auf die Wange. Heute Abend würde ich bei Onkel Pavlo arbeiten. Die meisten Freunde aus meiner Mannschaft wohnten im Fußballinternat, da sie hier in der Nähe keine Bleibe hatten. Aber ich war froh, dass mein Zuhause ganz in der Nähe war, da wir ja von Augsburg nach München gezogen waren und ich nur zehn Minuten mit dem Fahrrad zum Sportzentrum benötigte. Ich wusste schon immer, dass ich Fußballprofi werden wollte. Schon als kleiner Junge war es mein Traum.   

„Du bist genauso wie dein Vater, Leon. Einmal hatte er was im Kopf, und meinte, er muss es unbedingt durchsetzen.“, sagte sie. Mir gefiel es nicht, wenn sie ihn zur Sprache brachte. Aus irgendeinen Grund hatte er uns damals verlassen. Ich konnte mich kaum an ihn erinnern und das wollte ich auch nicht. Er gehörte für mich nicht zur Familie. Als ich acht war, begleitete er mich zu einem Fußballspiel. Einen Tag darauf war er verschwunden und das für immer. Meine Mutter sprach selten von ihm, nur manchmal, so wie gerade eben. Ich wollte nicht nachfragen, woher er kam oder warum er verschwunden war. Ich wollte die Antwort darauf einfach nicht wissen. Luna hatte ihn nie kennengelernt. Meine Mutter war damals schwanger mit ihm. Ich werde ihm das niemals verzeihen, dass er uns im Stich gelassen hat. Mama war Italienerin, woher mein Vater kam, wusste ich nicht, aber wie gesagt, interessierte mich das nicht das Geringste. Es gab immer nur Mama, Luna und mich und das sollte auch so bleiben.      

 

Um achtzehn Uhr machte ich mich auf den Weg ins Paulo & Pavlo. Ich trug meine beste Jeans, ein weißes Hemd und schwarze Schuhe. Im Restaurant angekommen warf mir Onkel Pavlo eine Schürze entgegen. „Du bist eine Minute zu spät!“, meinte er und grinste „Ran an die Arbeit, Fußballprofi!“  Ich sah mich um. Das Restaurant war voll. Viele junge und alte Leute waren hier. Ich band mir die Schürze um und begrüßte Tamara. Sie war einundzwanzig, studierte Jura und jobbte hier nebenbei, um sich damit ihr Studium zu finanzieren. Als ich mich weiterhin umsah, entdeckte ich Mia. Sie saß mit einem dunkelhaarigen Mädchen an einem Tisch und schaute sich die Karte an. Musste ein Zufall sein, dass wir uns heute wieder sahen. Ich sah Mia nur von der Seite. Aber ich war mir zu 100% sicher. Sie war es. Sie sah gut aus. Ich fand, sie hatte die perfekte Figur und die perfekten Proportionen. Da, wo sie jedes Mädchen haben sollten. Sie war kein Klappergestell und hatte Kurven an den perfekten Stellen. Bestimmt machte sie Sport, dachte ich. Ich ging auf den Tisch zu. „Hallo, wissen sie schon, was sie bestellen wollen?“, fragte ich und holte den Notizblock heraus. Wie auf einen Schlag, sah sie zu mir hoch. Ich erwiderte ihren Blick. Niemand sagte etwas, stattdessen fing das dunkelhaarige Mädchen an zu grinsen. Ich räusperte mich, da ich darauf wartete, dass einer von den beiden etwas sagte. Aber Mia starrte mich an und brachte keinen Ton heraus. „Entschuldigungen Sie, meine Schwester ist etwas schüchtern!“, sagte die Brünette. Ich lächelte. Das war süß. „Also, für mich bitte eine Mageritta und für meine Schwester einmal Spaghetti Carbonara!“, sagte sie forsch.

„Und zum Trinken?“, fragte ich.

„Zweimal Cola!“                            

Ich notierte es. „Okay, wird einen Moment dauern!“, versicherte ich und lächelte freundlich. Daraufhin ging ich zum Tresen. „Hey, Mario, hier!“, sagte ich und überreichte ihm den Zettel. Er riss ihn mir aus der Hand und lachte.   An der Theke stehend, huschte mein Blick zu Mia. Ich wollte sie nicht ansehen, aber ich konnte gerade nicht anders. Ich versuchte in ihr etwas zu sehen, was ich nirgendwo sonst, bei einem Mädchen entdeckte. Ich wusste, irgendetwas war besonders an ihr. Ich konnte nicht deuten, was es war oder woran es lag. Jedenfalls wusste ich, dass sie anders war, als irgendein Mensch, dem ich je begegnet war. Ab und zu huschte mein Blick immer wieder unauffällig zu ihr als ich weiterhin Tische bediente. Als sie mich entdeckte, wie ich sie ansah, erröteten ihre Wangen, schaute aber genauso schnell wieder genervt. Ich drehte mich nicht weg, sondern sah sie einfach an und lächelte. Sie sollte spüren, dass sie mir gefiel. Aber sie erwiderte meinen Blick kein einziges Mal mehr.     

„Flirtest du schon wieder?“, sagte Tamara und lachte.          

„Ich flirte nicht!“, widersprach ich und lachte.   

„Spagetti Carbonara, Pizza Mageritta sind fertig!“, rief Mario. Er stellte es auf die Theke. Ich nahm es und ging auf den Tisch von Mia und ihrer Schwester zu.        

Sie lachte laut. Sie hat ein schönes Lachen.         

„Pizza Mageritta für die Dame!“, sagte ich und stellte den Teller vor Mias Schwester.

„Und einmal Spaghetti Carbonara für dich, Mia“, sagte ich, bückte mich zu Mia runter und stellte den Teller vor ihre Nase. Als ich hochgehen wollte, geriet ich im Blickkontakt mit ihren Augen. Ich könnte schwören, dass ihre Augen so klar waren, dass ich bis zum Grund ihrer Seele blicken konnte. Sie waren grün und blau. Sie hatten eine besondere Farbe. Außenherum waren sie dunkelgrau umrandet und innendrin grün mit etwas blau. Sie schlug ihre Augen auf und zu, wie ein Schmetterling. Damit hatte sie mich wachgerüttelt. Ich sah sie irritiert an. Was tat sie da? Ich hatte noch nicht einmal richtig mit ihr gesprochen. „Bon Appetit!“, sagte ich und ging weg.    

Am Abend bediente ich noch einige Tische und war zufrieden mit meiner Arbeit. Doch ich sah sie kein einziges Mal mehr an. Ich gab es nicht gerne zu, aber ich hatte zu sehr Angst, dieser Augenblick, wie sie mein inneres berührte, noch einmal geschehen zu lassen. Man konnte meinen, ich wurde von einem Blitz getroffen, aber ich hatte noch niemals so ein Gefühl. Noch nie hatte mich ein Mensch so sehr berührt, ohne wirklich mit mir zu reden und davor hatte ich Angst.

 „He, Leon, du kannst Feierabend machen!“, rief mir Onkel Pavlo zu. „Den Rest machen wir schon!                 

„Danke, Chef!“, sagte ich, zog mir meine Jacke über und verließ den Laden, ohne Mia noch einmal an zusehen. Es war nicht gut, wenn ein Mädchen mich von meinen Pflichten abhielt.                                             

Draußen war es kalt. Ich zog meine Zigarettenpackung aus meiner Jackentasche und rauchte eine. Das brauchte ich jetzt. Ich atmete den Rauch tief in meine Lunge ein und ganz langsam wieder aus. Ich stand gefühlte fünfzehn Minuten an der gleichen Stelle und starrte ins Leere. Die Straße war schon halb verlassen, nur eine Gruppe Jugendlicher in ungefähr in meinen Alter, vielleicht sogar jünger saßen an der Bushaltestelle und tranken Bier, hörten laute Musik und rauchten. Ich lächelte in mich hinein. Einmal hatte ich mich so stark mit meinen Freunden betrunken, dass ich am nächsten Tag garnichtmehr wusste, wo ich genau war. Am nächsten Tag hatte mir mein Trainer verboten zu spielen. Seitdem trank ich nie mehr. Das Risiko war einfach zu groß, weil ich das Fußballspielen unbedingt wollte. Jetzt beneidete ich die Jungs ein wenig. Ich konnte mich entscheiden: Entweder ich werde Profi und konzentriere mich darauf und vieles ist nebensächlich oder ich scheiß drauf und hab Spaß. Letztendlich hatte ich mich so entschieden. Für den Fußball und ich bereute kein Stück davon. Klar, manche Sachen werde ich nie erleben können, aber das war es mir wert. 

Dann vibrierte mein Handy:

MORGEN UM 18 UHR TRAINING. ZIEHT EUCH WARM AN UND NEHMT LAUFSCHUHE MIT! UND GEHT RECHTZEITIG SCHLAFEN, DAMIT IHR MORGEM FIT SEID!! schrieb Mike, unser Trainer in die WhatsApp Gruppe.

Das war jetzt wichtiger. Wichtiger als alles anderes.                                               

Um zehn Uhr abends kam ich nach Hause. Ich schlenderte sofort in mein Zimmer und richtete meine Fußballsachen, da ich morgen nach der Schule etwas mit meinen Cousin Paulo unternahm.                                                  

Dann brachte ich noch Luna ins Bett und sagte meiner Mutter Gute Nacht. Erschöpft legte ich mich dann ins Bett und stellte meinen Wecker auf 7:00 Uhr.

Es dauerte eine ganze Stunde bis ich einschlief. Dieses Mädchen raubte mir meinen Schlaf. Ihre Augen raubten mir meinen Atem. Dann schlief ich ein.

17. September

 Am nächsten Morgen rappelte ich mich noch tief im Halbschlaf aus meinem Bett und schlürfte in die Küche. Meine Mutter kam dazu und gesellte sich zu mir.                            

"Guten Morgen, Großer. Soll ich dir einen Kaffee machen?", fragte sie und streckte sich.                         

"Nein, danke.", antwortete ich und musste gähnen. Frühaufstehen lag mir noch nie.                                   

In der Schule hatte ich nicht viele Freunde, aber ich würde schon sagen, dass man mich und meinen Namen kannte und so auch den Namen von Paul, der mit mir bei Bayern München spielte und zu einen meiner besten Freunde wurde. Er wohnte genauso wie ich nicht im Fußballinternat des FC Bayern. Im Gegensatz zu mir lebte er seit seiner Geburt in München und sein Vater und unser Trainer kannten sich aus Jugendzeiten. Die Jungs auf der Schule feierten uns für unser Talent und mit einigen Mädchen aus der Schule hatte ich mich schon ein paar Mal getroffen und es lief immer auf das Gleiche hinaus. Entweder sie langweilten mich so sehr, dass ich ihnen aus dem Weg ging und ihnen versuchte klarzumachen, dass ich kein Interesse hatte oder ich hatte was mit ihnen gehabt und mehr auch nicht. Zu meiner Verteidigung: Ich war trotzdem ein ehrlicher Mensch und hatte jeden von diesen Mädchen klargemacht, dass ich nicht an etwas Festen interessiert war. Und warum sollte ich nach einer Beziehung suchen, wenn ich jung war. Mein Opa hatte immer gesagt: "Wenn man jung ist, dann muss man seine Jugend richtig leben!" Und das tat ich wirklich. Aber trotz dessen blieb ich nicht davon verschont, dass ich unter den Mädchen als "Arschloch" galt. Ich war kein Arschloch, ich lebte nur ein bisschen und das war auch in Ordnung. Von Vorurteilen würde man nie verschont bleiben, egal was man tat. Der Unterricht war nicht besonders aufregend gewesen. Wir schrieben in Wirtschaft einen unangekündigten Test. Ich hatte kein bisschen gelernt, aber eine 3 würde es schon werden. Als die Schule endlich vorbei war, lief ich mit Paul nach Hause. Wir wohnten nicht weit voneinander entfernt, aber im Gegensatz zu ihm lebte ich in der Mittelstandsgegend und er in der Bonzengegend. Wenn man das Haus und die Autos seiner Eltern sah, wusste man, wie reich diese Familie war. Als er in die gegenüberliegende Straße von meiner einbiegen wollte, verabschiedeten wir uns, indem ich meine Faust gegen seine schlug.

"Bis später im Training, Mann!", rief mir Paul hinterher, sodass ich mich umdrehte und ihm im Gehen zunickte.

 

Paulo war neunzehn. Als ich noch nicht in München lebte, hatte ich ihn immer in den Sommerferien besucht. Als wir klein waren bauten wir nur Mist. Das Haus meines Onkels war klein, dafür hatte es aber einen Riesengarten und den nutzten wir richtig aus. Wir spielten meistens Fußball und wir hatten es immer wieder geschafft die dünnen Fensterscheiben der Gartenscheune von dem Nachbar mit dem Fußball kaputtzuschießen. Der Nachbar war mittlerweile ein alter Mann, aber Grüßen tat er uns immer noch nicht. Der alte Grießkrämer. Wenn ich alt war, wollte ich auf keinen Fall so verbittert sein wie er. Er war allerdings nicht nur zu uns unfreundlich sondern auch zur ganzen Nachbarschaft.         

Es weckte immer so krasse Erinnerungen, wenn Paulo und ich über unsere Kindheitserinnerungen sprachen und so war es auch jetzt.

Draußen war zwar kalt, aber die Sonne lugte hervor also beschlossen wir uns auf die Gartenbank zu pflanzen, rauchten Shisha und hörten nebenbei Nirvana.       

„Alter, ich hab ein Problem, weißt du.“, erzählte Paulo nach einer Weile. Er lehnte seinen Hinterkopf an die Steinmauer und wippte nervös mit seinem Bein. Paulo hatte schon immer das Talent sich in Scheiße hineinzureiten und ich war der Einzige gewesen, der sich nie ein Urteil über ihn bildete. Er konnte mir vertrauen und trotzdem war ich immer ehrlich zu ihm. Er konnte mir alles erzählen, solange ich aus jeglichen Mist herausgehalten wurde. Er zögerte, denn ihm schien es schwer zu fallen darüber zu reden. Er wurde immer nervöser, bis er schließlich sagte: „Ich hab einen großen Fehler gemacht!“                                          

„Hör mal, mir kannst du‘s sagen. Das weißt du, Mann!“     

Er atmete tief durch, stütze seine Ellenbogen auf seinen Knien ab und vergrub in den Händen sein Gesicht. Er war wirklich verzweifelt. Es dauerte bis er sich gefangen hatte. Dann erzählte er: „Vor drei Wochen… Ich… Also…“ Seine Stimme stockte bis es schnell aus ihm herausplatze: „Ich hab einen Unfall gebaut und bin einfach weggefahren.“

Ich sah ihn entgeistert an. „Bist du irre? Du hast Fahrerflucht begangen?!“                                             

„Ja, verdammt. Ja, scheiße!“ Er fluchte vor sich hin.          

„Wieso das denn?“                                                      

„Mann, ich hatte Panik. Ich war schon mal auf Bewährung. Ich hatte Schiss.“                                                       

„Fuck, ist dir klar, dass du jetzt richtig in der Scheiße sitzt?“                                                          

„Ja, meinst du das weiß ich nicht?“ Er war wütend, wütend auf sich selbst und ich konnte es ihm nicht verübeln, aber er saß heftig in der Scheiße so viel war klar.

„Du musst es Onkel Pavlo sagen!“, sagte ich zu ihm.

Er hob seinen Kopf und sah mich ebenso entgeistert an. „Bist du verrückt?!“                                                    Daraufhin saßen wir schweigend nebeneinander. Mein Cousin war wirklich der liebste Mensch, den ich kannte. Er war loyal und ehrlich, aber diesmal hatte er wirklich Mist gebaut und ich sah ihm seine Schuldgefühle an.                        

„Wo war der Unfall?“, fragte ich ihn.                                  

„Auf den Weg in die Werkstatt. An der Kreuzung, da bei der Grundschule.“

Ich konnte nichts darauf sagen.                                     

„Fuck! Fuck! Fuck!“, schrie Paulo und stütze seinen Kopf in seine Hände.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte also sagte ich nur: „Wir schaffen das, Mann. Wir haben alles immer zusammen geschafft!“                                        

 

Das dreistündige Training war heute anstrengend gewesen, dafür musste ich aber nicht an die Schocknachricht von Paulo denken. Ich machte mir Sorgen um meinen Cousin. Wir saßen alle zusammen in der Kabine und waren frisch geduscht. Ich sah nach der Spielersitzung auf mein Handy. Es war bereits 21.30 Uhr und ich wollte einfach nur noch in mein Bett. Die Meisten verließen weil die Kabine. Paul war auf die Toilette gegangen, also waren Simon, einer von unseren Ersatzspielern und ich alleine in der Kabine. Er suchte etwas in seiner Tasche.                                       

"Was suchst du?", fragte ich ihn.                             

Simon und ich hatten nie großartig Kontakt miteinander gehabt. Ich wusste, dass er viel Talent hatte, aber laut unseres Trainers Mike noch nicht so weit war. "Ich suche mein Tape. Hab mich etwas gezerrt am Fuß.", sagte er.

Ich stellte meine Trainingstasche auf die Bank und kramte in meiner Tasche herum auf der Suche nach einem Tape. Als ich ein Blaues fand, warf ich es ihm zu. Er fing es und lächelte. "Danke, Mann!", sagte er.                                   

"Keine Ursache!"                                         

Ich sah ihn dabei zu, wie er sich seinen Fuß mit dem Tape verband.

Nach ein paar Minuten sagte er zu mir: "Weißt du, was mich extrem abfuckt?"

Ich zuckte fragend mit den Achseln.                                                    

"Ich reiß mir hier den Arsch auf und sitz trotzdem auf der Ersatzbank. Ich frag mich, was das eigentlich hier noch bringt.“                                                  

Da ich ein Mensch war, der generell viel Wert auf Ehrlichkeit legte, sagte ich wahrheitsgemäß: "Ich weiß, dass du das tust. Man sieht‘s ja im Training. Aber es gibt trotzdem Unterschiede zwischen den anderen Spielern und dir. Viele sind ein bisschen geschickter und schneller als du. Ich will nicht damit sagen, dass du schlecht bist, denn das bist du nicht, aber du musst dich eben doppelt so viel anstrengen als andere. So ist das eben und wenn du weiterhin am Ball bleibst, dann kommst du auch an die Reihe."       

Ich haute ihn freundschaftlich auf die Schulter. Ich hatte ja keine Ahnung, wie er sich fühlen musste. Ich war ihm wahrscheinlich auch keine große Hilfe.

 

Paul und ich waren auf den Weg nach Hause. Ich gähnte vor mich hin, während Paul neben mir fit wie ein Turnschuh war. Wie immer kamen wir an einem Hallenschwimmbad vorbei. Pauls Schwester war dort im Schwimmverein und er hatte mir gesagt, dass er sie heute abholen müsste. Laut Paul war seine Schwester sechzehn und machte eine Ausbildung als Bürokauffrau.

"Wie lange müssen wir denn warten?", fragte ich ungeduldig, weil ich einfach nur in mein Bett wollte. Heute war zwar Freitag, aber ich hatte wirklich keine Lust mehr etwas zu unternehmen.

"Zehn Minuten ungefähr."        

"Na toll...", erwiderte ich wenig begeistert, weil mir zehn Minuten gerade einfach zu lang waren.                    

"Du kannst ja auch schon weil heimlaufen, Mann.", schlug Paul vor. Paul hatte recht, aber irgendwie hatte ich keine Lust alleine die Straßen entlang zu schlendern. Ich gähnte vor mich hin als wir uns auf eine Bank vor dem Schwimmbad saßen.

Ich war wirklich ungeduldig und biss nervös auf meiner Unterlippe herum.                                  

Drei Minuten zu spät kam Elvira, seine kleine Schwester aus dem Gebäude.                                                

"Na, endlich!", sagte ich erleichtert und stand auf. "Auf geht's, Leute!", forderte ich sie auf und war bereit endlich zu gehen.                                                    

"Warte, Leon. Wir müssen noch auf eine Freundin warten.", sagte Elvira. "Sie hat was in der Umkleide vergessen."              

Ich sah sie etwas angepisst an. Normalerweise war ich wirklich locker drauf, aber ich hatte echt keine Lust mehr. Es war mittlerweile nach 22 Uhr.

"Ist das echt dein ernst?", fragte ich sie und stöhnte genervt.                     

"Jetzt entspann dich mal!", sagte Paul und musste lachen, weil er meine kleinen Ausraster vollkommen übertrieben fand.

Zum Glück öffnete sich die Eingangstür und wir hatten das Glück (besonders ich), dass wir nicht lange warten mussten. Es war dunkel, also erkannte ich das Gesicht des Mädchens nicht, aber als sie näher zu uns kam und die Straßenlaternen ihr Gesicht beleuchteten, war ich wirklich überrascht, wer da auf uns zukam. Mia bemerkte mich ebenso. Ich musste schmunzeln, weil ich es amüsant fand, dass wir uns zufällig schon wieder begegneten. Ich lächelte sie an, Mia allerdings lächelte nicht, aber sie schien genauso überrascht zu sein wie ich. Als sie auf uns zukam, fragte Elvira: "Und? Hast du deine Unterhose wieder?" Paul und ich mussten daraufhin lachen und als Elvira bemerkte, dass sie vor uns Mias Unterhose erwähnt hatte, kam aus ihrem Mund ein leises: "Oh!" Mia lief ein wenig rot an. Daraufhin mussten wir alle lachen, sogar Mia stimmte daraufhin mit ein.                   

Weiter vor uns liefen Paul und Elvira. Mia lief neben mir, wahrte aber Abstand vor mir.

"Also...", began ich nach viel zu langen Schweigen. "Wie kann man denn seine Unterhose vergessen?"  

Sie schien sich nicht besonders über die Frage zu freuen, musste dann aber kichern. "Wenn du ich wärst, dann ist es gar nicht mehr so schwer!", sagte sie, immer noch ein wenig peinlich berührt. Es war keine große Sache, aber mir gefiel es, dass sie so locker damit umging, selbst wenn ihr es peinlich war.

Ich sah Mia an und erkannte, dass sie nicht geschminkt war. Ich fand sie auch ohne Schminke schön, selbst wenn sie nicht die schönste Haut hatte. Sie hatte kleine Rötungen und ein bis zwei Pickel auf der Stirn, aber das war in Ordnung.                                      

"Seltsam, dass wir uns schon wieder sehen.", sagte Mia.   

Ich runzelte die Stirn. "Wieso ist das seltsam?"         

"Seltsam ist vielleicht das falsche Wort dafür.", sagte sie.

Ich verstand nicht ganz, was sie damit meinte, fragte aber auch nicht weiter nach.                                       

"Also ich muss jetzt da rein.", sagte Mia und zeigte auf den dunklen, langen Weg, in den sie einbiegen musste. Elvira und Paul verabschiedeten sich noch von ihr, doch ich war mir nicht sicher, ob ich sie alleine lassen konnte. Immerhin war sie ein Mädchen und um diese Uhrzeit konnte sonst etwas passieren und man ließ generell Mädchen nicht einfach alleine nach Hause laufen. Ich wollte nicht derjenige sein, der Schuld war, wenn etwas passierte. Außerdem war das die Gelegenheit um Mia ein wenig besser kennenzulernen. Im Restaurant konnte ich sie nicht mehr anschauen. Das war eine total komische Situation und ich hatte Angst vor meinen eigenen Gefühlen, aber das würde ich für mich behalten. Das ging niemanden etwas an auch nicht ihr. Darüber konnte man nur lachen, denn diese ganze Sache mit Gefühlen für sie war sowieso vollkommen absurd. Also redete ich mir ein, dass ich sie nur nach Hause begleiten würde, weil sie ein Mädchen war und nicht allein nach Hause laufen sollte.               

"Ich begleite sie.", rief ich Elvira und Paul zu. Die Beiden drehten sich um und sahen mich fragend an.

Elvira nickte und Paul zuckte gleichgültig mit den Schultern. Dann machten sie sich auf den Weg. Ich drehte mich zu Mia und  sie sah mich mit verwirrten Gesichtsausdruck an.                               

"Du musst mich nicht begleiten. Ich laufe jeden Dienstag und Freitag um diese Uhrzeit ab hier alleine nach Hause.", erklärte sie mir.                                        

"Ja, und das ist auch ziemlich leichtsinnig.", sagte ich ihr und ärgerte mich ein wenig darüber, dass Paul das zuließ, da er Elvira auch am Dienstag immer abholte.

Sie lachte leicht. "Mir ist noch nie etwas passiert!"                              

"Selbst wenn, ich habe einfach Manieren, okay!", sagte ich ohne angeben zu wollen.

Wieder lachte sie als würde sie mir nicht glauben.                                            

"Du glaubst mir nicht, stimmt's?", fragte ich sie.       

"Nein, ich wunder mich nur über diese Geste."          

"Wieso das denn?"

Sie verzog ihre Lippen, so als müsste sie überlegen.

Ich wartete auf eine Antwort bis sie sagte: "Ich glaube, Jungs kommen nicht auf die Idee ein Mädchen wie mich nach Hause zu begleiten."

Was ist das denn bitte für ein Schwachsinn? Hat sie sich mal angesehen? Sie wurde zwar erst sechzehn, aber war dafür wirklich ein Treffer. Keine Ahnung, was sie da faselte. Trotz dessen unterdrückte ich meine blöden Sprüche, da ich vermutete, dass sie das verletzen könnte.

Also sagte ich und das meinte ich auch so: "Ich würde so ein hübsches Mädchen wie dich nicht alleine nach Hause gehen lassen, egal wie spät es auch wär." 

Sie sah mich mit großen Augen an und lächelte darauf hin. Allerdings verschwand ihr Lächeln genauso schnell wieder und ich fragte mich nur, was dieses Mädchen hatte. Hatte sie so wenig Selbstvertrauen in sich selbst? Ich wusste es nicht, war aber bereit es herauszufinden. Wir gingen langsam nebeneinander her und unterhielten uns. Ich hatte die Zeit voll vergessen und wollte auch nicht mehr schnell nach Hause. Müde war ich sowieso nicht mehr. Mir gefiel es mich mit ihr zu unterhalten. Ich erfuhr, dass sie zwei ältere Geschwister hatte, die Beide noch zu Hause wohnten. Ihre Eltern waren glücklich verheiratet und ihr Opa war gestorben als sie fünf Jahre alt wurde. Ihre eine Oma wohnte bei ihr und ihre andere Oma, dessen Mann Alkoholiker war und abgehauen war wohnte eine Straße weiter. Sie ging in die 10. Klasse und sie schrieb gute Noten. Sie meinte, dass sie in einer glücklichen Familie lebte und sie sehr froh darüber war. Ihre Mutter war Anwältin und ihr Vater Architekt hauptsächlich für Kindertagesstätten und Schulen. Sie war seit der Grundschule im Schwimmverein und kannte Elvira seit dem Kindergarten. Ihr größter Traum war es Soziale Arbeit und Sozialmanagement zu studieren und sie würde gerne während des Studiums für ein halbes Jahr nach Afrika oder Mexiko und dort mit Kinder und Jugendlichen arbeiten. Obwohl der Weg zu ihr nur sieben Minuten dauerte, hatte sie mir eine Menge zu erzählen. Am allermeisten jedoch wunderte ich mich darüber, dass ich mir das alles merken konnte. Sie erzählte all das voller Begeisterung und Leidenschaft, dass man gar nicht aufhören könnte nicht zuzuhören. Ich war froh, dass es nicht dazu kam, dass ich etwas von mir preisgab. Meine Familiengeschichte oder Lebensgeschichte war nicht sonderlich beneidenswert und ich hatte keine Lust mich mit meiner Vergangenheit auseinander zu setzen.                                                      

Als wir an ihren Haus ankamen, lächelte sie mich an.

"Danke fürs nach Hause bringen.", sagte sie.                         

"Keine Ursache.", erwiderte ich.

Komischerweise war ich nervös, was mir normalerweise nie passierte. Ich biss an meiner Unterlippe herum, während wir uns gegenüberstanden  Es fühlte sich ungewohnt an, weil das bei anderen Mädchen nie der Fall war.                                            

"Also, dann. Tschüss.", sagte sie und wir sahen uns in die Augen. Dann machte sie sich auf den Weg zur Haustür. Ich wartete bis sie bei der Haustür, dann drehte ich mich um und wollte gehen. Doch dann fragte ich, weil ich es wissen musste: "Mia...Wann sehen wir uns wieder?" S

Sie lächelte mich süß an und antwortete verschmitzt: "Spätestens am Mittwoch, wenn du Luna von der Schule abholst. Außer wir begegnen uns zufällig, man kann nie wissen."

Ich musste auch lächeln und sagte: "Gute Nacht!" Dann machte ich mich endlich auf den Weg nach Hause und konnte die nächste Begegnung mit ihr kaum abwarten.

19. September

An diesem Tag wachte ich früh auf. Wir wohnten in einer 3-Zimmerwohnung auf 50 Quadratmeter. Das hieß also man hörte jedes Mal, wenn jemand schon wach war. Ich sah auf die Uhr. Es war erst acht Uhr. Ich hörte, wie jemand in der Küche herumkruschte. Das musste meine Mutter sein. Ich presste meine Augen zusammen und steckte den Kopf unter die Bettdecke, aber es war aussichtslos. Ich konnte einfach nicht mehr einschlafen. Ich stöhnte auf, öffnete genervt meine Zimmertür und ging durch das Wohnzimmer. Im Wohnzimmer schlief Luna auf der Ausziehcoach. Sie schlief immer wie ein Stein, aber ich fragte mich jedes Mal, wie sie so friedlich schlafen konnte, wenn direkt neben ihr jemand in der Küche herumhandierte. 

"Danke, dass du mich geweckt hast, Mam!", motzte ich und ich saß mich an den kleinen Tisch in unserer Küche.

Meine Mutter stand am Herd, machte Pfannkuchen und antwortete nicht, aber ich war zu müde, um sie darauf anzusprechen. Ich holte mir einen Teller und wartete bis die Pfannkuchen fertig waren. Als Mam sich umdrehte, sah sie mich nicht an. Sie tat den fertigen Pfannkuchen auf den Teller, sah mich an, versuchte zu Lächeln und streichelte mir kurz über den Hinterkopf. Unter ihren Augen mussten sich über Nacht die dunklen Augenringe und angeschwollenen Tränensäcke gebildet haben. Entweder sie war krank oder sie hatte wieder die ganze Nacht nicht geschlafen. Aber ich tippte auf die zweite Möglichkeit.

Sie drehte wieder ihren Rücken zu mir. Wahrscheinlich hoffte sie, ich würde sie nicht darauf ansprechen. Aber sie war meine Mam und ich machte mir Sorgen. Ich stand auf und legte meine Hand sanft auf ihre Schulter. "Was ist los, Mama?"

"Nichts", schniefte sie. Weinte sie etwa? Ich drehte ihren Körper zu mir und sah sie an. Sie sah wirklich fertig aus, musste aber zum Glück nicht weinen.

"Du musst mir sagen, was los ist!", forderte ich sie auf.

"Ist gut."

Sie setze sich an den Küchentisch und ich mir ihr gegenüber.

"Gestern als du dein Spiel hattest, hat wieder der Vermieter angerufen...", erzählte sie. Oh nein, nicht schon wieder.

"Er schmeißt uns raus, wenn ich die Miete nicht endlich bezahle.", sagte sie und stütze ihren Kopf in ihre Hände. Dann weinte sie. Sie tat mir Leid. Sie war meine Mutter. Ich wollte, dass es ihr gut ging. Ich war unsicher, was ich tun sollte. Die Situation überforderte mich. Ich ließ sie weinen, bis sie in tränendurchströmten Gesicht sagte: "Wir können froh sein, dass wir überhaupt noch hier sind. Würde Pavlo den Vermieter nicht kennen, wären wir weg von Fenster. Ich... Ich will, dass es uns geht und ich enttäusche euch Kinder immer wieder!"

Ich legte meine Hand auf ihre. "Mama, du enttäuschst mich nicht. Du kannst doch nichts dafür, wenn dein Chef so arrogant ist und manchmal keinen Gehalt zahlt. Du musst dir eine andere Stelle suchen!"

"Ich weiß, ich weiß." Sie weinte. Dann sah sie mich an mit einer purer Verzweiflung, die ich selten in ihren Augen sah.

"Versprichst du es mir, Mam?"

Sie nickte. "Ja, ja, ich versprech es dir."

Dann stand ich auf, ging zu ihr und nahm sie in den Arm.

 

Ich machte mich auf den Weg zu Onkel Pavlo. Ich klingelte und er sah mich verwundert an als ich in sein Haus platzte ohne Hallo zu sagen.

"Du musst mit dem Vermieter sprechen!", sagte ich zu ihm.

Sein Blick wechselte von Verwunderung in Verwirrung. Dann von Verwirrung in Erkenntnis.

"Ich kann nicht schon wieder mit ihm sprechen, Leon. Das geht einfach nicht. Der fühlt sich mittlerweile echt verarscht.", sagte mein Onkel.

"Willst du, dass wir auf der Straße sitzen?", fragte ich herausfordend. Ich war etwas sauer. Auch auf ihn, aber mehr auf die Situation, denn die kotzte mich an.

"Nein, natürlich nicht. Maria ist meine Schwester und ich liebe sie. Ich will das Beste für sie und euch. Ihr seid meine Familie, aber er ist Vermieter und er will sein Geld haben. Was soll ich denn machen?"

"Keine Ahnung, dir fällt doch immer was ein!"

"Ich rufe Maria morgen an und spreche mit ihr.", sagt er. "Außerdem muss sie ihren scheiß Job kündigen. Das macht wirklich keinen Sinn mehr."

Paulo kam zu uns in das Wohnzimmer.

"Was ist denn hier los?", fragte er.

"Unwichtig.", erwiderte ich. Ich wollte nicht darüber sprechen. Er würde es ohnehin von Onkel Pavlo erfahren, wenn ich das Haus verließ.

Pavlo verließ den Raum und machte sich auf den Weg zur Toilette. Ich sah Paulo an. Er sah nicht gut aus.

"Wie gehts dir?", fragte ich ihn, weil ich mir Sorgen machte.

"Ich drücke seit einer Woche kein Auge mehr zu, weil ich ständig daran denken muss." Scheiße.

"Ich bin immer noch dafür, dass du es Onkel Pavlo sagst."

"Um ihn noch mehr als eh schon zu enttäuschen?"

"Ja, wird er wahrscheinlich sein.", sagte ich.

"Bist du enttäuscht von mir?", fragte er.

"Nein, das bin ich nicht. Ich verstehs nur nicht. Ich wäre dort geblieben. Du weißt ja nicht, was mit dem Typen in anderem Auto passiert ist!"

Er konnte nicht antworten.

"Sag es deinem Vater!"

"Ich weiß nicht, ob ich das schaffe."

"Sag es ihm. Er wird enttäuscht sein, er wird es nicht verstehen und er wird sauer sein. Aber damit tust du das Richtige."

23. September

Es war Mittwoch. Mein erster Gedanke als ich heute aufwachte war, dass ich heute Mia sehen würde. Ich musste automatisch lächeln, als ich daran dachte. Der zweite Gedanke war meine Mutter und der letzte Gedanke, dass Paulo in riesen Schwierigkeiten steckte und ich ihn diesmal nicht heraushelfen konnte. 

Momentan war ich in der Schule. Ich hatte in der letzten Stunde Deutsch und darin war ich eine absolute Niete. Meine Note tendierte zur fünf und wenn ich die Schulaufgabe, die wir heute rausbekommen würden, verbockt hatte hieß das Stress pur. Stress mit meiner Mutter, Stress wegen Fußball und Stress mit meinem eigenen Kopf. Ich hasste Schule, aber ich musste da noch ein Jahr durch. 

Meine Deutschlehrerin Frau Friedrich war Mitte dreizig. Und auch wenn ich Deutsch hasste, mochte ich sie komischerweise. Gerade lief sie im Klassenzimmer herum und gab die Schulaufgabe raus. Paul hatte seine schon und er hatte wie immer eine zwei. Er war im Gegensatz zu mir gut in der Schule. Ich konnte nur so davon träumen. Als Frau Friedrich zu mir kam, sah ihr Gesicht wenig erfreut aus und ihre Stirn legte sich in Falten. Sie musterte mich skeptisch und legte die Blätter vor mich. Gespannt drehte ich die Schulaufgabe rum und sah eine dicke fette rote fünf in der rechten Ecke stehen. So eine verfickte Scheiße.

"Komm nach der Stunde mal zu mir, Leon!", sagte Frau Friedrich mit besorgter Miene und saß sich an den Pult. Dann fuhr sie mit dem Unttericht fort. "Ich kann dir in deutsch helfen, wenn du willst.", bot Paul an, aber ich hatte die Nase voll. Ich sah ihn böse an. Nicht, weil ich seine Hilfe nicht zu schätzen wusste, sondern weil ich einfach angepisst war und ich etwas von seiner Intelligenz brauchte. Daraufhin hob Paul entschuldigend seine Hände und zuckte mit den Achseln. Ich würde mich schon wieder einkriegen, so wie immer. Für Rest des Unterrichts ließ er mich in Ruhe. 

Deutsch war mir ehrlich gleichgültig, aber der Fußballverein achtete sehr auf die Noten in der Schule. Und wenn meine Noten so absanken, dann dürfte ich erst mal nicht mehr spielen, sobald diese sich nicht verbessern würden. Und wenn ich die Note meiner Mutter beichtete, würde sie wieder meinen Fußball die Schuld dafür geben, weil eine andere sinnvolle Erklärung gab es ja dafür nicht. Auf jeden Fall würde mich Mam an den Ohren packen und zum Schreibtisch ziehen, damit ich durchlernte. 

Nach der Stunde ging ich zu Frau Friedrich. 

"Setz dich, Leon!", bat sie.

"Ich glaub du weißt, warum ich mit dir reden will, oder?", sagte sie.

"Ich schätze schon." 

"Ich mache mir Gedanken um dich. Auch um deine Noten, aber eher deshalb, weil du im Unterricht ganz woanders bist."

Ich fand es komisch, dass sie sich Gedanken machte. Ich war das nicht gewohnt. Normalerweise sahen die Lehrer in mir einen Störenfried und hatten etwas gegen mich. Bei Frau Friedrich hatte ich dieses Gefühl nicht. 

Ich konnte ihr erst keine Erklärung für mein Verhalten liefern. 

"Ist es wegen deinem Fußball? Du scheinst viel Kraft da hineinzustecken." 

"Ja, wahrscheinlich verbringe ich viel Zeit damit. Aber ich spiele in der Bundesliga. Das ist ein Teil von mir und klar platzt mir manchmal der Kopf, aber wegen Fußball leiden jetzt nicht unbedingt meine Leistungen drunter. Ich hab keine Ahnung, was es ist..." 

"Hm..." Frau Friedrich überlegte. "So komisch es klingt, mir ist dein Wohlergehen wichtig. Du hast was im Kopf und ich würde mir wünschen, wenn du versuchst dich auch auf die Schule zu konzentrieren." 

Ich antwortete ihr nicht. Was sollte ich dazu auch sagen? Dass Schule mich ankotzte? Das war wahrscheinlich keine gute Idee. 

 

Ich war auf dem Weg zur Schule meiner kleinen Schwester. Ich freute mich auf das Wiedersehen mit Mia. Das konnte ich jetzt gebrauchen nach all dem Mist, der mir im Kopf herumschwirrte. 

Als ich am Gymnasium ankam, wartete ich diesmal nicht vor dem Eingang, sondern betrat das alte Gemäuer. 

Auf den Gängen war es still. Auf der Suche nach Luna und Mia, entdeckte ich die Beiden hoch konzentriert am Tisch in den Schulgängen sitzen. Ich horte Mias liebliche Stimme und wie geduldig sie Luna immer wieder die Aufgabe erklärte auch wenn sie es immernoch nicht verstand. Ich beobachtete die Beiden kurz und musste lächeln. Mia hatte sich einen geflochtenen Zopf gebunden und trug eine enge Jeans und einen lockeren Pulli. Schon jetzt wusste ich, wie süß sie aussehen würde auch wenn ich sie nur von hinten sah. 

Luna kaute an ihrem Bleistift herum. Dann drehte sie sich zufällig um und begrüßte mich. Auch Mia drehte sich um und sie lächelte mich glücklich an. Luna sagte etwas zu mir, aber ich hatte nur Augen für Mia. Ich kam auf Mia und Luna zu und fragte: "Seid ihr endlich fertig?" 

"Ja, wir machen jetzt Schluss. Genug für heute.", sagte Mia und Luna atmete erleichtert auf und packte flott ihre Schulsachen zusammen. 

"Du siehst hübsch aus", sagte ich zu Mia und legte kurz meinen Arm um sie als wir zusammen mit Luna nach Hause gingen. Ich zog sie ein wenig an mich und sie sah zu mir auf. Es war ein schönes Gefühl sie so nah neben mir zu haben. Ich ließ den Arm aber wieder genauso schnell sinken und strich ihren Rücken bis kurz über ihren Po hinab. 

"Du siehst auch ganz gut aus", neckte sie mich und grinste.

Luna und ich machten extra einen Umweg und brachten Mia nach Hause, wie es sich gehörte. Vor ihrem Haus standen wir uns wieder gegenüber und ich fühlte mich wie ein Idiot, weil ich mich so ungeschickt anstellte. Ich steckte meine Hände in die Jackentasche und trat von einen Fuß auf den Anderen. Dann sah ich Mia an, die mich hoffnungsvoll ansah. Eine Sträne hing ihr über die Stirn und ich hatte das Bedürfnis ihr diese aus dem Weg zu streichen. Ich ließ es aber erst mal bleiben. 

Wenn ich mit Mia zusammen war, da vergaß ich all die Probleme, die mich beschäftigten für eine kurze Zeit. Sie war wie ein Lichtblick in all der Dunkelheit. Ich dachte nicht an meinen Vater, der eigentlich kein Vater war. Ich machte mir keine Sorgen darüber, wie es meiner Mutter generell und unseren Finanzen ging. Ich grübelte nicht nach über die Schule und Fußball und Paulo und seine Schwierigkeiten traten ebenso in den Hintergrund. Mia erinnerte mich an einen Sonnenuntergang. Letztes Jahr in Italien als ich am Strand saß, beobachtete ich einen Sonnenuntergang. Ich sah in den Sonnenuntergang eine Art Lichtblick. Eine so atemberaubende Schönheit, die unterging und mich einen Moment von meinen Problemen erlöste bis ich am nächsten Tag wieder von der Dunkelheit überwaltigt wurde. 

Ich war jung und ich war siebzehn und ich hatte keine Ahnung von Gefühlen oder Beziehungen. Aber ich wusste, was es bedeutete, wenn man einen Menschen in sein Leben ließ. Man wurde verlassen. So war ich das gewohnt seit meiner Kindheit. Ich war fasziniert von Mia. Sie wirkte so verletztlich auf mich, wenn ich in ihre Augen sah. Auf eine gute Art und Weise. 

"Wir müssen was zusammen unternehmen!", sagte ich zu ihr. 

"Was denn?", fragte sie. 

"Wie wärs, wenn wir am Wochenende spazieren gehen?" 

"Das klingt gut. Tauschen wir Nummern aus?" 

Ich nickte und sie gab mir ihre Nummer. 

Ich sah zu Luna, die gelangweilt neben uns stand und das Zenario beobachtete. 

Zum Abschied nahm ich sie in den Arm. Sie schmiegte sich an mich. Als wir uns voneinander lösten, strich ihr diese Strähne aus dem Gesicht, ganz automatisch. Sie sah mich voller Wärme an. Dann nahm ich Lunas Hand und wir gingen nach Hause. 

 

Als Luna und ich zu Hause ankamen, war meine Mutter noch in der Arbeit. Sie würde in zwei Stunden zu Hause sein. Ich machte Luna und mir Nudeln mit Pasta. Als wir im Wohnzimmer saßen und unser Essen mampften fragte Luna: "Was ist mit Mama los?" 

Ich hätte nicht gedacht, dass ihr das sonderlich auffällt. Andererseits war sie auch sehr klug, deshalb wunderte es mich wenig. Ich machte eine Pause beim Essen und sagte ihr: "Mama geht's nicht gut. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, weil sie das hinkriegt." 

"Was hinkriegt?" 

"Das erkläre ich dir wann anders." 

Ich wusste, dass Luna wusste, dass ich nicht die ganze Wahrheit erzählte. Aber ich wollte meine Schwester beschützen. Sie sollte sich keine Sorgen machen, wenn ich es sowieso schon tat. 

Nach drei Stunden war Mama immernoch nicht zu Hause. Ich rief sie an, aber sie ging nicht ran. Ich war etwas sauer, denn ich musste zum Fußballtraining. Ich wollte Luna ungern alleine lassen. Sie hasste es alleine zu sein. Als sie um siebzehn Uhr noch nicht da war, machte ich mir langsam Sorgen. Um 17.30 Uhr packte ich meine Fußballtasche. Ich hinterließ eine Nachricht auf ihrer Mailbox. Nichts. Sie kam nicht nach Hause. 

Luna saß im Wohnzimmer und sah Fern. 

"Ich lasse dich ungern allein.", sagte ich zu meiner kleinen Schwester. 

"Ja, aber jetzt geh. Du musst ins Training." 

Ich setzte mich neben sie und wartete noch zwanzig Minuten, ob unsere Mutter kommen würde. 

"Hast du schon Freunde in der Schule gefunden?" 

Sie schüttelte den Kopf. "Die sind alle doof." 

"Warum? Ärgern sie dich?" 

Sie schüttelte wieder ihren Kopf. "Ich bin anders." 

Das wusste ich. "Und das ist auch gut so!" 

Sie erwiderte nichts und wechselte den Sender. 

Ich machte mich auf den Weg und war stinksauer auf Mam. Sie hätte wenigstens bescheid geben können. 

Dummerweise kam ich auch noch zu spät und mein Trainer hasste Unpünktlichkeit. 

Ich rannte zum Fußballplatz, aber alle anderen trainierten schon. 

"Ich wills jetzt gar nicht wissen, Leon.", sagte Mike und würdigte mich keines Blickes. "Jetzt lauf erst mal ein paar Runden", meinte er. Ich nickte und lief los. Als wir uns dehnten, flüsterte Paul: "Wo hast du gesteckt, Mann?" 

"Ist egal." 

"Mike wird es nicht so egal sein!" 

Das wusste ich. 

Das Training war heute gut. Ich hatte das Gefühl, dass es Mike besonders auf mich abgesehen hatte und das passte mir gar nicht. 

"Tut mir Leid, dass ich zu spät gekommen bin!", sagte ich Mike nach dem Training. Er sah mich sauer an und ich konnte ihn verstanden. Er dachte, ich würde das nicht ernst genug nehmen, aber das Gegenteil war der Fall. 

"Wenn du schon zu spät kommst, dann hinterlass doch eine Nachricht, damit ich Bescheid weiß!"

"Ich weiß, hab nicht dran gedacht..." 

"Was ist los? Wenn du Probleme zu Hause hast, dann rede mit mir. Ich bin dein Trainer." Ja, er war mein Trainer, aber er würde es nicht verstehen. Es war nichts neues, dass ich zu Hause Schwierigkeiten hatte. Mike war das bekannt, aber ich wollte nicht mit ihm über meine Familie sprechen. 

"Es tut mir Leid. Es kommt nicht noch mal vor!", sagte ich nur. Er war angepisst. Das sah ich ihm an. Ich hoffte nur er würde mir jetzt keinen Vortrag halten. Zum Glück ließ er es dabei belassen und ich machte mich auf den Weg in die Kabine. Ich lief an Steffen, meinen Co-Trainer vorbei. 

"Wer hat dich denn überfahren?", rief er mir zu und lachte. Mir war jetzt nicht zum Spaßen zumute. Also sagte ich nur sauer: "Kannst ja Mike fragen!" 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.04.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für all die, die tapfer und mutig sind

Nächste Seite
Seite 1 /