Das, was mich am meisten an ihm faszinierte, war seine Inszenierung der Imitation einer Perfektion, die in sich selbst perfektioniert war, obwohl er selbst genau wusste, dass Perfektion eine fiktive Einheit ist. Er spielte ein Spiel, welches er sich selbst ausgedacht hatte. Sein Fundament war seine Unantastbarkeit. Sein Spiel zog mich unweigerlich in seinen Bann, ich konnte dem nicht entkommen. Er allein hatte die Fähigkeit, ein Gefühl in mir zu erwecken, welches ich nie beschreiben konnte. Er allein war es, der jeden meiner Gedanken zu einer moralischen Unmöglichkeit verformte. Sein Lächeln zog in mein Herz ein, als würde es nur dafür schlagen. Und immer, wenn ich einen Fehler in seiner gespielten Perfektion bemerkte, wurde er für mich zu etwas Wertvollem. Immer, wenn du kleine Makel gezeigt hast, wusste ich umso mehr, was ich für dich empfand. Und je mehr Zeit verging und je mehr Fehler ich in seiner Inszenierung entdeckte, umso stärker und unweigerlicher wurde das Gefühl, dass ich ihm gehören musste. Und ich wollte ihm gehören. Und ich will ihm gehören.
Als ich sechzehn Jahre alt war, war ich niemand. Ich hatte nichts und ich wollte auch nichts. Meine Zukunft war ein mir unbekanntes Phänomen und ich habe mir darüber den Kopf nicht zerbrochen. Aus mir würde etwas werden, ich wollte studieren. Ich wusste nur noch nicht, was ich studieren wollte. Ich führe eine mehr oder minder glückliche Beziehung mit einem suizidgefährdeten, jungen Mann, der stolze sieben Jahre älter war als ich. Natürlich schaute man mich für diese Beziehung schief an, aber ich war glücklich – solange sich mein Partner nicht selbst verletzte. Meine Eltern waren seit zwölf Jahren getrennt und ich hatte mich längst damit abgefunden. Ich war eine Frühentwicklerin, die allen anderen Mädchen um etwa drei Jahre voraus war. Meine Freunde waren alle mindestens fünf Jahre älter als ich. Aber meine Freunde waren mir gar nicht so wichtig. Was wirklich gezählt hat, war meine Beziehung, unter der alle anderen sozialen Kontakte litten.
Nun war es jedoch an der Zeit, sich einer neuen Herausforderung zu stellen. Die zehnte Klasse neigte sich dem Ende zu und ich sollte meine Kurse für die elfte Klasse wählen. Das System schien kompliziert: Wir sollten uns für zwei Leistungskurse und elf Grundkurse entscheiden. Für die Entscheidungen hatten wir strenge Regeln: Wir mussten entweder Deutsch oder Mathematik als Leistungsfach belegen – eins von beiden aber niemals beide. Unser zweiter Leistungskurs konnte Englisch, Chemie, Physik oder Geschichte sein. Ich wählte Deutsch und Englisch, weil ich in Sprachen gut war – naturwissenschaftlich aber gänzlich unbegabt. Dann konnte ich aus vier Grundkursen zwei Stück wählen: Gemeinschaftskunde, Geographie, Informatik und Astronomie. Ich entschied mich für Gemeinschaftskunde und Informatik. Meine weiteren Fächer waren Biologie, Geschichte, Chemie, Sport, Kunst, Religion, Physik und Französisch. Daraus setzten sich 35 Wochenstunden zusammen: Jeweils fünf in Deutsch und Englisch, 4 in Mathematik, 3 in Französisch und zwei Stunden in allen weiteren Fächern.
Auch das Notensystem wurde verändert: Statt normalen Schulnoten sollten wir nun Notenpunkte sammeln. Man konnte zwischen 15 Punkten, was einer 1+ entsprach, und 0 Punkten, einer 6, alles erreichen. Fünf Notenpunkte galten als eine „magische Grenze“, die man erreichen sollte, um ein Fach zu bestehen. Wenn man weniger als fünf Punkte erreichte, galt das Fach als „unterpunktet“. Man durfte in vier Halbjahren insgesamt 12 mal unterpunkten, um am Ende das Abitur schreiben zu dürfen.
Bisher war ich ohne große Komplikationen durchgekommen. Ich hatte noch nie wirklich gelernt, war mit meinen Noten weder zufrieden noch unzufrieden und hatte keine wirkliche Perspektive. Seit einem anderthalben Jahr war ich mit meinem Freund zusammen, wollte mit ihm zusammenziehen, ihn heiraten, eine Familie gründen und den Rest meines Lebens mit ihm verbringen. Die Schule war eher nebensächlich. Da in der elften Klasse aber jeder einzelne Notenpunkt zählen würde, war ich mir sicher, dass eine große Veränderung auf mich zukam. Wir schrieben pro Halbjahr ungefähr vierzehn Klausuren und dreißig Leistungskontrollen. Die Zeit dafür war knapp bemessen, der Stoff kompliziert. Ich wusste, dass ich für die Beziehung weniger Zeit haben würde – obwohl ich bisher jedes Wochenende und sämtliche Ferientage bei meinem Freund verbrachte. Es war eine Umstellung, die mich erwartete, die ich aber längst nicht so ernst nahm, wie sie es eigentlich verdient hatte. Ich wusste, wo meine Stärken lagen und wo ich schwach war. Naturwissenschaften waren meine größte Schwäche – ich hatte in Mathematik, Physik und Chemie schlechte Noten. Aber ich begnügte mich mit der Ausrede, dass „das einfach nicht mein Ding“ war und ich „es nie verstehen“ würde.
In den Sommerferien kam es zu einer Situation, deren Bedeutung ich erst viel später erkannte. Mein bester Freund, A. holte meinen Freund und mich aus der Wohnung meines Freundes ab und fuhr uns zu der Wohnung meines Vaters. Wir wohnten ungefähr dreißig Kilometer entfernt voneinander. An diesem Tag erschien ein Gesamtstundenplan auf der Homepage meiner Schule und ich konnte darin sehen, welche Lehrer für meinen Jahrgang zur Verfügung standen. Ich wusste nur noch nicht, welche von denen meine werden würden. A. hatte die Schule selbst besucht und drei Jahre zuvor seinen Abschluss dort gemacht, weswegen er die Lehrer kannte. Ich erzählte ihm, was auf mich zukommen konnte: „Mathematik werde ich entweder bei Herrn V. oder Herrn N. haben. Ich hoffe, wir können das selbst entscheiden – ich kenne Herrn N. nicht und hätte lieber bei Herrn V.“.
A. schaute mich verdutzt an. „Herr N. soll ein total guter Lehrer sein. Bei uns waren damals alle, die bei ihm hatten, mindestens drei Notenpunkte besser als wir. Ein Freund von mir, der vorher viel zu blöd für Mathe war, hatte im Abitur sogar zwölf Notenpunkte“. Das überraschte mich, aber schließlich kannte ich ihn wirklich nicht. Ich wusste, dass er stellvertretender Schulleiter war und die Stunden- und Vertretungspläne schrieb. Er hatte ein eigenes Büro neben dem Sekretariat. Ich hatte ab und zu mit ihm gesprochen, wenn ich Fragen zum Vertretungsplan hatte, aber sein Gesicht kannte ich nicht wirklich. „Wir werden ja sehen, wer mein Lehrer wird. Ich bin gespannt“, sagte ich an diesem Tag zu meinem besten Freund und dann wechselten wir das Thema. Mein Freund war eifersüchtig auf A., hatte ständig Angst, dass ich ihn betrügen würde. Deswegen konnte ich A. nur sehr selten sehen. Eigentlich war mein Freund eifersüchtig auf alles und jeden; ich sollte ihm allein gehören.
Die Sommerferien vergingen nicht so schnell wie sonst. Ich wollte meinem Freund zwar immer treu sein, verliebte mich aber in einen Jungen, der über 400 Kilometer von mir entfernt wohnte. Ich kannte weder seine Stimme noch hatte ich ihn je gesehen. Aber ich verliebte mich im Frühjahr, ohne es zu wollen. Im Sommer wurde mir bewusst, dass ich unglücklich mit meinem Freund war, da er mich einsperrte. Ich gehörte ihm, nicht mir selbst. Vielleicht verliebte ich mich deswegen in einen Anderen. Vielleicht wollte mein Herz, dass ich mich befreie.
Kurz vor Ende der Sommerferien war ich so unglücklich in meiner eigenen Beziehung, dass ich kurz davor war, meine Sachen zu packen und zu ihm zu fahren. Er meldete sich nicht mehr bei mir; ich wusste nicht, warum. Schließlich, nachdem ich fast eine Woche auf seine Antwort gewartete hatte, schrieb er mir: „Ich habe jetzt eine Freundin, tut mir Leid“. Es brach mein Herz. Obwohl ich den Jungen nicht kannte und obwohl er sowieso unerreichbar war, brach es mein Herz. Ich weinte fast ununterbrochen und die Zeit zog sich wie Kaugummi. An dem Tag, an dem er mir das erzählte, verlor ich die Fähigkeit, zu fühlen. Ich war nicht mehr glücklich und ich war sehr bald auch nicht mehr traurig. Ich empfand keinen Schmerz und keine Aufregung mehr, keinen Hass und keine Liebe. Die Welt war grau und sinnlos. Ich lebte weiter in der Beziehung, verbrachte die restlichen Tage der Sommerferien mit meinem Freund, kaufte mir Schulsachen. Es gab keine Höhen und keine Tiefen mehr und schließlich begann die Schulzeit wieder, die sich in die graue Masse der Sinnlosigkeit einreihte. Es gab einen Jungen, der in mich verliebt war und der mir das unter Tränen am Telefon gestand. Es ließ mich kalt. Ich empfand weder Rührung noch Mitleid. Mein Herz war gebrochen.
Nun war es also soweit, dass der erste Schultag begann und ich alle wiedersah, die ich immer schon gesehen hatte. Wir durften uns eine Rede von Herrn B. Anhören – dem Schulleiter. Seine Worte waren eher ernüchternd als motivierend; er war alt und krank, hatte keine Freude mehr am Leben. Seine monotone Stimme füllte die Aula der Schule, in der mein Jahrgang Platz nahm. Er zeigte uns die Ergebnisse vorangegangener Abiturprüfungen, erklärte uns, wie stressig die Zeit werden würde, die vor uns lag und dass wir einen Großteil unserer Freizeit für die Schule opfern sollten, wenn wir gute Noten erreichen wollten. Nach dieser Rede sollten wir uns bei unseren Tutoren einfinden, denen wir in den Sommerferien zugewiesen wurden. Meine Tutorin war eine freundliche Dame, die aber sehr krank war. So krank, dass sie einige Wochen nach Schuljahresbeginn ausfiel und wir dann eine ganze Weile über gar keinen Tutoren hatten.
Nach unserer Tutorenstunde hatten wir noch normalen Unterricht – jeder hatte andere Fächer. Ich sollte noch Gemeinschaftskunde, Sport und Physik haben. Gesellschaftskunde mochte ich eigentlich immer, bekam aber ausgerechnet die Lehrerin, bei der die Chemie einfach noch nie gestimmt hatte. Sie war gleich unfreundlich zu mir und ich begann schnell, meine Fachwahl zu bereuen. Stattdessen hätte ich vielleicht Astronomie wählen sollen. Sport hat mir zumindest Spaß gemacht, obwohl ich gänzlich unsportlich war. In Physik habe ich gar nicht durchgesehen. Wir hatten eine junge Referendarin, die versucht hat, uns den Stoff locker und jugendlich rüberzubringen – was mit einer sechsten Klasse sicher gut funktioniert hätte, mit einer elften aber einfach nur schief ging. Der Tag war schnell vorbei und sehr aufregend – die Rede des Schulleiters begleitete mich auch nach Hause und brachte mich zum Nachdenken. Ich musste mich nun wirklich anstrengen und war mir sicher, dass ich die elfte Klasse nicht in meinem alten Trott überstehen konnte. Es würde hart werden und ich war mir unsicher, ob ich es überhaupt schaffen würde. Aber ich wollte schließlich studieren und brauchte dafür ein gutes Abitur. Ich musste nur noch herausfinden, was ich eigentlich studieren wollte.
Bereits nach einem kurzen Blick auf meinen Stundenplan wurde mir klar, dass Dienstage nicht meine Lieblingstage werden würden. Ich hatte erst Mathematik, dann Chemie, Englisch, Deutsch und Französisch. In Mathematik und Chemie war ich seit jeher eine Niete und das würde mit Sicherheit so bleiben. Englisch mochte ich zwar, in Deutsch bekam ich allerdings Frau S. - die schlimmste Deutschlehrerin, die ich mir vorstellen konnte. Ich hatte in den Jahren zuvor bei ihr Geschichte und kannte sie deswegen schon gut. Vor ihr hatte ich richtige Angst, weinte sogar manchmal deswegen. Von meiner guten Note in Deutsch konnte ich mich verabschieden.
Französisch war eine Sprache, mit der ich mich noch nie anfreunden konnte. Ich hätte lieber Latein gemacht, was ich allerdings nicht belegen durfte.
So kam ich an jenem ersten Dienstag des Schuljahres mit gänzlich fehlender Motivation in den Unterricht. Zu meiner Überraschung war Herr N. mein Lehrer in Mathematik. Ich war gespannt, ob A. Recht behalten würde und ich jetzt plötzlich auch gut in dem Fach werden würde. Der Lehrer stellte sich vor unseren Kurs und musterte uns aufmerksam. Er war um die fünfzig Jahre alt, hatte bereits graues Haar. Seine blass blauen Augen wirkten ernst und berechnend. Er schien generell ein sehr ernster Typ Lehrer zu sein – bei ihm würde es keine Späße geben.
„So...“, sagte er und verschränkte die Arme, „Ihr seid also die Mutigen, die das, was der Leistungskurs in fünf Wochenstunden bewältigt, in vier schaffen wollt?“. Ich schluckte. Nein, so war der Plan eigentlich nicht. Ich habe den Mathe-Grundkurs gewählt, damit ich meine Ruhe habe. Er forderte uns daraufhin auf, zu erzählen, wie unsere vorherigen Noten ausgesehen haben und wer unsere Lehrer gewesen sind. Mein vorheriger Lehrer in diesem Fach war ein komischer Kauz. Ich mochte ihn, er ist zuvor mein Klassenlehrer gewesen. Aber gelernt habe ich bei ihm nicht viel, weil er sehr kompliziert war. Kurz vor der Zeugnisausgabe musste ich einen Vertrag bei ihm unterschreiben. Ich stand auf 3,5 und um die 3 zu bekommen, musste ich schwören, in der Sekundarstufe 2 kontinuierlich zu lernen, Hausaufgaben zu erledigen und Wissenslücken (die ja reichlich vorhanden waren) zu füllen. Dafür bekam ich also gerade so noch eine 3.
In der restlichen Stunde wiederholten wir einiges. Unser erstes Themengebiet hieß „Analysis“ und ich konnte mir darunter noch nicht viel vorstellen. Wir wiederholten, wie man den Verlauf eines Grafen an der Funktionsgleichung ablesen konnte und erinnerten uns an einige Eigenschaften wie die Monotonie, Nullstellen oder Polgeraden. Ich war selbst damit schon überfordert.
Dementsprechend froh war ich, als die Doppelstunde vorbeiging – wäre da nicht der restliche Dienstag gewesen. Jedoch nahm der Tag seinen Lauf und ich ließ mich nicht wirklich beeindrucken. Noch immer war mein Herz kalt und noch immer empfand ich nichts. So vergingen einige Wochen, an deren Wochenenden ich immer bei meinem Freund war, obwohl ich nichts mehr für ihn empfand. Drei Wochen nach Schuljahresbeginn sollte ich mir der ersten Herausforderung stellen: Einer Leistungskontrolle. Natürlich in Mathematik. Natürlich mit einem schlechten Ergebnis. Es hatte sich nichts geändert: Ich erreichte gerade so sechs Notenpunkte, eine 4+. Natürlich war ich darüber etwas enttäuscht, schließlich hatte ich ja gehofft, dass der neue Lehrer meine Noten verbessern würde. Aber es lag letztlich wohl doch an mir und meiner Unfähigkeit, Naturwissenschaften zu verstehen. Die Zeit verstrich weiter, der September endete, der Oktober kam und damit auch ein Tag, der mir Bauchschmerzen bereitete: Wir sollten eine Klausur in Englisch schreiben, die erste Klausur überhaupt. In Englisch. Wir hatten aber schon seit Anfang September kein Englisch mehr. Herr N., der den Vertretungsplan schrieb, hatte dort eingetragen, in welchem Zimmer wir die Klausur schreiben würden und wer uns beaufsichtigen sollte. Kein Schüler unserer Tutorengruppe wusste, warum wir eine Klausur in einem Fach schreiben mussten, welches wir gar nicht hatten. Wir fanden uns zitternd in dem Zimmer ein und warteten. Vorerst kam niemand. Es klingelte, die Klausur sollte beginnen, kein Lehrer zeigte sich. Wir wurden nervös. Die Betreuerin erschien nicht. Stattdessen betraten zwei Herren den Raum, sichtlich verlegen. Einer von beiden war Herr N., der andere war unser Oberstufenberater. Der stellvertretende Schulleiter sah uns an, mit seinem ernsten, kühlen Blick. „Es tut mir Leid. Uns ist ein Fehler unterlaufen. Ihr seid in Vergessenheit geraten und uns ist nicht aufgefallen, dass ihr schon seit Wochen weder Englisch noch eine Tutorin hattet. Deswegen schreibt ihr die Klausur heute selbstverständlich nicht“, sagte er. Erleichterung. „Hiermit möchte ich euch aber noch eure neue Ersatzmutti vorstellen“, er deutete auf seinen Begleiter, der beschämt zu Boden sah. Ersatzmutti? Hatte er gerade versucht, witzig zu sein? Ich verstand plötzlich, warum es gut war, dass er sonst immer so ernst war. Humor schien nicht seine Stärke zu sein.
Die erste Klausur fand somit erst eine Woche später statt, in Deutsch. Ich schrieb in der Klausur sieben Notenpunkte, eine 3-. Ich hatte also recht – von meiner guten zwei konnte ich mich wirklich verabschieden. Die Klausur in Mathematik lieferte dasselbe Ergebnis wie die Leistungskontrolle zuvor. Dann waren endlich Ferien und ich konnte den Schulalltag hinter mir lassen. Wieder wohnte ich bei meinem Freund und wieder war es mir egal. Ich war weder glücklich noch unglücklich. Zwar verspürte ich oft den Wunsch nach etwas Neuem und mehr Freiheit, aber ich war den Trott gewöhnt und so vergingen die zwei Wochen schnell.
Die Tage wurden immer kürzer, der November begann und damit auch die Schule. Es war eine graue Zeit, in der mein Selbstbewusstsein immer geringer wurde. Ich versank im Unglück der Sinnlosigkeit und fühlte mich, nach einer langen Zeit ohne Gefühle, hilflos. Es reihten sich Leistungskontrollen an Klausuren und Projekte an Gruppenarbeiten. Eine weitere Kontrolle in Mathematik folgte, in der ich zumindest sieben Notenpunkte erreichte. Wenn ich nach der Schule heim kam, war ich oft einsam. Ich wohnte bei meinem Vater, der sich aber nicht um mich kümmerte. So war mein Wellensittich oft mein einziger Gesprächspartner und die Stunden vergingen nur langsam. Meistens spielte ich Computerspiele und telefonierte dabei mit meinem Freund. Gelernt habe ich nicht. Hausaufgaben habe ich nur ab und zu erledigt. Ich war lustlos und empfand den Wunsch danach, die Sinnlosigkeit meines Alltages zu beenden.
Schließlich, im Dezember, kam der Tag, an dem ich mich entschied, alles zu verändern. Ich rief meine Mutter an. Mein Verhältnis zu ihr war ambivalent. Natürlich liebte ich sie, sie war ja meine Mutter. Aber eigentlich verstanden wir uns nicht gut und stritten uns ständig. An diesem Tag traf ich allerdings eine Entscheidung, die mein Leben verändern würde: „Mama, ich will hier nicht mehr wohnen. Kann ich zu dir ziehen?“, fragte ich sie. Sie stimmte sofort zu und wenige Stunden später waren die nötigsten meiner Sachen gepackt, mein Stiefvater holte mich ab und ich verließ diese Wohnung. Ich schrieb einen Brief an meinen Vater, in dem ich erklärte, wie unglücklich ich bei ihm war. Bei einer Größe von hundertsechzig Zentimetern lag mein Gewicht bei lächerlichen fünfundvierzig Kilogramm. Mein Vater hatte mich zwei Jahre lang nur mit Tiefkühlkost ernährt – zum Großteil Pizza. Ich war krank davon geworden. Nun wollte ich alles ändern, zog zu meiner Mutter und wollte ein neues Leben beginnen.
Gleich nach meinem Umzug kamen allerdings die Weihnachtsferien, die ich erneut bei meinem Freund verbrachte und über die Zeit bei seinen Eltern wohnte. Kurz vor Silvester fuhren wir wieder in die Wohnung meines Freundes, die er sich mit einem weiteren Studenten teilte. Ich war – trotz dessen, dass ich meinen Freund nicht mehr liebte – eine romantische Natur. Ich wünschte mir, von ihm ins neue Jahr geküsst zu werden. Am liebsten wäre ich mit ihm weggefahren und hätte die Silvesternacht nur mit ihm allein verbracht. Stattdessen blieben wir bei ihm und seine Wohnung füllte sich prall mit Besuch. Alle lachten, tranken und spielten Konsolenspiele. Romantik war nicht in Aussicht. Kurz vor null Uhr wollte mein Freund sich mit mir in sein Zimmer zurückziehen und romantische Minuten mit mir verbringen, meine Stimmung war allerdings bereits gekippt und ich konnte nicht mehr entspannen. So schlief ich schnell und schlechtgelaunt ein, hoffte darauf, dass es im nächsten Jahr besser werden würde.
Der Junge, der in mich verliebt war, besuchte mich zu Beginn des neuen Jahres. Ich liebte ihn nicht und hatte auch nicht vor, ihn zu lieben. Aber ich wollte ihn gerne kennenlernen. Mein Freund war davon nicht begeistert. Natürlich wollte der Junge mich küssen und natürlich lehnte ich ab. Natürlich fuhr ich zurück zu meinem Freund und er zurück in seine Heimat. Aber natürlich war mein Freund so eifersüchtig, dass ich von ihm nur angeschrien wurde. Er verletzte mich gezielt, weil ich ihn ebenfalls verletzt hatte, obwohl das so nicht meine Absicht gewesen ist. Und natürlich endeten die Ferien in einer wahnsinnigen Enttäuschung und in Unglück.
Es war Zeit, dass die Schule wieder anfing.
Nachdem sich das Unglück des Endes der Weihnachtsferien etwas abkühlte, war ich aufgeregt, weil zwei besondere Ereignisse auf mich warteten: Der zweite Jahrestag der Beziehung und mein siebzehnter Geburtstag. Der Jahrestag fiel auf einen Montag, was relativ unerfreulich war. Mein Freund musste in die Universität, ich in die Schule. Wir trafen uns am frühen Abend in dem Café, in dem wir auch unser erstes Date verbracht hatten. Ich hatte gehofft, dass er danach wenigstens noch mit zu mir kommen würde, damit wir eng umschlungen einschlafen konnten. Stattdessen fuhr er nach kurzer Zeit wieder nach Hause und ich tat es ebenso. So trennten uns an jenem Abend dreißig Kilometer und wir waren nicht zusammen. Ich war enttäuscht darüber, aber steckte es weg. Obwohl ich nicht viel für meinen Freund empfand, war es mir wichtig, dass wir eine schöne Beziehung miteinander verbrachten. Ich hatte gewisse Ansprüche an unser Zusammenleben.
Auch mein Geburtstag hatte einen bitteren Beigeschmack. Ich wusste, dass ich um 11.47 Uhr zur Welt gekommen war. Von 11.20 Uhr bis 12.50 Uhr schrieben wir eine Klausur. Selbstverständlich in Mathematik. In mir wurde ein Gefühl wach, welches mir sagte, dass mein Problem mit diesem Fach persönlicher Natur war. Natürlich, es war nur ein Schulfach. Aber ausgerechnet an meinem Geburtstag und ausgerechnet inklusive meiner Geburtsstunde? Ich überließ die Dinge nur ungern dem Zufall. Auch in dieser Klausur erreichte ich sieben Notenpunkte und stand damit offiziell auf Kippe. Es lag in Herrn N.'s Ermessen, mir die bessere oder schlechtere Note zu geben. Zeugnisse gab es jedoch erst im Februar.
Der Rest meines Geburtstages war ebenfalls nicht so erfreulich, wie er hätte sein können: Mein Vater besuchte mich und machte nebenbei eine Freundin von mir an. Ich schämte mich dafür, dass er mein Vater war und ich war erschöpft von der Klausur. Der Tag verging und blieb mit dem bitteren Beigeschmack in meinem Gedächtnis hängen.
Dann war alles wieder alltäglich, bis wir unsere Zeugnisse bekamen. Inzwischen hatten wir eine neue Tutorin, die aber nicht anwesend war. Deswegen bekamen wir unsere Halbjahreszeugnisse von unserer „Ersatzmutti“, wie Herr N. so schön gesagt hatte. Mein Zeugnis war weder gut noch schlecht und entsprach meinen Erwartungen. Mein Durchschnitt lag bei 2,9. In Mathematik hatte ich die bessere Note bekommen, was mich – obwohl es nur eine 3- war – freute.
In den Ferien wohnte ich diesmal nicht bei meinem Freund, sondern blieb in meiner Heimat. Ich begann mit der Fahrschule. Der Cousin meines Vaters war Fahrlehrer und ließ mich etwas günstiger an seinem Unterricht teilnehmen. In den Winterferien hatte ich eine ganze Woche lang Theorieunterricht bei ihm. Es war anstrengend, da in meinem Kurs auch viele Leute aus meinem Jahrgang waren, die ich gar nicht mochte. Ich redete dort mit niemandem und folgte immer nur aufmerksam dem Unterricht. Das war das erste Mal, dass ich aktiv lerne. Noch bevor ich den Theorieunterricht abschloss, hatte ich meine erste praktische Fahrstunde und war so aufgeregt wie noch nie. Ich war relativ klein und umso nervöser, als ich das vergleichsweise große Auto vor mir sah. Noch nie zuvor saß ich am Steuer, es war mein erstes Mal. Plötzlich war alles ganz einfach – viel einfacher, als ich es mir vorgestellt habe. Ich drehte nur drei Runden um eine alte Lagerhalle und fuhr dann direkt auf die Bundesstraße. So nervös ich auch war, fühlte ich mich gut und frei. Ich hatte erstmals das Gefühl, erwachsen zu werden.
Eine Woche später erfüllte mein Freund mir einen großen Wunsch und fuhr mit mir in die Stadt zu einer Musicalshow. Ich liebte Musicals und hatte zwei Lieblingssänger, die an diesem Abend gemeinsam auftraten. Wir trafen an diesem Abend eine Cousine meines Vaters, die ich sehr mochte und gingen danach noch mit ihr in eine Bar. Ich war nervös, weil ich noch nicht volljährig war. Aber wir genossen den gemeinsamen Wein und ließen den Abend wunderbar ausklingen. Ich fühlte mich wie eine Prinzessin. Dann übernachtete ich mit meinem Freund in einem Hotel.
Am nächsten Morgen überkamen mich Zweifel über meine Zukunft. Vorher dachte ich, dass ich nach der Schulzeit zu meinem Freund ziehen und in einer naheliegenden Stadt studieren würde. Plötzlich fragte ich mich, ob ich das überhaupt wollte. Ich diskutierte lange mit meinem Freund darüber und am Ende blieb nur die Unsicherheit.
Auf das eigentlich schöne Wochenende folgte eine Woche, die mir das Leben schwer machen wollte. Eine Leistungskontrolle in Physik machte den Anfang, die ich natürlich komplett versemmelte. Dann musste ich in Deutsch eine Sinnlos-Rede darüber halten, wie Fliegen Wirbelstürme verursachen – mit dem Appell, mehr Insektenspray einzusetzen und noch dazu kam ein unnötiger Vortrag in Englisch, für den ich viel zu wenig Zeit hatte. Die Krönung brachte eine weitere Klausur in Mathe. Warum eigentlich immer Mathe? Ich hatte zwar inzwischen etwas mehr Durchblick, war mir aber sicher, dass es auch dieses Mal mehr als nur schiefgehen würde. Zugegeben, nach der Arbeit hatte ich ein gutes Gefühl. Aber das musste nichts heißen.
Die ganze Zeit über lernte ich für meine nahende, theoretische Prüfung in der Fahrschule und war sehr nervös – schließlich kostete sie Geld. Es war das erste mal, dass ich überhaupt intensiv lernte. Eine Woche, nachdem wir die Klausur in Mathematik geschrieben haben, sollte ich mich dieser Herausforderung stellen. Ich ging an diesem Donnerstag vorher noch in die Schule und hatte selbstverständlich auch Mathematik. Herr N. gab uns unsere Klausuren zurück – natürlich an dem Tag, an dem ich noch die Prüfung schreiben musste. Das Gefühl, dass das Fach ein persönliches Problem mit mir hat, bestätigte sich. Er legte meine Arbeit auf meinen Tisch, lächelte kurz und ging weiter. Neun Notenpunkte. Eine 3+.
Echt jetzt? Jetzt nahm ich meine Arbeit genau unter die Lupe und tatsächlich, ich fand etwas: In einer Aufgabe war mein Ansatz zwar falsch, das Ergebnis aber (mit meinem Ansatz gerechnet) richtig. Nach der Stunde ging ich zu meinem Lehrer und erklärte ihm, dass ich da einen Folgefehler erkenne. Er diskutierte beinahe fünfzehn Minuten mit mir und wollte mich scheinbar testen. Ich musste ihm meinen Ansatz ganz genau erklären und erzählen, was ich mir bei der Extremwertaufgabe gedacht habe. Er musterte mich kritisch und brachte schließlich einen Satz über seine Lippen, der alles für immer verändern würde: „Ich schätze dich eigentlich nicht als Zweierkandidatin ein, L“. Das bedeutete für mich: Herausforderung.
Am Ende gewann sein großes Herz und er gab mir den einen Punkt, der zu 10 Notenpunkten noch gefehlt hatte, unter einer Voraussetzung: Ich musste ihm versprechen, besser mitzuarbeiten. Super, der nächste Vertrag mit einem Mathelehrer in nicht einmal einem Jahr und wieder ging es um die bessere Note. Aber immerhin, eine 2 in Mathe, endlich! Ich war zufrieden und ging wieder zu meinen Freunden. Seine Worte beschäftigten mich allerdings noch länger.
Kurz vor der Theorieprüfung hüpfte mein Herz im Dreieck, so aufgeregt war ich. Ich betrat den Raum, beantwortete die Fragen und war schon daran, zu resignieren. Bei vielen Aufgaben war ich mir unsicher, manchmal entschied das Bauchgefühl. Als ich abgegeben habe und zu dem Prüfer ging, lächelte er mich an: „Sie sind die beste von allen – 0 Fehler – Glückwunsch!“, sagte er fröhlich. Ich war glücklich – gleich zwei gute Ergebnisse an nur einem Tag.
Nur zwei Wochen später schrieben wir schon wieder eine Leistungskontrolle in Mathematik, die ich auf Anhieb mit sagenumwobenen elft Punkten abschloss. Ich war stolz, schließlich schien ich es doch endlich geschafft zu haben, in diesem fürchterlichen Fach einen Durchblick zu haben.
Ich begann, Herrn N. zu mögen und ihn zu beobachten. Mir fiel dabei auf, dass ich nichts über ihn wusste. Er spielte eine absolute Perfektion vor, ließ nichts über sein Privatleben zum Vorschein kommen und zog den Unterricht immer ohne Umwege durch. Ich folgte ihm absolut aufmerksam, schrieb mit und nahm jedes seiner Worte konzentriert auf. Ich blickte dabei direkt in seine ernsten Augen. Einmal fragte ich mich, ob sie wohl schon immer so hell gewesen oder mit der Zeit ausgeblichen sind. Sein Blick erinnerte mich an den eines Adlers – immer auf das Ziel fixiert, direkt, scharf. Für die Nähe brauchte er eine Brille, die Ferne konnte er aber sicher haarscharf sehen. Ich begann, mich dafür zu interessieren, was wohl in ihm vorging. Vorher habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, aber etwas an ihm faszinierte mich auf eine seltsame Weise. Da ich so wenig über ihn wusste, hatte ich nur ein gewisses Erwartungsbild über sein Privatleben. Er war für mich interessant, weil er es tatsächlich geschafft hatte, mir in diesem Fach zu einer besseren Note zu verhelfen. Vielleicht lag es doch am Lehrer, wie gut man Wissen aufnehmen kann. Vielleicht habe ich einfach etwas länger gebraucht, um seine Worte zu verstehen. Vielleicht habe ich die Chance gebraucht, die er mir gegeben hat, als er mich „eigentlich nicht als Zweierkandidatin“ eingeschätzt hat. Und vielleicht wollte ich ihm beweisen, dass ich mehr war als das, wofür er mich hielt.
Französisch mochte ich eigentlich noch nie. Ich hatte damals Latein gewählt, durfte das aber nicht machen, weil ich in Englisch zu schlecht war. Die Lehrer gingen davon aus, dass ich es nicht packen würde und so musste ich eben Französisch wählen. Bis zur siebten Klasse hatte ich das bei einer recht launischen Lehrerin, die aber im Grunde ihres Herzens alles nur gut meinte. In der achten Klasse hingegen bekam ich eine neue Lehrerin, Frau O., die „Französisch nicht mögen“ für mich neu definierte. Sie war beinahe 60 Jahre alt, hatte langes, schwarz gefärbtes Haar, kleidete sich nur schwarz, schminkte sich stark und war psychisch alles andere als stabil. In der achten Klasse sind Kinder nur schwer erträglich, denn die Pubertät schlägt spätestens dann mit voller Kraft zu – so war es auch bei uns. Wir waren frech, spielten Streiche, lachten sie aus und lernten nicht. Nach einem halben Jahr war sie krank geschrieben und kam in diesem Schuljahr auch nicht wieder, vermutlich wegen eines längeren Aufenthalts in einer Klinik. Wir fanden es damals natürlich sehr lustig, schließlich mochten wir sie wirklich nicht und haben nicht erkannt, dass wir sie kaputt gespielt haben. Danach hatten wir zwei weitere Jahre lang die Lehrerin, wir schon bis zur siebten Klasse gehabt haben. Als die elfte Klasse kam, wusste Herr N., der die Stundenpläne schrieb, nicht, dass wir ein tiefgründiges Problem mit dieser Lehrerin hatten – und sie auch mit uns. Also stand sie wieder vor uns, die Stimmung war schlecht. Sie hielt sich nicht an den Lehrplan (den wir uns extra angesehen haben, um das zu überprüfen), ließ uns in jeder Stunde nur Übersetzungen schreiben. Das wenige Wissen über die französische Sprache, welches ich mir über Jahre der Demotivation hinweg nebenbei aneignen musste, schwand wie im Fluge. Alles, was wir wissen mussten, fanden wir in unseren neuen, elektronischen Wörterbüchern, die neben einem umfangreichen Vokabular auch praktische Beispielsätze enthielten, in denen wir die Anwendung der Worte gleich nachschlagen konnten. Dazu mussten wir lediglich in Erfahrung bringen, was diese Wörterbücher – neben den normalen Übersetzungen – noch konnten. Und sie konnten eine ganze Menge. So nahmen unsere Klausuren zwar ein hohes Sprachniveau an, es stellte sich aber bald heraus, dass wir jedes einzelne Wort nachschlugen. Ich vergaß die einfachsten Redewendungen, Artikel und Endungen. Dafür hatte ich ja mein Wörterbuch. Irgendwann hatte unser Kurs aber genug von stupiden Übersetzungen. Wir hatten eine A-Woche, in der wir dienstags in der letzten Doppelstunde Französisch hatten und eine B-Woche, in der wir eher Schluss hatten und Französisch ausfiel. Das wechselte sich im Wochentakt ab und immer, wenn wir A-Woche hatten, kam ich mit einer fürchterlich schlechten Laune heim. Ich legte mich dann meistens in mein Bett und schlief, bis mein Wecker klingelte und ich eine Fahrstunde hatte. Wenn ich keine Fahrstunde hatte, klingelte mein Wecker erst, wenn es Zeit war, das Abendbrot anzurichten. So sehr laugte mich diese Lehrerin aus. Als ich an meinem persönlichen Limit ankam, bat ich meine Mutter darum, ein Gespräch mit dieser Lehrerin zu führen, bei dem ich dabei sein wollte.
Ich erzählte der Frau, dass der ganze Kurs den Unterricht leid war, wir mehr Abwechslung wollten, vielleicht mal ein Lied singen oder einen Film schauen – selbstverständlich auf Französisch – und mehr praktischen Bezug in den Unterricht bringen. Wir waren nicht mehr so gemein wie in der achten Klasse, aber je mehr Geduld wir verloren, desto unruhiger wurden auch die Stunden. Sie versprach mir, den Unterricht abwechslungsreicher zu gestalten und war sehr freundlich und verständlich. Ich dachte wirklich, dass alles besser würde.
In der nächsten Stunde stellte sie sich wutentbrannt vor den Kurs: „Ich bin für euch ja eh nur die hässliche Alte!“, schrie sie und beschimpfte sich selbst, uns und ihre Kollegen. Es gab dafür keinen Grund, wir waren in dieser Stunde völlig ruhig. Danach hatten wir keinen Unterricht mehr bei ihr persönlich, sondern bei einer Referendarin, die neu bei uns war. Unsere Lehrerin setzte sich in der Zeit nur in die letzte Reihe und beobachtete uns. Wir waren froh, die Referendarin bekommen zu haben und unsere Stunden wurden endlich wieder sinnvoll. Es begann, doch wieder Spaß zu machen und wir lernten tatsächlich etwas. Natürlich störte sich unsere Lehrerin daran, dass es gut lief und wir uns auch meldeten und gut mitarbeiteten, konnte aber nicht viel dagegen ausrichten.
Es ist Frühling geworden, ganz von selbst. Ostern war längst verstrichen und alles war wieder hell und fröhlicher. Unsere Schule bestand zu einem Großteil aus Glas, deswegen bekamen wir relativ viel vom Tag mit, obwohl wir ihn drinnen verbrachten. Direkt neben unserer Schule war eine große Weide und im Mai sprangen junge Lämmer über das Gras. Je mehr Zeit verstrich, desto größer wurden sie und so sahen wir in jedem Jahr die Lämmer aufwachsen, bis sie sich von ihren Eltern nicht mehr unterschieden und wie große Wattebausche über die Wiesen hüpften.
Dieser Frühling brachte meine Gefühle völlig durcheinander. Ich stritt mich immer öfter mit meinem Freund, wir hatten nur noch selten unbeschwerte Momente. Statt mich mit einer Lösung dieses Problems zu beschäftigen, grübelte ich in einer ganz anderen Ebene. „Ich schätze dich eigentlich nicht als Zweierkandidatin ein“. Ich hatte in diesem Halbjahr in Mathe bisher nur zweistellige Punktzahlen erreicht, stand auf einer glatten 2. Er hat sich geirrt. Er, obwohl er doch sonst so berechnend und perfektionistisch war. Die Faszination, die ich empfand, wenn ich ihn sah, legte sich nicht mehr, sondern wurde immer größer. Ich wollte ihm beweisen, dass ich mehr konnte, als er mir zugetraut hätte. Er war für mich das, was mein Vater hätte sein können, hätte er mich nicht als Tochter aufgegeben. Natürlich war er reserviert, eine persönliche Bindung gab es zwischen uns nicht. Aber ich wollte mich beweisen.
Er war für mich dennoch ein normaler Lehrer und nichts völlig Besonderes, ich mochte ihn einfach nur. Mit der Zeit entwickelte ich jedoch ein sexuelles Interesse an ihm, welches relativ unterbewusst war und ich zunächst gar nicht bemerkte. Eines Abends, als ich bereits in meinem Bett lag und schlafen wollte, stellte ich mir vor, er würde mir persönliche Nachhilfe in Mathematik geben. Ich träumte davon, wie er mich für gute Ergebnisse belohnte. Kurz darauf verbannte ich diesen Gedanken aus meinem Kopf. Ich war schließlich viel zu jung, er viel zu alt und außerdem hatte ich einen Freund.
Der nächste Tag war wie jeder andere, die Gedanken des Vorabends spielten keine Rolle.
Der Sommer kam schnell und eines Morgens musste ich zitternd aufstehen und wusste, dass der Tag ein richtiges Abenteuer werden würde: Ich hatte praktische Fahrprüfung. Ich war gleich die Erste und musste schon fahren, bevor die Schule begann. Bereits am Vortag war ich so aufgeregt wie nie zuvor in meinem Leben. Alle drückten mir die Daumen und ich hatte Angst, sie zu enttäuschen. Der Prüfer stellte mir zu Beginn theoretische Aufgaben, wovon eine lautete: „Machen Sie doch bitte mal das Fernlicht an“. Klar, mach ich, ist doch einfach. Ich drückte den Hebel von mir weg und wartete darauf, dass die blaue Kontrollleuchte anging. Sie tat es nicht. Uff. Ich drehte mich zu meinem Prüfer um und sagte, dass ich nicht wusste, warum es nicht funktionierte und eigentlich die Lampe angehen sollte. Er nickte einfach ab. Normalerweise stellen die Prüfer drei dieser Aufgaben, mir stellte er nur zwei. Ich dachte sofort, dass die Prüfung für mich quasi schon gelaufen war.
Ich fuhr eine Dreiviertelstunde, ließ das Auto zwei Mal fast verrecken und rollte beim seitlichen Einparken am Ende über den Bordstein. Na Klasse. „Gut, Dankeschön. Sie haben bestanden“. Echt jetzt? Hurra! Ich hatte während der Fahrt eigentlich schon mit mir und meinem Führerschein abgeschlossen. Meine Mutter holte mich ab, freute sich mit mir, wir tranken gemeinsam einen Kaffee und dann brachte sie mich in die Schule. Die erste Doppelstunde hatte ich zwar verpasst, pünktlich zur Frühstückspause war ich allerdings da und konnte meinen Freundinnen den knallpinken Führerschein präsentieren.
Dann teilten sie mir lachend mit, dass heute die Fotos für das Jahrbuch gemacht würden und ich fühlte mich sofort, wie in einem amerikanischem Klischeefilm. Nach der aufreibenden praktischen Prüfung sah ich natürlich alles andere als frisch aus. Ich hatte tiefe Augenringe, mein blondes Haar stand aufrecht und meine Kleidungswahl entsprach auch nicht unbedingt dem Schönheitsideal. Da ich auf äußere Werte keinen zu großen Wert legte, biss ich aber in den sauren Apfel und ließ mich ablichten. Die Sonne blendete und ich kniff die Augen zusammen. Tolles Bild.
Als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, schrieben wir an diesem Tag auch noch – oh Wunder – die letzte Matheklausur für dieses Halbjahr. Das Gefühl, dass das Fach ein persönliches Problem mit mir hatte, ließ sich jetzt nicht mehr verdrängen. Ich wertete es als „bewiesene Tatsache“. Ausgerechnet an solchen Tagen, fast immer. Ich war schon völlig fertig mit den Nerven und sehr müde. Wir schrieben diese Klausur im Atrium, ich suchte mir einen Platz. Herr N. trat ein. Seine Haare waren kürzer, er hat sie sich schneiden lassen. Warum fiel mir so etwas auf? Habe ich ihn so sehr beobachtet? Er teilte die Blätter aus. „Viel Glück“. Na dann. Ich war so müde, dass ich genau drei Schusselfehler machte. Einmal schrieb ich hin, dass ich 10 durch 2 teilen muss und tat es dann einfach nicht. Dieser Fehler kostete mich meine erste 1 in Mathe. Eine Woche später lag sie vor mir, die 2+. Dieses Mal konnte ich aber keinen Folgefehler entdecken. Für dieses Halbjahr hatte ich, mathematisch gesehen, dann jedenfalls meine Ruhe – die Klausuren und Leistungskontrollen waren geschafft. Der Sommer festigte meinen Ehrgeiz, ich meldete mich ständig. Manchmal meldete ich mich fünf mal hintereinander, wenn kein anderer Schüler den Mut dazu hatte. Ich war sonst nie aktiv am Unterricht beteiligt, sondern arbeitete lieber still mit. Es war also durchaus etwas Besonderes, dass ich mich meldete. Ich hatte neue Ansprüche an mich und wollte noch besser werden. Ich war süchtig nach seiner Anerkennung und wollte, dass er damit Recht behielt, dass er mich „eigentlich nicht als Zweierkandidatin“ einschätzte. Ich wollte mehr sein als eine Zweierkandidatin. Ich wollte beweisen, dass ich schon immer mehr gewesen bin.
Die neuen Ansprüche an mich selbst veränderten mein Leben immer weiter. Ich war so unglücklich mit meinem Freund, dass ich ihn verließ und so nicht weitermachen wollte. Mit dem Führerschein in meiner Tasche fühlte ich mich erwachsener, machte mir neue Gedanken über meine Zukunft und bemerkte, dass ich immer noch keine richtigen Pläne hatte, obwohl die Zeit knapp wurde. Meine Gefühle, die Herrn N. betrafen, wurden immer seltsamer und für mich unbegreiflich. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen, obwohl ich das gar nicht wollte. Überhaupt war ich zu alt, um etwas für einen Lehrer zu empfinden – so etwas passiert vielleicht Dreizehnjährigen, aber doch in der elften Klasse. Dennoch war seine Anziehungskraft auf mich gewaltig. Ich konnte es niemandem erzählen und es für mich auch nicht akzeptieren. Mein innerer Konflikt war groß und ich war mir unsicher, was meine Gefühle betraf – schließlich konnte es auch nur eine kurzlebige Schwärmerei sein, die letztlich ohne Bedeutung war. Ich brauchte den Abstand von meinem Freund und genoss die freie Zeit, die ich hatte. Ich verbrachte endlich wieder Minuten und Stunden mit Freunden, konnte meine Entscheidungen selbst treffen und musste kein schlechtes Gewissen mehr haben, wenn ich ich selbst war. Trotzdem hielt ich die Trennung nicht einmal eine Woche aus und kam schließlich wieder mit meinem Freund zusammen. Ich stellte ihm jedoch neue Bedingungen und legte fest, dass ich weiterhin mir selbst gehören wollte und er nicht mehr über mich bestimmen sollte. Es funktionierte soweit, die Trennung hatte ihn mitgenommen und er wollte, dass es nicht noch einmal soweit kommt.
Der Sommer brachte jedoch einige Stimmungsschwankungen mit sich, es war ein ständiges Auf und Ab. So auch für Frau O., meine Französischlehrerin. Eines Tages entschieden sich zwei Jungen aus einem anderen Kurs, sich das Phänomen anzusehen: Sie hatten in der Zeit Russisch-Ausfall und setzten sich mit in unseren Kurs, um zu erfahren, ob Frau O. wirklich so schlimm war, wie alle immer erzählten.
Die aufgebrauste Lehrerin wollte sich das nicht gefallen lassen, fühlte sich direkt von der Anwesenheit der Jungen angegriffen, brüllte und schickte sie aus dem Zimmer. Einer der Beiden meinte bei seinem Abgang zu ihr: „Ich verstehe, dass Sie uns die Bildung verwehren wollen – das ist kein Problem“. Dadurch war ihre Stimmung natürlich am absoluten Minimum angekommen. Obwohl unser Kurs nichts dafür konnte, dass die beiden Schüler bei uns gesessen hatten, brüllte sie uns weiter an. Sie fluchte wieder, verspottete ihre Kollegen. Sie verspottete auch Herrn N., weil er den Stundenplan geschrieben hatte und quasi schuld daran war, dass sie uns unterrichten musste. Daraufhin wollte sie die Tür aufschlagen und aus dem Raum stürmen. Die Tür war allerdings von außen blockiert – die beiden Jungen hatten kurzerhand eine Holzbank davor geschoben, um Rache zu nehmen. Sie brüllte noch mehr, stapfte über die Bank und ließ und allein. Wir blickten uns ratlos um und wussten nicht, wie wir reagieren sollten. Unsere Lehrerin war weg. Konnten wir jetzt gehen oder würden wir Ärger dafür bekommen? Ich schlug vor, noch zehn Minuten zu warten und danach im Sekretariat nachfragen zu gehen. Nach einiger Zeit betrat eine strenge Lehrerin den Raum, die Frau O. verteidigte und uns als alleinschuldig darstellte. Selbstverständlich waren wir nicht einfach, an diesem Tag konnten wir aber keine Schuld auf uns nehmen – wir konnten nichts dafür, dass die Dinge so gekommen sind. Ich versuchte, sachlich mit der Lehrerin zu reden und ihr zu erklären, was passiert war. Sie wollte davon nichts hören, stellte mich als Lügnerin da. Dann erteilte sie uns Aufgaben, die sie augenscheinlich von Frau O. erhalten hatte. Wir verstanden die Aufgabenstellung nicht und hatten Fragen. Die Lehrerin konnte sie uns nicht beantworten – sie sprach kein Französisch. Ich fragte, ob Frau O. wiederkommen würde und wurde daraufhin scharf beleidigt. Die Lehrerin ging und ließ uns ratlos vor den Aufgaben sitzen, die wir nicht verstanden. Also griff ich den Entschluss, ins Sekretariat zu gehen und zu fragen, was wir tun sollten. Auf dem Gang wurde ich aufgehalten, wie eine Schwerverbrecherin behandelt und wieder ins Zimmer gesperrt. Mir wurde verboten, das Sekretariat aufzusuchen und der Kurs sollte sich bis Schulschluss in dem Zimmer aufhalten. Einigen Schülern gelang die Flucht über die Feuerwehrtreppe, deren Nutzung uns eigentlich nicht erlaubt war. Ich blieb bis zuletzt und notierte mir, was passiert ist. Ich wollte die Ungerechtigkeit des Tages nicht auf mir sitzen lassen und fasste den Entschluss, mit Herrn N. Über den Vorfall zu reden. Er war schließlich Schulleiter und ihm würde es nicht egal sein.
Am Tag darauf sprach ich ihn noch vor der ersten Stunde an: „Herr N., ich denke, Frau O. hat emotionale Schwierigkeiten. Sie ist gestern einfach weggerannt. Können wir vielleicht mal darüber reden?“, fragte ich ihn. Er sagte, dass ich entweder noch an dem Tag oder am Folgetag in sein Büro kommen sollte – er würde mir dann sagen, ob er Zeit hatte. Nach der letzten Stunde begab ich mich auf den Weg zu seinem Büro. Ich war nervös. Er öffnete mir die Tür, lächelte und sagte, dass er Zeit hatte. Ich könne mich setzen.
Sein Büro war ein ordentlich eingerichteter Raum. An einer Wand hing eine große Tafel mit einer aufgedruckten Tabelle und unzähligen Magneten, die mit den Namen von Lehrern und Klassen beschriftet waren. Vermutlich plante er hier die Stunden- und Vertretungspläne. Ich dachte immer, er würde das über ein Programm machen. Scheinbar vertraute er seinem Kopf mehr. In einer Ecke stand ein grüner Sessel in der Form einer Hand, wie sie von der AOK bekannt sind. Hier war also der Sessel, den unser Jahrgang einmal bei einem Wettbewerb gewonnen hatte. Wir hatten uns schon länger gefragt, wohin der Sessel verschwunden ist – nun wusste ich es. Sein Schreibtisch sah aus wie ein Kreis, von dem jemand ein Stück abgeschnitten hatte. An der geraden Seite standen sein Computer und davor sein Drehstuhl, an der runden Seite standen etliche Holzstühle, die wohl für seine Gesprächspartner vorgesehen waren. Ich durfte mich auf einen der Besucherstühle setzen. Er setzte sich mit auf meine Seite, statt an seinen gewöhnlichen Arbeitsplatz – eine Geste, dass er auf meiner Seite stand? Eine Geste, dass wir auf einer Ebene sind? Ich war mir unsicher.
Gleich begann ich zu schildern, was am Vortag passiert ist. Ich hatte Stichpunkte, erklärte alles im Detail. Ich wusste nicht, wie lange unser Gespräch dauerte. Aber ich vertraute ihm und ich wusste, dass er mir auch vertraute. Er war anders als die Lehrerin, die uns am Vortag beaufsichtigen sollte – er glaubte mir und er hörte mir zu. Als ich fertig war, legte er den Kopf in den Nacken und überlegte. „Ich werde mal versuchen, mit ihr zu reden. Allerdings ist sie jetzt auf Klassenfahrt und nächste Woche ist ja die Projektwoche – da weiß ich nicht, ob ich sie erwische. Ich rechne mir dabei auch keinen zu großen Erfolg aus. Wir wissen ja, wie sie ist – ich denke nicht, dass sie das verstehen wird“, sagte er zu mir. Wir wissen ja, wie sie ist. Er stand auf meiner Seite. Er schlug sich nicht aus Prinzip auf ihre Seite, sondern war sachlich und gab mir erneut eine Chance. Und er wollte mir ihr reden. In der achten Klasse, als wir schon einmal bei Frau O. hatten, gingen wir – als Klasse – zum richtigen Schulleiter und baten ihn um Verständnis, wollten eine Veränderung. Aber er war der Ansicht, dass das Leben kein Wunschkonzert ist und er uns da nicht helfen könne. Nun war ich bei seinem Stellvertreter und er wollte direkt versuchen, etwas zu ändern. Ich war beeindruckt von seiner starken Persönlichkeit und davon, wie freundlich er zu mir war, obwohl er mir nicht hätte glauben müssen. Nach dem eigentlichen Gespräch fragte er mich noch, was ich in der Projektwoche machen würde. Ich erklärte ihm, dass ich die Organisation im Projekt „Highland Games“ übernehmen würde. Er fragte mich, worum es in dem Projekt geht. Ich erzählte, dass wir die schottische Tradition an die Schule holen und sich die Teilnehmer in verschiedenen Kategorien messen sollten – so zum Beispiel Baumstammwerfen oder Tauziehen. Ich wusste nicht, warum er danach fragte und stellte mich bei der Erklärung ziemlich blöd an, gab aber mein Bestes. Der Lehrer, der das Projekt ins Leben gerufen hatte, war einer meiner Lieblingslehrer und gehörte zu den Personen, die mir ebenfalls ein großes Vertrauen entgegenbrachten. Weil ich nicht sehr sportlich war, durfte ich deswegen die Organisation übernehmen.
Bei der Verabschiedung gab mir Herr N. seine Hand und es war das erste Mal, dass ich ihn berührte. Er war warm. Meine Hände waren immer kalt und ich genoss den kurzen Moment, in dem ich seine Wärme spüren konnte. Ein Glücksgefühl strömte durch meinen Körper und ergriff mich. Ich ging heim und fühlte mich dabei, als würde ich schweben – als könnte mir mein Glück niemand nehmen, als wäre ich unantastbar.
In der letzten Schulwoche der elften Klasse ging es anders zu, als in allen anderen Wochen. Montags bis mittwochs hatten wir die Projekttage, bei denen wir bereits im Frühjahr wählen konnten, welchem Projekt wir uns widmen wollten. Am Donnerstag war das traditionelle Schulfest und freitags hielt der Schulleiter eine Abschlussrede vor allen Schülern, nach der wir unsere Zeugnisse von den Tutoren erhielten. Diese Woche diente zur Entspannung der Schüler und leitete die Sommerferien ein, in der wir den grauen Schulalltag hinter uns lassen sollten.
Unser „Highland Games“- Projekt entpuppte sich als wahrer Glückstreffer bei der Projektwahl: Wir mussten am Montag nur wenige Stunden in die Schule kommen, um zu recherchieren, was bei den echten Highland Games gemacht wird. Die verschiedenen Disziplinen sollten wir in die Tat umsetzen, damit wir am Dienstag einen großen Wettbewerb veranstalten konnten. In der Gruppe waren fast ausschließlich Jungen, die Stimmung war locker. Ich organisierte den Wettbewerb, teilte alle in Gruppen ein, stellte die Stationen vor und zählte die Punkte der Teilnehmer. Nachmittags wertete ich sämtliche Ergebnisse aus und erstellte Urkunden für die Siegerehrung am Mittwoch. Es war eine schöne Woche mit perfektem Wetter, der Sommer blühte auf.
Als ich mit einer Freundin in der Mensa frühstückte, kam ich zu einer Erkenntnis, die mir vorher nicht bewusst war: Herr N. füllte eine Lücke, die entstanden war, als der Junge mir in den vorherigen Sommerferien das Herz brach. Diese Lücke ist immer geblieben und mein Freund konnte sie nie schließen. Herr N. hingegen war der Ausgleich, den mein Herz sich erwählt hatte. So erkannte ich zum ersten Mal, dass ich wirklich verliebt war. Nein, nicht nur verliebt: Ich liebte ihn. Ich wusste, dass diese Art der Liebe keiner Realität entsprach und ich wusste, dass ich mir keine Hoffnungen auf eine Beziehung machen musste. Ich wusste, dass ich ihn einfach nur lieben wollte, ohne je eine Erwiderung meiner Gefühle zu erwarten. Ich war glücklich, wenn ich ihn lieben konnte und ich tat es, aus ganzem Herzen.
Diese Erkenntnis tat mir weh, weil sie eine weitere Erkenntnis mit sich brachte: Meine Beziehung wird nie wieder funktionieren. Ich wusste nicht, wie ich meinem Freund beibringen sollte, dass ich verliebt war und vor allen Dingen in wen ich verliebt war. Ich wusste nicht einmal, wie ich es mir selbst beibringen sollte und wie ich damit umgehen konnte. Aber ich liebte ihn und ich konnte daran nicht mehr zweifeln.
Mittwochs, nachdem unsere Gruppe gemütlich gefrühstückt und die Sieger geehrt wurden, ging ich ins Sekretariat, weil ich das Schulfest vorbereiten wollte. Ich betreute dort einen eigenen Raum, in dem ich Besuchern die japanische Kultur näher bringen wollte. Ich wusste bereits, welches Zimmer es war und brauchte dafür einen Schlüssel. Im Sekretariat traf ich Herrn N., der sich offenbar freute, mich zu sehen. „Na, L.? Wie weit haben sie denn ihre Baumstämme geworfen?“, fragte er mich. Ich verstand ihn erst nicht, sah ihn verdutzt an. Er wiederholte seine Frage. Ach so, die Baumstämme von den Highland Games meinte er. „Die mussten sie gar nicht weit werfen, sondern in einem bestimmten Winkel“, stammelte ich verwirrt. Ich wusste nicht, wie ich das erklären sollte und ich wusste auch gar nicht, ob ihn das wirklich interessierte. Er war kurz angebunden und schnell wieder weg. Da bemerkte ich, dass etwas anders war als zuvor: Ich konnte nicht mehr normal mit ihm reden, war viel zu nervös und angespannt. Wohl möglich hatte des etwas mit den Gefühlen zu tun, die ich für mich akzeptieren musste. Schlimmer als meine halb dahingelallte Antwort war die Tatsache, dass ich schwere Hitzeausbrüche hatte. Es war zwar Sommer, aber an diesem Tag waren nur etwa 20°C. Ich schwitzte, wurde rot, lief schnell in das Zimmer, in dem ich meinen Workshop vorbereiten wollte und legte mich dort auf den Lehrertisch. Er war angenehm kühl und ich musste etwas zur Ruhe kommen. Mein Herz raste, man konnte es durch meine Brust schlagen sehen. Gut, dass ich in dem Zimmer allein war. Nach einer Weile beruhigte ich mich wieder, brachte den Schlüssel zurück ins Sekretariat und bereitete den Raum vor. Ich schob Tische zurecht, dekorierte, beschriftete und dachte viel über meine Gefühle nach. Am Folgetag war der letzte Schultag, ich würde mein Zeugnis bekommen und dann würde ich Herrn N. sechs Wochen lang nicht sehen. Es tat mir weh, darüber nachzudenken.
In der Zeit habe ich einen gewissen Zwang entwickelt, die Stunden- und Vertretungspläne mehrfach täglich zu lesen. Es gab da eigentlich nie etwas neues, ich habe aber mindestens fünf mal am Tag nachgesehen, ob es etwas gibt. Am letzten Schultag rief ich den Stundenplan online ab und bekam einen wahnsinnigen Schreck: Alles hatte sich verändert: Ich hatte einen neuen Stundenplan, der ab dem 24. August, wenn das neue Schuljahr begann, gelten sollte. Dort stand die Welt Kopf – ich sollte gleichzeitig Physik und Biologie haben, Kunst und Religion liefen auch parallel. Montags, dienstags, donnerstags und freitags hatte ich in den ersten beiden Stunden Ausfall und das Schlimmste: Ich hatte, laut diesem Plan, nicht mehr bei Herrn N. Mathematik, sondern bei einer Lehrerin. Der Schock war gigantisch.
Als ich die Schule betrat, sah ich Herrn N. bereits vom Weiten – er war von Mädchen umringt. Ein kurzer Stich der Eifersucht machte sich in mir breit, aber ich wusste, warum die Mädchen in sprechen wollten. Er erklärte, dass er nur experimentieren wollte und der Plan nicht real ist. Erleichterung stieg in mir empor. Nicht nur, weil der Plan nicht echt war, sondern auch, weil ich Herrn N. noch einmal sehen konnte, bevor die Ferien begannen. Ich hatte zuvor Angst, dass ich ihn vielleicht nicht sehen würde.
Daraufhin versammelten sich alle Schüler in der Turnhalle und nahmen dort in den Tribünen Platz. Wir lauschten der Rede des Schulleiters, die gewohnt monoton war und mir wurde klar, dass die Sommerferien nicht leicht werden würden. Die Zeugnisse bekamen wir von unserer ursprünglichen Tutorin, da unsere aktuelle Tutorin erneut nicht anwesend war. Es war ein seltsames Gefühl, sie wiederzusehen – unser letztes Treffen hatte im September stattgefunden. Nun schloss sich der Kreis wieder und die Zeugnisse lagen vor uns. Mein Durchschnitt hatte sich verbessert: 2,6. Damit war ich wesentlich zufriedener als mit dem vorherigen, zumal ich mich in Mathematik um stolze 4 Punkte verbessert hatte. Nach der Zeugnisausgabe trat ich meinen Heimweg an, der mir ungewohnt schwer fiel. Die warmen Sonnenstrahlen prasselten in mein Gesicht, die Vögel zwitscherten, der Himmel war blau und klar. Eine Träne kullerte über mein Gesicht und mein Herz fühlte sich schwer an. Ich wollte nicht gehen. Ich wollte nicht, dass Ferien sind. Ich wollte in der Schule bleiben und wollte weiter Unterricht haben. Ein Gefühl, welches völlig neu für mich war.
Es fühlte sich falsch an, während der Ferien bei meinem Freund zu wohnen, aber ich tat es trotzdem. Meine Eltern waren nicht daheim, sie fuhren in den Urlaub. A. hatte Prüfungen in der Universität und deswegen auch keine Zeit für mich. Also blieb mir nur diese Möglichkeit. Ich hatte ein Jahrbuch, in dem einige Bilder von Herrn N. waren. Ich sah sie mir fast täglich an, meine Sehnsucht war unerträglich. Ich vermisste seinen Unterricht, seine Stimme, seine Nähe und seinen reinen Anblick. In meinen Träumen war ich immer in der Schule, ich träumte jede Nacht davon. In meinen Träumen kam ich ihm auch näher und konnte ihn lieben, ohne auf Moral und Gesetz achten zu müssen. Ich konnte ihn so lieben, wie ich ihn geliebt hätte, wäre ich in seinem Alter gewesen. Die Tatsache, dass er mindestens dreißig Jahre älter war als ich, machte eine reale Beziehung unmöglich und es blieb ein Gedankenspiel. In diesen Ferien realisierte ich, dass meine Gefühle zu ihm echt waren. Obwohl ich erst dachte, die Zeit würde nicht vergehen, verging sie doch überraschend schnell. Die ersten Tage waren schmerzhaft, aber ich lernte, mit dem Gefühl umzugehen. Die Hitze wurde in diesem Sommer unerträglich und die Dachgeschosswohnung meines Freundes wurde zu einer wahren Qual. An unserem Monatstag entschieden wir uns dazu, ein Eis essen zu gehen, um der Hitze etwas entkommen zu können. Auf dem Rückweg bemerkte ich, wie sehr die Natur unter der Hitze litt. Alles war staubtrocken und sicher waren die Vögel in der Stadt sehr durstig. Vögel waren meine Passion – ich liebte sie, jeden einzelnen. Deswegen machte ich mir große Sorgen um sie. Als wir einkaufen gingen, bemerkten wir, dass das Geschäft Untersetzer für Blumentöpfe zum Verkauf anbot – die man ideal als Vogeltränke benutzen könnte. Wir kauften einen Untersetzer und eine Flasche stilles Mineralwasser, gingen an einen kleinen Park und bauten dort eine kleine Vogeltränke auf. Als wir uns von der Stelle entfernten, saß schon der erste Vogel im Wasser und planschte – es schien wirklich eine schreckliche Zeit für die Tiere gewesen zu sein, in der sie viel zu wenig Wasser gefunden haben. Ich war glücklich darüber.
Als wir den Heimweg antraten, leerte ich den Briefkasten. Darin war eine Tageszeitung, auf deren Titelseite eine junge Frau zu sehen war, die stolz eine Uhr an ihrem Handgelenk präsentierte. Sie war eine Uhrmacherin, die ihre Ausbildung mit Bravur abgeschlossen hatte und schilderte ihren Werdegang in einem Interview. Ich hatte noch nie zuvor über diesen Beruf nachgedacht, fand ihn aber faszinierend. Der Artikel sprach mich an und pflanzte einen Gedanken in mir, der völlig neu für mich war: Vielleicht wollte ich gar nicht studieren. Vielleicht wollte ich eine Ausbildung machen. Vielleicht war das Handwerk einer Uhrmacherin genau das richtige für mich. Ich wollte darüber noch schlafen, weil ich mir unsicher war. Schließlich hatte ich mein Leben in der Überzeugung verbracht, dass ich mal studieren würde. Nur, dass ich eben nie genau wusste, was ich eigentlich studieren wollte. Möglicherweise hatte ich, zum ersten Mal in meinem Leben, einen Beruf gefunden, mit dem ich wirklich glücklich werden könnte.
Ende August, kurz bevor die Schule wieder begann, fasste ich schließlich den Entschluss, Uhrmacherin zu werden. Damit hatte ich nun ein Ziel vor Augen, welches ich erreichen wollte. Es war mein Traumberuf und das spornte mich neu an.
Es war soweit, die sechs Ferienwochen waren vorbei und die Schule begann wieder. Mein Stundenplan hatte sich ein wenig geändert, die Lehrer sind aber fast alle gleich geblieben. Wieder hatte ich dienstags und donnerstags Mathematik bei Herrn N. und war darüber sehr erleichtert. Am ersten Schultag durften wir – die Zwölftklässler – uns wieder eine monotone Rede des Schulleiters zu Gemüte führen, die uns erneut wahnsinnig motivierte. Erneut trafen wir unsere Tutoren und hatten danach noch Unterricht. Ich hatte noch Kunst und Sport. Der Tag verflog schnell, die Vorfreude auf den Dienstag war groß. Noch ein Jahr zuvor hasste ich diesen Tag, nun freute ich mich darauf.
Herr N. stellte sich vor unseren Kurs, erklärte kurz, wie es in der zwölften Klasse weitergehen würde und kündigte eine Leistungskontrolle für die zweite Schulwoche an. Natürlich – zu solchen Handlungen war nur er fähig. Alle anderen Lehrer gönnten uns eine kurze Eingewöhnungsphase nach den Ferien, er jedoch ließ keine Zeit für Pausen. Es war schön, ihn wieder zu sehen. Ich musterte ihn aufmerksam, sog all seine Eindrücke in mir auf. Er hatte mehr Farbe bekommen – größtenteils rot. Seine eisblauen Augen erschienen durch seine rötliche Haut noch intensiver. Ich genoss jede einzelne Minute des Unterrichts, der viel schneller verging als sonst. Danach hatte ich Informatik statt Chemie, der restliche Dienstag war gleich geblieben. Jedenfalls fast: Statt bei Frau O. hatte ich bei einem neuen Lehrer Französisch. Ich war überwältigt: Nach einem kleinen Gespräch hatte Herr N. beim Schreiben des neuen Stundenplanes an mich gedacht und ich musste mich nie wieder über diese Lehrerin aufregen. Scheinbar hatte er sich gegen ein Gespräch mit ihr entschieden und stattdessen die Dinge in die eigenen Hände genommen. Er wollte nichts dem Zufall überlassen – zumal die Unterrichtsmethoden von Frau O. nicht gut für unsere Sprachbildung waren. Es stand also ein neuer Lehrer, Herr T. vor unserem Kurs, der schnell erkannte, dass wir nur noch wenige Grundkenntnisse besaßen. Er wiederholte Zeitformen und die einfachsten Vokabeln und Redewendungen, behandelte vorerst Stoff der sechsten Klasse mit uns, um uns wieder auf das sprachliche Niveau einer zwölften Klasse anzuheben. Ich fühlte mich zu Dankbarkeit gegenüber Herrn N. verpflichtet, wusste aber nicht, wie ich diese äußern konnte. Ich errötete, wenn er mich ansah und mein Herz schlug dabei wahnsinnig schnell. Egal, wie alt ich war und wie alt ich mich fühlte – meine Gefühle zu ihm fühlten sich an wie die eines Mädchens, welches sich zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt hatte. Es war kindisch und lächerlich, ich wollte gerne ernst bleiben. Aber ich konnte es nicht, ich war zu schwach, um stark bleiben zu können.
Die ersten beiden Schulwochen vergingen sehr schnell, ich schrieb die Leistungskontrolle in Mathematik und war gespannt auf das Ergebnis. Mein Gefühl war sehr gut, ich erfuhr aber noch nicht, welche Leistung ich erbracht hatte. Es hieß schon wieder: Abschied nehmen. Der Jahrgang packte seine Koffer und stieg in den Bus, dessen Ziel Italien war. Obwohl September war, war es in Deutschland ungewöhnlich kalt – nur 3°C – weswegen die Adria ein vermeintlich ideales Ziel war. Wir starteten sonntagabends, fuhren fast zwanzig Stunden lang. Es war eine nervenaufreibende Fahrt mit nur wenig Schlaf: Der Platz war begrenzt, die Jungen waren unruhig und sangen die ganze Nacht über Lieder aus längst vergangenen Zeiten. Die ganze Zeit über dachte ich daran, was Herr N. in diesen Minuten wohl gerade machen würde. Ich stellte mir vor, wie er ruhig neben seiner Frau – deren Gesicht ich mir nicht vorstellen konnte und von der ich gar nicht wusste, ob sie überhaupt existierte – schlief. Ich fragte mich, was er wohl träumte. Ich träumte fast jede Nacht von ihm. Ob er auch schon einmal von mir geträumt hatte? Bestimmt nicht.
Als wir in Italien ankamen, wurden wir von wunderbarem Wetter empfangen: Sonne, strahlend blauer Himmel, 25°C. Unser Hotel war dreihundert Meter vom Meer entfernt. Obwohl ich traurig war, dass ich beinahe eintausend Kilometer von Herrn N. entfernt war, genoss ich diese Zeit. Wir haben viel von Italien gesehen, hatten schöne Ausflüge und genug Freizeit, um das Meer genießen zu können. Es regnete nie, war immer gemütlich warm. Während meine Eltern in der Heimat froren, lag ich im Bikini mit dicker Sonnencreme am Strand. Sonnen konnte ich mich leider nicht, denn ich hatte eine Woche zuvor von meiner Hautärztin gefahren, dass ich ein „Albino“ war. In Recherchen habe ich erfahren, dass menschliche Albinos nicht gerne so genannt werden, sondern „Menschen mit Albinismus“ bevorzugen. Jedenfalls hatte ich ein rezessives Gen, welches meine Haut kreidebleich machte – ohne Aussicht auf Bräunung. Ich hatte dennoch normale, blaue Augen – die rote Färbung wurde mir erspart. Jedenfalls musste ich in Italien aufpassen, da Sonnenbrand für mich sehr gefährlich sein konnte und ich kein Risiko eingehen wollte.
Ich saß mit einer guten Freundin am Strand und versteckte meine Haut unter einem großen Handtuch, als wir auf unsere Beziehungen zu sprechen kamen. Als ich ihr erzählte, dass ich unglücklich in meiner Beziehung war und eigentlich neue Gefühle hatte, stellte ich etwas fest, was mich noch lange Zeit später zermürbte: Ich konnte es nicht aussprechen. Ich konnte einfach nicht sagen, was ich für Herrn N. empfand. Ich konnte nicht sagen, was er für mich war und dass ich ihn liebte. Sobald ich es versuchte, begann ich, kindisch zu kichern und brachte es nicht mehr über die Lippen. Ein Selbstschutzreflex meines Körpers? Oder konnte ich mir die Wahrheit selbst nicht eingestehen? Es ging nicht, ich konnte nicht darüber reden. Es war die Art von Blockade, die auch dann Besitz von mir Ergriff, wenn ich ihm gegenüber eigentlich Dankbarkeit äußern wollte, stattdessen aber nur rot anlief.
Wieder in der Heimat angekommen, gab es erst einmal einen fürchterlichen Streit mit meinem Freund. Ich hatte auf der Heimfahrt ab und zu meinem besten Freund geschrieben, wie der Stand der Dinge ist – und er sollte diese Nachrichten an meine Mutter und meinen Freund weiterleiten, was er auch tat. Mein Freund war allerdings eifersüchtig, weil ich diese Nachrichten nicht an ihn persönlich schickte. Ich war deswegen sehr aufgebracht – selbst solche Kleinigkeiten machten meinen Freund eifersüchtig. Ich fühlte mich gefangen und wollte die Ketten sprengen.
Als ich freitags ankam, empfing er mich mit Schokolade und bat mich um Verzeihung. Wir lagen eng umschlungen in meinem Bett, als ich schließlich den Mut fasste, ihm zu erzählen, was mich beschäftigte. Meine Blockade, darüber zu reden, machte das wahnsinnig schwer. Ich sagte ihm, dass ich verliebt war. „In A., oder?“, fragte er mich. Nein, nicht in A., sondern in jemanden, der unerreichbar war. Schließlich brachte ich genug Mut auf und sagte es, unter einer wahnsinnigen Anstrengung: „In Herrn N.“. Mein Freund blickte mich verwirrt an und küsste mich schließlich. Meine Erwartung war, dass er einfach gehen würde – schließlich hatte ich ihm erzählt, dass ich mich in einen Anderen verliebt hatte. Aber er küsste mich nur und nahm mich in seine Arme. Ich wusste nicht, warum er das tat. Vermutlich nahm er mich nicht ernst und dachte, es wäre nur eine kleine Schwärmerei. Aber seit dem Tag meiner theoretischen Fahrprüfung war Herr N. mehr als nur ein Lehrer für mich – es ging schon viel zu lange so, um nur eine Schwärmerei sein zu können. Ich stimmte ihn jedoch nicht um und ich wies ihn auch nicht zurück. Er zeigte mir selten eine so reine Liebe.
Nun war der Tag endlich gekommen, an dem ich die Leistungskontrolle zurückbekam, die ich vor der Abschlussfahrt in Mathematik geschrieben hatte. Herr N. lächelte mich an, als er sie mir gab: „Da scheinen sich die Ferien doch gelohnt zu haben“, sagte er und legte das Blatt auf meinen Tisch. Vierzehn Notenpunkte – eine glatte Eins! Ich war stolz und unglaublich glücklich. Was meinte er mit „die Ferien haben sich gelohnt“? Ich überlegte und kurze Zeit später wurde mir klar, was er damit meinte: Noch am Tag der Zeugnisausgabe schrieb ich ihm eine E-Mail, in der ich ihn um Aufgaben bat. Ich hatte Angst, mein neu gewonnenes Wissen in den sechs langen Ferienwochen schnell wieder zu verlieren. Das passierte mir sonst jedes Mal – und der Vorgang sollte sich so nicht wiederholen. Er antwortete jedoch nicht auf meine Anfrage, die E-Mail geriet in Vergessenheit. Scheinbar hatte er sie doch gelesen, wollte aber, dass ich es aus eigener Kraft schaffe. Und ich schaffte es aus eigener Kraft und war zum ersten Mal in meiner mathematischen Laufbahn seit der Grundschule „keine Zweierkandidatin“, sondern mehr. Ich musterte meine Arbeit und sah, warum er mir vierzehn und nicht fünfzehn Punkte gegeben hatte: Weil er es nicht wollte. Ich hatte keine Fehler gemacht, er war nur mit meinem Lösungsweg unzufrieden. Ich war nicht gut genug, um eine 1+ verdient zu haben und musste das erst unter Beweis stellen. Darüber ärgerte ich mich – er hätte nicht so streng sein müssen. Aber er wollte mich anspornen und sehen, was in mir steckte.
In dieser Woche hatte ich noch ein berufliches Beratungsgespräch, in dem ich mich darüber erkundete, was ich in einer Ausbildung beachten musste, wie und wann ich mich bewerben sollte. Ich hatte mich ja noch nie mit Ausbildungen beschäftigt und dementsprechend gering war meine Ahnung. Die Antworten waren ernüchternd: Ich musste mich bestmöglich umgehend bewerben und war schon spät dran. Als ich heim kam, recherchierte ich, was in meinem angestrebten Beruf gefordert wurde: Gute Leistungen in Mathematik und Physik. Mathematik war nicht das Problem, aber Physik? Da stand ich mit 7 Punkten da, die ich auch nur hatte, weil mein neuer Lehrer – Herr S. – mich sehr mochte und mir ab und zu Tipps gab. Ich musste also in Physik auf jeden Fall besser werden. Plötzlich fiel mir auf, dass ich gar nicht wusste, was Herr N. noch unterrichtete. Normalerweise unterrichtet jeder Lehrer immer zwei Fächer. Auf der Homepage der Schule erfuhr ich es: Physik. Ein interessanter Zufall. Es reihten sich Folgen aneinander, die schließlich einen Kreis schlossen: Ich wollte Herrn N. beeindrucken, hatte das in Mathematik vielleicht auch schon geschafft. Er hatte als stellvertretender Schulleiter jedoch die Möglichkeit, Einsicht in meine Zeugnisse zu bekommen und wusste damit – falls er tatsächlich nachgesehen hatte – wie ich in Physik stand. Da ich ihn beeindrucken wollte, wollte ich auch besser in Physik werden. Mein zukünftiger Arbeitgeber erwartete von mir gute Leistungen in Mathematik und Physik – Fächer, die von da an beide von Herrn N. beeinflusst wurden. Je besser meine Noten wurden, desto mehr würde er beeindruckt von mir sein und desto eher könnte ich Arbeitgeber von meinen Fähigkeiten überzeugen. Von diesem Tag an lernte ich kontinuierlich, jedoch nicht nur für Mathematik und Physik, sondern für alle Fächer. Die Erkenntnis, dass Herr N. meine Zeugnisse sehen konnte, hob die Ansprüche, die ich an mich selbst stellte, maximal an. Dadurch wurde die Zeit, die ich mit meinem Freund verbringen konnte, auf ein Minimum beschränkt, was ihn sehr kränkte. Aber ich wollte eine gute Schülerin werden und meine dunkle Vergangenheit hinter mir lassen. Eine Woche später schrieb ich eine Leistungskontrolle in Physik, in der ich zehn Notenpunkte erreichte. Ich entdeckte einen Punkt, den Herr S. übersehen hatte und sprach ihn nach der Stunde darauf an. Er gab mir den Punkt und rechnete nach: „Eigentlich, nach den Prozentwerten, sind das trotzdem noch zehn Punkte... Aber du hast dir Mühe gegeben, da gebe ich dir elf“, sagte er und lächelte mich an. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mich mehr mochte, als er sollte, freute mich aber sehr darüber – elf Punkte in Physik waren ein super Ergebnis. Am ersten Tag des Oktobers endete mein leistungsmäßiger Höhenflug mit einem starken Aufprall, der mir sehr wehtat. Wir schrieben eine Klausur in Mathematik und plötzlich überkam mich Panik. Ich hatte Angst, zu versagen – hatte Angst, Herrn N. zu enttäuschen. Obwohl ich in dem Thema sicher war, fiel mir auf einmal gar nichts mehr ein. Selbst die einfachsten Dinge wusste ich nicht mehr. Während der Arbeit lief ich vor Wut auf mich selbst rot an, mein Blut fühlte sich an, als würde es kochen. Ich war enttäuscht von mir und meiner Unfähigkeit – und ich wusste nicht, woran der Zustand lag. Am Tag darauf sprach ich Herrn N. an und fragte ihn, ob wir vielleicht über die Arbeit sprechen könnten. Ich hatte freitags zwei Freistunden, in denen ich mich in das Computerkabinett setzte, welches gegenüber von seinem Büro lag. Dort wartete ich eine ganze Stunde, als er schließlich die Tür aufschloss und eintrat. Er setzte sich zu mir und fragte mich, was los war. Ich schilderte ihm meine Panik und die Verzweiflung während der Arbeit, besprach mit ihm einige Aufgaben und erläuterte, welche Fehler ich gemacht hatte. Er versuchte, mich zu beruhigen. „Mach dich doch wegen einer kleinen Klausur nicht so fertig – in der nächsten bist du besser“, sagte er ruhig. Ich spürte, dass er mir vertraute und ich empfand erneut, dass ich in seiner Schuld stand. „Herr N., ich wollte Sie noch um Verzeihung bitten...“, begann ich. Er sah mich fragend an und schien nicht zu wissen, worauf ich hinaus wollte. „Ich habe Ihnen damals, als ich die bessere Note haben wollte, versprochen, mich öfter zu melden und mach das noch viel zu selten“, erklärte ich. Er lächelte. „L., du musst aufhören, dich immer so verrückt zu machen. Ich kann doch sehen, dass du mitarbeitest und dir Mühe gibst“, er hielt kurz inne und sagte schließlich: „Ich war früher auch eher der ruhigere Typ“. Mein Herz überschlug sich. Er hatte eine Information über sich preis gegeben, obwohl er sonst in absoluter Anonymität lebte. Als er ging, fühlte ich mich weniger scheußlich und versuchte, seine Worte zu verinnerlichen. Er hatte mir seine Hand diesmal nicht gegeben, was mich traurig machte. Abends, als ich im Bett lag, fiel mir auf, dass er am Tag zuvor öfters gehustet hatte und sich ständig die Nase putzen musste. Er hatte mir seine Hand nicht gegeben, um mich zu schützen – damit er mich nicht ansteckt. Daran hatte ich nicht gleich gedacht, es war aber logisch. Ich schlief beruhigt ein und träumte wieder von ihm. Das Wochenende verstrich, der Montag kam und ich freute mich bereits auf den Dienstag, als plötzlich alle jubelten. „Wir können morgen ausschlafen! Herr N. ist krank!“, riefen sie. „Ist ja geil, kein Mathe!“ - es war ein wahrer Applaus. Ich sank zusammen, musste mich setzen. Seine Erkältung schien schlimmer geworden zu sein. Obwohl er ein erwachsener Mann war und sicher gut zurechtkam, machte ich mir Sorgen um ihn. Er war einer jener Menschen, die nur dann zuhause bleiben, wenn es ihnen wirklich schlecht geht. Schließlich hatte er eine große Verantwortung an der Schule – ohne den Vertretungsplan funktionierte nichts. Ich wusste, dass er den Plan immer auswendig kannte. Wenn man irgendwelche Fragen zum Plan hatte, musste er nur kurz innehalten und konnte dann Auskunft über alles geben. Dafür, dass der Plan jeden Tag erneuert werden musste, war das eine bemerkenswerte Fähigkeit – zumal unsere Schule mehr als 80 Lehrer und 30 Klassen hatte, die Zimmer auf drei Stockwerke und das Erdgeschoss verteilt waren und wir zudem – je nach Jahrgang – unterschiedliche Pausenzeiten hatten. Die Nachricht, dass er krank war, traf mich tief und ich hoffte, dass er eine gutherzige Frau hatte, die sich um ihn kümmerte und ihn pflegte. Ich gönnte ihm das und wäre nicht eifersüchtig gewesen – schließlich war er in einem Alter, in dem er durchaus eine Familie haben konnte. Ich stellte mir vor, dass er glücklich mit seiner Frau war und drei Kinder hatte. Nach wie vor wusste ich nicht, ob er überhaupt eine Frau hatte – aber ich empfand ihn als zu attraktiv, um ledig sein zu können. Seine Kinder konnten in meinem Alter sein, vielleicht hatte er schon Enkel. Es war möglich. Einen Ehering trug er allerdings nie und schien – anhand der Färbung seiner Haut an seinen Fingern – zumindest eine sehr lange Zeit keinen getragen zu haben, wenn nicht sogar noch nie. Die Woche verging nur schleppend. Ich wollte endlich das schlechte Ergebnis meiner Klausur erfahren und stellte mit Erschrecken fest, dass sich der Woche die Herbstferien anschlossen. Ich würde Herrn N. schon wieder drei Wochen lang nicht sehen.
Am Samstag besuchte ich den Tag der offenen Tür eines Unternehmens, in dem ich mich bewerben wollte. Ich konnte dort erstmals an einer Uhr arbeiten, durfte sie demontieren und wieder montieren. Meine Hände waren außergewöhnlich ruhig und ich schien ein gewisses Talent dafür zu haben. Die Vorgesetzten waren beeindruckt von mir, ich gab meine Bewerbung persönlich ab. Ich wollte mich natürlich auch in anderen Betrieben bewerben – es war wichtig, auf Nummer sicher zu gehen. In der Woche darauf schrieb ich viele Bewerbungen und besuchte am Wochenende einen weiteren Tag der offenen Tür, bei dem ich erneut Händchen bewies und meine Bewerbung abgeben konnte. Es dauerte nicht lange, da hatte ich zwei Einladungen zu Einstellungstests in den Firmen. Einer davon sollte am ersten Dezember stattfinden.
Eine der Firmen wollte mich sprechen, bevor sie mich einluden. Per E-Mail bat mich die Personalbeauftragte um einen Termin für ein Telefonat, ich entschied mich für den Freitag in der ersten Woche nach den Ferien. In den E-Mails vereinbarte sie mit mir, dass wir in etwa fünfzehn Minuten lang telefonieren würden. In der Realität sprachen wir eine halbe Stunde länger als geplant. Ich hatte mich auf das Gespräch sehr gut vorbereitet, hatte viele Fragen und konnte auch gute Antworten geben. Schließlich wollte sie, dass ich das Unternehmen ebenfalls für einen kurzen Einstellungstest besuchte. Den Termin hierfür konnte ich mir selbst aussuchen. Ich war angetan von der Firma, weil sie sehr viele Vorteile bot: Die Mitarbeiter wurden am besten bezahlt, hatten eine kostenlose Unterbringung, eine individuelle Ausbildung und wurden besonders gut behandelt. Deswegen entwickelte sich der Betrieb schnell zu meinem persönlichen Favoriten. Ich entschied mich für einen Montag, Mitte November. Zuvor wollte ich für Chemie und Geschichte in die Schule gehen und danach zu dem Einstellungstest fahren.
Die erste Novemberwoche konfrontierte mich erneut mit meiner pubertären Unfähigkeit. Ich wusste, dass Herr N. Geburtstag hatte und wollte ihm gerne gratulieren. Sein Geburtstag gehörte zu den wenigen Dingen, die ich über ihn wusste. Ich wartete mit einer Freundin, bis alle anderen Schüler und Schülerinnen den Raum verließen und wir schließlich allein mit ihm waren. Er sah glücklich aus, sah auf sein Smartphone. Ich wusste nicht, dass er ein Smartphone hatte. Vermutlich rief er darüber Glückwünsche ab. Man sah ihm an, dass es ein besonderer Tag für ihn war. Die alte Blockade stellte sich mir in den Weg und ich war nicht fähig, ihm zu gratulieren. Meine Freundin brachte es auch nicht über ihre Lippen. Wir wussten beide nicht, warum wir nicht dazu in der Lage waren, ihm unsere Glückwünsche auszurichten. Ich ärgerte mich darüber – es war schließlich etwas ganz Normales. Obwohl wir es an diesem Tag noch mehrfach versuchten, schafften wir es nicht. Zwei Tage später hatte mein Freund Geburtstag. Er wollte mit seinen Eltern und mir essen gehen, deswegen blieb ich etwas länger in der Schule. Sie wollten mich abholen und mit mir in das Restaurant fahren. Als ich die Nachricht bekam, dass sie gleich ankommen würden, zog ich meinen Mantel an, setzte meinen Rucksack auf und schlenderte zur Tür. Aus der Ferne sah ich, dass auch Herr N. sich angezogen hatte. Er hatte seinen Aktenkoffer in der Hand und ging ebenfalls auf den Ausgang zu. Draußen trafen wir uns und gingen zusammen zum Parkplatz. Die Sonne stand bereits tief und hüllte die Welt in ein goldenes Licht. „Na, L.? Wie läuft es mit der neuen Brille?“, fragte er mich. Wie bitte? „Wie bitte?“, fragte ich verunsichert. Es stimmte zwar, dass ich eine neue Brille hatte – aber er konnte mich doch unmöglich auf so etwas ansprechen. Er kam näher, damit ich ihn besser verstand: „Wie läuft es mit deiner BeLL?“, fragte er erneut. Ach so, mit der BeLL. Das war eine besondere Lernleistung, die ich anfertigte. Sie hatte die Wertigkeit einer Abiturprüfung und ich arbeitete seit Wochen an ihrer Fertigung. Er wusste das, weil ich in meinen Freistunden freitags daran arbeitete und er mich dabei manchmal sah oder mir sogar das Zimmer aufschließen musste. „Gut“, erwiderte ich, „Ich finde leider keinen Betreuer, ansonsten ist aber alles gut“. Ich schluckte. „Alles Gute nachträglich zum Geburtstag, Herr N.“, sagte ich schließlich. Es kostete mich viel Überwindung, aber es war der perfekte Moment dafür. Er versuchte, witzig zu sein: „Geburtstag? Der ist doch schon Ewigkeiten her“, lachte er. Ich lachte ebenfalls, weil ich mir sicher war, dass er sich dann bestätigt fühlen würde. „Na dann, schönes Wochenende“, rief er und ging zu seinem Auto. Ich sah ihm nach, als er wegfuhr. Er hatte gut ausgesehen, im goldenen Sonnenlicht. Schließlich kamen meine Schwiegereltern an. Ich stieg in das Auto und verkündete stolz, dass ich mich getraut hatte, Herrn N. noch zum Geburtstag zu gratulieren. Dann bemerkte ich, dass mein Freund ja selbst Geburtstag hatte und ich deswegen in dem Auto saß. Ich gratulierte ihm schnell und drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Lippen. Doch die gesamte Zeit über musste ich an meinen kurzen Spaziergang denken und wünschte mir, ich könne die Zeit zurückdrehen und ihn noch einmal erleben. Ich wünschte mir diesen wundervollen, unbeschwerten Moment zurück. Zwei Minuten lang hatten wir uns einen Weg geteilt und ich spürte, dass ich meinen Weg noch viel länger mit ihm teilen wollte. Ich stocherte gedankenverloren in meinem Essen herum, wusste nicht, wie es nun weitergehen würde. Ich erkannte, dass ich vor der Zeit alle Macht verlor. Die Zeit kontrollierte sämtliche Umstände und machte ein gemeinsames Leben unmöglich. Selbst, wenn ich mit ihm zusammenkommen konnte, würde er ein alter Mann sein, während ich in der Blüte meiner Jahre wäre. Ich müsste ihn pflegen und er würde lange vor mir sterben. Vor der Zeit verlor ich alle Macht. Und während ich darüber nachdachte, bemerkte ich, dass die Beziehung mit meinem Freund keinen Sinn mehr hatte. An dem Wochenende besuchte ich ihn ein letztes Mal, um mich von der Gültigkeit meiner Erkenntnis zu überzeugen. Doch es war klar, dass wir nicht für die Ewigkeit bestimmt waren. Ich war ein junges Mädchen und musste Erfahrungen sammeln, während er mich einsperrte und mir alle Freiheiten nahm. Zwar hatte ich immer Angst, allein zu sein, musste diesen Schritt allerdings gehen. Erneut sagte ich ihm, dass ich mich verliebt hatte und erneut wusste er nicht, in wen. Er hatte meine Offenbarung im September tatsächlich nicht ernst genommen. Erneut erzählte ich ihm, wer mein Leben auf den Kopf stellte, doch diesmal erkannte er, dass es kein Spaß war. Er beleidigte mich in dieser Zeit häufig und verletzte mich dabei sehr. Die Trennung war notwendig, obwohl sie weh tat. Und zum ersten Mal seit fast drei Jahren Beziehung war ich wirklich frei.
Zu Beginn der elften Klasse sollten wir im Rahmen des Kunstunterrichtes ein Selbstbildnis malen. Dabei war es nicht nötig, sein äußeres Erscheinungsbild darzustellen – man konnte auch die persönlichen Eigenschaften verwirklichen. Ich entschied mich für einen silbernen Vogelkäfig, der von Dornenranken umwuchert war. In ihm befand sich eine Kette, die ich selbst täglich trug: An ihr waren eine blaue Murmel, mit der ich als junges Mädchen häufig gespielt hatte und ein silberner Ring befestigt. Den Ring hatte mein Freund mir geschenkt, als wir ein halbes Jahr lang zusammen waren. Außerhalb des Käfigs öffnete sich eine einzelne, zarte Rosenblüte. Damals wusste ich nicht, warum ich mein Bild so gestaltete – nun wurde es mir bewusst: Meine Beziehung war ein Käfig für mich, der mich gefangen hielt und aus dem ich nicht ausbrechen konnte, weil ich mich wohl möglich an den scharfen Dornen schneiden würde. Außerhalb dieses Käfigs wartete eine einzelne, winzige Blüte auf mich – meine Hoffnung, meine Zukunft. Nur, wenn ich aus dem Gefängnis ausbrechen konnte, würde sich die Rose entfalten und es würden immer mehr Rosen wachsen, die den Käfig irgendwann völlig überwuchern konnten. Ich hatte es nun geschafft, meinem Gefängnis zu entkommen und erkannte, dass Herr N. die Rosenblüte war, die mir Hoffnung gab.
Es folgte eine angespannte Zeit der Umgewöhnung. Ich war nun jedes Wochenende bei meinen Eltern – schließlich konnte ich nicht mehr zu meinem Freund fahren. Sie mussten sich genauso an mich gewöhnen wie ich mich an sie. Wir schrieben in der Woche je zwei Klausuren und Leistungskontrollen, auf die ich mich intensiv vorbereiten musste. Der Termin meines Einstellungstestes rückte näher und meine Aufregung stieg mit jedem Tag. Ich wusste, dass ich nichts Besonderes war und ich mit einer Absage rechnen konnte. Zwar hatte ich inzwischen gute Noten in Mathematik und Physik und war auch stets bemüht, jedoch war mir klar, dass der Betrieb nur fünf Auszubildende im Jahr einstellt und die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ich zu den fünf Auserwählten gehören würde, relativ gering war. Ich bereitete mich gut vor, lernte für den Termin sogar noch einmal, wie man im Kopf dividierte und multiplizierte. Das wusste ich – dank meinem Taschenrechner – schon längst nicht mehr, hatte aber die Befürchtung, dass ich in dem Test keinen Taschenrechner zur Verfügung haben würde. Es war mir wichtig, gut vorbereitet zu sein – ich wollte beweisen, dass ich stark war.
Der entscheidende Tag war gekommen und ich war bereit, mich der Herausforderung zu stellen. Wie geplant, ging ich zuvor noch in die Schule und schrieb dort noch eine Leistungskontrolle in Chemie. Obwohl mir das Fach nicht lag, war ich vorbereitet und ging mit einem guten Gefühl aus der Kontrolle. Den Geschichtsunterricht verließ ich in paar Minuten eher als gewöhnlich, machte mich noch einmal frisch und stieg schließlich in das Auto meiner Mutter. Ich war noch siebzehn und durfte deswegen noch nicht selbst fahren. Unser Ziel war gute fünfzig Kilometer entfernt. Es war ein wunderschöner Novembertag, die Sonne strahlte vor sich hin. Fast 20°C zeigte das Thermometer an – ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit. Wir kamen sehr früh an und ich hatte noch Zeit, mich zu beruhigen. Das Firmengebäude lag auf einem kleinen Berg, von dem aus die Aussicht gigantisch war. Ich genoss die warmen Sonnenstrahlen in meinem Gesicht und wurde von Minute zu Minute entspannter. Schließlich war die Zeit gekommen und ich betrat das Firmengelände. Natürlich fand ich zunächst den Eingang nicht und irrte herum, letztlich gelang es mir aber doch. Ich gab den Mitarbeitern die Hand, stellte mich vor und sollte mich an einen der Uhrmachertische setzen, an dem bereits der Test lag. Mein Name war darauf gedruckt. Ich hatte ungefähr eine Stunde lang Zeit, zahlreiche Fragen zur Firmengeschichte, Politik, Geographie, Mathematik und Physik zu beantworten, sollte mich in Verkaufssituationen hineinversetzen und musste mein logisches Denken unter Beweis stellen. Nachdem ich den Test abgab, führten mich die Personalbeauftragten in einen Raum, in dem ein persönliches Gespräch stattfinden sollte. Alles, was ich dort erzählte, hatte ich zwei Wochen zuvor auch am Telefon schon besprochen. Auf die Frage hin, wie ich auf den Beruf gestoßen war, zeigte ich den Zeitungsartikel aus den Sommerferien, den ich extra für diese Frage mitgebracht hatte. Es war ein recht kurzes, aber entspannendes Gespräch und ich sollte anschließend noch einige Werkstücke bearbeiten. Als ich vor der Werkbank stand und die Sägen und Feilen sah, überkam mich ein kurzer Moment der Verzweiflung: So etwas hatte ich noch nie zuvor gemacht. Neben einer technischen Zeichnung und dazugehöriger Aufgabenstellung lagen einige unbearbeitete Metallstücke auf dem Platz, die ich in eine neue Form bringen sollte. Mein Sägeblatt riss mir drei mal und ich brauchte sehr lange dafür. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam die Personalbeauftragte zu mir, sagte mir, dass es nun reichen würde und bat mich wieder in ihr Büro. Sie erklärte mir, dass ich nach etwa drei Wochen mit einer Rückmeldung rechnen konnte, da es noch zahlreiche Bewerber neben mir gab. Daraufhin bedankte sie sich für mein Erscheinen und wünschte mir noch einen schönen Tag.
Als ich wieder ins Auto stieg, war ich völlig erschöpft. Der Tag war wahnsinnig anstrengend und meine Nerven lagen blank. Ich rechnete mir keine großen Chancen aus, von dem Betrieb angenommen zu werden – mir fielen Fehler in dem theoretischen Test auf und meine Metallverarbeitung war auch keine Glanzleistung. In drei Wochen – gegen Weihnachten – würde ich mehr wissen. Bis dahin musste ich geduldig warten.
Es ergab sich, dass ich mich zwei Tage nach dem Einstellungstest erneut mit dem traf, den ich einst als meinen Freund bezeichnet hatte. Von da an nannte ich ihn wieder bei seinem Namen. Weil wir es gewohnt waren, kamen wir nicht daran vorbei, uns zu berühren. Wir genossen die gegenseitige Nähe und ich dachte nicht darüber nach, dass es falsch war. Ich wollte nur einige Momente entspannen, nach diesen ereignisreichen Wochen. Während ich in seinen Armen lag und vor mich hin döste, klingelte plötzlich mein Handy. Ich sah eine lange Nummer auf dem Display, erkannte sie jedoch nicht. Ich lag noch im Bett, während ich abnahm: „Ja?“, fragte ich, ziemlich müde. „Hier ist die Firma, bei der Sie am Montag zum Einstellungstest waren“, erklang die fröhliche Stimme einer Frau am anderen Ende der Leitung. Plötzlich stand ich kerzengerade und von meiner Müdigkeit war nichts mehr zu spüren. Ich war ungekämmt und trug eine Jogginghose, fühlte mich ertappt. Die freundliche Dame wollte wissen, wie mir der Aufenthalt in der Firma gefallen hatte. Ich erzählte ihr vom schönen Wetter und wie ich mich davor entspannen konnte. Sie wollte von mir wissen, ob ich die weiteren Einstellungstests, zu denen ich im Dezember eingeladen war, besuchen wollte. Ich bestätigte ihr das, mit einem ironisch gemeinten Zusatz: „Es sei denn natürlich, Sie stellen mich ein“. „Ja, das hatten wir vor“, antwortete sie. Mein Herz hüpfte im Dreieck und ich hüpfte mit. Inzwischen stand ich nicht mehr kerzengerade, sondern rannte aufgebracht durch die Wohnung, immer wieder hin und her. Mein Traum hatte sich nach nur zwei Tagen erfüllt – sie wollten mich! Ich war so überglücklich. Ich telefonierte noch etwa zehn Minuten mit der Personalbeauftragten, dann teilte ich meiner gesamten Familie die freudige Botschaft mit. Als ich freudestrahlend zu M. lief – den ich zuvor immer „meinen Freund“ genannt hatte – sah ich, dass er weinte. Er weinte, weil ich Erfolg hatte. Er selbst hatte sein Studium in den Sand gesetzt und fand keine Ausbildung. Er hatte sich ebenfalls in meinem Traumbetrieb beworben – was ich ihm sehr übel nahm, weil wir dadurch zu Konkurrenten wurden – wurde aber nicht einmal zum Einstellungstest eingeladen. Er weinte und ich sagte ihm, dass er gehen sollte. Und ich sagte ihm, dass er niemals wiederkommen sollte. Selten war ich in meinem Leben so glücklich gewesen wie an diesem Abend, doch er weinte einfach nur, weil ich so glücklich war. Ich ließ ihn gehen und er sollte nie wiederkommen. Wir würden von nun an getrennte Wege gehen und auch nicht mehr kuscheln. Er war nun auf sich gestellt und ich auf mich. Es würde keine zweite Chance geben.
Es war ein wunderbarer Morgen. Freudestrahlend stand ich auf, lächelte mein eigenes Spiegelbild an und war so glücklich, wie ich es vermutlich noch nie gewesen war. Die Welt konnte grau in grau sein, meine Freude färbte alles, was mich umgab, bunt. Zwei Wochen zuvor hatte ich eine Freistellung für den anderen Einstellungstest, der am ersten Dienstag des Dezembers sein sollte, beantragt. Da ich diesen Termin nun absagen konnte, sprach ich Herrn N. nach dem Unterricht an. Er hatte sich damals extra eingetragen, dass ich für den Tag freigestellt war. Nun erzählte ich ihm, dass ich spontan bereits eine Zusage bekommen hatte und den Termin absagen konnte. Er stellte keine Fragen. Er wollte nicht wissen, welchen Beruf ich für mich gewählt hatte und er wollte nicht wissen, welcher Betrieb mich angenommen hatte. Es interessierte ihn nicht. Er freute sich nur, dass ich bei der Klausur, die wir in der darauf folgenden Woche schreiben würden, anwesend sein konnte – was jedoch nichts mit dem Tag des Einstellungstestes zu tun hatte. Ich wollte, dass er Notiz von mir nahm und sich dafür interessierte, was ich machte. Ständig brachte ich Kataloge beliebter Uhrmacher mit in die Schule. Er selbst trug eine schöne, silberne Herrenuhr mit bläulichem Ziffernblatt – also interessierte ihn so etwas doch wahrscheinlich. Obwohl ich oft Kataloge auf meinen Tisch legte und vor seinen Augen meinen Freundinnen präsentierte, schenkte er dem keine Aufmerksamkeit. In der letzten Klausur, die für mich so fürchterlich gelaufen war, hatte ich lediglich sechs Notenpunkte erreicht. Vielleicht war er enttäuscht von mir. Oder ich war ihm einfach egal. Schließlich war ich wirklich nur sein Job, nur eine Schülerin, nichts Besonderes.
Ich wollte für ihn aber mehr sein als nur eine Schülerin. Noch eine Woche, dann stand die nächste Klausur an und ich musste ihm beweisen, was wirklich in mir steckte.
An den Freitagen der Wintermonate setzte ich mich in meinen Freistunden nach wie vor in das Computerkabinett, gegenüber von seinem Büro. Da er jedoch den Vertretungsplan schrieb, passierte es öfters, dass voll besetzte Klassen in der Tür standen und mich rauswarfen. Ich sollte mir ein neues Zimmer suchen. Er vergaß öfters, dass ich freitags eigentlich in diesem Zimmer saß und ich musste daraufhin Woche für Woche in sein Büro gehen und ihn fragen, ob er nachsehen konnte, ob in einem anderen Computerkabinett noch Plätze frei waren. Er sah dann immer sämtliche Pläne durch und kam jedes Mal zu dem Entschluss, dass kein Zimmer frei war, wir aber schauen gehen konnten, ob wenigstens ein Einzelplatz frei war. Ich sollte ihm dann durch das Schulhaus folgen – über die Feuerwehrtreppen, die Schüler eigentlich nicht benutzen durften – und dann wies er mir einen Platz zu. Es waren schöne Momente, die ich genoss. Mit ihm durch das Haus zu gehen, war etwas Besonderes für mich. Allerdings hatte er bald keine Lust mehr auf diese Ausflüge und tat stattdessen etwas, was sein Vertrauen mir gegenüber bewies: Er gab mir seinen Schlüsselbund und ich sollte mir selbst ein Zimmer suchen. Nach einigen Minuten holte er sich die Schlüssel wieder ab. Es war ein unglaubliches Gefühl, seine Schlüssel in meinen Händen halten zu können. Ein kleines Metallschild war an dem Bund befestigt, in dem sein Vorname eingraviert war. Er schien darauf stolz zu sein. Mit seinen Schlüsseln hätte ich allerlei Unsinn treiben können – schließlich waren seine Autoschlüssel und Generalschlüssel für die Schule mit daran befestigt. Aber er vertraute mir. Und ich wusste das sehr zu schätzen.
Dennoch empfand ich starken Unmut darüber, dass er mir gegenüber so wenig Interesse zeigte. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen konnte und musste mich schließlich doch damit abfinden – ob ich wollte oder nicht. Er wusste, was ich für ihn empfand, da war ich mir sicher. Schließlich war er nicht blind und ich durchlöcherte ihn mit meinen Blicken förmlich. Und doch wurde der Leistungsdruck, den ich mir selbst machte, immer stärker. Nach meinem Versagen in der letzten Klausur wollte ich in der aktuellen unbedingt zeigen, dass ich zu mehr fähig war.
Anfang des Jahres hatte ich mir diese Klausur für einen Donnerstag eingetragen, wie sie auch im Klausurplan verankert war. Ständig redete Herr N. aber vom „nächsten Dienstag“ und ich wurde relativ spät stutzig. Als ich sonntags vor der Klausur vorsichtshalber noch einen Blick in den Klausurplan warf, stellte ich fest, dass die Klausur tatsächlich für den Dienstag eingetragen war. Die Panik, die mich überkam, war gigantisch. Hätte ich das eher gewusst, hätte ich viel mehr gelernt. Nun war ich durchaus schlecht vorbereitet, packte sofort meine Sachen aus und übte alles, was ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstanden hatte. Integralrechnung hieß das Problem. Nach einigen Stunden des Lernens und der Verzweiflung gab ich mich geschlagen und ging ins Bett, um mich auszuruhen. Im Traum rechnete ich weiter. Doch dieses Mal durfte ich nicht verzagen – ich musste alles geben. Wirklich alles.
Auch am Montag lernte ich noch viel, obwohl ich nach einer Weile bemerkte, dass ich relativ sicher in dem Thema war. Natürlich hatte ich Angst davor, wieder so schwach zu sein wie in der letzten Klausur. Es war schließlich eine wahnsinnige Anspannung, die niemand nachempfinden konnte: Vor mir saß der Mann, den ich beeindrucken wollte, der mich mit seinem kühlen Blick beobachtete, während ich volle Leistung zeigen musste. Er konnte wahnsinnig ernst schauen. Selbst, wenn er seinen Kollegen zum Geburtstag gratulierte, blieb sein Blick starr und undurchsichtig. Und doch war es genau dieser Blick, der sich in meine Brust bohrte und mein Herz direkt traf. Gut, dass niemand die Minuten und Stunden mitzählen konnte, in denen ich einfach nur in diese Augen sah und ihm zuhörte. Während Andere dachten, ich würde nur konzentriert lernen, dachte ich daran, was sich wohl hinter diesen Augen abspielen mochte. Manche Menschen bezeichnen sie als „Spiegel der Seele“ - doch bei ihm spiegelte sich kein Gefühl und keine Regung. Vielleicht hatte er sich einfach gut im Griff, zeigte vor den Schülern keine Schwäche. Vielleicht wollte er uns damit einschüchtern – man erlaubt sich schließlich keine Späße, wenn man dabei so ernst angesehen wird. Eines Tages, so wünschte ich es mir, würde ich erfahren, was hinter diesen Augen passierte. Doch dann war es an der Zeit, mich zu beweisen.
Ich behielt während der Arbeit einen kühlen Kopf, durchdachte alles gut, kontrollierte am Ende meine Ergebnisse nochmals und gab mit einem erleichternd guten Gefühl ab. Zwar wusste ich nicht mit Sicherheit, wie das Ergebnis aussehen würde, es war aber zumindest besser gelaufen als im Oktober. Damit war die letzte Klausur in Mathematik für dieses Halbjahr geschafft – kurz vor Weihnachten würde es bereits Zeugnisse geben. Ab da hieß es nur noch: Warten.
Tag der Veröffentlichung: 24.01.2016
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewidmet an Herrn N., der tatsächlich existiert und alles auf den Kopf gestellt hat.
Wirklich alles.