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Der Kuss des Todes

Die Stadt endet am Horizont. Ich schaue nach rechts, ich schaue nach links – sie endet überall am Horizont. Ich schaue hinter mich und sehe nichts. Vor mir ist ein Gitter, rechts ist ein Gitter, links ist ein Gitter. Weiße Bänder, die Namen tragen, flattern im Wind – sind an den Drähten befestigt. Namen sind in die Balken des Turmes eingeritzt – auf dass sie niemals verblassen mögen. Ja, es ist wahrlich die Stadt der Liebe, die sich um mich herum erstreckt. Und ich steh auf nichts Geringerem als ihrem eigenen Symbol – ich stehe auf nichts Geringerem als dem Eiffelturm. Und die Stadt endet am Horizont. Aber mir gefällt es nicht, nein, ich hasse es! Wie ein Vogel im Käfig, so bin ich eingesperrt. Die Gitter sind höher als ich selbst, damit ich nicht springen kann. Damit niemand springen kann. Der Turm duldet keine Toten, er duldet nur Liebende. Der Wind ist kühl, die Menschen heiß von Liebe und Lust. Und ich will einfach nur noch weg von hier – weg von dieser Stadt. Wo sind die Treppen? Da sind sie, und ich setze den ersten Schritt. Und beim ersten Schritt sehe ich einen Mann – einen wundersamen Mann. Er lächelt, als sich unsere Blicke treffen. Ein kurzer Blick, ich lächle zurück und laufe schneller, damit ich mich nicht verliere. Stufe um Stufe, ich laufe, ich schreite, ich renne, ich fliehe! Er ist neben mir, er flieht mit mir. Seine Augen haben keine Farbe, die ich beschreiben könnte, und doch sind sie so wunderschön! So kühl, so warm, so...  Und die Stadt endet am Horizont. Ich laufe, ich schreite, ich renne, ich fliehe! Wieso nur, wieso ist er immer da, wo ich auch bin? Wieso ist der Turm so hoch, dass die Stufen kein Ende nehmen wollen? Jetzt schaut er mich an, er schaut mir ins Gesicht und spricht - Worte, die kein Mensch versteht – ich habe sie verstanden. Waren sie deutsch oder französisch? Waren sie überhaupt? Und ich verstehe sie – verstehe jedes einzelne Wort des Mannes und mir wird klar, dass er nicht das ist, für das Menschen ihn halten. Er ist nicht aus Knochen und im schwarzen Gewand, trägt keine Sense und kein Stundenglas. Und doch ist er es – der Tod. Ja, der Tod spricht zu mir – er ist wunderschön. Augen, die keine Farbe haben. Und die Stadt endet am Horizont. Woher ich komme, fragt er mich. Tausend Fragen stellt er mir, in der Sprache der Toten die nur Sterbende verstehen. Doch eines fragt er nicht: Er fragt nicht, wie ich heiße. Ich seh' ihn an, er weiß es längst. Ich weiß es auch, doch niemand sonst. Die Sprache, die nur zwei verstehen. Augen, schöner als die Liebe selbst. Liebe, die unsterblich scheint. Doch nur, wenn sie bereits tot ist, kann sie nicht mehr sterben. Ich meine, mich sofort in diese Augen verliebt zu haben, dieses Lächeln, diesen Mann! Denn so ist es doch: Der Tod nimmt einen nicht gewaltsam mit in seine Welt, nein! Man verliebt sich in den Tod und geht ganz von selbst mit ihm. Jeder Mensch sieht eine andere Gestalt – Jeder sieht, was ihn am meisten anzieht. Nur die Augen bleiben gleich, diese wunderschönen Augen! Der Turm scheint endlos, die Stufen enden nicht. Der Tod flieht mit mir vor sich selbst. Und plötzlich bleib ich stehen. Und die Stadt endet am Horizont. Ich stehe, schaue ihn nur an. Er lächelt und weiß, dass er gewonnen hat. Seine Augen funkeln, sein Blick betastet mich. Dann nimmt er meine Hand. Sein Kuss ist kalt und heiß zugleich, mein Herz schlägt schnell, bis es verstummt. Der Kuss färbt meinen Körper bleich, der Kuss nimmt mir mein Augenlicht. Die Welt wird stumm, die Welt verblasst. Und die Stadt endet am Horizont. Nun erzählt ein jeder Mensch, der meine Geschichte kennt, von mir und meinem letzten Kuss, vom Tod, vom Turm, vom Lieben. Die Stadt endet am Horizont und dort endet auch mein Leben. 

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Tag der Veröffentlichung: 24.01.2016

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