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Revierkönige

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Revierkönige

von Daniela Gerlach

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Revierkönige, Text © copyright by Daniela Gerlach 2013

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung der Autorin Daniela Gerlach reproduziert oder vervielfältigt werden.

 

 

 

Dieses Revier beinhaltet

 

I

Küchendunst

Liebe – ein seltenes Tier

Im Hades, Heil Hitler

Nachts, Vergangenheit

 

II

Porno, Bratkartoffeln

Skins

Motte ist krank

Fünf Jahre auf 18 Quadratmetern

Alk, die Entscheidung

 

III

Einfahrende Züge

Silvester Bier

Der Lottoschein

Übelkeiten: Panik, Trotz und Rotz

Zwiebel-Baby

 

IV

Berge und ihre Aussichten

Iss doch schön, König zu sein, oder:

Wie man ein zufriedenes Arschloch wird

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

Titel

Dieses Revier beinhaltet

I

II

III

IV

Impressum

Eine Hintergrundinformation zum Buch

 

 

 

 

I

Küchendunst

Liebe - ein seltenes Tier

Im Hades, Heil Hitler

Nachts, Vergangenheit

 

 

Es war Mitte August, draußen regnete es. Mittlerweile interessierte das schon gar keinen mehr, es passierte sowieso immer nur das Gleiche. Man freute sich auf ein paar warme Tage, es sah auch fast so aus, als könnte etwas draus werden, aber dann zog sich diese grau-diesige Masse wie eine Plane über die Stadt. Irgendwann fing es an zu tröpfeln und schließlich plästerte es so richtig los. Der Regen hatte zwar jetzt weniger Rußanteile als früher, war aber noch saurer geworden. Also: Was sollte man sich überhaupt noch aufregen?

 

Sie saßen in Spargels Küche, diesem warmen Mittelpunkt der Erde. Diese Küche hatte nichts mit der eines westfälischen Durchschnittsbürgers zu tun, wo es Spüle, Herd und einen Tisch mit einer grellen Lampe drüber gab, damit man die Mettwurst besser aus dem Grünkohl pulen konnte. Eher hatte sie etwas von Räuberhöhle, ähnlich solchen Unterschlüpfen wie Kinder sie früher im Wald oder in einem Teil des Kellers besaßen. Der geheime Ort, von dem nur Eingeweihte wussten, ein Ort für konspirative Treffen. Eine Behaglichkeit herrschte hier, die nur zustande kommen konnte, wenn alle einträchtig zusammensaßen und jeder Einzelne diese Eintracht spürte, ein Teil von ihr war. Die Besucher von Spargels Küche waren nicht etwa aus Gründen einer gemeinsamen Philosophie oder gar aus spirituellen Motiven so friedlich. Eher müsste man sagen, sie schmolzen im süß-harzigen Dunst zu einer Einheit zusammen. Man war sich einig, weil Uneinigkeit einfach zu stressig war. Und alles, was einen so anödete und nervte, die ganze Beschissenheit des Lebens, die konnte man draußen lassen, auf dem Abstreicher vor Spargels Wohnung. Man rauchte, hörte Musik, redete über Gott und die Welt. Die Welt, das waren vor allem die Leute, die man kannte. Und Gott, na ja, den gab es ja eigentlich nicht.

 

Auf dem Sofa vom Sperrmüll, das mit einem bei der Wäsche grau-grün verfärbten Laken bezogen war und das sich nun wie ein aktuelles postmodern-kühles Designerstück machte, saßen heute Motte, Bert, der Freese und Vera. Auf einem bequemen, breiten Sessel saß der Chef: Olaf Keune, seit seinem 17. Lebensjahr Spargel genannt. Er beobachtete gerade nachdenklich das Pulsieren der Bässe in seiner Stereoanlage. Mancher hätte vielleicht gesagt, er glotzte dösig durch die Gegend, aber genau wusste man das nicht. So einfach durfte man sich das nicht machen. Olaf überlegte wirklich ernsthaft, welche von den 250 Kassetten im Glasregal er als nächstes auswählen würde. Er musste sich jetzt entscheiden, denn in einigen Minuten würde er vollkommen breit sein, und bis er da wieder runterkam, das konnte dauern. In diesem Zustand die falsche Musik zu hören, käme jedenfalls einer mittleren Katastrophe gleich. Er dachte auch daran, dass er aus dem Stapel Platten, den Hippie-Horst ihm in einem Anfall von Großzügigkeit vor einer Woche geliehen hatte, endlich eine Auswahl treffen und aufnehmen musste. Heute würde er das nicht mehr schaffen. Heute war sowieso alles anders, denn die Frau saß neben ihm, das verwirrte ihn. Außerdem war es bereits die dritte Dose, die innerhalb einer Stunde rumging, und er hatte sie anrauchen müssen, weil das wie fast immer alle dankend ablehnten. Dran ziehen wollten sie an dem Ding, aber anrauchen? – nee, nee, lassma Alter, mach du ma.

Spargels Rauchdose hatte seit ihrer Erfindung vor etwa einem Jahr einen Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad erreicht, den man mit dem von Außenminister Genscher oder Doc Martens-Schuhen vergleichen konnte – zumindest in gewissen Kreisen. Die Haschischkultur hat natürlich unzählige Variationen des Rauchens hervorgebracht, doch Olaf Keune war da mit Hilfe einer alten Bonbondose etwas so Wirkungsvolles wie Praktisches gelungen. Er hatte die leere, flache Blechschachtel mit Klebeband isoliert, zwei kleine Löcher in die Seiten und ein drittes Loch in den Deckel gebohrt. In dieses wurde ein Stück Sieb gedrückt, in das man die warm gemachten Brösel pur oder mit etwas Tabak vermischt gab. Den Rauch, der sich beim Anzünden der Mischung im Inneren der Dose bildete, sog man aus einem der Seitenlöcher, während die Luftzufuhr über das andere Loch mit dem Zeigefinger reguliert wurde. Am Anfang bildete sich so viel zu inhalierender Rauch, dass man meinte, es zerrisse einem die Lungen. Man hustete bis einem Tränen in die Augen traten, was natürlich schlimmer wurde, wenn man das Husten unterdrücken wollte. Dafür war die Dröhnung mit nichts zu vergleichen.

Die Dose gehörte zu Spargels jetzigem Leben wie die Couch in der Küche, wie die Musik, die den ganzen Tag lief, sie gehörte zu dem Nierentischchen, das neben dem Chefsessel stand und auf dem nur ein schwarzer Füllfederhalter und ein Schreibblock lagen, zu Spargels dunkelgefärbten Haaren, kurz: sie gehörte zu seinem Look. Sie gehörte auf einmal auch zu dem Gefühl, dass diese Frau, Vera, wieder neben ihm war. Als ob sich das eine mit dem anderen ergänzte. Damit hatte er nicht gerechnet. Er konnte an seiner Dose ziehen, während er aus dem Augenwinkel ihre Umrisse wahrnahm, ganz real, kein Hirngespinst. Und er wusste, dass sie ihn verstohlen beobachtete und dass es gut aussah, wie er süßen Rauch aus einer Bonbondose in seine Lungen zog.

 

Als Olaf Keune sich gegen halb neun schwerfällig erhob, riss er die beiden Fenster auf, stellte die Musik leiser und sagte: „So, Leute, ich muss euch jetzt leider bitten zu gehen. Ich muss noch´n paar Geschäfte abwickeln.“ Motte nickte, hatte wie immer volles Verständnis und war keineswegs sauer, verstaute verschiedene Utensilien, die auf dem Tisch herumlagen, in seiner Jeansjacke, stand auf, streckte sich. „Ich muss auch morgen früh raus“, sagte er im Gähnen, „dann viel Spaß noch, bis demnächst ma.“

Bert blinzelte und machte ein Gesicht, als hätte man ihn um vier Uhr früh aus dem Tiefschlaf gerissen. „Kannst du mir übers Wochenende was mitgeben?“ fragte er leise, während Olaf ihn zur Tür begleitete. „Ich bezahl das dann am Montag.“

„Das iss schlecht im Moment, tut mir leid“, antwortete Olaf leise durch die Zähne. „Hast ja gesehen, Motte hat für hundert gekauft, der Freese für fuffzig, und es kommen noch Leute. Ich weiß nich ma, ob das überhaupt reicht. Geht echt nich.“

Der Bert nickte und ging wie ein geprügelter Hund aus der Tür. Hätte man ein bisschen Erbarmen gehabt, wäre er nicht ohne den tröstenden braunen Krümel in die kalte Nacht entlassen worden. Aber es hatte keiner Erbarmen.

Der Dunst verzog sich langsam aus der Küche. Vera atmete mal kräftig durch und erkannte das scharfgeschnittene Profil, das leicht hervorstehende spitze Kinn von Dirk Freese, der immer noch auf der Couch saß und mit zittrigen Fingern sein gerade erworbenes Gut in ein Stück Silberpapier wickelte. Seine blassen, gepflegten Schreiberhände, prädestiniert für was Größeres, irgendwann, sicher. Er war viel zu nervös in letzter Zeit. Er dachte, es käme vom Speed, aber im Moment war es wohl auch Spargels Klassefrau, die in sicherem Abstand in der Ecke des Sofas ihre hübschen Beine angezogen hatte. Sie nahm immer wenig Platz ein, allerdings hätte man es diesmal auch als Distanziertheit deuten können. Manche Menschen spüren es, wenn sie anderen nicht sympathisch sind. Dirk Freese war so einer, obendrein einer, den das gleichgültig ließ. Seinem Röntgenblick entging nichts, doch ahnte niemand, was sich hinter dieser Fassade der Zerstreutheit verbarg.

„Die meinen doch alle, sie könnten Fett ansetzen in den Sesseln von Vater Staat“, sagte er, das Gespräch mit Vera wieder aufnehmend, „aber es gibt Abnutzungserscheinungen. Dass das nicht mehr lange gut geht, kann man sich doch ausrechnen. Ich hab das schon vor dem Regierungswechsel gesehen. Aber die Allgemeinheit ist ja lieber blind und taub. Wenn bald jeder selber sehen muss, wo er bleibt, ist es zu spät, dann kommt das große Wehklagen. Hach, wie ungerecht doch alles ist! Keiner kümmert sich um die Armen und Benachteiligten.“

„Meinst du, weil der andere Helmut auf dem Thron sitzt, ändert sich auf einmal alles? So schnell kann man den Sozialstaat nicht zerstören.“

Er fragte sich, ob er ihren schnippischen Ton als gutes oder weniger gutes Zeichen deuten sollte. Das musste er noch herausfinden. „Es muss und wird sich was ändern. Aber bis das die Mehrheit kapiert, hat man schon längst über ihre Köpfe hinweg entschieden.“

„Ja, echt“, meinte Spargel wie erwachend, „der Bert wird langsam fett. Klar, der bewegt sich auch nich. Wenner nich so geizig wär, würd er seine Freundin auch noch auffe Bank schicken, dasse ihm die Stütze abholt. Sonst isser ja nich verkehrt. Aber langsam geht mir die Bettelei auf die Nerven. Seit ich deale, kommt der hier dauernd angetanzt und will umsonst rauchen. Ich hab ma zu ihm gesagt: Das iss nich, Alter. Wenne guten Stoff haben willst, dann kauf dir was, dann lad ich dich auch mal ein. Aber meistens muss ich ne Woche oder länger auf meine Kohle warten. Solche gibt´s ebent.“

Vera und Freese blickten etwas perplex auf den Spargel, aber der Freese reagierte gleich, denn der letzte Satz konnte auch auf ihn zutreffen, weil er sich ständig und überall Geld lieh und nicht zurückzahlte. Obwohl seine Alten Geld hatten. Da fragte man sich doch wieder.

„Wie sieht´s denn aus? Ich dachte, wir wollten noch in die Stadt?“ Er zündete sich eine Zigarette an und wartete darauf, dass er ruhiger wurde. Er musste Silvie anrufen. Er hatte ihr gestern eine gescheuert. Hand ausgerutscht, soll vorkommen. Auf einmal wirkte er eingefallen und müde. Mit 23 schon so müde. Trauriges Los derjenigen, die alles begreifen.

„Sag mal, geht´s dir nicht gut?“

Er fuhr zusammen. Sie fragte das. Sie.

„Was? Nee, nee ..., bin nur etwas neben der Kappe. Ich glaub, ich muss an die frische Luft, Beine vertreten. Lasst uns endlich abhauen.“

Spargel war kurz ins Bad gegangen und kam nun mit angefeuchtetem Gesicht zurück. Er setzte sich wieder in seinen Sessel und tat ein paar tiefe Atemzüge. „Mann, ich bin breit. Am besten, ihr geht schon vor. Um neun hab ich noch´n Kunden. Da wäre es vielleicht nicht schlecht, wenn keiner mehr hier abhängt.“

„Du kommst aber ins Hades?“, fragte Vera besorgt.

„Ja klar, ich komm nach.“

Dirk Freese, jetzt schnell und spinnewippartig auf die Beine gekommen, sah auf das wuchtige Häufchen auf dem Sessel herunter. Ein kalkiges Gesicht, unter dem ein buntes Hemd hing, so zerknittert, als hätte man es aus einem Korb alter Wäsche gezogen; der nachwachsende Haaransatz zeigte Olafs blondes Echthaar, das sich in seiner Verlängerung unschön mit der schwarz-braunen Tönung vermischte bis es etwa auf Kinnhöhe in schwarze, ausgetrocknete Spitzen überging. Der Spargel! Seit er dealte, war er wer. Seine Kunden! Allerdings musste er zugeben, dass der Spargel seine Sache ziemlich gut managte. Auch wenn er ein Scheißdealer war, er war nicht doof. Man hätte meinen können, er sei dafür geboren.

Dabei war es noch gar nicht lange her, dass Olaf Keune diese Profession ausübte und nebenbei eine gewaltige Wandlung vollzogen hatte. Aus dem jungen Mann im schwarzen Secondhand-Anzug, mit dem er Vera auf einer Party zu Füßen gelegen hatte, war ein cooler Bruder mit Vorliebe für Paisley-Muster und psychedelische Musik geworden. Auf Spargels Wandlungen und Wandlungsfähigkeit wird später noch ausführlicher eingegangen, vorerst nur so viel: der jüngste Lebenswandel (man muss tatsächlich von Lebenswandel sprechen) ging u.a. mit einem Wohnungswechsel sowie durch kostspielige Drogen und Abtauchen ins Nachtleben bedingter und auch gewollter Gewichtsabnahme und neuer Kleidung einher. Das alles ließ sich mit Arbeitslosenhilfe nicht mehr finanzieren. Also wurde er Dealer. Dealer ist auch ein Beruf. Außerdem war er endlich in der Position, mit der er schon immer geliebäugelt hatte: Alle wollten etwas von ihm. Zudem besaß nicht nur seine Ware magnetisierende Kraft, er selber auch. Man konnte sogar sagen, Olaf Keune war genau der richtige Mann für dieses Fach. Er besaß Organisationstalent und behielt – auch wenn das jetzt absurd klingen mag – einen klaren Kopf beim Geschäft. Spargel wurde ein richtig guter Kaufmann. Den Wareneinkauf richtete er nach den Bedürfnissen seiner Kundschaft, ein kleiner, aber treuer Kreis. Wer etwas wollte, bekam es pünktlich und korrekt, bei seinem Lieferanten war er nie in Zahlungsverzug. Mit härteren Drogen handelte er nicht, das wäre ihm zu riskant gewesen, nur mit Dope. Dafür schaffte er sich eine Waage an, die er vorsorglich im Küchenschrank versteckte, wenn er aus dem Haus ging. Das hatte weniger mit Paranoia zu tun, mehr mit Angeberei, auch wenn es erhöhte Vorsicht erfordert, Chef eines nicht legalen, sprich nicht ungefährlichen Unternehmens zu sein. Auf jeden Fall muss einer, der sein Arbeitswerkzeug im Küchenschrank versteckt, etwas Besonderes sein.

Dirk Freese trat von einem Fuß auf den anderen. Rauch biss in seine Augen, er kniff sie zu, nahm aber die Zigarette nicht aus dem Mundwinkel.

„Biste startklar, Prinzessin?“

„Aus bestimmten Gründen hab ich etwas dagegen, wenn man mich Prinzessin nennt.“

„Sorry.“

Vera stand auf, zog ihr T-Shirt stramm und ihre weit geschnittene Jeans hoch und verschwand kurz im Badezimmer.

 

Er konnte es nicht glauben, sie gingen tatsächlich gemeinsam. Vier Stockwerke lang war sie vor ihm, genug Zeit, um ihren samtigen Bewegungen und dem Wiegen ihres runden Hinterns zu folgen. Es hatte endlich aufgehört zu regnen, aber es war kühler geworden, Herbstgerüche flogen durch die Dunkelheit. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich in den Pfützen. Die Häuser standen verschämt in ihrer schmucklosen, manchmal hässlichen Einfachheit, trugen Fassaden, die niemand streichen wollte. Schöner war der Glanz ihrer rotbraunen Haare. Bei feuchtem Wetter ringelten sich kleine Locken um ihre Stirn. Er hätte nicht gedacht, dass sie mit ihm kommen würde. Er hatte genau ihren misstrauischen, etwas unsicheren Blick gesehen, der ganz im Widerspruch zu der Lässigkeit stand, mit der sie ihre Windjacke nahm und mit einem Kopfnicken Richtung Tür deutete.

 

 

Olaf Keune überlegte nicht mehr, welche Musik er auflegen könnte, er überlegte, was ihn störte, oder: ob ihn etwas störte. Die Ruhe, die in die Räume zurückkehrte, nachdem alle gegangen waren, tat gut. Sie schuf aber auch eine Leere, die unangenehm werden konnte. Man musste sie füllen, möglichst nicht mit Gedanken. Es konnte ein Gedanke dabei sein, der einen schlecht drauf sein ließ. Er wollte auf keinen Fall schlecht drauf kommen, nicht heute, wo er sich so gut fühlte. Er fühlte sich doch gut? Im Schlafzimmer stand Veras Reisetasche wie etwas Endgültiges. Wie hatte er sich vor diesem möglichen Augenblick gefürchtet, wie hatte er ihn herbeigesehnt, weil er eigentlich nicht möglich war! Die Frage, was er von dem Ganzen halten sollte, war noch nicht geklärt. Seine Nervosität störte ihn, seine Überraschung und Freude hätte er gern geleugnet. Es störte ihn auch, wenn sie ihn beobachtete und so tat, als verstünde sie ihn. Er war jetzt ganz anders, verdammt noch mal, und hatte keinen Bock mehr auf Stress.

Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit ihrer Stimme am Telefon. Sie sprachen nicht viel, aber aus dem Wenigen hörte er heraus, was sie beide verpasst hatten und spürte ein tiefes Verlangen, sie zu sehen. Dagegen war er machtlos, heute noch genauso wie damals. Sie fragte: „Möchtest du mich sehen?“ Er sagte: „Nein, eigentlich möchte ich dich nicht sehen.“ Das Zittern in seiner Stimme war nicht zu überhören, machte ihn wütend, sein Herz raste, als wollte es aus der Brust springen, es rasselte in der Kehle wie um das Gesagte auszulöschen, und ihre Enttäuschung, ihre Hilflosigkeit, machten ihn unendlich traurig. Sie hatte ihn gesucht, lange, immerhin seine Stimme gefunden. Alles brach zusammen. Ein Jahr und vierundzwanzig Tage lang hatte er sein Leben im Griff gehabt. Es ging ihm gut. Er war gewachsen, ganz und gar anders geworden, das Jetzt hatte nichts mehr mit dem zu tun, was vorher war. Die winzige Hinterhofwohnung, die sich an eine ehemalige Fahrradwerkstatt anschloss, gehörte ebenso der Vergangenheit an wie die Weiber, die dort ein und aus gingen und die alles mit sich machen ließen und die alles mit ihm machten, das ewige Knapsen mit dem Geld, die Alkoholexzesse, die düstere Musik und die Depressionen. Vera, die Frau, die man essen wollte, die man aber nicht verstand und die ihn nicht verstand, diese unmögliche Frau, die sich in sein Leben drängte – vergangen. Die Liebe, dieses seltsame Tier, vom Aussterben bedroht. Die neue Wohnung lag in einer schmalen, unscheinbaren Straße in der Nordstadt, eine lichtlose Gegend mit Billigsupermärkten, Kebab-Buden, miefigen Kneipen und Porno-Kinos. Sie war günstig, hatte zwei geräumige, frisch gestrichene Zimmer und ein Bad mit Dusche. Andere Wohnung, anderes Leben, es ging weiter. Dann kam Martina. Martina war da, weil Vera nicht da sein durfte. Irgendwann hatte er stockbesoffen auf ihren breiten Hüften gelegen und da war es auf einmal, als könne er sich endlich fallen lassen, als wäre er angekommen, und damit war endgültig Schluss mit den unerreichbaren Traumfrauen, die einen ins Herz stachen. Am ersten Morgen hatte er sich ein bisschen geekelt vor Martina, wollte ihr weißes, gedunsenes Gesicht nicht zum Leben erwecken und machte, dass er rauskam, bevor sie aufwachte. Doch zu Hause kam er sich schlecht vor. Das hatte die Frau nicht verdient. Irgendetwas Gutes hatte diese Begegnung, und genau das, nicht mehr und nicht weniger, würde ihn wieder zu Martina zurückbringen. Die Briefe aus München gingen mit dem Vermerk „Empfänger unbekannt“ zurück. Olaf spürte ihren Schmerz – bis in seine sichere Burg im vierten Stock. Er wollte aber vergessen. Alles, was schön war. Das Schöne war kompliziert, verklemmt, sprachlos, traurig. Ihr Mund, ihr Geruch, ihre weiße Baumwollunterwäsche, sein Kopf im fruchtig-feuchten Grab zwischen ihren Beinen, daraus durfte er nicht mehr machen als es war. Ja, es war gut, dass Martina kam. Die hatte immer irgendwas zu erzählen, rauchte mit ihm, und auf ihrem Balkon stand ein Kasten Bier, falls Besuch käme. Martina war echt ne nette Frau.

 

 

Dirk Freese überlegte, was er sagen sollte. Das war höchst ungewöhnlich, denn normalerweise tat er nichts anderes als reden und übertraf darin sogar den Spargel, wenn der breit war, zumindest was die Redegeschwindigkeit anging. Entweder machte der Freese eines Tages Karriere oder jemand stopfte ihm das Maul, es gab nur diese beiden Möglichkeiten. Jemand, der zufällig nicht gut drauf war, den konnten schon mal Gewaltphantasien überkommen bei dem Gelaber, das von ständig wippenden Füßen und diesem unsteten, hin und wieder scheelen, Blick begleitet wurde. Es lag immer etwas Gehetztes in seinem Gesicht und seinen Gesten. Durch das ewige Herumzappeln hätte er sich fast zur Karikatur seiner selbst gemacht, wäre da nicht dieses Ätherische gewesen, eine Art verlorene, einsame Zartheit, die man hinter seiner Blässlichkeit ahnte. Aufgrund seiner nie stillstehenden Motorik bekam man den Eindruck, dass er ein unerschöpfliches Energiepotential besaß, welches aber oft genug von dem weißen Pulver kam, mit dem er sich wach hielt, weil er nichts verpassen durfte. In Dirk Freese wurzelte eine panische Angst, nicht der Erste zu sein, der die Neuigkeiten erfuhr. Die geringste Unaufmerksamkeit konnte einem eines Tages zum Verhängnis werden und von der großen Chance würden nur noch die Schlaglichter zu sehen sein. Jeder bekommt im Leben eine Chance, davon sind auch die Bewohner des Ruhrgebiets nicht ausgeschlossen.

Dirk Freese wusste immer, was los war in der Stadt, wer mit wem gevögelt hatte, welche Filme man sich ansehen, was man lesen musste, wer wichtig war. Reine Sympathie war sicher nicht der Grund, weshalb er sich an einen alten Loser wie den Spargel hängte. Er frequentierte dessen Küche wie eine Schabe, die den richtigen Ort gefunden hatte, um sich durchzufressen. Er vergnügte sich, während er mutig und weit in die Ferne, vielleicht schon bis ins nächste Jahrzehnt, blickte.

Das Merkwürdige war, dass trotz seiner ständigen Anwesenheit niemand richtig über ihn Bescheid wusste. Der Sohn vom Gardinen-Freese, dem alten Geschäft im Kreuzviertel, war das einzig Konkrete, was man wusste. Er quatschte einem zwar permanent die Ohren voll, aber über ihn selber erfuhr man irgendwie nichts. Der Freese hatte keine Vergangenheit. Er gehörte zum Beispiel keiner Gruppe oder Richtung an und hatte wohl auch nie einer angehört. Zumindest wäre das ein Anhaltspunkt gewesen, man hätte ihn einordnen können. Aber nein, er war einfach irgendwann aufgetaucht und keiner konnte mehr sagen, wo und wann das war. In regelmäßigen Abständen kreuzte er bei einem auf, ob man wollte oder nicht. Meistens wollte man nicht.

Der Gegensatz zwischen dem Freese und den schrägen Vögeln und Nichtsnutzen, die kaum noch ihre Stadthöhlen verließen, konnte größer nicht sein. Unter all den müden Kriegern musste er ja zu der Erkenntnis kommen, dass er nicht nur besser, sondern auch etwas Besonderes war. Anstatt weiterhin seine falsche Freundlichkeit zu pflegen, beschloss er, sich über alle zu erheben und legte sich den mittlerweile unverkennbaren zynischen Zug um den Mund zu. Seit jenem Tag nannte ihn niemand mehr beim Vornamen, er war nur noch „der Freese“. Ein eingebildetes Arschloch eben, wusste man ja schon immer. Der war eben so.

Vera kannte ihn flüchtig, hatte kaum drei Sätze mit ihm gewechselt und gestand sich ungern ein, dass er von den ganzen Typen, die zu Olaf kamen, die angenehmste Gesellschaft war. Neben ihm fühlte sie sich sicher. Die Freeseschen Antennen hatten das bereits registriert. Es gab da Parallelen zwischen ihnen, eine Art Code, durch den man sich verstand, obwohl man so tat, als verstünde man sich nicht.

„Wie läuft´s denn so mit der Fotografie da unten in Bayern?“

Na, bestimmt besser als hier! Oder was glaubst du?“

Der Freese zuckte mit den Achseln. Eingebildete Kröte, dachte er. „Ich wüsste nicht, warum. Was fotografierst du denn, wenn man fragen darf?“

„Ich bin auf Industrie und Werbung spezialisiert. Manchmal mach ich aber auch People, das kommt dann von meinem Studiokollegen, wenn er überlastet ist.“

„Sag bloß, du hast ein eigenes Studio!“

„Ein halbes. Die andere Hälfte gehört Bruno Zeiner.“

„Bruno Zeiner? Der Name kommt mir bekannt vor.“

Vera sah ihn von der Seite an und nickte. „In Fotografenkreisen jedenfalls ist er bekannt. Ja, ja, der Bruno ... Ist zwar ein Chaot, aber ich hab ne Menge von ihm gelernt. Leider säuft er zu viel.“

„Erzähl doch mal was über deine Arbeit. Ich find das interessant.“

„Na ja, interessant ist es, aber man muss auch dafür kämpfen, dass man interessante Aufträge kriegt. Die fallen nämlich nicht vom Himmel. Ich bin ja noch ein unbeschriebenes Blatt, auch mit Bruno Zeiner als Ausbilder. Trotzdem kann ich mich eigentlich nicht beklagen, man kommt rum, schnuppert überall mal rein. Letzte Woche zum Beispiel, da hab ich eine Reportage für die Kundenzeitschrift von sonner Farbfirma gemacht, Autolackierer bei der Arbeit.“

„Echt? Und jetzt hat deine Kamera Farbkleckse.“

„Quatsch! Aber ich im Schutzanzug und dann in der engen Spritzkabine, war ganz schön unbequem. Ich sollte mir dann auch noch ne Maske aufsetzen. Der Chef hat ein Gezeter gemacht von wegen Schutzbestimmungen und Vergiftungsgefahr. Ich sag: Hör mal, Meister, und wie soll ich durch die Kamera kucken? Werd in der halben Stunde schon keinen Schaden nehmen. Wenn ich draußen rumlaufe, setz ich auch keine Maske auf, obwohl die Luft reichlich verpestet ist, oder?“

Vera lachte, der Freese auch, etwas zu spät allerdings, weil er sich Vera im Schutzanzug ohne was drunter vorstellte. In der engen Spritzkabine. Darüber hinaus fand er Lachen überflüssig. Er konnte es auch gar nicht richtig. Wenn man zu viel lachte, nahm einen keiner mehr ernst, dann ging der Respekt flöten, den man in gewissen Situationen brauchte. Jetzt aber durchströmte ihn für Sekunden ein unbekanntes Gefühl und machte ihn ganz warm von innen. Er freute sich auf den Abend – und hatte sogar Lust zu lachen.

 

 

Er hatte sich umgezogen, rauchte eine Zigarette und fühlte sich wahrscheinlich wohl. Weil er sich bestimmt wohl fühlte, umspielte ein Lächeln seine Lippen bei dem Gedanken an Freese und Vera. Zwei Kinder aus gutem Haus, die vom Leben noch nichts mitbekommen hatten. Der Freese rückte einem gar nicht mehr von der Pelle, seit Vera da war. Olaf hatte eigentlich nichts gegen ihn, im Gegenteil, seine Gesellschaft war ihm an manchen Tagen sogar angenehm. Besonders dann, wenn ihn alle mit den verbalen Kostproben ihrer verkifften Hirne nur noch nervten. Wenn sie sich mit ihren plädderigen Ärschen hier festsaßen und dummes Zeug redeten oder sich darüber lustig machten, weil Olaf sich Bücher aus der Stadtbücherei lieh. Dabei waren sie nichts als Parasiten. Der Freese war auch ein Parasit, ein Egoist, ein Aasgeier, der nur darauf wartete, dass einer Schwäche zeigte. Der musste wieder mal in seine Schranken gewiesen werden, bestimmte Dinge duldete der Spargel nicht, das gab er dann jedem auch unmissverständlich zu verstehen. Vera aber, die fuhr nicht auf den Freese ab, sondern auf den guten alten Spargel. Als er einen Schluck Bier aus der Dose nahm, tropfte ihm zusammen mit dem Schaum auch etwas Genugtuung von den Lippen. Gelitten hatte das arme Mädchen. Das machte sie nun etwas menschlicher. Die tolle Fotografin ist aus Liebe vom Olymp gestürzt, direkt auf den heimatlichen Boden.

Tja, so war das. Alle wollten sie was von ihm, alle kamen sie angeschissen. Er hatte eben was zu bieten, war jemand, der etwas erzählen konnte, eine Persönlichkeit, wenn man so will, ein beschriebenes Blatt, das jeder kannte. Und wenn einer wirklich begriffen hatte, was ablief, dann er. Die Zusammenhänge zwischen Gestern und Heute? Fragen Sie Olaf Keune, den alten Spargel.

Er hatte auch begriffen, was psychedelisch war. Obwohl er ja generationsmäßig eigentlich nichts damit zu tun hatte, aber was soll´s? Als Olaf lernte, das magische Wort einwandfrei auszusprechen, bewegte er sich schon ganz gut darin und besuchte regelmäßig das Opossum (nordamerikanische Beutelratte mit wertvollem Fell, lt. Duden), den Psycho-Laden von Hippie-Horst. Der wiederum brachte ihn auf den Geschmack bestimmter Pilzsorten und anderer Nahrungsergänzungsmittel und wurde so etwas wie sein Guru, heute würde man eher sagen: Stilberater. Auf jeden Fall hatte er jetzt die Weisheit gefressen, und als er dann auch noch zufällig eine Reportage über Velvet Underground im Fernsehen sah, erschien ihm stante pede eine Vision vom neuen Spargel. Die Frisur von John Cale!

Zunächst mal musste er zehn Kilo abnehmen und sich die Haare wachsen lassen, ein Prozess, der die Geduld von Olaf Keune auf eine harte Probe stellte, denn wenn ihn einmal eine Idee begeisterte, dann musste sie möglichst sofort in die Tat umgesetzt werden können. Das zu einem Pagenkopf geschnittene, blonde Haar färbte er schwarz, was seine schneeweiße, zu Fett neigende Haut hervorhob. Dazu trug er farbenprächtige Hemden. Da seine Phantasie keine Grenzen kannte und sein eigenwilliger Geschmack nicht mit dem aktuellen Warenangebot zu vereinbaren waren, gab er bei einer hübschen Schneiderin bei ihm um die Ecke verschiedene Hemden in Auftrag. Eines seiner schrillsten Teile war ein kurzärmliges, weites Hemd aus weinrotem Nylonstoff mit golddurchwirkten Ornamenten und goldenem Kragen. Vera hatte von dieser Entwicklung nichts mitbekommen, deshalb blieb ihr glatt der Atem weg, als sie Olaf nach einem Jahr und vierundzwanzig Tagen in eben diesem Kleidungsstück wiedersah. Aber sie blieb trotzdem. Ein eindeutiger Beweis dafür, dass Liebe blind macht.

Leider war Olaf nicht der schlaksige, spindeldürre Typ, der er gern gewesen wäre, so wirkte er eher wie ein etwas zu stämmiger bunter Hund. Eine Zeit lang konnte er sich ohne Schwierigkeiten selbst etwas vormachen, denn seine Euphorie hielt an, denn seine Welt war jetzt psychedelisch und vieles, was er vorher verschmäht hatte, total abgefahren, seine Freunde waren Brüder und die Frauen Schwestern. Hätte nur noch gefehlt, dass er die unfreundliche Tussi beim Schlecker, wo er sein Klopapier kaufte, Schwester genannt hätte. Und Vera, Vera war keine Schwester, auch wenn sie sich noch so darum bemühte. Es war doch alles in Ordnung gewesen, eine Zeit lang, bis jetzt. Aber es lag in Veras Augen, das, was er sich nicht eingestehen wollte. Er sah an sich herunter und spürte, dass eine Wut in ihm wuchs, die, würde sie sich entladen, schreckliche Auswirkungen haben konnte, wenn er sich nicht sofort dieser Jeans und dieses zerknitterten blau-grünen Hemdes entledigte. Erst nachdem er sich zum zweiten Mal an diesem Abend umgezogen hatte, atmete er befreit auf. Es klingelte. Die nächste halbe Stunde brachte 80 DM Reingewinn.

 

 

Sie nahmen den Weg durch die Einkaufszone, die jetzt öd und leer wirkte. Nur ein paar Penner saßen angeleuchtet von den Notlichtern in den Eingängen der Geschäfte. Einer lallte ihnen etwas zu.

„Arme Schweine“, meinte Vera, „selber schuld“, der Freese.

Das Elend anderer hatte ihn noch nie gekümmert. Wo käme man da hin.

„Du bist ja drauf! Das kann man auch nicht immer sagen, selber schuld. Es ist die Gesellschaft.“

„Ja und, die Gesellschaft! Wir leben eben in einer kapitalistischen, ichbezogenen Gesellschaft. Du denkst doch wohl auch zuerst an dich, oder spielst du lieber barmherzige Schwester für die armen Schweine? Na also! Man muss sich nur klar zum Egoismus bekennen. Viel gesünder als das scheinheilige Getue.“

Vera murmelte etwas. Es gab kein Argument gegen Freeses Kaltschnäuzigkeit.

Nach einer Weile passierten sie einen großen Schotterplatz, der in der Dunkelheit lag und so manches verdeckte: Stricher bei der Arbeit, kleine Messerstechereien oder Paare, die es im Auto trieben. Dann kam die Zone mit den Bars, Peepshows und dem Jungbrunnen, ein Striplokal, in dem Micha, ein Freund vom Freese, als Kellner arbeitete. Von hier aus sah man schon die Leuchtschrift des Hades.

Ursprünglich als Nobelschuppen eröffnet, hatte das Hades in den zwei Jahren seiner Existenz zigmal den Besitzer gewechselt und war immer weiter heruntergekommen, was bei der Lage nicht verwunderlich war. Schlimme Gegend, sozusagen. Seitdem die Dekadenz Einzug hielt, lief der Laden besser, beziehungsweise: hier spielte die Musik. Am Wochenende, wenn die Fertigen und die Stammkunden erst spät nach Mitternacht aufkreuzten, vergnügte sich sogar die rotwangige Jugend aus dem Hochsauerlandkreis, schwarz gewandete Sprösslinge aus der unteren und gehobenen Mittelschicht. Der Freese hatte hier schon ein Vermögen verprasst, sprich das Vermögen von seinen Alten, die nichts dagegen hatten, dass sich der Junge ein bisschen amüsierte. Rauch- und Alkoholdunst schlug ihnen an der Kasse entgegen. Als sie unter dem Schein greller Lampen den Eintritt bezahlten, drückte ihnen der dicke Farouk missmutig einen Stempel auf die Hand. Es hieß, er habe vor einigen Jahren mal jemanden im Keller einer – schon wieder geschlossenen – Diskothek eingemauert. Mit dem tumben Fettkloß war eben nicht zu spaßen, auch wenn er manchmal so was Bärchenhaftes an sich hatte.

Nachdem man die Grenzkontrolle passiert hatte, ging man zwischen Spiegelwänden eine schwarz gestrichene Treppe hinauf. Dann stand man auf einer Art Plattform und von dort aus führte eine andere Treppe wieder hinunter. Unten angekommen konnte man nach links auf die Tanzfläche wetzen oder gleich an der Bar hängen bleiben. Heute arbeitete Anke, angetan mit einem Ringelhemdchen und weißer Röhrenhose.

„Na Freese, dich habbich ja seit gestern nich gesehn. Limes?“

„Natürlich, Ankeschatz! Und für meine entzückende Begleitung ebenfalls.“

Vera, die Frau die hier nicht hingehörte, blickte zur Tanzfläche, auf der sich ein paar Berufsschüler zu Madonna bewegten. Vera konnte diese Musik nicht ausstehen, auch nicht den Limes, der vor ihr stand. Sie sah auf die Uhr. Und wenn er nicht käme? Sie schüttete das grausige Zeug hinunter, als könnte sie damit ein ungutes Vorgefühl betäuben. So wie früher würde es nicht mehr sein, so schlimm nicht, ihre Reisetasche stand schließlich bei ihm. Nervös griff sie nach dem nächsten Glas.

„Ej, Moment mal! So was macht man aber nicht. Jetzt stoßen wir aber an.“

„Oh, entschuldige. Prost!“

Vera fühlte einen wohltuenden Nebel im Kopf und fand, dass es nicht schlecht wäre, wenn das heute so bliebe. Sie erkannte ein Gefühl wieder, aufregend, schön schmerzend, ausschließlich mit Olaf Keune verbunden. Doch das Gefühl war tückisch und konnte leicht umschlagen. Es konnte dramatisch werden, einen in die Tiefe reißen. Allein der Gedanke an die Momente, als er sich nach einem Cafébesuch schweigsam in eine andere Richtung entfernt hatte, als sie bei ihm geklingelt und keiner die Haustür geöffnet und sie hoffnungslos weitergeklingelt hatte, nur der Gedanke daran ließ sie jede Sekunde ihrer Pein noch einmal erleben. Oft hatte sie ihn erst nach Tagen am Telefon erreicht, und wenn sie sich endlich sahen, kamen sich nur ihre Körper nah. Nur Körper, weiß, schwitzend, während feuchte Kälte aus der leeren Werkstatt nebenan über den Fußboden bis zu ihnen kroch, vermischt mit dem Geruch von Katzenpisse, der Anblick leerer Sektflaschen neben einem vollen Aschenbecher.

„Was machst du eigentlich noch mal?“, fragte Vera, während sie in ihrem Kopf einen Satz hörte: Du bist die schönste nackte Frau, die ich je gesehen habe. Als sie das erste Mal miteinander schliefen. Als sie wieder und wieder miteinander schliefen als wäre es das erste Mal. Heute ist ihre Begegnung anders, die Erinnerung hat endlich ein Band geknüpft, als könnte es endlich mehr sein, Liebe? Die Zeit ohne ihn, wie Jahrzehnte, war vorbei, nur diese Ungewissheit war geblieben – und willkommen. „Du schreibst, hat mir Olaf erzählt.“

„Ja, für sonne Revierzeitung. Eigentlich mache ich Anzeigenakquisition, das Schreiben hat sich so ergeben. Hab zwar noch größere Projekte im Hintergrund, aber bis es richtig losgeht, vertreibe ich mir die Zeit mit dem Geier. Ich versuche gerade, den Kulturteil etwas auszubauen.“

„Da hast du bestimmt nicht viel zu tun.“

„Ich nehme an, du willst damit zum Ausdruck bringen, dass es hier keine Kultur gibt?“ Der Freese ärgerte sich. Dieser Job hatte ihm immer ein gutes Gefühl gegeben. Damit konnte man zwar nicht seinen Lebensunterhalt bestreiten, dafür wusste man aber, dass man einen Schritt in die richtige Richtung ging. So was kreativ Zeitgeistmäßiges machte keiner hier. Er tat wenigstens schon mal so.

„Wenn du in einer Großstadt wie München lebtest, wüsstest du, was ich meine. Was da geboten wird, und zwar tagtäglich, kannst du dir nicht vorstellen.“

„Wahrscheinlich bist du nicht mehr auf dem Laufenden, was diese Gegend betrifft. Man muss sich nur bewegen. Wer Kultur will, der kriegt die jetzt an jeder Ecke; alte, frische, neu gemixte Kultur, man gibt sich echt Mühe. Das mag in einer Stadt wie München nichts Besonderes sein, aber hier zum Beispiel, da haben die Leute richtig Spaß, wenn ihnen was geboten wird. Die können sich richtig begeistern. Das Revier ist besser als sein Ruf.“

„Was soll denn hier laufen, damit die Leute sich begeistern können? Ich dachte, Stellenabbau wäre im Angebot.“

Freeses Finger betrommelten ungeduldig die Metallauflage der Theke. Er blickte auf den Aschenbecher, in dem eine glühende Kippe ein Stück Cellophan ankokelte.

„Mit der Industrie ist es vorbei, das ist klar. Aber wenn es mit der Industrie vorbei ist, kommt eben was anderes, ganz einfach. Wer weiß, was dabei rauskommt, aber auf jeden Fall liegt darin eine Chance – wenn man flexibel ist, versteht sich. Hier hat der Strukturwandel begonnen, Mädchen! Noch nich mitgekriegt, he? Alles wird umgekrempelt. Statt Kohle wird die Kultur gefördert, der Pott wird zum Park.“

Vera sah auf die Uhr. „Ha, ha, ha!“ Sie riss den Mund weit auf. Der Freese sah nur zwei plombierte Zähne. Trotzdem unschön.

„Lach nich, das ist kein Scherz! Unsere dreckschleudernden Zechen werden zu sauberen Museen umfunktioniert und für kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung gestellt. Mag es früher alles nicht gegeben haben, aber das heißt ja nicht, dass das immer so bleiben muss. Es gibt bald viel Raum und es gibt Bereitschaft, Bereitschaft, Vera! Mehr als in irgendeiner versnobten Großstadt. Und nicht zu vergessen: unsere sackleinentragenden Naturschützer bekommen immer mehr Biotope zum Spielen, an jeder Ecke wird geschützt und gepflanzt. Hier gibt´s bald keinen Flecken mehr, der nicht grün ist, sag ich dir.“

Vera spielte mit ihrer Uhr. „Das klingt alles wie im Märchen. Iss ja schön für euch, wenn sich die Struktur wandelt und die Kultur und die Blumen blühen. Aber wenn ich mir die Pottler so ansehe, hab ich meine Zweifel, ob sich der ganze Aufwand lohnt.“

„Da täusch dich mal nich. Hier wohnen auch nicht mehr Kulturbanausen als woanders. Übrigens, wie sieht´s denn mit dir aus? Du bist doch selber son Pottkind.“

Vera schüttelte energisch den Kopf. „Sechs Jahre

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Daniela Gerlach
Bildmaterialien: José Manuel Peña
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2013
ISBN: 978-3-7309-6653-2

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