Dieser Roman ist eine Mischung aus Fiktion und Wahrheit. Das Buch ist für Leser geschrieben, die wenig über den Pazifikkrieg wissen, aber mehr darüber erfahren möchten. Die Schilderung der führenden militärischen Persönlichkeiten beider Selten wurden originalgetreu wiedergegeben. Alle übrigen Charaktere sind frei erfunden.
Copyright-Hinweis: Sämtliche Inhalte, Fotos und Texte sind urheberrechtlich geschützt und dürfen ohne schriftliche Genehmigung des Verfassers weder ganz noch auszugsweise kopiert, verändert, vervielfältigt oder veröffentlicht werden. ©Oliver M. Pabst
1945 planen die Japaner, den amerikanischen Vormarsch im Pazifik zu stoppen. Der Plan sieht vor, dass ein U-Boot mit Kaiten und landgestützte Bomber aus Japan die US-Marinebasis Apra Harbor auf Guam angreifen, wo sie möglichst viel Schaden anrichten sollen. Die Japaner ahnen nicht, dass die Amerikaner von dem Plan wissen und alles versuchen werden, das Vorhaben zu vereiteln...
07. April 1945,
Wohnsitz von Admiral Ozawa,
Yokohama, Japan
Es war ein wunderschöner Tag. Ganz vereinzelt standen ein paar dünne Schäfchenwolken am tiefblauen Himmel. Ein schwarzer Stabswagen raste über staubige Straßen entlang. Schließlich bog er in die schmale Einfahrt zu einem großen Anwesen ein, wo sich ein traditionelles japanisches Landhaus mit einem stilvollen Garten befand. Ein Marineoffizier in dunkelblauer Uniform stieg aus dem Fahrzeug und näherte sich dem Hauptgebäude. Auf den schmalen Kragenspiegeln schimmern die Sterne der Kaiserlich Japanischen Marine.
»Ich muss sofort Admiral Ozawa sprechen.«
»Er hat gebeten, nicht gestört zu werden«, erwiderte ein Diener, der ihm entgegenkam.
»Es ist außerordentlich dringend.«
»Folgen Sie mir«, antwortete der andere Mann nickend.
Er führte den Besucher hinter das Gebäude. Jisaburo Ozawa saß meditierend in seiner prächtigen weißen Uniform auf einer Steinbank an der frischen Luft. Er hatte das Anwesen von seinen Eltern geerbt und genoss, so oft die Zeit es erlaubte, die vielfältige Gartenlandschaft mit ihren sorgsam ausgesuchten Pflanzen und Bäumen. Nachdem die beiden Männer den Garten erreicht hatten, flüsterte der Diener dem Admiral etwas leise ins Ohr. Ozawa war jedoch über die Störung leicht verärgert, weil sie zu einer Zeit erfolgte, die eigentlich für ihn vorbehalten war und ihm um so wichtiger wurde, je weniger er seit seiner Beförderung zum Befehlshaber der Kombinierten Flotte in ihren Genuss kam. Trotzdem würde es nie jemand wagen, ihn zu stören, wenn es sich nicht um eine äußerst dringende Angelegenheit handelte. Konteradmiral Ryunosuke Kusaka, wartete, bis der Diener gegangen war und trat an den sitzenden Ozawa heran. Er vergeudete keine Zeit mit einleitenden Worten.
»Admiral, die Yamato und ihre Begleitschiffe waren heute das Ziel eines amerikanischen Luftangriffes«, sagte der Stabschef.
Ozawa zuckte zusammen und erhob sich mit erschrockenen Gesicht.
»Was? Wann?«
»Vor zwei Stunden, Admiral.«
»Verluste?«
»Die Yamato ist gesunken. 2.498 Seeleute kamen ums Leben, darunter Vizeadmiral Seiichi und der Kommandant des Schiffs, Kapitän Kosaku. Nur 269 Männer konnten gerettet werden.«
»Und die anderen?«
»Der Leichte Kreuzer Yahagi und vier der Zerstörer wurden ebenfalls versenkt. Von restlichen wissen noch nichts.«
»Mein Gott...«, seufzte Ozawa niedergeschlagen und strich sich mit der Hand besorgt über seinen kahlen Schädel.
Das japanische Schlachtschiff war in den 30er Jahren für die Marine gebaut worden. Sie galt mit ihren 263 Metern Länge und 71.110 Tonnen Wasserverdrängung als das größte Typschiff seiner Klasse. Mit dem Schwesterschiff Musashi, das die US-Navy 1944 in den Philippinen versenkte, wurden beide Schiffe bei einigen Operationen im Pazifikkrieg eingesetzt. Als am 01. April 1945 die Invasion von Okinawa begann, wurde die Yamato dorthin geschickt, um die amerikanische Landungsflotte anzugreifen, auf Grund zulaufen und als Geschützstellung bis zur Zerstörung zu kämpfen.
»Sagen Sie mir, Kusaka, wie haben die Amerikaner das fertiggebracht?«
»Soweit ich informiert bin, hatte sie den Verband 290 Kilometer südwestlich von Kyushu entdeckt und dann 350 Trägerflugzeuge eingesetzt. Admiral, ich verstehe, dass Sie das bedrückt aber...«
»Bitte sprechen Sie ganz offen, Konteradmiral«, unterbrach Ozawa.
»Der heutige Tag hat den Beweis erbracht, dass Sie recht haben. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis wir alle Kräfte zur Verteidigung unseres Heimatlandes aufbieten müssen. Die Amerikaner handeln so, wie Sie es vorausgesagt haben. Jetzt wird man Ihren Vorschlag zustimmen müssen.«
»Das hoffe ich, Kusaka«, erwiderte der Befehlshaber. »Informieren Sie bitte alle Vizeadmirale, dass morgen eine Lagebesprechung stattfindet.«
»Natürlich, Admiral.«
Danach liefen beide zum wartenden Wagen und ließen sich vom Fahrer zum Flottenhauptquartier in Tokio bringen.
08. April 1945,
Japanisches Flottenhauptquartier,
Tokio, Japan
Ein dutzend Männer, die an diesem Nachmittag im Hauptquartier an einem großen Tisch versammelt waren, kannten einander gut. Sie trugen alle Uniformen mit breiten Streifen an den Hosen und waren nicht mehr jung. Aus wohlhabenden Familien stammend, hatten alle die Militärakademie absolviert und waren dann auf der Stufenleiter der Dienstränge bis zu den Schlüsselpositionen aufgestiegen, die sie gegenwärtig innehielten. Auseinandersetzungen zwischen den Offizieren gab es in der Vergangenheit oft genug, aber stets war eine Einigung erzielt worden, weil sie am Ende feststellten, dass man im Prinzip dieselben Ziele hatte. Sie schwatzten und tranken Tee aus kleinen Porzellanschalen, die ihnen eine junge Dienerin in einem farbenprächtigem Kimono servierte.
Als die Tür des Konferenzraumes geöffnet endlich wurde, stockte das Gespräch. Die Männer grüßten den Eintretenden. Admiral Ozawa neigte mit einer langsamen Bewegung den Kopf und setzte sich auf den leeren Stuhl an der Stirnseite des Tisches.
»Meine Herren, es ist dringend notwendig, entscheidende Maßnahmen zu besprechen«, begann der Oberbefehlshaber. »Die Lage ist ernst. Unsere Truppen leisten auf Okinawa erbitterten Widerstand und erleiden schwere Verluste. Sobald der Feind die Insel eingenommen hat, wird er sich auf die Eroberung Japans vorbereiten.«
Die Vizeadmiräle waren nicht überrascht, dies zu hören. Jeder von ihnen kannten die Situation Japans. Die einst beeindruckende Flotte der kaiserlich japanischen Marine war nur noch auf eine Handvoll einsatzbereiter Kriegsschiffe und wenige verbliebene Flugzeuge geschrumpft. Schon seit vielen Monaten war keine Siegesnachricht mehr zu vermelden. Seit dem Tage nicht, an dem die kaiserliche Flotte in den schweren Schlachten im Korallenmeer und bei den Midway-Inseln vom Zorn der Götter verfolgt worden war. Und jetzt waren die Feinde vor die Tore Nippons gezogen.
»Aber wir haben noch eine Chance, die Invasion von Japan abzuwenden. Wir müssen die Amerikaner von ihrem Nachschub abschneiden. Nur so kann der amerikanische Vormarsch gestoppt werden«, erklang die Stimme von Ozawa. »Bitte, meine Herren, ich erwarte Meinungen und Vorschläge.«
Die anderen Marineoffiziere saßen still auf ihren Stühlen. Noch konnten sie das soeben Gehörte nicht fassen, es erschien ihnen ungeheuerlich. Doch es war kein Entsetzen, höchstens ein Ausdruck von Erstaunen, der sich in ihren Blicken zeigte. Schließlich ergriff Vizeadmiral Takijiro Onishi, Kommandeur der 1. Luftflotte, als Erster das Wort.
»Admiral, ich schlage einen Angriff auf die Marinebasis Apra Harbor vor. Es ist meine Ansicht, dass wir mit unseren geringen Streitkräften durch die Aufstellung besonderer Einheiten und deren klugen Einsatz ein Höchstmaß an Wirkung erzielen. Diese müssten unter bewusster Selbstaufopferung die schwimmenden Ziele in Hafen zerstören.«
Die Diskussion, welche sich nun zwischen den Offizieren ergab, drehte sich um das Angriffsziel, Machbarkeit und die Durchführung. Es gab Befürworter sowie Gegner, aber die Befürworter waren in der Mehrheit und verstanden sich durchzusetzen. Die nachfolgende Abstimmung fiel eindeutig für Guam aus. Eine Entscheidung war somit gefallen.
Von da an trug ein Stab von geschulten Mitarbeitern, unter der Leitung von Kapitän Minoru Genda, Fakten und Zahlen über die amerikanische Marinebasis zusammen. Diese landeten nach einer Woche auf dem Schreibtisch vón Vizeadmiral Kameto Kuroshima, den Chef der Operationsabteilung. Er war von Ozswa beauftragt worden, einen Plan in allen Details anfertigen. Der erfahrene Stratege war schon an den vielen Operationen im Pazifik beteiligt. Außerdem galt er nicht als ein Mann, der objektive Schwierigkeiten übersah. Aber er ließ sich von ihnen auch nicht so schnell entmutigen. Vielmehr beauftragte Kuroshima eine Arbeitsgruppe damit, Einzelprobleme in kürzester Zeit zu untersuchen und zu lösen.
Inzwischen entsandte Ozawa Marineoffizier Haru Toshiba mit einem Sonderauftrag nach Guam. Der Leutnant sollte zusätzliche Informationen über Apra Harbor liefern, vornehmlich von den Hafenanlagen. Toshiba reiste mit einem Unterseeboot zur Insel, wo er nachts unauffällig an Land ging. Der Mann tarnte sich als Einheimischer und spionierte heimlich den Hafen aus. Er notierte selbst die kleinsten, scheinbar nebensächlichen Einzelheiten. Damit nicht genug, Toshiba fotografierte auch die Docks, Öltanks und andere wichtige Objekte. Er sprach sogar mit den Fischern, um an Informationen über die Hafeneinfahrt und Lage der Flugabwehrstellungen zu gelangen. Nach einer Woche brachte ihn I-50 wohlbehalten nach Japan zurück.
12. Mai 1945,
Japanisches Flottenhauptquartier,
Tokio, Japan
Nach drei Wochen waren die Planungen abgeschlossen. Sie wurden im Eiltempo ausgeführt. Die Ausarbeitung zeigte, dass die Aufgabe für die japanischen Angreifer zwar schwer, aber nicht unlösbar sein würde. Gewiss, Apra Harbor war ein Marinestützpunkt mit kampfkräftigen Schiffen und die Insel verfügte weiterhin über einige Militärflugplätze, auf denen Jäger und Bomber bereitstanden. Die Hafenanlagen waren gut abgesichert und eine starke Luftabwehr stand bereit. Trotzdem war der Überraschungsfaktor von großer Entscheidung. Alles hing davon ab, dass die Aktion streng geheim blieb. Die Amerikaner sollten überrascht werden und gar nicht dazu kommen, ihre Abwehr zu entfalten. Auf diesen Faktoren hatte Kuroshima seine Planung aufgebaut.
Die von ihm formulierte Operation, erhielt den Codenamen Tan-Go. Der Plan sah vor, dass ein U-Boot-Kreuzer mit vier Kaiten sowie 19 Sturzbombern aus Kyushu den Angriff auf Apra Harbor durchführen. Der Vizeadmiral wusste, dass es gar nicht mehr so einfach war, eine US-Marinebasis anzugreifen. Die anfänglichen Erfolge in ersten drei Kriegsjahren gehörten der Vergangenheit an. Gegenwärtig waren kaum zwei Prozent solcher Aktionen von Erfolg gekrönt. Das Überraschungsmoment, was für derartige Operationen ausschlaggebend war, existierte nicht mehr. Die Amerikaner verfügten jetzt über moderne Technologien, welche die Ankunft fremder Flugzeuge oder Schiffe sofort signalisierten und über eine große Zahl ausgezeichneter Flugzeuge, um die Angreifer weit vor dem Ziel abzufangen. Dennoch war Kuroshima überzeugt, dass Japan dem Feind einen lähmenden Schlag zufügen könnte.
Ozawa genehmigte Tan-Go mit Begeisterung. Aber das Datum des Angriffs, der Tag X, war noch nicht endgültig festgelegt. Erst in der letzten Konferenz hatten sich die Admiräle auf den 27. Juni geeinigt, da die Meteorologen in dieser Zeit gute Wetterbedingungen über Guam versprachen. Jetzt musste alles nur noch vom kaiserlichen Hauptquartier abgesegnet werden. Zwei Tage später gab Admiral Soemu Toyoda, Chef des Admiralstabes, sein Einverständnis zu dem ausgearbeiteten Angriffsplan.
Nachdem diese letzte Hürde genommen war, konnte die Aktion nun in die Tat umgesetzt werden. Zunächst wurden ein fähiger U-Boot-Kommandant und ein Offizier der Marineluftwaffe ausgewählt, welche imstande waren, diese Aufgabe zu meistern. Ozawa selbst klärte die beiden Männer in einem privaten Gespräch auf. Wenig später wurden vier Piloten für die Kaiten sowie die 19 Piloten einer Bombereinheit in den Angriffsplan eingeweiht und die jungen Männer wurden zum Stillschweigen verpflichtet. Dann zeigte man ihnen eine Karte von Apra Harbor. Diese enthielt alle Details, welche die Angreifer für die Mission kennen mussten. Danach begannen die Kaiten-Piloten mit ihren praktischen Übungen. Sie steuerten ihre kleinen Stahlfische auf die hölzernen Ziele zu, welche in der Bucht von Kagoshima schwammen. Dort war das Wasser ebenso tief wie im Zielhafen. Zur gleichen Zeit übten die Bomber-Piloten mit ihren Flugzeugen den Angriff auf so relativ kleine Ziele wie amerikanische Schiffe.
Für die Bomber ergaben sich zusätzliche Probleme. General Nagao Kita, der die militärische Aufklärungsarbeit betrieb, schickte Berichte an Ozawai, aus denen hervorging, dass die US-Kriegsschiffe meistens am östlichen Rand des Hafens lagen, während im westlichen Teil überwiegend Transportschiffe ankerten. Das konnte für Torpedoflugzeuge schwierig werden, Ziele zu treffen, da sie bei ihrem Tiefflug durch den Hafen einem intensiven Flakbeschuss ausgesetzt wären. Deshalb beschränkte man sich nur auf einen Bombenangriff.
Inzwischen wurde der U-Boot-Tender zum Pulap-Atoll dirigiert, um für den Zwischenstopp von I-59 mit Proviant sowie Treibstoff zu versorgen. Gleichzeitig entsandte man das Transport-U-Boot I-352 mit 60 Tonnen Flugbenzin, Ersatzteilen und Lebensmitteln zum Woleai-Atoll. Dort sollten landgestützte Aufklärer für die Operation Tan-Go die Anwesenheit und Lage der amerikanischen Schiffe in Apra Harbor feststellen. Die Ergebnisse der Flüge würden dann nach Japan gefunkt werden. Das Flottenhauptquartier in Tokio gab die Informationen wiederum an die das U-Boot weiter, welche unter Funkstille ihrem Ziel entgegenliefen. Das war zwar eine umständliche Nachrichtenübermittlung, doch wegen der Ortungsgefahr von I-59 gerechtfertigt.
15. Mai 1945,
Marinewerft Kure,
Japan
Über dem östlichen Horizont hing orangefarbener Dunst, der den Anbruch des Tages ankündigte. Am Eingang zur Werft stoppte ein Wagen. Man sah nur die zwei dünnen Lichtstreifen, die durch die Schlitze der Abblendung vor den Scheinwerfern auf die nasse Straße fielen und die vermummte Gestalt des Postens, der die Insassen des Autos kontrollierte. Seine Taschenlampe flammte blau. Jetzt trat der Posten zurück. Mit aufheulendem Motor setzte sich das Auto in Bewegung und fuhr auf ein rotes Backsteingebäude zu. Dort verabschiedete sich Fregattenkapitän Hiroshi Tamaki von seinem Fahrer und betrat ein schäbiges Büro in der Werftverwaltung. Der I WO von I-186 sprang überrascht von seinem Stuhl auf, nahm Haltung an und salutierte.
»Guten Morgen, Herr Kapitän.«
»Das wünsche ich Ihnen ebenso, Matsuro.«
Tamaki betrachtete den kleinen Raum, der in einem Backsteingebäude nahe den Hafenanlagen untergebracht war. Das Gebäude war voller Rauchschwaden von einem massiven, knisternden Kohlenofen. Feuchte Lederjacken waren auf eine Leine gehängt worden und auf dem hölzernen Schreibtisch des Oberleutnants lagen unzählige Papiere verstreut.
»Ich habe Sie so früh nicht erwartet, Herr Kapitän«, stammelte der Mann, räumte einen Stuhl für seinen Vorgesetzten frei und begann die Papiertürme auf dem abgenutzten Tisch zu ordnen. »Das Hauptquartier hat verfügt, dass wir unser Boot schnellstens einsatzbereit machen und uns für den Kampfeinsatz vorbereiten sollen.«
Währenddessen hatte sich Tamaki eine Zigarette angezündet, stieß den Rauch durch die Nase aus. Er erwiderte nichts darauf. Das musste er auch nicht, denn jeder Seeoffizier und Matrose in der U-Boot-Flotte der japanischen Kriegsmarine wusste, dass das Ende des Krieges nahte. Seit dem Angriff auf Pearl Harbor im Jahr 1941 hatte Japan inzwischen fast alle Schiffe, Unterseeboote und tausende Männer verloren. Der Traum des kaiserlichen Oberkommandos, dass die übrig gebliebenen Marineeinheiten die drohende Niederlage Japans abwenden könnten, waren lediglich ein Traum. Die amerikanischen Streitkräfte im Pazifik unter Admiral Nimitz waren am 1. April auf Okinawa gelandet. War diese Insel erst einmal eingenommen, so lag das japanische Festland nicht mehr weit.
»Natürlich, Matsuro. Basteln die Herren Admiräle in Tokio etwa wieder an einer neuen Strategie, die zu nichts führt?«
Der Fregattenkapitän betrachtete durch den kräuselnden Zigarettenrauch das Gesicht des jungen Offiziers, der so leicht durch abfällige Bemerkungen über die Führungselite oder gar den Kaiser zu schockieren war. Erfahrene U-Boot-Kommandanten wie Tamaki waren meist Realisten und daher kaum abgeneigt, ihre Meinung über den Krieg zu verbergen. Doch solches Gerede bereitete dem jungen Leutnant Unbehagen, wie der Fregattenkapitän festgestellt hatte, denn es schmeckte nach Defätismus. Matsuro fürchtete Gerüchte fast ebenso sehr wie die Schmach, als Feigling tituliert zu werden, wenn er die Wasserbomben, welche die Amerikaner auf I-186 abfeuerten, nicht aushielt. Er räusperte sich, nahm ein Bündel Unterlagen zur Hand und widmete ihnen seine ganze Aufmerksamkeit.
»Gibt es Probleme, Matsuro?«
»Ich wollte gerade mit Chefingenieur über die Dieselmaschinen sprechen. Möchten Sie das Boot inspizieren, Herr Kapitän?«
Tamaki warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie mit seinem Kork besohlten Stiefel aus.
»Ja, deshalb bin ich hier.«
Anschließend verließen beide Männer das alte Backsteingebäude und liefen wortlos zu den Hafenanlagen der Werft. Wenige Minuten später erreichten beide Offiziere einen langen Kai. Die dunkelgraue, düster wirkende I-186 lag zusammen mit einigen anderen japanischen U-Booten am Hafenkai. Es hatte über sechs Wochen im Trockendock gelegen, zwei neue Schrauben samt Wellen bekommen und manch anderes, was den Seeleuten das Leben erleichtern sollte.
Als Boot des Typs Kaidai KD7 war sie über 105 Meter lang und hatte eine Wasserverdrängung von 1.656 Tonnen über Wasser. Die Hälfte der 86 Mann starken Besatzung hatte Urlaub bekommen oder war freigestellt worden. Die Übrigen arbeiteten an der Seite von Werftarbeitern mit klappernden Nietpistolen oder blitzenden Acetylen-Schweißbrennern an der Außenhülle des Bootes.
Auf dem Kai schleppten Arbeiter schweres Gerät, während fauchende, dampfgetriebene Kräne Lasten auf Wagen hoben. Tamaki verzog das Gesicht. Der schwefelhaltige Dampf aus den Retortenöfen der Werft, in denen Akkumulatorsäure für U-Boote hergestellt wurde, biss in die Augen. Dieselölpfützen schaukelten im Hafenbecken und schimmerten in allen Regenbogenfarben. Tote Fische hingen in Trauben am Teer verschmierten Pfahlwerks. Wohin er auch blickte, sah er verbogene Stahlträger, zerborstene Eisenteile, Ziegelsteine und sogar eine entgleiste, umgestürzte Waggons. All dies legte Zeugnis über die Zielgenauigkeit und zunehmende Heftigkeit der amerikanischen Bombenangriffe ab.
Der Chefingenieur erschien auf dem Turm der I-186. Er salutierte elegant. Tamaki erwiderte den Salut und winkte. Der Offizier kam über den Steg auf den Pier übersah Matsuro geflissentlich und steuerte direkt auf den Kommandanten des U-Bootes zu.
»Gute Nachrichten, Kapitän. Wir können bald auf Testfahrt gehen.«
Mit riesigen Kabeln und Schläuchen, die sich wirr über der Oberseite schlängelten und aus den Luken heraushingen, mit einem Kommandoturm, der von den 20 Millimeter Geschossen eines US-Flugzeuges durchlöchert worden war, wirkte Tamakis Unterseeboot kaum fahrtauglich.
»Was ist mit den Trimmpumpen, Ishiguro? Arbeiten sie wieder ordentlich?«
»Jawohl, Herr Kapitän. Wir haben auch einen neuen hydraulischen Akkumulator eingebaut. Der läuft jetzt viel leiser.«
»Und die Dieselmotoren?«
Der Chefingenieur bohrte beide Hände in die Taschen seines blauen Overalls und spuckte ins Wasser.
»Tja, eine der Maschinen macht noch Probleme.«
»Kriegen Sie diese wieder hin?«
Ishiguro grinste verschlagen, wobei er gelbliche Zähne zeigte.
»Das Miststück ist bis morgen in Ordnung, mein Wort darauf, Herr Kapitän.«
Die Testfahrt war dann in zwei Tagen, eine Standardübung, die vor jeder Feindfahrt vorgenommen wurde. Wohin sollte es diesmal gehen? Mit Sicherheit wieder zu den Marshall-Inseln oder in die Philippinen. Alle diese jungen Matrosen, die jetzt ihren Urlaub bei ihren Familien oder Freundinnen verbrachten und auch bei Huren in Kure oder in anderen Städten, es konnte ihr letzter Urlaub sein. Und vielleicht auch seiner.
Matsuro hielt dem Chefingenieur ein Papier unter die Nase.
»Ishiguro, die Maschinen müssen zuerst einen Kompressionstest bestehen und dann mit voller Kraft laufen, bevor ihre Seetauglichkeit bestätigt ist«, sagte er mahnend.
»Ja, ja, Matsuro. Aber Sie haben eines vergessen, wir befinden uns im Krieg und da zählt jeder Tag.«
Der Oberleutnant reckte trotzig sein Kinn.
»Das weiß ich sehr wohl…«
Auf einmal rief ein junger Matrose auf der I-186 nach dem I WO. Es gab offenbar ein Problem, dessen er sich annehmen sollte. Der Chefingenieur stopfte das Papier in die Tasche seines Overalls, stampfte über den Steg und gesellte sich zu Tamaki, der inzwischen den Kai entlang spazierte, um sein Boot zu begutachten.
»Es ist nicht mehr wie in den guten alten Zeiten, Ishiguro.«
»Welche guten alten Zeiten, Herr Kapitän? Ich weiß gar nicht, ob ich mich an die noch erinnere. War das, als wöchentlich noch zehn Boote aus der Helling kamen? Meinen Sie die glücklichen Zeiten, wo uns noch der Pazifik gehörte? Oder die Zeiten, als wir noch fähige Männer hatten, echte Matrosen? Nicht solche Kerle wie diesen arroganten Matsuro?«
Tamaki zündete sich trotz der allgegenwärtigen Nichtraucher-Schilder eine neue Zigarette an.
»Leider sind Männer wie er alles, was uns noch geblieben ist.«
»Verzeihen Sie, wenn ich es offen ausspreche, aber er ist ein fanatisches Arschloch.«
Der Fregattenkapitän lächelte über die Aussage seines Chefingenieurs.
»Ishiguro, der Krieg wird nicht mehr lange dauern. Und wer weiß, vielleicht gehen wir überhaupt nicht mehr auf Feindfahrt.«
Um sie herum wurde fieberhaft an den U-Booten gearbeitet. Lastwagen und Pferdekarren mit Werkzeugen und Gerät ratterten auf dem Kai vorüber. Werftarbeiter wichen Tamaki und Ishiguro geschickt aus. Wie die I-186 hatten auch sämtliche die anderen am Kai vertäuten Boote Schäden von feindlichen Wasserbomben oder Fliegerangriffen davongetragen. Sie waren die Überlebenden und der Fregattenkapitän wusste sehr wohl, dass ihre Zahl täglich kleiner wurde. Ishiguro machte eine Kopfbewegung zu den U-Booten und den arbeitenden Männern.
»Sehen Sie nur, Kapitän, wie erpicht sie darauf sind, wieder in See zu stechen, um für den Kaiser zu sterben.«
Tamaki machte abrupt kehrt, dann spazierte er langsam zu seinem Unterseeboot zurück.
»Sie tun es nicht für ihn, sondern weil sie der Marine den Treueid geleistet haben. Es sind stolze Männer.«
»Ja, das sind sie. Und wie Sie selbst eben gesagt haben, machen wir womöglich gar keine Feindfahrt mehr. Aber wenn doch, dann bin ich der Erste an Bord, das schwöre ich. Dennoch hätte ich mehr als nur eine winzige Chance wieder lebend nach Hause zu kommen.«
»Vertrauen Sie mir nicht mehr?«
Der Chefingenieur sah ihn erstaunt an.
»Natürlich vertraue ich Ihnen. Ich mache mir nur Sorgen, weil Matsuro so ein Paragraphenreiter ist, bei dem alles seine sture Ordnung haben muss.«
»Lassen Sie sich von ihm nicht die Laune verderben. Es fehlt ihm ein wenig an Erfahrung. Wenn wir wieder auf Fahrt gehen, werden wir ihn schon zurechtstutzen. Und dann wird sich ja herausstellen, was von seinen sturen Vorschriften übrig bleibt.«
Beide lachten. Auf der Höhe des durchlöcherten Turms der I-186 blieben sie stehen.
»Herr Kapitän, ich diene jetzt zwei Jahre unter Ihrem Kommando. Wir haben manchen Sturm erlebt. Aber wir sind immer durchgekommen, weil wir uns von Bug bis achtern auf unsere Mannschaft verlassen konnten. Es wäre schön, wenn das bis zum Ende des Krieges so bliebe, doch ich fürchte, Matsuro wird Misstrauen und Angst unter der Besatzung säen. Ständig horcht er die Männer über ihre politischen Ansichten zum Krieg aus. So kann man keine Kameradschaft schüren.«
»Und Sie wollen nun, dass ich ihm darüber spreche?«
Ishiguro nickte heftig, dann setzten sie sich wieder in Bewegung.
»Also gut, ich werde mit ihm reden.«
Der Fregattenkapitän wollte gerade an Bord gehen, als er im nächsten Moment am Himmel das schwere, reißende Grollen von Flugzeugmotoren vernahm. Dutzende von ihnen. Er blickte neugierig empor, die Hand schützend über den Augen. In großer Höhe näherten sich die winzigen Silhouetten von amerikanischen B-29 im Formationsflug. Zwischen den Bombern wimmelte es von P-51 Jagdflugzeugen als Begleitschutz. Sie kamen vom Meer her schnell auf Kure zu.
»Luftangriff!«, schrie jemand laut.
Die Männer auf den U-Booten unterbrachen ihre Arbeit und hoben die Köpfe. Es waren noch keine schwarzen Rauchspuren der Flak und japanische Abfangjäger am grauen Himmel zu sehen.
»Verdammt, was ist mit der Luftabwehr? Worauf warten die bloß?«, schimpfte Tamaki.
»Herr Kapitän!«, sagte der Chefingenieur.
Er packte Tamaki am Arm und versuchte ihn zu einem Luftschutzbunker mitzuziehen.
»Hier entlang!«
Doch dieser stand wie angewurzelt auf dem Kai und starrte auf die anfliegenden Maschinen. Zuerst hatten sie ausgesehen wie schwarze, fliegende Käfer, doch im Näherkommen erkannte man die viermotorigen schweren Bomber, deren Motoren im Anflug wie Donner dröhnten. Jetzt begannen die Flakbatterien rund um die Hafenanlagen zu rattern und gleichzeitig fingen die Alarmsirenen an zu heulen. Die Arbeiter flüchteten in alle Richtungen. Ein Lastwagen kam zum Halten und heraussprangen Männer, verzweifelt nach Deckung suchend. Tamaki und sein Chefingenieur wurden fast über den Haufen gerannt. Offiziere brüllten Befehle und winkten Matrosen von den U-Booten herunter. Manche gehorchten den Befehlen nicht und versuchten, die auf dem Oberdeck der Boote installierten Flakgeschütze gefechtsklar zu machen, merkten jedoch rasch, dass diese vorschriftsmäßig nicht geladen waren.
»Kommen Sie schon, Herr Kapitän!«
Irgendwo ratterten mehrere Luftabwehrgeschütze und unzählige Spuren von Leuchtschussmunition wölbten sich über ihren Köpfen. Das Knattern der Flak war ohrenbetäubend. Im gesamten Hafengebiet spritzten Schuttfontänen von den Kais und Gebäuden hoch, der Lärm von den Detonationen war einen Moment später zu hören.
Der Fregattenkapitän sah einige Bomben auf eine große Halle der Werft fielen. Einen Augenblick später schoben sich zwei Unterseeboote aus der Montagestraße und kippten wie ausrangierte Spielzeuge in das Hafenbecken. Hässliche braune Pilzwolken und schwarzer Rauch unzähliger Feuer hüllten die wenigen Marineschiffe an verschiedenen Molen ein. Nichts und niemand wurde verschont.
Die erste Welle der Bomber brauste mit donnernden Lärm über ihre Köpfe hinweg. Der Kommandant duckte sich instinktiv. Nun wälzten sich riesige Wassersäulen durch den Hafen. Er betrachtete die Fontänen, die sich heranschoben wie dicke, abscheuliche Beulen. Würde er hier in Kure sterben, an Land, statt in einem getroffenen Boot, das in unergründliche Tiefen des Pazifik sank? Fast wünschte er es.
»Herr Kapitän, runter mit Ihnen!«
Der Chefingenieur zerrte Tamaki förmlich auf das Pflaster nieder und warf sich schützend über ihn. Einen Moment später brauste die zweite Angriffswelle riesiger, silberner Feindflugzeuge über sie hinweg. Der Fregattenkapitän versuchte hochzuschauen, doch Ishiguro drückte ihn mit seinem ganzen Gewicht zu Boden. Genau vor ihnen wurde ein U-Boot getroffen. Relingstützen, Teile des Schanzkleids, Gewehrläufe, verbogene Eisenrohre, alles schleuderte kreiselnd durch die Luft, prallte auf den Kai und rutschte weiter, benetzt von einem Wasserschwall aus dem schmutzigen Wasser im Hafenbecken. Wieder eine ohrenbetäubende Explosion. Diesmal sah Tamaki die I-186, von einer Bombe getroffen, deutlich sichtbar vor dem weißen Wasser taumelte, wie einen Betrunkenen. Einen Moment schien es, als würde sich das Boot wieder aufrichten, doch dann drehte es sich hart Steuerbord vom Kai weg und lag schließlich quer. Aus einer offenen Luke im Achterdeck quoll schwarzer Rauch.
Eine zweite Staffel feindlicher Maschinen brauste über sie hinweg und ließ ihre Bomben auf die angrenzende Stadt fallen. Dann war der Angriff vorüber. Nach einer kurzen Stille begannen die Verwundeten zu schreien. Männer rannten in alle Richtungen und bellten Befehle, wiesen Feuerwehrleuten und Nothelfern den Weg. Der Kai war eine Schlachtbank voller Leichen, verstümmelter Pferde und verstreuter Trümmer. Öliger Rauch stieg aus der Treibstoffgrube gen Himmel. Irgendwo im Hafen gellte eine einsame Sirene. Ein Leichentuch aus dunkelgrauem Rauch war über der Werft ausgebreitet. Auch Kure war schwer getroffen worden. Kurz erschien Tamaki ein Bild der Menschen vor Augen, die dort lebten und schwand schließlich, als Ishiguro ihm auf die Beine half.
»Herr Kapitän, alles in Ordnung?«
Der Kommandant antwortete nicht. Er eilte zu seinem Boot, wich den Männern aus, die mit Schläuchen und Beilen hantierten. Matrosen der I-186, viele von ihnen rußbedeckt und keuchend, halfen ihren benommenen Kameraden aus der vorderen Ausstiegsluke. Geschwärzte Hände wurden ausgestreckt, um Tamaki auf das schräg geneigte Deck zu helfen.
»Wie viele Tote und Verwundete haben wir?«, fragte er einen Mann.
»Nicht viele, soweit wir wissen, Herr Kapitän«, erwiderte ein benommener Maschinist.
»Ist der Schaden schlimm?«
»Im Maschinenraum wurde die innere Hülle beschädigt und hat ein Feuer ausgelöst. Aber wir haben die Abteilung abgeriegelt. Achtern ist ein schwerer Wassereinbruch.«
Auch Ishiguro kletterte nun an Bord. Er reichte Tamaki seine beschmutzte Schirmmütze.
»Ich hole mir ein Atemgerät und schau nach, wie es dort aussieht.«
Er wandte sich zum Gehen, doch der Fregattenkapitän ergriff seinen Arm.
»Nein, es ist zu gefährlich. Die Abteilung ist doch abgeriegelt. Soll das Feuer brennen, bis es verlischt.«
»Herr Kapitän!«, rief ein Matrose, der auf dem Kommandoturm etwas entdeckt hatte.
Hand über Hand zogen sich Tamaki und der Chefingenieur zu dem schief geneigten Turm und schwangen sich über die Reling. Ishiguro folgte der Richtung des zeigenden Fingers des anderen Mannes und wandte sich schaudernd ab, die Faust vor dem Mund.
»Mein Gott!«
Tamaki betrachtete das, was von Matsuro übrig geblieben war. Ein scharfes Bruchstück einer Stahlplatte, die sich vom Deck des Bootes gelöst hatte, war zu einem Geschoss geworden und hatte mit chirurgischer Präzision dessen Kopf in Höhe der Stirn durchtrennt. Tote Augen starrten zum Fregattenkapitän empor und leicht geöffnete Lippen, die zu lächeln schienen, rahmten zwei Reihen regelmäßiger weißer Zähne ein. Der Kommandant studierte das Gesicht des I WO und versuchte, dessen überraschten Ausdruck zu ergründen. Vielleicht hatte dieser etwas über den Krieg fragen wollen, hatte wissen wollen, warum Menschen kämpfen. Tamaki hätte ihm die Antwort geben können: Damit sie überleben und damit ihren Kameraden beweisen, dass sie nicht feige sind, denn jeder Soldat fürchtete die Feigheit mehr als den Tod. Er bedeckte das geschändete Gesicht des Toten mit seiner Schirmmütze. Jetzt musste der getötete Offizier keine Angst mehr haben, für einen Feigling gehalten zu werden.
17. Mai 1945,
Takehara,
Japan
Die Heimatstadt, in der Tamaki seit seiner Geburt lebte, befand sich auf Süd-Honshu, der größten der vier Hauptinseln Japans, etwa 51 Kilometer von der Kure entfernt. Takehara war von malerischen Hügeln umgeben und der zerklüfteten Steilküste. Die Stadt unterschied sich kaum von den anderen ähnlichen Orten an der Inlandsee. Am Meer sah man überall an Land gezogene Fischerboote. Netze trockneten in langen Reihen an Bambusstangen. Die warme Meeresströmung milderte das Klima in diesem Landstrich und das Meer frierte nicht zu, nicht einmal am Ufer. Die Fischer konnten das ganze Jahr über zum Fang hinausfahren.
Das Holzhaus der Familie lag am Stadtrand und besaß einen kleinen Nutzgarten. Tamaki, seine Frau, die Mutter sowie seine jüngere Schwester lebten dort. Im Raum war es dunkel und ihn plagten wieder Alpträume. Er sah sich wieder in der Zentrale von I-186. Sie waren in den östlichen Karolinen von amerikanischen Zerstörern mit dem Ortungssystem ASDIC aufgespürt worden. Die Schiffe werfen dutzende Wasserbomben. Es klang, als hämmere ein Unterwasserriese mit einem Vorschlaghammer auf den Rumpf des Bootes ein. Sein U-Boot knirschte und zitterte. Die Luft an Bord war vergiftet und verbraucht. Die Mannschaft rang nach Sauerstoff. Dann weckte ihn plötzlich das Klopfen an der Haustür. Er erhob sich vom Bett, zog einen Kimono über und öffnete die Tür. Vor ihm stand ein Stabsoffizier. Der junge Fähnrich war mittelgroß und trug eine weiße Uniform.
»Sind Sie Fregattenkapitän Tamaki?«
Der U-Boot-Offizier nickte wortlos.
»Ich überbringe Ihnen eine Nachricht vom Flottenhauptquartier aus Tokio.« Der Bote holte ein Dokument aus seiner ledernen Aktentasche, übergab es salutierte und machte auf dem Absatz kehrt, bevor er wieder in sein Auto stieg.
Tamaki ging an den Schlafraum zurück, las die überbrachte Nachricht und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Die Straßen waren zu dieser Zeit wie leergefegt. Nirgendwo zeigt sich die Spur eines Menschen. Er zwang sich, an andere Dinge zu denken. Matsuro, dieser arme Hund würde nun zusammen mit den anderen Opfern des amerikanischen Luftangriffs in einem Lagerschuppen verrotten, bis die Armee, oder wer auch immer, Soldaten freistellen konnte, die frische Gräber aushoben. Der I WO war ein übereifriger Patriot gewesen und hatte den Tod nicht verdient, genauso wenig einer der vielen anderen Männer, die in den U-Booten untergegangen waren. Die I-186würde wohl nicht mehr zu reparieren sein. Man konnte ihre Hülle flicken, vermochte das Wasser auszupumpen, doch auf Fahrt würde sie mit zerstörten Maschinen nie wieder gehen. Eine Zeit lang hatte er gewähnt, sein gesunkenes Boothabe ihm und seiner Besatzung versehentlich das Leben gerettet, aber die Nachricht von Admiral Ozawa hatte solche Hirngespinste rasch vertrieben.
Nun war auch die zerzauste Schwarzhaarige im Bett aus dem Schlaf erwacht und erhob sich aus den Kissen. Beide hatten sich die letzte Nacht geliebt und waren anschließend eingeschlafen.
»Stimmt etwas nicht, Liebling?«, fragte sie schläfrig.
»Nein«, log Tamaki.
Sie kannte ihn besser.
»Du bist anders als sonst, Hiroshi.«
»Inwiefern?« wich er aus.
»Hast du Sorgen?«
»Nicht die Spur«, gestand er. »Ich muss nach Tokio.«
»Und wann bist du zurück?«
»Warum stellst du so viele Fragen, Miyu?«, erwiderte er und warf den Stummel der Zigarette in eine Schnapsflasche.
Seine Frau zog einen Schmollmund. Dann kroch sie aus dem Bett, trat von an Tamaki heran und schlang ihre Arme um ihn. Dabei drückte sie sich eng an seinen Rücken, sodass er ihren warmen Körper spüren konnte.
»Bleib hier, Hiroshi. Ich will dich nicht verlieren«, sagte sie sanft.
Er drehte sich zu ihr um. Ihre frei schwingenden Brüste wippten leicht unter dem halbdurchsichtigen Nachthemd .
»Man hat mich zum Hauptquartier beordert.«
Sie überhörte es.
»Bitte, geh nicht. Der Krieg ist bald vorbei. Wir könnten wieder leben.«
Leben? Was war das? Seines, wie er es gekannt hatte, war vorbei. Jenes, welches er zurzeit führte, konnte jeden Augenblick zu Ende sein. Fast wünschte er es. Und dennoch hatte er Glück gehabt. Er lebte jetzt mit einer Hure zusammen, die ihn liebte. Manche Männer hatten nicht einmal das. Viele, die er gekannt hatte, waren schon tot. Miyu streichelte sein Gesicht und küsste ihn auf den Mund.
»Ich liebe dich.«
Es war der letzte Tag seines Heimaturlaubs gewesen, bevor er wieder zur See fuhr. Damals sah er sie zum letzten Mal.
25. Mai 1945,
Japanisches Flottenhauptquartier,
Tokio, Japan
Die Nachmittagssonne strahlte an diesem Tag hell am wolkenlosen Himmel, als ein Wagen durch endlos scheinende Straßen und Gassen mit niedrigen, kleinen Häusern fuhr. Erst nach langer Fahrt lenkte der Fahrer in eine Allee ein. Sie endete vor einem schmutzig grauen, düster anmutenden Gebäude. Fregattenkapitän Tamaki zeigte dem wachhabenden Soldaten am Tor seinen Ausweis und erhielt Zutritt zu einem streng bewachten Areal. Umgeben von Flakgeschützen und Stacheldraht, diente es der japanischen Marine als Hauptquartier. Nach den schweren Bombenangriffen auf Tokio, wurde die Kommandozentrale aus Sicherheitsgründen in den Vorort Hiyodashi verlegt, wo es weniger gefährlich war.
Die beiden Wachposten am Gebäudeeingang salutierten, als der mittelgroße, schlanke Mann in seiner weißen Uniform an ihnen vorüber schritt. Tamaki hielt sich nicht damit auf, den Gruß zu erwidern, denn er hatte es eilig. Beim Betreten des Hauses vernahm der Fregattenkapitän viele klingelnde Telefone und klappernde Schreibmaschinen. Außerdem konnte er im Foyer an den besorgten Gesichtern der Offiziere sehen, dass die Stimmung düster und verzweifelt war.
»Guten Tag, Herr Kapitän, was kann ich für Sie tun?«, erkundigte sich ein junger Stabsoffizier, als der Kommandant von I-186 das Gebäude betrat.
»Admiral Ozawa wünscht mich sprechen«, antwortete der Fregattenkapitän und reichte dem jungen Mann ein Papier.
»Hier lang, bitte«, sagte der Adjutant, bevor er den Gast zu einem Zimmer mit hohen Fenstern im ersten Stock.
In dem spartanisch eingerichteten Raum standen ein Schreibtisch mit vier Stühlen davor und ein Sideboard aus Walnussholz, auf dem sich unzählige Akten mit Dokumenten stapelten. Das Büro gab den passenden Hintergrund für Ozawa, der durch seine Arbeit und seine Ergebenheit für den Kaiser auszeichnete.
»Warten Sie hier bitte. Der Admiral wird Sie in Kürze empfangen«, erklärte der junge Mann und ließ Tamaki allein zurück.
Der Fregattenkapitän war neugierig, aber nicht beunruhigt, dass er ins Flottenhauptquartier gerufen worden war. U-Boot-Kommandanten wurden nur aus zwei Gründen zum Rapport bei Ozawa beordert. Entweder war es für eine Ordensverleihung oder aber das Kommando aberkannt und vor das Kriegsgericht gestellt zu werden. Tamaki trug das goldene U-Boot-Abzeichen, eine Auszeichnung, die er durch seine Tapferkeit erhalten hatte. Und da er auch die Ehrenabzeichen am Revers trug, wahr es höchst unwahrscheinlich, dass er noch eine höhere Auszeichnung erhalten würde. Vielleicht wollte Ozawa mit ihm über eine Beförderung sprechen oder möglicherweise über den Krieg im Pazifik. Doch was sollte er dazu sagen? Es war kein Geheimnis mehr, dass in Japan tausende Zivilisten durch die Bomben amerikanischer Flugzeuge starben und das Land am Rande eines Zusammenbruchs stand.
Nach einer Weile hörte Tamaki vor der Tür Schritte im Korridor, gedämpfte Stimmen voller Furcht. Kein Wunder. Bei der alptraumhaften Fahrt von Kure nach Tokio hatte er eine Menge zerstörter Häuser und Fabriken gesehen. Wenn der letzte Augenblick dieses schrecklichen Krieges kam, würde Ozawa dann seinen verbliebenen Seeleuten erlauben, sich zu ergeben, statt bis zum Tode zu kämpfen? Wahrscheinlich nicht. Im Oberkommando würde sich kaum jemand von pessimistischen Einschätzungen beeinflussen lassen, dass sich Japan gegen einen übermächtigen Gegner nicht behaupten könne. In dieser Hinsicht war der Admiral keinen Deut
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Oliver M. Pabst
Bildmaterialien: Oliver M. Pabst
Cover: Oliver M. Pabst
Lektorat: Korrekturen.de Julian yon Heyl
Korrektorat: Korrekturen.de Julian yon Heyl
Tag der Veröffentlichung: 13.01.2024
ISBN: 978-3-7554-6751-9
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