Der Roman ist eine Erfindung des Schriftstellers. Die Charaktere der Handlung sind frei erfunden. Irgendwelche Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Ereignissen, lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
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Jessica Larkin genießt großes Ansehen bei der Federal Space Agency. Als die Polizistin Mist baut, wird sie in eine Minenkolonie auf dem Jupitermond Ganymed strafversetzt. Dort soll sie häufige Todesfälle unter den Arbeitern aufklären. Larkin findet schnell heraus, dass in der Mine eine verbotene Droge an das Personal verkauft wird und die Firmenleitung dafür verantwortlich ist. Trotz der Warnung, nimmt sie den Kampf gegen einen mächtigen Gegner auf, der vor nichts zurückschreckt. Nur der Stationsarzt ist bereit, ihr beizustehen...
Spaceport,
Los Angeles,
Planet Erde
Es war eine heiße, dunstige Nacht im Sommer des Jahres 2080. In den Bezirken von Los Angeles, die den Raumhafen umgaben, leuchteten die Lichter in den Gebäuden. Oben am Himmel schwirrten Gleiter, Flugjachten und Lufttransporter vorüber. Einschienenbahnen zogen lautlos auf verschiedenen Ebenen entlang. Auch auf kreuz und quer verlaufenden Fußgängerstegen und den geschwungen Highways herrschte Hochbetrieb. Der Lärm des Verkehrs wurde von den Kuppeln des Raumhafens abgehalten.
Dröhnend und vibrierend landeten in regelmäßigen Abständen Linien-Shuttles, oder stiegen in den nächtlichen Himmel auf. Als Jessica Larkin von der Luna-Fähre am LA-Spaceport ausstieg, begann sie bereits zu ahnen, dass es Schwierigkeiten geben würde. Es schien zu einfach, ihren Lebensgefährten wiederzusehen.
Lieutenant Jessica Larkin von der Federal Space Agency verstieß gegen die Regeln ihres Vorgesetzten, verzichtete auf die Rückmeldung bei der Central Division und begab sich auf den Weg nach Hause. Sie genoss es, kaum jemanden zu begegnen. Die Menschenströme waren versickert. Nach sechs Monaten Weltraumflug reagierte sie empfindlich genug auf die eigenen Gedanken und würde sich niemals daran gewöhnen, an dieses Gefühl Zeit zu verlieren, nur dazuliegen und zu schlafen, während für andere Menschen an anderen Orten das Leben weiterging.
Der Taxistand am Raumhafen war hell ausgeleuchtet. Viele Fliegen kreisten auch hier in fetten, schwarzen Wolken im Licht. Dann schwebte ein Taxi heran und sekundenlang war alles ausgefüllt vom Dröhnen der Motoren. Sie stieg hinten in das Fahrzeug ein und nannte Larkin dem Fahrer die Adresse. Kurz darauf nahm das gelbe Vehikel mit einem sich steigernden Summen Fahrt auf. Larkin sah durch die Seitenscheibe hinaus und bemerkte gerade noch, wie ein alter Mann mit einem Saxofon dort Jazz gespielt hatte, davonging und in der Schwärze stiller Treppenfluchten eintauchte, als sei sein Job getan. Sie lächelte, vielleicht war es das tatsächlich.
Apartment von Tom Saunders,
Monterey Park, Los Angeles,
Planet Erde
Eine halbe Stunde später stand sie vor einem Appartementhaus, wo ihr Lebensgefährte lebte, was seit fünf Jahren auch zu ihrem Zuhause geworden war. Okay, Jessica, du kehrst nach einem langen Einsatz auf dem Erdmond nach Hause zurück, dachte sie sich.
Sie fuhr mit dem Aufzug in den dreißigsten Stock. Als sich Türen wieder öffneten, lief sie den schmalen Gang entlang. Dabei ließ sie ihren Blick auf die Namensschilder an den Reihen der Apartmenttüren hinweggleiten. Die heiße Luft roch nach Monoxid und an den Wänden brannten nur wenige der Bogenlampen aus Bronze. Seit ihrem letzten Aufenthalt hier schien das Wirbeln der Fliegen lauter geworden zu sein, denn pulverisierende Klumpen umgaben die Leuchtkugeln und dämpften die Helligkeit zu einem trüben Strömen. Die Flüge von einer Welt zu anderen waren für sie Mysterien. Nach jeder Rückkehr war es, als steige man aus einer Zeitmaschine.
Das kleine Messingschild mit seinem Namen war nicht mehr an der Wohnungstür. Die Polizistin klingelte nicht, sondern verschaffte sich mit dem General-Code ihrer Dienstmarke Zutritt und stand im Dunklen. Dann stellte sie das Gepäck ab, schloss die Tür hinter sich und schaltete das Licht an. Es sah alles fast genauso aus, bevor sie den Auftrag auf Luna annahm.
Larkin durchquerte den gemütlich ausgestatteten Wohnbereich und aktivierte die Klimaanlage. Im Apartment war es brütend heiß. Zudem roch die Luft abgestanden, weil eine lange Zeit nicht mehr gelüftet worden war. Als sie sich dem Schlafzimmer näherte, vernahm sie brummende Geräusche aus dem Innern. Sie zog ihre Pistole aus dem ledernen Schulterhalfter, öffnete die Tür und sprang hinein. Ein automatischer Servoroboter war gerade damit beschäftigt, den Teppich zu saugen. Sonst befand sich niemand im Raum.
Larkin steckte die Waffe weg und blickte sich um. Auch hier hatte sich nichts verändert. Das große Doppelbett war ordentlich gemacht und mit einem glitzernden Stoffbezug überzogen, den sie nicht kannte. Wahrscheinlich einer dieser neuen Synthetikstoffe von den Orbitalfabriken, dachte sie. Sie berührte mit der Handfläche eine grauen Schalter an der Wand neben dem Bett. Die Identitätskontrolle gab ein Signal, dass sie identifizierte worden war und ein Wandteil glitt zur Seite. Die Schrankbeleuchtung flammte auf. Ein großer Teil ihrer Kleidung befand sich darin, aber Saunders Sachen waren komplett verschwunden, falls er seine Garderobe in der Zwischenzeit nicht woanders untergebracht hatte.
Als sie wieder in das Wohnzimmer kam, bemerkte sie vor der Konsole des Videophon ein silbern gerahmtes Bild. Es zeigte beide zusammen am Strand von Malibu. Als Fingerzeig war allemal gut genug. Die unregelmäßig blinkende rote Licht, das eine Videoaufzeichnung anzeigte, flackerte über den Gerätemonitor, bevor nach der betätigen der Sensortaste das Bild von Saunders erschien. Sie beugte sich stirnrunzelnd vor und betrachtete ihn auf dem Bildschirm. Er hatte abgenommen. Sein braunes Haar war anders geschnitten und viel kürzer als früher. Außerdem hatte er mindestens zehn Kilo abgenommen. Er machte den Eindruck, als ob er sich von einer Krankheit erholt hatte.
»Bist du in letzter Zeit krank gewesen?«, fragte sie, bis ihr bewusst wurde, dass sie nur mit einer Aufzeichnung sprach.«
»Hallo Jessica«, sprach Saunders vom Bildschirm. »Ich habe die Wohnung vom Hausmeister versiegeln lassen, aber ich weiß, dass du das hier sehen wirst, obwohl es nur einen Schlüssel gibt, meinen nämlich. Aber wann hätten dich je ein paar Schlösser zurückgehalten?«
Larkin sah sein amüsiertes Lachen und musste ebenfalls schmunzeln.
»Seit Tagen habe ich versucht, dich in der Mondkolonie zu erreichen, aber es gelang mir nicht. Und ich musste mich rasch entscheiden. Mein Arbeitgeber hat mir endlich den lang versprochenen Job als Chefingenieur in einer der Fabriken auf Luna angeboten. Auf diese Beförderung habe ich schon die ganze Zeit gewartet und sofort zugesagt. Ich weiß, es wird dir nicht gefallen, aber wünsche mir trotzdem Glück. Ich kann es brauchen.«
Sie ging zu einem Fenster und blickte hinaus, ohne tatsächlich etwas zu sehen. Hinter ihr sagte Saunders hörte sie nach einem kaum merklichen Zögern noch etwas sagen.
»Das Apartment ließ ich auf deinen Namen überschreiben. Es steht nun zu deiner freien Verfügung. Die Hälfte unserer gemeinsamen Ersparnisse sind auf dem Banx-System verblieben. Bitte denke daran, dass ich dir keine Vorwürfe mache, immerhin habe ich dich einmal geliebt. Ich bin sicher, dass du dir jetzt ein Leben nach deinen eigenen Vorstellungen kannst. In deinem Leben scheint es keinen Platz mehr für mich zu geben, deshalb gehe ich jetzt meinen eigenen Weg. Leb wohl, Jessica.«
Larkin drückte frustriert die Aus-Taste. Er hatte alles nötige gesagt und gab nichts mehr zu sagen. Die Nachricht war über drei Wochen alt. Sie zündete sich eine Zigarette an und dachte über Lungenkrebs nach, aber auch daran, dass ein Glimmstängel für dramatische Gesten das einzig Wahre war. Enttäuscht schlurfte sie nach einer Weile in das Badezimmer, entledigte sich ihrer Kleidung und duschte mit lauwarmen Wasser, um Abkühlung zu bekommen. Plötzlich fing sie zu schluchzen an, heulte schließlich laut und trommelte mit den Fäusten gegen die Fiberglaswände der Kabine. Erst als sie die Dusche abstellte, war ihr emotionaler Gefühlsausbruch zu Ende.
Larkin arbeitete bei der US-Weltraumsicherheitsbehörde, deren Aufgabe es war, für Recht und Gesetz in den amerikanischen Kolonien zu sorgen. Das 2.300 Mann starke Personal der Behörde bestand zur Hälfte aus bewaffneten Polizisten. Die anderen waren vereidigte Zivilpersonen, die in der Verwaltung eingesetzt wurden. Darunter befand sich ein Kader von Experten, welche in den Bereichen Computer, Forensik und Psychologie ausgebildet waren. Ihr Beruf als Ermittlerin bei der Federal Space Agency vertrug sich auf lange Sicht nicht mit häuslichem Glück. Zu viele versäumte Jahrestage, Feiertage, Geburtstage. Meist auf langen und gefährlichen Einsätzen unterwegs, ohne Aussicht auf ein Ende. Zudem war sie in Ausübung ihrer Pflicht mehrfach verwundet worden, was eine Belastung für jede Beziehung darstellte. Außerdem erhielt sie immer wieder Drohungen von dem menschlichen Abschaum, den auszurotten sie ihr Leben gewidmet hatte. Und das alles im Namen der Gerechtigkeit, um die Welt, wenn schon nicht besser, doch zumindest vorübergehend sicherer zu gestalten. Ein edles Ziel, das weit weniger edel erschien, wenn sie ihrem Partner immer wieder erklären versuchte, warum sie zu wichtigen Anlässen nicht da sein konnte.
Sie hatte gewusst, dass es irgendwann so kommen würde und Saunders ebenso. Beide hatten mit ihrer Liebe aufrichtig geglaubt, dem Schicksal ein Schnäppchen schlagen zu können, was ihnen auch eine Zeit lang gelang. Aber jeder von ihnen musste eine Wahl treffen und Larkin war nicht bereit ihren Beruf an den Nagel zu hängen, noch nicht. Sie blickte auf eine überaus erfolgreiche Laufbahn bei der FSA zurück und hatte sich zu Recht den Ruf erworben, einer der scharfsinnigsten aus dem Heer, keineswegs dummer Beamten zu sein, doch dieser Erfolg hatte auch seine Schattenseite.
Als Larkin im Bademantel in das Wohnzimmer zurückkehrte, war es immer noch stickig warm. Sie lief gemächlich zum Fenster und rieb sich dort mit dem Handtuch ihre langen, schwarzen Haare trocken. Wenn jetzt drüben in einem der anderen Hochhäuser ein Spanner sie mit einem Fernglas beobachtete, sollte er sich doch ruhig an ihrem Anblick weiden. Sie war eine gutaussehende Frau und musste sich nicht verstecken.
Während sie aus dem Fenster sah, bemerkte Larkin, dass es in einigen Bezirken von Los Angeles wie üblich brannte. Diese wuchernde Großstadt, ein Mix aus gigantischen Wolkentürmen, tiefen Straßencanyons und Slums, machte sie zunehmend nervöser.
Es hatte sich in Monterey Park wieder einiges verändert. Es waren eine Menge neuer Hochhäuser entstanden. An der Rosemead Highschool war ein weiteres Gebäude angebaut worden. Das Garvey Reservoir war nur noch halb mit Wasser gefüllt und am Freeway hatte sich mehrere Fastfood-Lokale angesiedelt. Darüber hinaus konnte sie in der Ferne am Umsteigebahnhof von Beverly Glen tiefschwarze Rauchschwaden erkennen, die in den Himmel aufstiegen. Dort musste es vor einer Stunde offensichtlich einen schweren Unfall mit der Schwebebahn gegeben. Drei ausgebrannte Waggons schienen ineinander verkeilt zu sein. Mehrere Arbeiter arbeiten mit funken spritzenden Laserschweißgeräten dazwischen, während ein Kran die Bergungstrupps unterstützte. Larkin fühlte sich, als würde sie ein Bild betrachten, das ihr eigentlich vertraut sein sollte, aber immer mehr auf subtile Weise veränderte. Die Menschen hatten aus der Stadt einen Moloch gemacht. Es war ihr ureigenstes Lebensritual. Doch wenn sie das Leben etwas gelehrt hatte, dann die Tatsache, dass die Menschheit an sich längst tot genug war, um sich in so einem Wahnsinn wohl zu fühlen. Manchmal, nach jeder Rückkehr von einem Einsatz, kam ihr die Melancholie darüber, dass sie sich alle so viele wichtige Träume nicht erfüllt hatten, es ihnen aber bisher gelungen war, sie unter Kontrolle zu halten.
Wenig später trat sie an eines der vollgestopften Bücherregale und schaute auf die Buchtitel. Es waren echte Bücher, gedruckt auf Baumspänen. Ein Speicherchip mochte hundertmal so viele Informationen enthalten, aber es hatte nichts sinnlich erregendes einen solchen Chip in der Hand zu halten. Ein echtes Buch dagegen lieferte ein fühlbares und sichtbares Vergnügen, wie auch Informationen. Vor etlichen Jahren hatte sich Larkin des Öfteren Krimis gekauft. Mit der Zeit hatte ihr Interesse an solchen Büchern merklich nachgelassen, denn für sie waren Verbrechen inzwischen kein Geheimnis mehr, sondern ein banaler täglicher Horror, eine Wurzel eines zunehmenden Zynismus, der ihr allmählich Angst machte. Vielleicht hatte Saunders doch recht und Larkin brauchte eine Auszeit von ihrem Job. Sie fand ein fast zerfleddertes Fantasy-Taschenbuch, das sie schon dutzende Male gelesen hatte und machte es sich im Schlafzimmer auf dem Bett bequem. Das Buch, welches über Zeitreisen und den Erlebnissen einer Gruppe Teenager handelte, hatte einen zauberhaften Charme. Und selbst die finsteren Gestalten in der Geschichte konnten sie nicht beunruhigen. Nach wenigen Minuten ließ sie das Buch fallen und schlief müde ein.
FSA-Hauptquartier,
Los Angeles,
Planet Erde
Am nächsten Morgen verließ Larkin das Apartment und nahm die Stille tief in sich mit. Als sie auf die Straße trat, musste sie unweigerlich husten. Die Luft schien offensichtlich noch schlechter geworden zu sein. Wahrscheinlich bin ich nicht mehr daran gewöhnt, diese verschmutzte Atmosphäre einzuatmen, dachte sie sich.
Sie fuhr mit einem Schwebetaxi in die Innenstadt von Los Angeles und fragte sich auf der Fahrt, ob sie sich doch die Zeit zum Duschen hätte nehmen sollen. Anfang Juni war es in der Stadt so heiß, wie überall sonst erst im August. Und als sie vor dem Haupteingang der Central Division eintraf, fühlte sie sich verschwitzt.
Die FSA-Zentrale war ein vielstöckiges Gebäude mit getönten Scheiben, das von jedermann nur als massiver Betonklotz beschrieben wurde. Diese war wie eine Festung erbaut und ein großes Beispiel dafür, wie man kein staatliches Bauwerk gestalten sollte. Larkin trat in die willkommene Kühle der Empfangshalle mit Klimaanlage. Einen weiten Bereich, ausgestattet wie ein bequemes Wohnzimmer, komplett mit Couches, Tischchen und behaglichen Polstersesseln. Durch die Glaswand hatte man einen Ausblick auf einen kleinen Innenhof mit Parkbänken sowie einem sprudelnden Springbrunnen, zu dem keine Tür hinausführte. In all den Jahren, in denen sie hier verkehrte, hatte sie dort nie jemanden gesehen oder herausgefunden, wie man dorthin gelangte. Vermutlich war der Innenhof nur zu Schau da, wie vieles andere an dem Gebäude. Im Zentrum des Eingangsbereiches befand sich ein halbkreisförmiges Empfangspult. Larkin stellte fest, dass die Halle leer war, bis auf den uniformierten Mann am Pult. An der Wand hinter ihm hing in Lettern die Schrift: FEDERAL SPACE AGENCY.
Sie zeigte ihm ihren Dienstausweis mit dem goldenen Abzeichen im Lederetui. Danach hielt sie ihr rechtes Auge vor Netzhautscanner und wartete geduldig, während der Zentralrechner die biometrischen Daten ihrer Pupille mit denen verglich, die in der riesigen Datenbank gespeichert waren. Diese Sicherheitsprozedur war keineswegs übertrieben. Nach dem verheerenden Terroranschlag vor vielen Jahren, bei dem ein Dutzend Polizisten und Büropersonal getötet wurden, sollte es nicht mehr so leicht sein, Zugang zum Gebäude zu gewinnen.
Lächelnd nickte sie dem Wachmann zu.
»Zu schade, dass Sie mich nicht einfach durchlassen dürfen, Charlie. Sie wissen schon von Mensch zu Mensch.«
Der bullige Afroamerikaner war Anfang sechzig, hatte einen kahlen Schädel und verfügte über eine immense Schlagfertigkeit.
»Woher soll ich wissen, ob Sie nicht ein verkleideter Terrorist sind, Miss Larkin. Heutzutage kann man sich nicht mehr auf Äußerlichkeiten verlassen. Außerdem, wie könnte diese Behörde dem Urteilsvermögen eines alten Wachmannes wie mir vertrauen, wo sie doch all den modernen Krempel hat, der feststellt, wer wer ist. Die traurige Wahrheit ist, dass Menschen wie ich da einfach nicht mehr mithalten können.«
»Sein Sie nicht so niedergeschlagen, Charlie. Die Technik hat auch ihre Vorteile. Hey, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Warum tauschen wir nicht für eine Weile die Plätze? Dann erleben Sie auch mal die guten Seiten.«
»Sicher, Miss Larkin. Ich jage Verbrechern hinterher und Sie bewachen das Gebäude vor den bösen Jungs. Ich werde Ihnen nicht einmal eine Leihgebühr für die Uniform berechnen. Aber wenn wir schon die Plätze tauschen, müssen wir das natürlich auch mit den Gehaltschecks machen. Ich möchte doch nicht, dass Ihnen die stattliche Summe von sieben Dollar die Stunde durch die Lappen geht. Das wäre sonst ungerecht.«
»Sie sind ausgekochter, als gut für Sie ist, Charlie«, schmunzelte Larkin.
Er lachte und betätigte mehrere Knöpfe in der eingebauten Konsole am Pult, worauf sich die Aufzugtür zischend öffnete. Larkin trat hinein und fuhr in das erste Obergeschoss. Dort lief Larkin an langen Reihen hell erleuchteter Glaskastenräume vorbei, die zu beiden Seiten eines langen Ganges lagen. Links und rechts in den abgeteilten Räumen arbeiteten Verwaltungs-Cops mit durchgeschwitzten Hemden an Computerterminals oder saßen an Schreibtischen, auf denen Kisten mit Beweismittel oder Berichte von Verhören und Tatorten lagen. Niemand beachtete Larkin, doch sie registrierte jedes Detail. Auf dem Weg zu Jeff Everetts Büro traf sie Tony Anderson, der aus einem der Büros herauskam.
»Willkommen daheim«, sagte der Ermittler lächelnd.
»Danke, Dave. Ich bin froh wieder auf der Erde zu sein«, meinte Larkin im Vorbeigehen.
»Der Boss will dich sehen, sobald du eingetroffen bist«, sagte Anderson und verzog leicht das Gesicht. »Er erwartet dich bereits.«
»Sitzt er in seinem Büro?«
»Ja«, erwiderte er. »Und ist ziemlich schlecht drauf«, antwortete der Ermittler und lief den Korridor weiter.
Jeff Everett war Leiter der Abteilung Strafverfolgung und der direkte Vorgesetzte von Larkin. Ein grauhaariger Witwer Ende Fünfzig, mit zwei erwachsenden Töchtern. Seine Laufbahn als Verbrechensbekämpfer hatte er als Militärpolizist begonnen. Am Ende seiner Dienstzeit promovierte er in Kriminologie an der Universität von L.A. und ging anschließend zur Federal Space Agency.
Sein Büro lag am Ende des langen Ganges: Ein Käfig aus grauem Teppichboden und weiß gestrichenen Wänden, aber immerhin um Nuancen größer als das seiner Leute. Ein anonymer Witzbold hatte vor einiger Zeit einen Steckbrief mit Everetts Gesicht nachgeahmt und an dessen Tür geheftet. Er hatte den imitierten Steckbrief hängen lassen, anstatt ihn abzureißen. Überraschend für einen Mann, der für seine Humorlosigkeit bekannt war.
Larkin klopfte leise an.
»Ja!«, ertönte ein wirklich mies gelauntes Bellen.
Sie öffnete die Tür, trat ein und setzte sich in den ledernen Sessel gegenüber dem Schreibtisch. Es herrschte die übliche Unordnung. Der Tisch war übersät mit Berichten, auf den stählernen Schubschränken stapelten sich unzählige Akten und hinter dem gepolsterten Drehsessel hing an der Wand eine Karte mit den Standorten aller amerikanischer Kolonien im Sonnensystem, die mit roten Heftzwecken gekennzeichnet waren.
Everett schien fetter geworden zu sein. Seine Haare klebten wie geliert an seinem wulstigen Schädel und sein Hemd zeigte Schweißflecken an den Achseln. Aber trotz Schweißgeruch, Bauch und Speckhüften war klar, dass er noch immer eine harte Nuss war, wenn es darauf ankam.
Vor langer Zeit waren beide gute Freunde. Er hatte Larkin damals nach ihrer schweren Schussverletzung das Geld für die teurere Operation besorgt. Sie nahm an, dass sie noch immer noch Freunde waren.
»Was hat dich so lange aufgehalten?«, brummte er mürrisch. »Du hättest dich gestern schon melden müssen.«
»Ich habe gehört, du wolltest mich sprechen?«, gab sie lediglich zur Antwort, ohne auf seinen Vorwurf einzugehen.
Everett starrte sie musternd an.
»Du hast Mist gebaut!«, sagte er kalt.
»Ich verstehe nicht ganz«, erwiderte sie verdutzt.
»Gestern habe ich fast drei Stunden mit dem Staatsanwalt telefoniert. Er hatte eine Information von Harpers Anwältin erhalten. Sie verlangt vom Richter, dass er den Prozess als unzulässig erklärt.«
»Mit welcher Begründung?«, fragte Lee betroffen und plötzlich sehr nervös.
»Wer war dein Verbindungsmann in der Marskolonie?«
»Ein Lieutenant namens Jack Miller.«
»War er bei der Wohnungsdurchsuchung von Harper dabei?«
»Ja.«
Der Captain sah sie herausfordernd an, während er sprach.
»Und du hattest vorher dir den erforderlichen Gerichtsbeschluss besorgt?«
»Natürlich«, antwortete Lee und schluckte.
»Laut der Anwältin hattest du Harpers Wohnung jedoch ohne die Genehmigung durchsucht.«
»Ich erinnere mich nicht genau.«
»Na klar«, schnaubte Everett. »Offenbar hatte Lieutenant Miller eine bessere Erinnerung. Harpers Anwältin setzte ihn nämlich unter Druck und er erzählte ihr alles.«
»Könntest du mir vielleicht sagen, was genau das Problem ist«, bluffte Larkin.
»Als ob du das nicht selbst wüsstest, Jessica. Das Problem ist, dass du die offizielle Genehmigung erst am Dienstag erhalten hast. Die Tatsache, dass du seine Wohnung zwei Tage vorher durchsucht hattest, ist eine unzulässige Handlung und gefährdet die gefundenen Beweismittel.«
»Hat die Anwältin denn irgendeinen konkreten Beweis, außer der Aussage von Miller?«
»Darauf kannst du wetten.«
»Ich glaube das nicht«, erwiderte Larkin skeptisch.
Samantha Hastings konnte unmöglich herausgefunden haben, dass Larkin die Wohnungsdurchsuchung ohne Gerichtsbeschluss vorgenommen hatte. Es sei denn, Miller hatte eine Aktennotiz gemacht, um sich zu schützen.
»Leugnest du, die Duchsuchung wissentlich durchgeführt zu haben, bevor die Genehmigung erteilt worden war?«
Sie sah Everett lange an. Er starrte zurück, die Lippen zusammengepresst und die Stirn ärgerlich gefurcht. Die Ermittlerin steckte nun tief genug in dem Schlamassel. Jetzt war es an der Zeit, sich zu retten und auf alles einzustellen, was auf sie zukam. Wenn Miller ihr keine Rückendeckung gab, war sie ohnehin erledigt.
»Nein, ich leugne es nicht.«
»Allmächtiger«, seufzte der Captain.
»Aber ich bezweifle immer noch, dass die Anwältin einen stichfesten Beweis hat.«
»Meinst du wirklich, das spielt eine Rolle?«, antwortete ihr Vorgesetzter. »Harpers Anwältin weiß es, um Himmels willen! Beweis oder nicht, der Richter wird verlangen, dass du unter Eid aussagst. Um aus dieser Sache herauszukommen, müsstest du einen Meineid leisten. Willst du das, Jessica?«
Larkin schüttelte den Kopf. Everett hatte recht. Irgendwie hatte Hastings Wind von der ungenehmigten Durchsuchung bekommen und bellte nun den Mond an. Wenn Larkin sich stur stellte und es kam später heraus, dass die Anwältin tatsächlich einen Beweis hatte, würde das für die Ermittlerin katastrophal sein.
»Das Eindringen in eine Wohnung ohne Genehmigung ist schon eine Straftat«, meinte er. »Ein Meineid würde es sogar noch schlimmer machen.«
»Welche Möglichkeiten gibt es also?«, wollte die Ermittlerin wissen. »Oder versucht es die Anwältin auf die harte Tour?«
»Der Staatsanwalt hatte bereits eine Vorbesprechung mit ihr. Wir hatten Harper wegen Drogenhandel an der Angel und nun verlangt Hastings eine Garantie für verminderte Schuldfähigkeit ihres Klienten. Das bedeutet, er wird in den Knast wandern, aber nicht sehr lange.«
»Eine andere Möglichkeit gibt es nicht?«
»Nein.«
Es folgte langes Schweigen.
»Verdammter Mist«, brummte sie schließlich ärgerlich. »Das heißt, der Kerl wird zwölf Jahre bekommen, aber in sechs wieder auf freiem Fuß sein?«
»Genau«, erwiderte Everett und ließ seinen Digitalschreiber neben das Datapad vor sich fallen. »Wie ich schon sagte, Jessica, du hast die Sache gründlich versaut. Aber wir können die ganze Angelegenheit noch unter den Teppich kehren.«
Sein Tonfall wurde etwas weicher. Er wischte sich mit einem Taschentuch über das Gesicht und setzte seine Brille wieder auf, die ihn auch nicht wieder in den alten Everett verwandeln konnte. Die elektrische Spannung zwischen ihnen beiden blieb.
»Wir waren vor zwei Jahren schon einmal in einer ähnlichen Lage, als du den Fall Burns bearbeitet hast, erinnerst du dich?«
»Das war etwas ganz anderes«, wandte sie ein.
»Nein, keineswegs. Du wolltest sein Büro mit versteckten Mikrofonen verwanzen, um an relevante Informationen zu kommen. Eine Abhöraktion, ebenfalls ohne Genehmigung.«
»Ich halte es immer noch für eine richtige Entscheidung«, erwiderte sie. »Wir hätten alles über seine illegalen Geschäfte erfahren können und an wen er die Waffen verkaufte.«
»Aber dann hätten wir gegen die verfassungsmäßigen Rechte von jeden dieser Verdächtigen verstoßen.«
»Ach ja? Ich dachte, wir sollen Verbrechen bekämpfen.«
»Richtig, doch unter Beachtung der allgemeinen Spielregeln. Selbst die Bürgerrechte eines Ted Burns stehen unter verfassungsmäßigem Schutz, bis wir ihn hinter Gitter gebracht haben. Entweder du findest dich damit ab, Jessica, oder verlässt die FSA.«
»Es ist also ein Spiel?«
»Nein. Es ist Gesetz«, sagte Everett mit einem tiefen Seufzer. »Wie lange arbeitest du schon in dieser Abteilung?«
»Im nächsten Monat sind es zehn Jahre.«
»Vielleicht brauchst du eine Ruhepause«, stellte ihr Vorgesetzter fest.
»Du willst, dass ich kündige?«, fragte sie angespannt.
»Nein, nichts dergleichen. Der Fall Harper ist noch nicht ausgestanden und es wird noch dicke Luft geben. Ich kann damit fertig werden, aber dich will ich aus der Feuerline haben.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich versetze dich für einen Sonderauftrag.«
»Wie bitte?«, raunte sie entsetzt.
Larkin stand auf und trat ganz dicht an den großen Schreibtisch heran. Der Ventilator an der Zimmerdecke schaufelte blaue Schemen über ihr Gesicht und ließ es fassungslos erscheinen. Jesus musste damals ähnlich ausgesehen haben, vor ein paar tausend Jahren, als er die Verurteilung von Pilatus vernahm.
»Wohin?«
»Eine Minenkolonie auf Ganymed im Jupiter-Sektor.«
»Das ist wohl ein Scherz?«
»Sehe ich vielleicht so aus, dass ich Witze mache?«, raunte er die Ermittler an. »Ich habe dir gesagt, dass es sich um einen Sonderauftrag handelt.«
»Und was soll ich dort tun?«
»Es hat dort in letzter Zeit viele Todesfälle unter den Arbeiter gegeben.«
»Von wem weißt du das?«, wollte Larkin wissen.
»Eine ehemalige Angestellte behauptet das. Ich tippe allerdings auf Arbeitsunfälle.«
»Wozu dann eine Untersuchung?«
»Die Verwaltung verlangt, dass ich der Sache auf den Grund gehe.«
»Hat denn die FSA auf Ganymed keine Dienststelle?«
»Doch, aber die Kollegen dort haben keinen Lieutenant. Er starb kürzlich bei einem Unfall. Außerdem hat keiner von denen eine ausreichende Erfahrung mit so einer Sache.«
»Und nun willst du, dass ich die Vorfälle untersuche, wie?«
»Ja, du hast es erraten.«
Larkin starrte Everett genervt an. Alles ging so schnell, wie ein Strudel, der sie in ein monströses Räderwerk hineinstieß. Sie war erst von der Marskolonie zurückgekommen, da sollte sie bereits wieder los.
»Jeff, ich bin keine Minenpolizistin!«, sagte sie eisig. »Das kann ich nicht tun!«
»Jessica, hör mich bitte zu Ende an, bevor du ablehnst«, begann er mit einem, wie er hoffte, beschwichtigenden Tonfall. »Du führst deine Untersuchungen durch, wie du als Ermittlerin es sonst auch tust. Mehr musst du nicht tun.«
»Tatsächlich?, meinte sie ungläubig. »Und wenn ich mein Entlassungsgesuch einreiche?«
Dies war natürlich Blödsinn, das wussten sie beide.
»Ich werde ich dich nicht davon abhalten«, seufzte der Captain erneut. »Du bist dann eine Privatperson und ich werde dich nicht mehr schützen können.«
Er ließ seine Mahnung einwirken. Die Sache war klar: Friss oder stirb! So wird die Federal Space Agency nicht in Verlegenheit geraten, auch wenn es bedeutete, dass die Behörde eine ausgezeichnete Ermittlerin verlor.
»Wann geht mein Flug, wenn ich mich darauf einlasse?«, fragte sie gereizt.
»Das nächste Langstreckenschiff startet morgen von der Orbitalstation. Die genauen Daten werde dir noch zuschicken.«
»Es ist also eine Operation zur Vorbeugung sozusagen?«
»Wenn du es so sehen willst.«
Larkin atmete tief durch und blickte auf den Becher mit dem Kaffee, der auf Everetts Schreibtisch stand. Sie spielte mit dem Gedanken, diesen in sein Gesicht zu schütten, doch dann nickte sie und akzeptierte das Unvermeidliche.
»Na gut, ich mache es«, erklärte sie sich bereit.
Sie wollte gehen, aber die Stimme ihres Vorgesetzten stoppte sie.
»Jessica?«
»Ja!«
»Es ist nur vorübergehend, bis über die ganze Sache Gras gewachsen ist.«
»Danke«, murmelte Larkin, wandte sich wieder zur Tür und verließ das Büro von Everett.
Apartment von Tom Saunders,
Monterey Park, Los Angeles,
Planet Erde
Am Morgen danach holte Larkin ein schweres Gewitter aus dem Schlaf. Es war eines jener wilden und überfallartigen Unwetter, die in den heißen Sommermonaten immer wieder durch Los Angeles wüteten. Sie lag im Schlafzimmer auf dem Bett und lauschte dem Regen, wie er gegen die Fensterscheiben prasselte. Nachdenklich starrte sie zur Decke hinauf. Diese Verbrecher, der Abschaum, finden doch immer einen Dreh davon zukommen, dachte sie sich. Da ist immer eine Lücke im Gesetz oder irgendein Verfahrensfehler. Viele Anklagen versanden schon vorher.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie das schmierige Gesicht von Dennis Harper, der nur das Glied einer grausigen Kette war, die sich über all die zwölf Jahre erstreckte, die sie bei der FSA arbeitete. Oder Samuel Brown, der eines Nachts den kleinen Lebensmittelladen ihrer Eltern überfiel und kaltblütig ihren Vater erschoss, nachdem er sich weigerte, die Kasseneinnahmen auszuhändigen. Larkin erinnerte sich auch, wie sehr sie als Kind über Tod des geliebten Vaters gelitten hatte, während der Mörder ungestraft davon kam. Vielleicht war es später deshalb so leicht für den Anwerber gewesen, sie für die Federal Space Agency zu gewinnen.
Als das Unwetter nachgelassen hatte, stand Larkin auf, rauchte zuerst eine Zigarette und suchte anschließend ihre Sachen zusammen, die sie in einen großen Leinensack stopfte. Anschließend orderte sie ein Schwebetaxi, dass sie zum Spaceport bringen sollte. Auf der vierzig minütigen Fahrt über mehrere Highways in den Norden von Los Angeles schaute sie wehmütig aus dem Seitenfenster. Die Dämmerung der Nacht zog sich zunehmend über der Stadt zurück. Hinter den Gebäuden des Raumhafens erhellte die aufgehende Sonne die letzten Schatten zwischen den Gebäuden und Türmen der verschiedenen Stadtbezirke. Und in den Fenstern der zahllosen Gebäude brannten die Lichter, während schwebende Reklametafeln in allen Farben aufzuflackern begannen.
Wenige Kilometer vor dem großflächigen Raumhafen drehte der Fahrer hinter der kugelsicheren Scheibe seinem Fahrgast kurz das Gesicht zu.
»Welche Fluglinie, Miss?«, fragte er.
»SkyTrans«, erwiderte sie auf dem Hintersitz, »Terminal vier.«
»Terminal vier«, wiederholte der Fahrer und fädelte auf der entsprechenden Fahrbahn ein.
Seine Passagierin hatte zwar die ganze Fahrt über geschwiegen, aber es gab keinen Grund, weshalb er sie nicht vielleicht zu einem kurzen Schwätzchen überreden konnte.
»Darf ich fragen, wohin die Reise geht, Miss?«
Sie wandte sich vom Fenster ab.
»In die Hölle«, erwiderte sie gelassen.
Der Mann war sich nicht sicher, ob er die Frau richtig verstanden hatte.
»Wo?«
»Ganymed«, erwiderte sie seufzend.
»Oh, das ist ja weit weg und ziemlich öde dort, habe ich mir sagen lassen.«
»Stimmt, aber ich werde da nicht lange bleiben«, antworte sie ihm schmunzelnd und sah weiter zum Fenster hinaus.
Station Hesperus,
Orbitalstation,
Marsorbit
Viele Millionen Kilometer von der Erde entfernt, im Orbit des fernen Mars, fand indessen die nächste Schmuggelaktion statt. Der richtige Ort für die niederträchtigen Taten widerwärtiger Männer.
Die Raumstation Hesperus war der zentrale Ausgangspunkt für sämtliche Operationen zum Jupiter-Sektor und in den Asteroidengürtel. Sie schwebte in einem weiten elliptischen Orbit durch die Dunkelheit des Weltraumes diesseits des Mars. Befand man sich von der Station noch weit genug entfernt, war es nahezu unmöglich, die Größe dieser künstlichen Welt abzuschätzen, denn in der unmittelbaren Umgebung gab es nichts, mit der man sie hätte vergleichen können. Wenn man etwas näher herangekommen war, wurde die Größe der Station in einer alles überwältigten Weise sichtbar. Mit einer Gesamthöhe von fünf Kilometer und ihrer breitesten Ausdehnung von sechs Kilometer, wurde sie nur durch die Orbitalstation Pegasus überboten, welche auf einer geostationären Bahn um die Erde kreiste.
Jack Daniels beobachtete durch die breite Sichtscheibe seines Büros die Hangarbucht Eins, wo soeben die Valley Forge für den wöchentlichen Nachschubflug zur Bergwerksmine nach Ganymed vorbereitet wurde. In der ersten Kaffeepause hatte er von einigen Technikern gehört, dass die Elektronik der ramponierten Fähre beinahe schon schneller ausfiel, als man sie reparieren konnte. Irgendjemand würde also schon bald entscheiden müssen, ob man die alte Valley Forge weiterhin im Einsatz behalten wollte oder ob man das Schiff zur Verschrottung freigeben geben sollte. Gedankenverloren griff Daniels in die Seitentasche seiner Arbeitsweste und holte ein kleines Karamellbonbon hervor, während mächtige Arbeitsmaschinen winselnd und piepsend volle Frachtcontainer in den Laderaum brachten. Doch er nahm in dem schallgedämpften Raum kaum etwas wahr und schob sich das Bonbon in den Mund. Dann rollte er die Ärmel des Baumwollhemdes hoch und sah auf seine digitale Armbanduhr.
»Eine Minute vor 03:00 Uhr. Es wird Zeit, die Dinge hier mal etwas in Bewegung zu bringen...«, murmelte er.
Anschließend konzentrierte Daniels seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf die Hangarbucht, um sicherzugehen, dass es bei der Beladung der Valley Forge keine Probleme gab.
Als er die Treppe zu seinem Büro herunterkam, hielt der Dockleiter auf halbem Weg kurz inne, um den nichtexistierenden Staub aus dem rechten Auge zu reiben und musterte verstohlen den Sicherheitsinspektor, wie dieser von der Star Dreamer herüber watschelte und nun auf das Frachtschiff zusteuerte.
»Pünktlich auf die Minute. Ich liebe solche pflichtbewussten Typen«, murmelte er schmunzelnd.
Harry Ringwood war der gestörteste aller gestörten Kerle der Nachtschicht. Er trug in seiner Brusttasche stets ein halbes Dutzend farbiger Stifte, niemals zwei gleiche und führte seine Inspektionen pedantisch genau durch, sofern es keine schwerwiegenden Verzögerungen im Lade- oder Startzyklus gab. Wenn es nach ihm ging, würden keinerlei ungenehmigte Suspensorien in den Jupiter-Sektor gelangen. Doch Ringwood hatte ein dunkles Geheimnis: Er war schon vor langer Zeit bestochen worden, bestimmte Container zu ignorieren, genau wie in den Monaten davor. So unglaublich es auch klingen mag, aber dieser streng baptistische Familienvater stand bei irgendjemanden auf der Soldliste. Und wenn man herausfinden wollte, welche Container es waren, so müsste man den Mann genau beobachten, wie er seine Inspektion durchführte.
Daniels erreichte im selben Augenblick den Boden der Hangarbucht, als Ringwood an ihm vorbeikam.
»Guten Morgen, Harry«, rief er über den Lärm hinweg und zog sich die Ohrenschützer herunter, die er über seinen wenig beharrten Kopf gestülpt hatte. »Na, wieder bereit für Ihr Guckerchen?«
Der Mann drehte sich zu Daniels und warf ihm einen sehr verächtlichen Blick zu. Es war die Aufgabe des Dockleiters, den Inspektor bei seiner Überprüfung zu begleiten. Das wusste auch Ringwood, doch es bedeutete nicht zwangsläufig, dass es beiden behagte.
»Sie hatten vorhin Schwierigkeiten mit einem Frachtcontainer?«, fragte Ringwood sachlich und schaute über den Rand seiner Hornbrille.
»Richtig«, erwiderte Daniels. »Im vorderen Teil des Containers waren ein paar Bolzenlöcher verkehrt gebohrt worden, ungefähr einen Viertelzoll außer der Reihe.«
»Was bedeutet ungefähr?«
Der Inspektor duldete keine Verallgemeinerungen und zog es vor, dass die Leute ihm in exakten metrischen Maßen Meldung machten.
»Drei Komma vier Zehntelzoll«, korrigierte sich Daniels automatisch. »Wenigstens haben wir die ARC dazu bringen können, uns eine Vollmacht auszustellen, neue Löcher bohren zu dürfen.«
Ringwood bewegte den Lichtgriffel über sein Datenpad und machte die Gegenprobe, um sicherzugehen, dass die Aurora Resources Corporation tatsächlich die Vollmacht erteilt hatte. Schließlich nickte er erneut.
»In Ordnung, reichen Sie mir eine Aktennotiz darüber ein, damit wir der Minengesellschaft die Arbeit in Rechnung stellen können«, sagte Ringwood, bevor er in den Laderaum der Valley Forge ging.
Daniels wollte ihm gerade folgen, als er einen spitzen Pfiff hörte. Er blickte über seine Schulter zurück und sah Henry Boscoe auf der anderen Seite des Hangars, wie dieser mit gequälten Gesichtsausdruck den Kopf schüttelte. Der Dockleiter begriff die Mitteilung des Vorarbeiters. Ringwood hatte bei der Star Dreamer die Container für eine Bergbaumine im Asteroidengürtel sehr gründlich inspiziert. Sollte es Schmuggelware an Bord der beiden Fähren geben, so konnte dies nur bei der Valley Forge sein.
Ringwood stand bereits beim ersten der insgesamt zehn Container und überprüfte die Seriennummer auf der Außenwand mit der Liste auf seinem Datapad. Kurz darauf öffnete er die zweiflügligen Stahltüren, holte eine Taschenlampe aus der Brusttasche und fuhr er mit dem Lichtstrahl über die aufeinander gestapelten Metallboxen. Dann stapfte er hinein und öffnete wahllos ein paar Kisten, um den Inhalt zu prüfen. Es befanden sich diverse Ersatzteile, elektronische Bauteile, Arbeitskleidung sowie Werkzeuge.
Als er wieder herauskam, schaltete er seine Lampe aus und wandte sich zu Daniels.
»Lassen Sie die Behälter verschließen und wieder versiegeln«, ordnete er an, bevor er zum nächsten watschelte.
Dieselbe Prozedur wiederholte sich bei neunzehn weiteren Containern. Beim letzten, einem Kühlcontainer, wich Ringwood allerdings von seiner üblichen Inspektionsweise ab. Er betrachtete die Seriennummer auf den äußeren Seitenwänden, verglich sie mit seiner Liste auf dem Pad und las gemächlich ihren Bestimmungsort ab, als wollte er sein Gedächtnis auffrischen. Danach öffnete er die Temperatur- als auch druck versiegelten Türen, zückte seine Taschenlampe und leuchte hinein. Dutzende Plastikkisten mit tiefgefrorenem Fleisch, das in Folien eingeschweißt war, stapelten sich darin. Aber diesmal prüfte Ringwood den Inhalt des Containers nicht so penibel, wie bei den anderen. Stattdessen schloss er die Türen wieder und legte sogar selbst die Verschlusshaken um.
»Ist was nicht in Ordnung?«, fragte Daniels neugierig.
»Nein, alles okay«, erwiderte der Inspektor.
Er führte den Lichtgriffel ein paar Mal über sein Datapad, um ebenso die Freigabe des Kühlcontainers in der Datenbank zu bestätigen. Damit war die ganze Sache für ihn erledigt. Daniels, der Ringwood bei der Inspektion des Containers sorgfältig beobachtet hatte, bemühte sich sein Lächeln zu unterdrücken, das sich nun auf seinem Gesicht breitmachen wollte. Natürlich war dem Dockleiter nicht entgangen, dass der Inspektor die genaue Prüfung absichtlich unterließ, was Daniels nur recht sein konnte, schließlich befanden sich darin die versteckten Phiolen.
»Vergessen Sie nicht, mir einen Bericht zu schicken«, sagte Ringwood und sah auf seinem Chronometer. »Ich bin in meinem Büro, um den Papierkram zu erledigen. Rufen Sie mich, falls Sie mich brauchen sollten.«
Daniels nickte, so wie er gewöhnlich immer zu nicken pflegte und antwortete: »Ist gebongt, Harry.«
Nachdem der Kontrolleur den Laderaum verlassen hatte und endlich aus der Hangarbucht verschwunden war, zog sich Daniels wieder in sein eigenes Büro zurück. Dort schrieb er am Computerterminal eine kurze verschlüsselte Textnachricht an die Mine auf Ganymed, dass alles glatt verlaufen sei. Er lächelte genüsslich dabei. In einer Stunde würde die Valley Forge, mit der versteckten Drogenware, auf die Reise gehen, was ihm wieder eine große Summe Schmiergeld bescherte. Genauso wie Ringwood, den man bestochen hatte, ein Auge zuzudrücken.
Bergbaumine Ganymed
Komplex G,
Jupiter-Sektor
Nach acht Monaten Biostase-Schlaf im Weltraum, genoss es Larkin wieder festen Boden unter den Füßen zu haben und sich frei bewegen zu können. Die Sicherheitskontrollen der Bergbaumine auf Ganymed lagen bereits hinter ihr in den stählernen Eingeweiden der Station, nun lief sie mit den anderen Passagieren durch die halbdunklen Gänge und den ertönenden Durchsagen.
»Die Aurora Resources Corporation heißt Sie auf Ganymed herzlich willkommen. Es ist der 26. April 2081. Ihre Ankunftszeit beträgt 17:05 Uhr Marszeit. Die Temperatur in der Station beträgt momentan 22,5 Grad Celsius. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«
Während sie den Zubringerkorridor entlang lief, blickte sie immer wieder durch die schlitzartigen Sichtfenster hinaus und konnte nur Bewunderung für die Arbeit empfinden, die man in die Erweiterung der Einrichtung gesteckt hatte. Als man im Jahre 2070 die Minenanlage auf dem Jupitermond errichtet hatte, bestand diese nur aus wenig Gebäuden, insgesamt sechs an der Zahl. Damals hatte die Aurora Resources Corporation der Öffentlichkeit eingeredet, die Station sei eine große Bergbaumine, dabei war sie noch unterentwickelter wie eine Forschungsstation in der Antarktis zu Anfang des 21. Jahrhunderts gewesen. Sie schüttelte bewundernd den Kopf. Zwar hatte sie schon Bilder im TV-Dokumentation gesehen, doch erst jetzt konnte sie daran glauben. In den letzten acht Jahren hatte man viel aus dem Ort gemacht. Jetzt war die Station tatsächlich zu einer richtigen Firmenstadt mit nahezu 1.800 Angestellten geworden.
Am Eingang zum Hauptkomplex sah Larkin einen untersetzten Polizisten mit schütten Haar und dunklen Augen, der dort bereits auf sie wartete. Er trug eine blaue Uniform mit der goldenen Dienstmarke der Federal Space Agency an seinem kurzärmligen Hemd. Sie ging auf den Mann zu, stellte ihr Gepäck ab und ließ ihre Blicke über seinen Kopf gleiten, bis sie an den Rangabzeichen auf den Schulterklappen und den Kragenspiegeln seines Hemdes hängen blieben.
»Sergeant Hayes?«
Der Mann nickte.
»Sind Sie Lieutenant Larkin?«
»Ja«, erwiderte sie so freundlich wie sie nur konnte und massierte mit der linken Hand die Stirn gegen die höllischen Kopfschmerzen.
Der Menschheit war es inzwischen gelungen, die Biostase für die interplanetare Raumfahrt nutzbar zu machen. Aber nicht wie einst durch Tieftemperaturtechnik, sondern mit der Verabreichung von psychoaktiver Mittel, die man den Passagieren verabreichte, um sie in eine Art künstlicher Winterschlaf zu versetzen, sodass sie die Flüge in einer lebenserhaltenden Schlaftruhe verschliefen. Diese ‘Zombie-Droge’ besaß die gewünschte Wirkung, den physischen Metabolismus und die mentalen Abläufe zu verlangsamen, der eine Biostase ermöglichte. Außerdem war es auch das einfachste, weil sich die Passagiere während des Fluges nicht auf die Schwerelosigkeit umstellen mussten. Für viele wäre eine solche Umstellung ein sehr unangenehmer Aspekt der Reise gewesen.
Anfänglich wurden die Schlaftruhen nur von der NASA für Langzeitflüge eingesetzt. Mit der Zeit wurden die Truhen perfektioniert und von der US-Gesundheitsbehörde auch für den kommerziellen Gebrauch an private Unternehmen freigegeben. Nicht nur die neuste Generation an nuklear angetriebenen Raumschiffen, sondern auch die Schlaftruhentechnologie hatte den Weg für einen kostengünstigen Weltraumflug bereitet. Die unerwünschte Nebenwirkung des ‘Schlafes‘ waren allerdings scheußliche Kopfschmerzen, die einem nach dem Aufwachen erwartete und maximal bis zu einer Stunde nach dem Erlangen des Bewusstseins anhielten. Den Pharmaunternehmen gelang es niemals wirklich sämtliche Nebenwirkungen auszumerzen.
Hayes blickte Larkin überlegend an. Anscheinend konnte er ihre Gedanken lesen.
»Wie wäre es, wenn ich Sie in ihr Quartier bringe? Dort können Sie sich etwas ausruhen.«
»Einverstanden«, antwortete sie nickend.
»Gut, folgen Sie mir.«
Der Sergeant nahm das Gepäck von ihr und lief im zügigen Tempo voran, während sie ihm durch das Labyrinth der Station hinterher trottete.
Bergbaumine Ganymed
Komplex B,
Jupiter-Sektor
Nachdem beide in der vierten Ebene im B-Komplex angekommen waren, stoppten Hayes vor einer Tür.
»Das ist Ihr Zuhause für die Dauer Ihres Aufenthaltes hier«, sagte er und öffnete die Eingangstüre mit seiner universellen Kennkarte. »Ich hoffe es gefällt Ihnen. Ihr Vorgesetzter hat uns gebeten, für Sie ein bequemes Quartier zu besorgen.«
»Gebeten? Oder angewiesen?«, fragte sie lächelnd.
»Angewiesen wäre das bessere Wort.«
»Dachte ich mir«, grummelte sie. »Von Taktgefühl hält mein Chef nicht viel.«
»Solange es kein Stich von ihm ist, geht es ja noch«, erwiderte der Sergeant mit einem schiefen Lächeln.
Larkin sah sich um und wurde erst jetzt so recht bewusst, wie sehr sie ihre vertraute Umgebung auf der Erde vermisste. Verglichen mit den Unterkünften der Durchschnittsarbeiter, war ihr Quartier als geradezu luxuriös zu bezeichnen. Doch auch hier hatte man nicht viel getan, um die Rohre sowie die Leitungen des Ventilations- und Versorgungssystems ein wenig zu kaschieren. Deutlich sichtbar liefen dies unter der niedrigen Decke entlang. Dünne Lebensadern, auf die jeder Mensch in der Station angewiesen war, eine ständige Erinnerung an den unsichtbaren Halt, den das Sauerstoff atmende Leben auf Ganymed gefunden hatte.
Die Wände waren metallfarben, bis auf wenige Flächen, die man mit farbigem Plastikmaterial verkleidet hatte, um die Eintönigkeit ein bisschen abzuschwächen. Es gab künstliche Pflanzen aus Poläthylen und Blumen aus Seide, aber kein Holz. Metall- und Plastikerzeugnisse wurden von den Industrieplattformen hergestellt, welche sich im Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter angesiedelt hatten. Holz musste man dagegen von der weit entfernten Erde herbeischaffen. Trotzdem gab es einige kümmerliche Versuche, sich die raue Umwelt wohnlicher zu gestalten, ihre Sterilität durch Fantasie auszugleichen. Neben den künstlichen Blumen gab es noch bunte Bezüge für die Sessel. Farbe bedeutete
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Oliver M. Pabst
Bildmaterialien: Oliver M. Pabst
Cover: Oliver M. Pabst
Lektorat: Korrekturen.de Julian von Heyl
Korrektorat: Korrekturen.de Julian von Heyl
Tag der Veröffentlichung: 29.07.2022
ISBN: 978-3-7554-1830-6
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