Als mein bester Freund weggezogen war, wusste ich nicht ob ich lieber schreien oder weinen sollte. Das Haus, an dem ich nach der Schule immer vorbei musste, war verschlossen, ein Schild mit der Aufschrift „Zu verkaufen" war im Vorgarten ins Gras gesteckt. Ich erinnerte mich daran, wie er jeden Morgen vor diesem Haus auf mich gewartet hatte, sich bei mir eingehakt hatte und wir gemeinsam den Gehweg entlanggeschlendert waren, meistens lachend. Wir waren so lange die besten Freunde gewesen, eigentlich seitdem er mit seiner Familie hergezogen war. Wenn ich so darüber nachdachte, war es eine längere Zeit, als es mir schien.
Das erste Mal sah ich ihn an seinem ersten Schultag. Damals hatte meine Schwester mich dazu gezwungen den selbstgestrickten gelb-schwarzen Streifenpullover anzuziehen, den sie mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie war Meisterin darin anderen Leuten Schuldgefühle zu bereiten, deshalb und weil sie meine Schwester war, gab ich nach. Leider sah der Pullover aus, als hätte ich ihn aus der Altkeiderkiste und ich hatte frappierte Ähnlichkeit mit einer XXL Biene. Da ich in der Schule noch nie so richtig beliebt gewesen war, begann dann noch vor der ersten Schulstunde die Hänselei. In der gläsernen Vorhalle der Schule griffen sich meine besten Feinde, Tom und seine zwei Kumpanen, meine Schultasche und warfen sie einander zu. Ich wusste noch wie ich, den Tränen nahe, versucht hatte sie wiederzubekommen, erfolglos. Sie beschimpften mich, sagten immer das Gleiche: Streifenmännchen, Lajita ist ein Streifenmännchen! Ich sah ihn gar nicht kommen. Mit einem Ruck packte er den Rucksack aus der Luft und hängte ihn sich um die Schulter. „Das wagt ihr nicht mehr." Seine Stimme klang emotionslos, drohend. „Wer ist denn das?", höhnte Tom. „Ein Neuer?" Er lachte und seine Freunde stimmten ein. Doch das Gesicht des Neuen blieb regungslos, seine Augen so tödlich wie messerscharfe Klingen. Toms Lachen erstarb. Er wirkte verunsichert, beinahe ängstlich. ,,Kommt, wir gehen", sagte er unbehaglich. Ich starrte ihnen nach, bis sie um die Ecke verschwunden waren. Dann wandte ich mich dem Neuen zu. „Ich denke das ist deiner." Ich nickte. Mit einem Lächeln reichte er mir den Rucksack. „Danke, das war sehr nett von dir." Sein Lächeln wurde breiter und brachte seine braunen Augen zum Leuchten. Winzige Grübchen erschienen auf seinen Wangen. „Denen musste mal jemand beibringen, was Sache ist." Damals kam er mir für sein Alter so unfassbar reif vor. Auch wenn ich noch nicht ahnen konnte, wie sehr. Und schon gar nicht, dass wir eines Tages beste Freunde sein würden. „Kennst du sie?", fragte er. Ich rollte mit den Augen. ,,Ja. Tom Markos, er ist eine Klasse über mir. Der Blonde ist Michael Stevenson, mein Cousin." Seine Augenbrauen fuhren in die Höhe. ,,Ja, ich weiß, nicht grade nett, aber was soll man machen?" „Und der andere?", fragte er weiter. „Paul Freyer", erklärte ich, „der ist noch nicht so lange hier, ich glaub ein oder zwei Monate." Naja eigentlich war Paul nicht so schlimm. Nur mit Tom waren er und mein Cousin schrecklich. Wie zwei Hündchen, die ihm nachrannten und alles taten, um ihm zu gefallen. „Sind die immer so drauf?" „Naja ... Meistens." Er sah mich nachdenklich an. Ich schüttelte den Kopf. „Du bist doch neu hier. Wo musst du denn jetzt hin?" „Ähm..." er fummelte einen Zettel aus seiner Hosentasche. „Mathe." „Hab ich auch." Ich zog eine Grimasse. „Komm, ich zeig dir wohin." Lächelnd nahm ich seinen Arm und zog ihn mit.
So unbeschwert gelacht hab` ich noch nie, dachte ich, während er mir ein Zettelchen nach dem anderen unter der Bank reichte. Miss Delo warf mir einen strengen Blick zu, aber ich konnte einfach nicht aufhören zu kichern. Auf dem Zettel war eine krakelige Zeichnung von Miss Delo mit Fangzähnen und roten Augen. Ein schwarzer Umhang hing ihr über die Schultern und lange, schwarze Haare fielen ihr bis über die Brust. Hahaha war darunter geschrieben. Hinter vorgehaltener Hand versuchte ich mich wieder zu beruhigen, aber es wollte mir nur schwer gelingen. Ich sah vom Zettel auf und meinte Miss Delo wirklich so zu sehen. Glatte, glänzend schwarze Haare, Haut, weiß wie Marmor, rubinrote Augen. Ein schwelender, schwarzer Umhang umgab sie. Nach einer Sekunde war das Bild wieder verschwunden und ich sah meine gewöhnliche Lehrerin, ihre zerzausten, kinnlangen Haare, ein gerötetes Gesicht, die langweilig grünen Klamotten und als i-Tüpfelchen einen furchtbaren, orangenen Rock. Sie sah mich über ihre Nerd-Brille böse an. Und sie schrie. Da erkannte ich, dass sie mich anschrie. Mein Gehör setze wieder ein. „... kannst du denn nicht einmal aufpassen?" Ihr zornrotes Gesicht war direkt mir zugewandt. Ihre grün-braunen, zu eng stehenden Augen schienen Blitze auf mich zu schießen. Unbehaglich wand ich mich unter ihrem Blick. „Tut mir Leid, Miss Delo." Damals kam es mir nicht komisch vor, dass die Lehrerin den Neuen der Klasse nicht vorgestellt hatte. Genauso wie manches andere.
Auf dem Flur hörte ich dann eine Stimme. „He, halt. Wart` bitte Mal." Zwar wusste ich nicht sicher, ob ich gemeint war, aber instinktiv drehte ich mich um. Der Neue eilte auf mich zu, mit einem Strahlen im Gesicht. „Oh, hi." Irgendwie freute ich mich unheimlich. ,,Hi." Er hakte sich bei mir unter und in mir breitete sich ein glückliches Gefühl aus. Als wir draußen waren fragte er: „In welche Richtung musst du?" „Da lang." Ich zeigte nach rechts. „Echt? Ich auch." Wir gingen die Straße entlang und ich erzählte ihm etwas von der Schule. „Auf keinen Fall darf man sich gegen Selena stellen. Die macht einem sonst auf ewig die Hölle heiß. Ich sag nur eins: Die ist verrückt." Ich kannte Selena zwar nicht so gut, aber ich hatte ihre Eigenarten selbst erlebt, als ich mal aus Versehen ihren Stift eingepackt hatte. Als sie ihn dann in meinem Mäppchen entdeckt hatte, war sie total ausgeflippt. Von da an hatte sie nach und nach jeden meiner Stifte geklaut - es gelang ihr immer. Ich hatte nichts gesagt und es einfach hingenommen. Nach ein paar Wochen hatte sie damit aufgehört und nie wieder ein Wort mit mir gewechselt. „Hier wohne ich." Der Neue deutete auf das große Einfamilienhaus an dem er stehen geblieben war. „Hier?" „Ja, wieso?" Ich zuckte mit den Schultern. „Nur so, ich wohn gleich da drüben." Ich zeigte auf das übernächste Haus. „Was für ein Zufall", bemerkte er heiter. „Dann bis morgen." Jetzt wusste ich zwar wo er wohnte, aber nicht einmal seinen Namen. „Wie heißt du?", rief ich im nach. Er war schon über den gepflegten Kieselweg, der zur Haustür führte, gelaufen, als er sich noch einmal umdrehte. „Glade", sagte er und ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht. Dann drehte er sich wieder um und ging zur Haustür. Die nächsten Tage waren die Besten meines Lebens und sie wurden immer besser. Wir lernten uns allmählich kennen. Jeden Tag wartete er vor seinem Haus, um mich zur Schule zu begleiten und jeden Tag begleitete er mich auch wieder zurück. Irgendwann war es für mich das Normalste der Welt. Bis er dann weg war. Als er am Morgen nicht vor seinem Haus stand, zögerte ich einfach ohne ihn weiterzugehen. Schließlich war er immer hier gewesen. An jedem einzelnen Tag. Ich nicht bei ihm zu klingeln. Womöglich weckte ich noch jemanden. Es wäre auch unangenehm gewesen, schließlich kannte ich seine Eltern selbst nach all der Zeit nicht und war auch noch nie bei ihm gewesen. Oder er bei mir. Mir kam es einfach nicht richtig vor. Vielleicht war er krank, redete ich mir ein. Ja, sicher war er krank, sonst hätte er auf mich gewartet. Also machte ich mich alleine auf den Weg.
Den Entschluss ihm die Hausaufgaben zu bringen, war sehr spontan gefallen und obwohl das Haus, in dem Glade wohnte, von außen hell und freundlich erschien, jagte es mir einen Schauer über den Rücken. Unheimlich. Ich nahm meinen Mut zusammen, schüttelte über mich selbst den Kopf und ging den gekiesten Weg zur weißgetünkten Tür. Schließlich war ich keine zehn mehr. Mehr und mehr drückte dieses unbehagliche Gefühl auf mich nieder. Ich klingelte. Und warum sollte ich ihn denn nicht mal besuchen? Schon so lange kannte ich ihn, drei Jahre, und nie hatte er über seine Familie oder sein zu Hause gesprochen. Mir war es nicht einmal aufgefallen, aber plötzlich kamen mir viele seltsame Dinge in den Sinn. Hatte Glade jemals mit den anderen Mitschülern gesprochen? Wann hatte ich zuletzt mit meiner Banknachbarin gesprochen? Heute war es so, als würde ich Laura das erste Mal richtig wahrnehmen. Und wohin war eigentlich Selena verschwunden? Nach der ersten Stunde war sie wortlos aufgestanden, nicht einmal die Lehrerin hatte sich nach ihr umgedreht, als sie aus dem Klassenraum spaziert war. Niemand hatte sich nach ihr umgedreht, niemand außer mir. Mein Kopf schwirrte und ich fasste die Türklinke, um mich abzustützen. Da schwang die Tür auf, ich stolperte in die dunkle Diele, konnte mich aber wieder fangen. Es war gespenstisch still. Das Haus schien ausgestorben, aber das war unsinnig. Die Vorhänge waren zugezogen, alle Lichter aus. Ich stützte mich an der Kommode im Flur ab, sie war verstaubt und angewidert wischte ich die Hände an meiner Hose ab. Waren seine Eltern arbeiten? War es deshalb hier so? Wo war Glade? „Glade?“, rief ich nach oben, wo ich sein Schlafzimmer vermutete. Nur tiefe Stille antwortete mir. Ich haderte mit mir. Sollte ich umkehren? Immer noch kam es mir falsch vor hier zu sein. Wie ein innerer Zwang wollte ich nichts wie raus hier, aber ich brachte mich zur Vernunft. Was sollte mir schon passieren? Mich zusammenraffend, blickte ich die Treppe hinauf, die im tiefen Schwarz unterging. Die Pforte zur Hölle, schoss es mir durch den Kopf. Ich suchte nach einen Schalter, betätigte ihn, aber das Licht blieb aus. Ruhig. Bleib ruhig. Auch wenn sich meine Suche als erfolglos herausstellte, so wollte ich doch zumindest die Angst vor diesem Haus bezwingen. Pah, Angst vor einem Haus! Eine Stufe nach der anderen nehmend, tastete ich mich mit einer Hand am Geländer in die Dunkelheit vor, erinnerte mich daran, dass mein Handy eine Taschenlampe besaß und beschimpfte mich im Geist selbst. Über alles lag eine feine Staubschicht. Der Gang vor mir war großzügig, alles war hübsch und modern eingerichtet. Unschuldig. Doch genau das wollte nicht in meinen Kopf. „Glade?", rief ich durch die Gänge. Hatte er überhaupt Geschwister? Ich wusste es nicht. Wie konnte ich das als beste Freundin nicht wissen? Das erste Zimmer links erwies sich als ein Badezimmer, das rechts als eine Abstellkammer und auch das nächste rechts war bloß ein Arbeitszimmer. Das zweite links war ein großes Schlafzimmer mit Doppelbett, aber die Möbel sahen genauso verstaubt aus wie der Rest, es lag kein Krimskrams rum und auch alle Schränke und Schubladen waren leer. Das Zimmer am Ende des Ganges war ein kleineres Schlafzimmer, die Wände waren blau und das Bettgestell glich einem Rennauto. Es lagen Spielsachen auf dem Boden herum und eine halb zusammengebaute Ritterburg von PlayMobil. Von diesem Zimmer zweigte noch eine Kammer ab. Bisher war die Dunkelheit friedlich geblieben, die Grauen in den finsteren Ecken hatten sich nicht zu erkennen gegeben, aber diese Tür flößte mir eine ungeheure Angst ein, mehr als das ganze Haus zusammen. Aber wer wäre ich schon, wenn ich es nicht zumindest versuchte. Wo bist du nur, Glade? Was wenn er genau hinter dieser Tür auf mich wartete? Überraschenderweise ließ sich die Tür ganz einfach öffnen, sie quietschte auch nicht wie die anderen, als wollte jemand, dass man sie jederzeit heimlich öffnen konnte. Mich erfasste ein Schaudern, es fühlte sich an, als würden sich alle Atome meines Körpers sträuben in die Tiefe dieser Kammer abzutauchen. Die Schatten waren wie Monster, sie wölbten sich, breiteten sich über mir aus, wollten mich verschlingen. Der Strahl meiner Lampe verscheuchte sie alle. Es war, als gäbe es die schwarz manifestierten Ungeheuer gar nicht. Es war ein großer Raum. Alle Wände und der Boden aus Holz. Es stand nichts hier drin. Nur ein Schrank stand mitten im Raum. Er schien mich zu locken, es gab nichts Unheimliches an ihm. Er war so schön. Ich ging darauf zu und ließ das wohlige Kribbeln durch meine angespannten Muskeln rieseln. Was mag sich Wundervolles hinter diesen Türen verbergen? Diesen Moment hätte ich so gerne mit jemanden geteilt. „Glade." Ich schwang die Türen auf.
Golden, silbern, kupfern, marmorn und graphit. Die Haare.
Grün, braun, sandfarben. Die Kleider.
Winzige Bögen mit Pfeilen, spitz zulaufende Schuhe und Ohren. Die Ansammlung der winzigen Figuren war gigantisch. Der Schrank endete nicht etwa nach einem Meter, er erstreckte sich unendlich in die Tiefe, tausende und abertausende Figuren. Manche waren mitten in der Bewegung eingefroren, andere schliefen oder standen still, aber eines hatten sie alle gemein. Sie wirkten zu lebendig, um seelenlose Figuren zu sein. Sie strahlten einen Glanz aus, der mich an Glade erinnerte. Ich streckte den Arm aus und berührte eine der Figuren. Ihre Augen öffneten sich und wanderten nach oben, zu meinem Gesicht. Sie alle drehten ihre Köpfe und starrten mich an. Halb zu Tode erschrocken stolperte ich zurück, verlor fast mein Licht, doch als ich es erneut auf den Schrank richtete, zeigte er mir leblose, starre Figuren, in ihren Bewegungen eingefroren. Die Rückwand des Schrankes war ein Spiegel. „Oh Mann", flüsterte ich fassungslos über meine Dummheit. Von den kleinen Kreaturen ging nichts aus. Leblos. Ich schüttelte den Kopf. Eine Figurensammlung. Nichts weiter. Langsam nahm ich eine der Figuren in die Hand, eine kleine Elfe mit Pfeil und Bogen. Sie war kalt, aus Porzellan vermutlich, so fühlte es sich an. Trotzdem widerstrebte es mir sie aus meinen Fingern zu lassen, ging doch etwas Zartes von ihr aus. Eine mehr oder weniger wird keiner vermissen. Kurzentschlossen packte ich sie in meinen Rucksack, schloss die Türen des Schrankes wieder und beeilte mich aus dem Zimmer. Inzwischen war es schon dunkel geworden, nach neun Uhr! Meine Mutter wird ausflippen! Hastig wanderte ich die Gänge zurück, die Treppe runter und aus dem Haus. Über den Garten gehend sah ich nochmal zum Haus. Hatte in dem einen Zimmer vorher schon Licht gebrannt? Es schüttelte mich, ich ging beharrlich weiter und wollte nicht darüber nachdenken, was das zu bedeuten hatte. Die Straßenbeleuchtung war der Retter meiner Nerven. Die letzten Meter über den Vorgarten zum Haus rannte ich, klingelte Sturm und nachdem meine Mutter geöffnet hatte und ich in das warme, nach Pizza duftende Innere eintauchte, war alles vergessen. Für den Moment.
Der Unterricht verlief den nächsten Tag gewöhnlich, doch mich wunderte, dass die Klassenlehrerin nichts zu Glades Abwesenheit sagte. Meine Banknachbarin und ich verstanden uns sehr gut und auch andere begannen um mich herumzuschwirren und wollten sich mit mir unterhalten. Die Situation kam mir extrem real vor und seit Langem kam in mir das Gefühl hoch wirklich zu leben, in der Realität angekommen zu sein. Und doch war es surreal. Glade. Niemand schien ihn zu kennen. Glade, der drei Jahre lang dieselbe Klasse besucht und wie sie alle in derselben Kleinstadt gelebt hatte. Sein Nachname? Ich musste zugeben, dass ich den nicht wusste, was mich selbst ins Stocken brachte. Es machte meine Frage nach ihn und die Erzählung über ihn noch unglaubwürdiger. Ich machte mich lächerlich, nur schien das niemand zu merken. Sie lachten, hielten es für einen Witz, nur ich lachte nicht. Doch ich lächelte verlegen mit. Laura und die anderen fanden alles so toll und lustig, was ich sagte. Ich hatte gar nicht mitbekommen wie wenig ich in den letzten Jahren mit ihnen geredet hatte. Vor Glade, ja ich stellte schon eine Zeitspanne nach und vor ihm fest, waren wir, ich, Laura und auch John so etwas wie die Außenseiterclique. Ich war nicht beliebt und war in dieser Zeit nicht glücklich. Als Glade aufgetaucht war, waren sie alle von meinem Schirm verschwunden. In der Zwischenzeit hatte sich John in einen Komiker und Laura in eine gesprächige Schönheit verwandelt und gehörten zum guten Mittelfeld unserer Klasse, die sich gut mit den Stars der Klasse verstanden. Und plötzlich war ich im Mittelpunkt und man spürte in der Luft, dass meine Zurückhaltung gegenüber den Stars und mein an Laura und John gelehntes Verhalten die beiden irgendwie zu den neuen Stars erhob. Mit mir als ... was eigentlich? Die Stars, eigentlich Brian, Tim und Sandra luden mich zu ihrer Party ein. Diesen Freitag. Ich nahm die Karte, bedankte mich, wusste aber nicht, ob ich wirklich kommen würde. Eine Party? Laura war begeistert und John freute sich hauptsächlich auf die Drinks. Und weil ich kommen durfte, waren sie beide natürlich mit dabei.
Es war erst Dienstag, drei Tage hin bis zur Party und John und Laura nervten mich damit, schrieben ständig Smileys und Tim versuchte anscheinend über Handy mit mir zu flirten. Ich stand vor meinem Schrank und versuchte irgendetwas zu finden, das man wohl für eine solche Party anziehen konnte, bevor ich meiner Mum beibringen musste, dass ich, irgendwie gezwungenermaßen, auf eine Party ging. Das kannte sie ja nicht von mir. Laura beriet mich per Videoanruf und hielt mich zum Glück davon ab mich klamottenmäßig komplett zu blamieren. Ihre Worte. Ich war trotzdem froh, als sie mich dazu nötigte das auszuwählen, was ich mir ohne ihr Zureden nie getraut hätte anzuziehen. Mum war außergewöhnlich leicht für mein Vorhaben zu begeistern gewesen, besser gesagt sie war aus dem Häuschen, dass ich endlich meine ersten Schritte Richtung soziales Leben beschritt. Dad hingegen war komplett dagegen, bis Mum ihn überredete, sie stritten sich um diesen Abend, als bestimme es meine restliche Zukunft, ob ich gehen durfte oder nicht. Doch da bei mir noch nie irgendwelche Vorkommnisse gewesen waren, musste Dad nachgeben. Da hätte er sich wohl gewünscht, dass ich etwas angestellt hätte, nur damit er mich zu Hause behalten konnte. Er drückte mir in einem ungesehenen Moment eine Pfefferspraydose in die Hand und meinte, es wären viele zwielichtige Gestalten in solch späten Stunden unterwegs und ich sollte aufpassen. Ich konnte ihn schließlich damit beruhigen, dass mich John abholen würde, den kannte er erstaunlicherweise ganz gut und hielt ihn für einen anständigen Jungen. Schnell zog ich meine bereitgelegte Kleidung an. Mum lobte mein Outfit und als es klingelte, floh ich aus dem Haus, bevor mein Dad meinen Rock sah, denn der würde ihm wohl nicht gefallen. John stand mit einem breiten Lächeln bei seinem Wagen und öffnete mir galant und schwungvoll die Tür.
Wir fuhren und John fuhr gut und sicher. Waghalsige Autofahrer konnte ich nicht ausstehen und dass er nicht zu jener Sorte zählte, erleichterte mich. John hatte immer Witze auf Lager und ich konnte mich entspannen, zumindest soweit, wie es meine Nervosität auf den Abend zuließ. Ich erzählte vieles. Von meinen Ausflügen mit der Familie, bei denen wir ziemlich rumkamen, von meiner Katze, die den ganzen Tag faul in der Gegend rumliegen konnte und natürlich von ... nein, von ihm nicht, denn da gab es nichts zu sagen. Und wenn, dann erzählte ich es so, als hätte ich es allein erlebt. Es war wohl allgemein bekannt, dass ich keine Freunde hatte, zumindest vor diesem Ereignis am Montag. Dass ich nie nach Kontakt gesucht hatte, mich vor alles und jedem isoliert hatte. Ich merkte wie froh Laura war, als ich mit ihr gesprochen hatte und nun auch wie froh sie war, als wir bei ihrem Haus ankamen. John konnte kaum klingeln, da stürmte sie schon aus der Tür und als ihre Mutter schrie, dass sie ihr einen schönen Abend wünschte, schrie sie zurück, dass sie den bestimmt haben würde. Als sie das sagte, war sie hinten schon eingestiegen und umarmte mich mitsamt dem Sitz. „Deine Mum hat nichts dagegen?", fragte ich, denn Laura hat mehrmals angedeutet was für ein Partygegner ihre Mum war und der nächste Ringkampf um das Recht sehr hart werden würde. Aber Laura lachte. „Meine Mum ist die Beste, sie liebt mich halt." John stieg ein und knuffte sie in die Seite. „Quatsch, den heutigen Abend hat sie sich für diesen Monat aufgehoben. Mehr darf sie nämlich nicht." „Hey, das stimmt doch gar nicht!" „Nicht?" „Ich hab auf 2 jeden Monat hochgehandelt." „Du Glückliche", meinte er sarkastisch. „Und du?", fragte ich John. „Ich bin unabhängig jeglicher erwachsener Autorität." „Stimmt das?", fragte ich skeptisch nach. Laura verdrehte die Augen. „Er lebt bei seinem Bruder." „Was? Wieso ...?" Laura schüttelte den Kopf und Johns abwesender Blick riet mir nicht weiter nachzubohren. „Heute wollen wir feiern. Auf eine neue Freudschaft!" Laura erdrückte mich fast mit ihren Armen und drückte mir einen Schmatzer auf die Wange. John startete den Wagen, er drehte voll die Musik auf und Laura und er grölten mit. Sie stupste mir solange in die Seite, bis ich lachend mitsang.
Die Villa von Tims Eltern war eindrucksvoll. Schon mehrere Jugendliche torkelten die Straße hinunter, obwohl es noch nicht sonderlich spät war. John ließ uns vor der Auffahrt der Villa aussteigen und suchte einen Parkplatz etwas weiter weg von der Party, schließlich wollte er nicht, dass sein Wagen demoliert wurde. Zurückfahren würde wohl Laura dürfen, denn ich hatte noch keinen Führerschein und John hatte kein Geheimnis draus gemacht, dass er sich volllaufen lassen wollte und mir noch eingebläut, dass ich ihn unbedingt vom fahren abhalten sollte, da er wohl betrunken auf die idiotischsten Ideen kam. Da war seine Sorge unbegründet. Ich würde ihn keine Hand ans Lenkrad lassen, denn ich hing noch an meinem Leben.
Laura hatte sich ziemlich rausgeputzt. Sie trug ein enges Kleid mit lila Pailetten, wohingegen ich mir underdressed vorkam, trotz der kurzen Klamotten und den Netzstrümpfen. Aber Laura behauptete felsenfest, dass ich „richtig scharf" aussah. Das konnte aber nicht verhindern, dass ich schon auf den Weg zur Auffahrt den Rock so tief wie möglich runter zog. Das Tor zur Ausfahrt wurde von zwei Kerlen bewacht, der eine bullig, der andere nicht so extrem muskelbepackt und etwas kleiner, aber immer noch groß und mit vor der Brust verschränkten Armen und kalten Blick. Sie musterten uns finster, bis ich die Einladung aus meinem Täschchen kramte. Laura scharrte aufgeregt mit den Füßen und spähte hinter das Tor. Der kleinere riss mir die Einladung aus den Fingern und inspizierte sie, als hege er den Verdacht, dass wir sie gefälscht hatten. Dann riss er einen Fetzen von dem Papier und es gab es mir wieder. Er nickte seinem Partner zu. „Sie können rein." „Einen Augenblick bitte. Unser Freund kommt gleich", sagte ich und hoffte, dass sich John beeilen würde. Langsam verstand ich wieso Laura so baff, fast ehrfürchtig war, als ich die Einladung erhalten hatte. Es würde verdammt schwer sein sich hier reinzuschleichen. Türsteher, oder eher Torsteher, die sehr professionell aussahen, als wäre das hier ein exklusiver Klub und keine Hausparty, und einen Metallzaun um das ganze Grundstück, der abartig hoch war. John kam gerade über die Straße geschlendert und spielte mit seinen Autoschlüsseln, bevor er ihn mir in die Hand drückte. „Laura vergisst nur immer alles", erklärte er leise und mit einem Grinsen bedachte er die Türsteher und legte uns beiden jeweils einen Arm um die Schulter. „Let's Party!"
Die Türsteher waren von John wohl nicht so begeistert, aber sie öffneten das Tor und ließen uns passieren.
Vor der Villa standen im umliegenden Vorgarten ein paar Leute mit Bechern und ich roch den unverkennbaren Geruch nach Bier und anderen Alkoholischen Getränken. Im Augenwinkel sah ich auch ein jemanden kotzen und sah extra nicht genauer hin. Die Villa erreichte man über ein paar Treppenstufen und ich hörte und fühlte die Musik immer intensiver. Die Tür wurde urplötzlich aufgestoßen und ein lachender Tim. Er blieb stehen und wurde ernst, als er uns sah, aber als er mich erkannte kehrte sein breites Lächeln zurück, während John schon beinahe schüchtern seine Arme von unseren Schultern gleiten ließ und sich hinter mich stellte. „Lajita", sagte Tim und zog mich an meiner Hand an sich und und sein Gesicht war erschreckend nah. Sein Lächeln war schief. Kein Wort brachte ich raus, bis er sich umwandte, über die Schulter „Kommt rein, Leute", rief und mich an der Hand ins Haus zog, meine Freunde dicht hinter mir.
Tag der Veröffentlichung: 12.11.2017
Alle Rechte vorbehalten