Cover

1

Mit einem miesen Gefühl im Magen stocherte ich in meinem Salat herum. Gina saß mir gegenüber, gelangweilt durch ihr Handy scrollend. Durch ihre tiefroten Korkenzieherlocken, ihrer gebräunten Haut und den kajal-umrandeten, warmen Augen ergab sie das perfekte Bild einer Südländerin. Eigentlich wie ich, nur feuriger.

Sobald es klingelte packte Gina ihr Handy weg, zeigte mir die kalte Schulter und ging ohne ein Wort des Abschieds durch die Flügeltüren der Cafeteria. Frustriert schnaubte ich. Sie war sauer auf mich, weil ich sie wieder gewarnt hatte, dass der Typ, dem sie momentan nachlief, sicher nichts von ihr wollte. Das sagte ich nicht aus Gemeinheit oder weil ich solche Typen wie ihn kannte. Ich sagte es, weil der gegenwärtige Schwarm meiner Freundin mein Bruder Kyle war und dieser sich hoffnungslos in die Prinzessin verliebt hatte. Prinzessin Helena, 21 Jahre alt, hatte nur noch ein Jahr Schule vor sich und durch ihre Privilegien dürfte sie kein Problem damit haben. Sie schrieb ziemlich miese Noten, würde deswegen aber nie sitzen bleiben. Deshalb musste sie in ihren Freistunden zusätzlichen Unterricht in den niederen Klassen nehmen. Leider auch in meiner.

Währenddessen musste sich meinesgleichen, das gemeine Volk, doppelt den Arsch aufreißen. Dazu kam noch unser Familiengeheimnis. Nicht einmal Gina wusste davon, auch nicht, dass Kyle mein Bruder war, was man auch nie vermuten würde. Die zwei Wochen, die ich nun hier war, waren sicher nicht aus Spaß gewesen, aber Gina und ich hatten uns als Freunde gefunden und ich wollte sie nicht verlieren. Auch wenn ich zur Zeit ziemlich mies drauf war.

Resigniert hob ich meinen Kopf und beobachtete den Tisch der Hochadeligen, die sich niemals mit jemanden wie uns, den Bauern dieses Schachspiels, einlassen würden. Prinzessin Naiv, wie ich sie gerne nannte, blödelte wie ein Kind mit ihrem Essen herum, war blond (wohl auch im Kopf), mit einem Summer-Girl Gesicht und besaß diese hypnotisierenden, grünen Augen, die alle vollwertigen Vampire ihr Eigen nannten und vor allem bei Mächtigeren besonders ausgeprägt waren. Sie hatte helle, makellose Haut, die aber nicht ganz so hell und ungesund aussah wie bei manch anderen v.V., süße Sommersprossen auf der Nase und diese ... stopp, so durfte ich von dieser Zicke nicht denken. Sie war der Feind und basta. Mein Blick flog weiter zu Prinz Manuel. Sympathisch und ansteckend lachte er, sprach nett zu Amanda, die es trotz ihrer Schüchternheit geschafft hatte etwas zu sagen und nahm allen am Tisch jegliche Anspannung. Ein richtiger Kumpeltyp. Aber das täuschte. Er war manipulativ und eiskalt. Ein Mörder, soweit ich durch unser Familienunternehmen erfahren hatte.

Ich wandte den Blick ab und machte mich auf den Weg in den Unterricht, bevor ich noch zu spät kam. Was ich mir im Gegensatz zu den Adligen nicht leisten konnte. Es klingelte gerade zum zweiten Mal, als ich die Klasse betrat. Zum Glück war unser Geschichtelehrer noch nicht anwesend, sodass ich mich ohne Zurechtweisung auf meinen Platz an der Wand setzen konnte, neben meinem besten Freund Steve. Wer aber da in die Klasse kam, war nicht unser Lehrer. Herein kam niemand Geringeres als Fedon Tiger, der König selbst. Seine mächtige Aura erfasste jeden, ließ ihn zu Stein erstarren und ganz klein werden. Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen trat er ein, in eine graublaue Uniform der Krieger gehüllt und mit dem königlichen Wappen auf der Brust. Seine blonden Haare waren adrett und abstoßend auf eine Seite gegeelt und seine hypnotisierenden, blauen Augen schauten kühl und so sehr von oben herab, dass ich diesen Anblick nicht ertragen konnte. Er sah genauso aus wie aus dem Fernsehen. Ein viel zu hübsches Gesicht für so einen miesen Charakter. Vier königliche Wachen und ein hoher Beamter, sowie seine Tante, Gräfin Rosalie, betraten ebenfalls den Raum. Die Wachen stellten sich an jeweils eine Wand, der Beamte und die Gräfin blieben links und rechts neben dem König stehen. Fedon verharrte neben dem Pult und alle Schüler standen auf, die Jungen verbeugten sich, manche so tief, dass sie den Tisch hätten küssen können und die Mädchen knicksten wacklig. Steve hatte mich auf die Beine gezogen und ich tat es, wenn auch zuwider, allen gleich. „Ihr dürft euch setzten." Seine Stimme war tief, gebieterisch. Sie vibrierte in den Muskeln und ließ es in meinem Bauch flattern. Da half auch das freundliche Lächeln der Gräfin nichts. Wir taten alle wie geheißen und sahen, manche gespannt, manche nervös, zu ihm, dem König.

„Es gibt einen Grund, weshalb ich hier bin und ich denke jeder weiß, wovon ich spreche. Seit nun einem Monat ist die künftige Königin erwählt. Ich möchte alle bitten, die etwas darüber wissen, sich im Königshaus zu melden. Es steht eine hohe Belohnung aus.“ Man hörte Gelächter aus dem Flur und alle sahen zu den königlichen Geschwistern Helena und Manuel, mitsamt ihrem Hofstaat, die gerade erschrocken in der Tür stehen blieben und verstummten. Nur der König nicht. So lange, bis sich sein Kopf langsam drehte, wie bei einer Eule. „Setzen“, durchschnitt seine Stimme die Luft und die blauen Augen blickten tödlich. Oho, wenn es um Respekt ging spielte Verwandtschaft wohl keine Rolle mehr. Sie gehorchten auf dem Fuße, wie getretene Hunde. Sein Blick bohrte sich eiskalt in mein Inneres. „Es steht im Interesse des gesamten Volkes, dass sie gefunden wird und bevor ich drastische Maßnahmen ergreifen muss, gebe ich die Chance, mir ihre Identität zu verraten. Da man davon ausgeht, dass die Erwählte absichtlich gegen ihr Schicksal handelt, sehe ich keine andere Möglichkeit, als die Belohnung auf 1.000.000 Refni zu setzen. Sollte sie sich selbst melden und zu mir kommen, wird sie belohnt, muss ich sie erst suchen und finden, wird sie bestraft.“ Der König sah jeden Einzelnen durchdringend an und wirkte in seinem ganzen Tun ziemlich angepisst. „Aber seit gewarnt, wer mir Lügen auftischt, um an die Belohnung zu kommen, wird im Kerker landen.“ Die Wache neben mir fischte einen Zettel aus seiner schwarzen Kluft und pinnte ihn an die Korkwand zwischen all die anderen. „Es bleiben zwei Wochen Zeit, bevor ich andere Mittel anwende.“ Seine Stimme war so kalt wie seine Worte. Wie seine ganze Erscheinung. „Trotz der Störung wünsche ich euch noch einen lehrreichen Schultag.“ Er wandte sich zum Gehen, er vorneweg, hinter ihm seine Tante und dieser Beamte und zum Schluss die vier Wachen. Sofort setzte Getuschel ein. „Das ist gerade der König gewesen!" „Aber wie der sich benommen hat!" „Suchen wir das Mädel, dann sind wir reich!" „Wird sie nie gefunden, wird er eben eine andere nehmen. So eine wie Franziska oder Nora oder ... mich!" Jessica klatschte begeistert in die Hände.

Der Zettel ging in der ganzen Klasse rum, manche fotografierten ihn ab. Man, er würde dafür wirklich 1.000.000 Refni ausgeben. Viele wären bei einer so hohen Summe nicht abgeneigt sich auf die Suche zu machen.

Steve faselte etwas davon, wie verzweifelt der König sein musste, dass er schon in den Schulen auftauchte. Wie sehr es seinen Stolz verletzt haben musste, als die Erwählte nicht mit ihrer Familie zu ihm gekommen war, wie es Brauch war.

Zwei Jahre, so lange war der König nun ein vollwertiger Vampir. Ein halbes Jahr, so lange regierte er nun schon (und hielt sich für etwas Besseres). Einen Monat, so lange hatte er auf seine Gefährtin gewartet. Zwei Wochen, so lange hatte ich Zeit mir einen Plan zu überlegen.

Obwohl ich in Gedanken dabei war diese königlichen Ärsche zu zerfleischen, pflichtete ich Steve bei und fügte hinzu, dass dieses Mädchen wirklich dumm sein musste, sich die Chance auf die Krone entgehen zu lassen. Daraufhin begann eine Diskussion mit der halben Klasse. Viele stimmten mir vollkommen zu. Das waren natürlich all die Mädchen, die für den König schwärmten. Die königlichen Geschwister warfen ein wie erniedrigend es war einem solchen Mädchen, sicher ein feiges Ding aus dem gemeinen Volk, hinterherzulaufen. Jedoch sagte Manuel mit seiner unvergleichlich sympathischen Art, wie lächerlich er es von seinem Bruder fand, solch eine Aktion zu starten, während es nach der Meinung der Prinzessin unheimlich romantisch war. Ich hätte sie alle liebend gern erwürgt, aber schließlich kannten sie auch nicht die Wahrheit.

Der Geschichtelehrer hetzte zehn Minuten vor Ende der Stunde in die Klasse, verschwitzt, mit wirren Haaren, wenn man so die paar grauschwarzen Härchen bezeichnen konnte, und einer Brille, die ihm immer wieder von der Nase rutschte. Obwohl wir danach noch eine Stunde bei ihm hatten, sah er ein, dass heute wirklich gar niemand in Gedanken bei Geschichte war und ließ es zum Glück bleiben. Die Klassendiskussion ging weiter.

Mich ermüdete sie, sodass ich mich zum Austreten meldete. Die Mädchentoiletten waren zweimal um die Ecke und trotzdem fand ich mich daraufhin am Boden wieder, sitzend an der Heizung vor den Toilettenkabinen lehnend. Mein Herz raste. „Was geht hier ab?“, fragte ich in den leeren Raum hinein und bemerkte nun erst die blonde Mähne des Mädchens, das die Tür verriegelte. Sie drehte sich um und ich erkannte meine große Schwester Dana. „Gott, hast du mir einen Schreck eingejagt“, klagte ich und stand zitternd auf. „Tut mir leid, Lucette, aber der Auftritt unseres Herr Königs hat uns ziemlich einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wir müssen uns mit Großvater, Vater und Mutter beraten. Das bringt alles durcheinander.“ Angestrengt sah sie in die Luft, erhielt wohl mental Befehle von Großvater. Sie nickte einfach nur und wandte sich wieder mir zu. „Du stehst noch die letzten Schulstunden durch, dann holt dich Leandra ab. Ihr fahrt direkt ins Unternehmen und wir besprechen alles.“ Sie sah wohl meinen besorgten Gesichtsausdruck. „Keine Sorge, Cetty, du bist nicht allein. Und Großvater weiß, dass es nicht deine Schuld ist, also hab keine Angst.“ Sie nahm mich in den Arm und das gab mir unheimlich viel Halt. „Du weißt doch, dass ich immer für dich da bin.“ „Ja, ich weiß“, nuschelte ich. „Gut“, sagte sie warm und löste sich von mir, „du schaffst das.“ Mit diesen Worten war sie plötzlich verschwunden, viel zu schnell für meine Vampir-Blut-Sinne. Die Tür war auch wieder offen. Gerade kam ein Mädchen herein, ich tat so, als würde ich Hände waschen und merkte erst, als ich in den Spiegel sah, um wen es sich handelte. Prinzessin Helena. Sie stellte sich neben mich und erneuerte ihren pinken Lippenstift. Als ich klammheimlich an ihr vorbei wollte, hielt sie mich mit einem Arm auf. „Warte, ich habe etwas mit dir zu besprechen.“ Sie war stark, viel stärker als ich, schließlich hatte sie ihre Transformation schon hinter sich. Auch ihre Aura war kurz aufgeflammt, aber das hatte sie schon wieder unter Kontrolle. Stumm lehnte ich mich ans Waschbecken und verschränkte die Arme. Es hatte sowieso keinen Sinn sich zu wehren. „Ich wüsste nicht, was es zu besprechen gäbe“, erwiderte ich. Hinterlistig lächelte sie. „Dann kläre ich dich eben auf.“ Sie drehte sich zu mir um und sah mich freundlich an. „Wie findest du meinen Bruder?“ Überrascht riss ich die Augen auf, hustete ein paar Mal und verfluchte mich, nicht unauffälliger reagieren zu können. Was wusste sie? „Welcher?“ Ich spürte den Schweiß auf meiner Stirn, räusperte mich nochmals und versuchte, mich seriös zu geben. „Manuel natürlich“, erklärte sie lachend und schien sich köstlich, aber keinesfalls bösartig über meine Frage zu amüsieren. Sie schüttelte den Kopf und sah mich lächelnd an. „Naja, ähm ...“, begann ich und fragte mich, was ich von ihm hielt. Falsch, manipulativ, ein Mörder ... „Ich denke er ist ganz nett.“ „Ja?", fragte sie strahlend und ich nickte einfach nur. „Weshalb fragst du?“, wollte ich argwöhnisch wissen. „Nur so“, meinte sie, aber ich konnte ihre Freude spüren. „Wir sollten wohl zurück zum Unterricht.“ Bestimmt zog sie mich mit sich. Wir führten Smalltalk über die Schule und ich merkte wie ausgelassen und witzig sie eigentlich sein konnte. Es irritierte mich. Zurück in der Klasse winkte sie mir von ihrem Platz aus zu und ich tat es ihr nach, wie eine Puppe. Was ging ab? Sofort flüsterte sie mit ihrem Bruder, der kurz zu mir rüber sah. War es Zufall, dass ich plötzlich nicht mehr Luft für die Adligen war und das genau an dem Tag, an dem der König diese Schnitzeljagd ausrief? Sein durchdringender Blick fiel mir wieder ein. Wenn ich sie suchen und finden muss, wird sie bestraft.

Die letzte Stunde verging quälend langsam, meine Anspannung wuchs von Minute zu Minute, was ich mir natürlich nicht ansehen lassen durfte. Zum einen wollte ich einfach nur noch in das schützende Nest meiner Familie und zum anderen hatte ich Angst, was mein Großvater nun plante. Doch selbst die längste Stunde musste irgendwann ein Ende haben. Noch in der Klasse verabschiedete ich mich von Steve, der mich umarmte und fragte, ob es mir gut ginge. Ich bejahte und ignorierte seinen Blick. Fluchtartig verließ ich die Klasse, hörte aber noch vor den Eingangstüren eine Stimme nach mir rufen. Wie angewurzelt blieb ich stehen und drehte mich um. Es war Prinz Manuel, der mit einem Gewinner-Lächeln auf mich zu kam. Er hastete nicht, hatte seine Schultasche über eine Schulter hängen und die dunkelblonden Locken standen verwuschelt vom Kopf ab. Seine graue Uniform wies ihn als einen angehenden Krieger aus. Sie waren die Einzigen, die ihre Uniform in der Schule trugen, wenn sie einmal in der Woche Privatunterricht bei einem Krieger hatten. Die Eliteschule besaß zwar schwarz-rote Uniformen, aber sie waren nur an besonderen Tagen obligatorisch. Manuels Uniform wirkte an ihm lässig, als würde er so etwas jeden Tag tragen. Er sah aus wie der Traum aller Mädchen. Aber ich kannte die Wahrheit.

„Ja?", fragte ich genervt. Etwas verunsichert über meine kühle Art kratze er sich am Ellbogen. „Ich bin Manuel, aber das weißt du sicher schon." „Melissa", stellte ich mich vor. „Ja, ich weiß." Ich hob eine Augenbraue. „Ähm, du wohnst doch noch nicht lange in der Gegend und da wollte ich dich fragen, ob ich dir ein bisschen die Stadt zeigen soll." Er wirkte nervös, fing sich aber wieder und lächelte einnehmend. „Ich ...", suchte ich nach irgendeiner Ausrede, aber mir wollte einfach nichts einfallen. Wie sollte ich absagen, wenn er keinen Zeitpunkt genannt hatte? „Du musst mir auch nicht heute antworten. Wenn du noch überlegen willst, kann ich warten." Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Doch ich besann mich über mein Benehmen. Bis jetzt war es nur eine nette Geste. Es war ja kein Date oder so. Und wie sagte Großvater immer? Kenne deine Feinde. „Nein, ich meine ... es wäre toll, wenn du mir die Stadt zeigen könntest." Ich lächelte gezwungen, aber das tat seinem plötzlich glücklichen Gesichtsausdruck keinen Abbruch. „Super, dann besprechen wir morgen wo und wann." Überraschenderweise umarmte er mich, was ich zögernd erwiderte, sagte: „Bis Morgen", und stürmte davon zu seinen Kumpels, mit denen er einschlug. Auch seine Schwester stand dabei. Sie zwinkerte mir zu und begann sich mit ihren Freundinnen zu unterhalten, während sie das Schulgebäude verließen.

Nachdem auch der letzte Schüler gegangen war, machte ich mich auf den Weg zum Schulparkplatz. Leandra wartete schon in ihrem schwarzen Mercedes. Ich begrüßte sie und Leandra versuchte die Stimmung zu lockern, aber ich gab während der ganzen Autofahrt von 20 Minuten nur einsilbige Antworten. Meine Gedanken rasten und das nicht unbedingt auf angenehme Weise.

 

Das Unternehmen, das seit 1785 Kaffee herstellte und verkaufte, war eines der Größten in ganz Europa. Es besaß früher den Familiennamen Worthy, hieß heute „Taisthy", als Kunstwort für „Taste is worthy".

Das Gebäude lag etwas außerhalb der Stadt, es war groß, aus grauem Beton und hatte die Form eines Hufeisens, wobei es sich nach außen und zur Straße hin bog. Es besaß alles, was ein Kaffeehersteller benötigte: die Maschinen, die Büros, die Mitarbeiter. Sie designten neue Kaffeeautomaten und -maschinen mit den dazugehörigen Pads, verfeinerten und feilten an neuen Mischungen und machten eben, was so ein Unternehmen so machte. Nicht besonders interessant. Was es dann doch von der Norm abhob, waren die unsichtbaren Räume ab der dritten Etage, die aus dem augenscheinlichen Hufeisen einen Halbkreis machten. Mit ihnen erhielt man nochmal so viel Platz für Dinge, die so gar nichts mir Kaffee zu tun hatten. Da begann das Reich meines Großvaters.

Rote Brokatvorhänge an den Wänden, alte, verstaubte Bücher in Regalen und sogar ein alter Globus.

Geräuschvoll schloss sich die Tür hinter mir, ich zuckte zusammen und entdeckte meinen Großvater, der sich mit hinter dem Rücken verschränkten Händen von seinem antiken Schreibtisch abwandte. Großvater sah nicht alt aus. Die Unsterblichkeit hatte ihn in den 320 Jahren nicht altern lassen. Sein platinblondes Haar war hoch gekämmt, der typisch hypnotische Blick aus graugrünen Augen war fokussiert, und das ernste, faltenlose Gesicht eines jungen Unternehmers von vielleicht 30 Jahren verriet nichts. Unser augenscheinliches Alter nach der Transformation lag in unseren Erbanlagen. Jedoch gab es kaum jemanden, der über 35 Jahre alt aussah. Genauso wie ich meiner Mutter zum Verwechseln ähnlich sah, bis auf die Haar-und Augenfarbe natürlich, wirkte sie nicht älter als 20. Mein Vater vielleicht Mitte 20.

Großvater nahm mich ins Visier, schritt zu mir und hielt mein Kinn fest. Automatisch versteifte ich mich, konnte aber den Blick nicht abwenden, während er meine Gedanken las. Als er fertig war, deutete er zur Sitzgruppe, ich nahm auf einem roten Sessel Platz und er mir gegenüber.

„Lucette, du warst bis jetzt immer ein gutes Mädchen und ich habe auf dich gehört, als du nichts gegen die vorhersehbare Ungeduld des Königs tun wolltest, aber du weißt, dass das mit dem heutigen Tag ein Ende hat. Wir werden eine andere Methode anwenden." Ich horchte auf, hatte aber keine Ahnung, was er damit meinen könnte. War es nicht das Wichtigste, dass alles nach Plan verlief, sodass ich gleich nach meiner Transformation loslegen konnte?

„Was soll man denn tun können?", fragte ich überfordert.

„Es ist keine Lösung, dass wir vermutlich bis zu sieben Jahren darauf warten, bis du zu ihm kannst und das würde euer Band auch gar nicht zulassen. Die Idee hatte deine Schwester. Wenn diese nicht funktioniert, müssen wir auf den Plan vor Kyles Geburt zurückgreifen. So oder so, das Tiger-Königreich wird fallen." Der Plan vor Kyles Geburt, als das magische Schriftstück noch nicht aufgetaucht war.

Der Neue besagte jedoch, dass ich meinen Gefährten um den Finger wickelte und die größten Bedrohungen ausschaltete. Die Männer des Königs sollte ich gegen solche meines Großvaters austauschen und nachdem der Feind bezwungen war, verkünden, dass wir, die Dragons, wieder an der Macht waren. Da brauchte es kein Blutvergießen, keine Schlachten und es konnte funktionieren, auch wenn der Plan über Jahre andauerte. Aber er war besser als die andere Option: Offener Krieg. „Komm, Kleines, wir gehen in den Salon." Großvater wollte es wohl besonders spannend machen und er schien überhaupt nicht wütend auf mich, aber bei ihm musste das nichts heißen. Im Kamin des Salons brannte Feuer und alle waren anwesend. Meine Eltern, mein Bruder, meine Schwester und ihr Gefährte David, der engste Freund Großvaters.

Herzlich umarmte ich alle. Ich ließ mich in einen Sessel fallen und Großvater befahl Dana ihre Lösung endlich zu offenbaren. Sie wirkte ganz ruhig.

„Es ist eigentlich ganz simpel. Mitglieder unserer Familie können nur durch die starke Veränderung des Aussehens während der deutlich längeren Transformation enttarnt werden. Der Grund dafür ist das Melanin, das in unseren Körpern in sichtbar größeren Mengen und schneller abgestoßen wird.

Genau bei diesem Problem gibt es Abhilfe: Wir bleichen deine Haare blond und durch Laser kann deine Augenfarbe aufgehellt werden. Wenn dann die Transformation beginnen sollte wird der Melaninabbau nicht mehr ganz so rapide sein, da das Melanin, das es aus den Zellen genommen hätte, einfach nicht mehr da ist."

„Könnte es dann nicht einfach Neues als Ersatz nehmen?", fragte ich dazwischen. Anerkennend nickte sie mir zu.

„Das dachte ich anfangs auch und ließ ein Experiment mit einer schwarzen Ratte durchführen. Ihr Fell wurde gebleicht und sie dann in einen falschen Vampir verwandelt, was der Transformation von Vampiren sehr ähnlich ist. Der Farbunterschied vor und nach der Verwandlung war minimal. Das hat mir meine Theorie bestätigt, dass die Transformation wie computergesteuert abläuft. Sie ist nicht intelligent oder könnte von ihrem festgelegten Programm abweichen. Dein Körper besitzt in den Zellen eine gewisse Menge an Melanin. Ein Teil, nennen wir ihn T-Teil, ist festgelegt vernichtet zu werden. Wenn dieser T-Teil an Melanin jedoch schon vernichtet wurde, versucht die Transformation diesen Teil nur noch einmal zu vernichten. Somit verändert sich nichts oder fast nichts. Genau können wir nicht wissen wie groß dieser T-Teil ist und deshalb nehmen wir am besten den Mittelwert von mir und Kyle." Sie verstummte und mein Bruder legte endlich seine Denkerpose ab und warf ein: „Ich kann nicht glauben, dass es so einfach sein soll." Meine Schwester schaute ernst. „Wir haben keine Beweise, außer dem Experiment, aber ich finde wir sollten es wagen."

Mutter sah abwesend aus und Vater griesgrämig. Zwar war er genauso bei der Rebellion dabei, hatte es aber noch nie gut geheißen, dass ich als Mittel zum Zweck missbraucht werden sollte. Nach den Plänen sollte ich Königin werden und nach der Bekanntgabe unserer alten Macht noch über dem König regieren, doch er mochte die Vorstellung nicht, dass sein kleines Mädchen so viel Verantwortung tragen sollte. Wenn es nach ihm ginge, würde ich wohl behütet für immer zu Hause in meinem Zimmer hocken. Aber auch er widersprach Großvater nicht. Kyle diskutierte eifrig mit meiner Schwester, wollte wissen, weshalb sie eigentlich nicht schon früher auf diese Lösung gekommen waren. „Die Idee ist mir schon vor einiger Zeit gekommen, aber es hat Überzeugungskraft gebraucht“, meinte Dana mit einem Seitenblick auf Großvater. „Es bestand immer die Chance, dass das Gefährtenzeichen vor der Transformation auftauchen würde, aber sie war klein. Da es trotzdem dazu gekommen ist und es den Gefährten unweigerlich ungeduldig werden lassen musste, gibt es nur noch den Weg nach vorne." Sie wandte sich direkt an mich. „Wir müssen dich vor deiner Transformation zu ihm schicken. Da du als Vampir-Blut im Vergleich zu den dortigen vollwertigen Vampiren sehr schwach bist, muss die Phase der Infiltration warten. Wir dürfen kein Risiko eingehen, dass du sterben oder verletzt werden könntest. Wie abgesprochen versuchst du in der ersten Phase den König und seinen Hofstaat für dich zu gewinnen, lebst dort irgendwann und wirst Königin neben Fedon. Die zweite Phase, die Infiltration, beginnt erst, nachdem du deine Transformation hinter dich hast. Es kann sein, dass wir zu dem Zeitpunkt nicht an dich heran kommen und du sie statt in einer der Worthy-Villen im Königshaus durchstehen musst. Die lange Dauer wird sich aber als bloßen Zufall erklären lassen.

Wenn du dann erst mal ein v.V. und gekrönt bist, wird es für dich leichter dein Wort durchzusetzen. Als in der Familie eingeheiratet stehst du unter dem König, aber da dir als wahre Gefährtin des Königs die Krone zusteht, wird es dem Volk und den Adligen leichter fallen, dich als neue Herrscherin anzuerkennen. Das weißt du ja schon.“ Ich nickte. Ja, ich kannte den Plan und nur dadurch, dass dieses blöde Gefährtenzeichen so früh aufgetaucht war, verlängerte es das Ganze womöglich um Jahre. Wäre das Zeichen erst nach meiner Transformation erschienen, hätte der Plan nur höchstens zwei Jahre gedauert. Der König war ungeduldig und ich musste so schnell wie möglich zu ihm und mich zu erkennen geben, bevor mich jemand fand und zu ihm schleifte. Schon das Misstrauen und die Wut, die sich bis jetzt angestaut hatten, waren Arbeit genug. König Fedon war nicht dumm. Er musste ahnen, dass etwas im Busch war. Einzig und allein mein Flehen auf meine Transformation zu warten hatte Großvater umgestimmt nicht gleich nach Plan B zu greifen. Schließlich war das Gefährtenzeichen auch sehr früh aufgetaucht. Aber ein Monat war schon zu lang gewesen.

Eine Hand drückte meine Schulter. Großvater. „Der Plan bleibt der Gleiche. Du hast nur mehr Zeit dich einzugewöhnen, alles auszukundschaften und Freundschaften zu schließen, was nicht unbedingt ein Nachteil ist. Hast du dir deine neue Identität gut eingeprägt?“ Ich nickte und sah zu ihm auf. Schon bald wäre ich eine Cousine von Dana und Kyle. Dadurch, dass die beiden sich fast gleichzeitig transformiert hatten, hatten sie sich als Geschwister ausgeben können. Was man ihnen auch ansah. Sie lebten schon seit zwei Jahren in Rom, davor hatten wir alle in Mailand, den Hauptsitz der Rebellion, gelebt. Amber und ich waren vor gut zwei Wochen nach Rom gezogen, da mich das Gefährtenband fast in den Wahnsinn getrieben hätte, wenn ich nicht in seiner Nähe war. Amber hatte auf keinen Fall ohne mich in Mailand bleiben wollen und war mit mir gekommen. Da unsere Rebellion groß genug war und darunter viele mächtige vollwertige Vampire in Rom waren, hatte Großvater es wohl nicht bedenklich gefunden sie mitzuschicken. Auch wenn ich mir Sorgen machte, dass sie eines Tages unter die Räder geraten könnte.

Die einzige Stütze, die diese Sorgen erträglicher machte, war Leandra. Als mächtige, über 200 Jahre alte Vampirin war sie das letzte Jahr für mich und Amber da gewesen. Überhaupt in diesen zwei Wochen in Rom. Ihre kleine Schwester Janna war vor einem Jahr durch die Hand des alten Königs der Vampire gestorben. Sie hatte es aber geschafft den König mit in den Tod zu ziehen. In Leandra war seitdem ein unglaublicher Zorn gewachsen und sie hatte sich der Rebellion angeschlossen. Ehrgeizig und an der Grenze zur Besessenheit strebte sie das Ziel an, die Tigers zu zerstören. Sie fand in mir und meiner Schwester Amber einen Ersatz für Janna und tat alles für uns und Großvaters Pläne.

Der Königstod kam Großvater sehr gelegen und nahm der Rebellion die Arbeit ab ihn eines Tages selbst durchzuführen, damit der Plan starten konnte. Trotzdem hatte ich den Verdacht, dass die frühe Krönung Prinz Fedons und dieser Druck auf ihn dafür verantwortlich waren, dass das Gefährtenzeichen so früh aufgetaucht war. Er brauchte wohl eine Stütze, eine heile Welt und war gleichzeitig in der Verantwortung einen Thronfolger vorzuzeigen. Er brauchte mich. Aber ich wollte nicht gebraucht werden.

Ich spürte den ruhelosen Blick meines Vaters und den besorgten, aber ehrgeizigen Blick meiner Mutter. Ja, es musste wohl so sein. Alles hing von mir ab.

 

Mein Großvater und auch mein Bruder hielten es für das Beste, wenn ich so gut wie möglich für die erste Phase vorbereitet war. Noch am selben Abend ließen sie mich alles wiederholen und ergänzten, was wichtig war und was auf mich zukommen würde. Sie gaben mir Informationen über jede Persönlichkeit am Hofe und an wen ich mich gefahrlos wenden konnte. Da waren beispielsweise der berühmte Baron Basil, ein meisterhafter Krieger, oder Will van Heven, der hohe Beamte, der den König beim Schulbesuch begleitet hatte. Namen, Daten, Fluchtwege aus dem Schloss. Das unterirdische Höhlensystem.

Vorlieben und Wünsche der königlichen Mitglieder. Ihre Kindheit, prägende Erfahrungen, ihre Schwächen. Großvater und Kyle wichen nicht von meiner Seite. Es war so viel, das ich nun doch lernen musste. Wieso ich? Meine Schwester war besser auf dieses Leben vorbereitet worden. Vielleicht weil sie die Ältere war und alles Wissen wie ein Schwamm aufgesogen hatte, während ich widerwillig, ohne Interesse und unter Zwang lernte. Als dann Dana ihr Gefährtenzeichen erhalten hatte, waren alle aufgeregt gewesen. Wer hätte schon gedacht, dass nicht Er ihr Gefährte sein würde? Wer hätte wissen sollen, dass das magische Schriftstück nicht sie gemeint hatte?

2

Im Hof saß Gina an unserem Platz unterm Ahornbaum. Anscheinend bereute sie ihr gestriges Verhalten, denn sie stand auf und umarmte mich. Sie erzählte wie Leid es ihr täte, dass sie mich wegen meinem Ratschlag so mies behandelt hatte und dass ihr die Erkenntnis gekommen war, dass sie zwar Kyle nicht aufgeben würde, sie wegen so etwas unsere noch nicht lang bestehende Freundschaft aber nicht gefährden wollte. Sie und Steve waren die einzigen Freunde, die ich in diesen zwei Wochen hier gefunden hatte, doch es kam mir so viel länger vor. Zuvor in Mailand hatte ich so gut wie gar keine normalen, gleichaltrigen Freunde, da ich und meine kleine Schwester zu unserem Schutz den Rebellionshauptpunkt so gut wie nie verlassen hatten dürfen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich Dana und Kyle schrecklich vermisst, da sie schon in Rom gewesen waren und die ganze Situation am Königshof im Auge behalten hatten. Der alte Vatikan, wie ich es in Geschichte gelernt hatte. Der Name stammte von damals, als die Menschen noch freie Wesen gewesen waren und die Vampire sich versteckt gehalten hatten. Nun besaß jeder ungebundene Vampir einen Blut-Harem aus unterschiedlich vielen Menschen, kam meist auf den Reichtum und die soziale Schicht an. Das menschliche Blut war nicht so nährreich wie das des eigenen Gefährten und deshalb brauchte man davon auch viel mehr. Nachdem man das erste Mal vom Gefährten getrunken hatte, schmeckte einem das aller anderen nicht mehr. Mein Bruder hatte einen Harem von zwanzig Menschen, fast alles junge Mädchen. Meine Eltern waren Gefährten und deswegen brauchten sie auch nur einander, hatten für den Notfall aber auch einen kleinen Harem, der ihnen in dieser Zeit als Haushaltskraft diente. Das Blut anderer Vampire, als das des Gefährten, egal ob Vampir-Blut oder vollwertiger Vampir, war Gift.

Gina zwickte mich in den Arm und holte mich aus meinen Gedanken. Sie deutete auf jemanden, der gerade mit einem charmanten Lächeln auf uns zugeschlendert kam. Prinz Manuel. Er sah wie immer umwerfend aus. Auch ohne Uniform, sondern einem schwarzen Shirt, einer Jeansjacke mit eingenähten Lederzusätzen und tief sitzenden Jeans. „Ciao, Mädels", begrüßte er uns und Gina machte große Augen, dass er, der beliebteste Junge der Schule, wirklich mit uns sprach. Es sah so aus, als wolle er mir die Hand schütteln, doch er nahm sie und hauchte mir mit tiefem Blick einen Kuss auf den Handrücken. Das Gleiche tat er bei Gina. Er zwinkerte ihr schelmisch zu und sie wurde tatsächlich rot. Sogleich wandte er sich an mich. „Wie wäre es mit heute?", fragte er mich und ich musste überlegen wie er das meinte. Aber er wartete geduldig und es war wohl nur eine harmlose Frage auf die Stadtbesichtigung bezogen. Gina musste es falsch verstehen, aber sie blieb stumm. „Heute, ja, wieso nicht?" Ich lächelte leicht und er strahlte wieder. „Toll, ich hole dich dann nach der Schule ab." Ich nickte und es wirkte sicher nervös. „Ja." „Dann bis später", verabschiedete er sich und lächelte mich und Gina an. Sobald er außer Hörweite war, was zum Glück nicht weit war, da er genauso wie wir noch ein Vampir-Blut war, drehte sich Gina zu mir um. „Was war das denn?", kreischte sie, was mir in den Ohren wehtat. Ich hielt ihr den Mund zu. Sicherheitshalber zog ich sie noch ein Stück weg, schließlich konnte irgendwo seine Schwester lauern. „Prinz Manuel, offensichtlich", flüsterte ich und sie nahm meine Hand von ihrem Mund. „Das habe ich selbst gesehen, was hat er aber gemeint mit Wie wäre es mit heute?" „Er hat mich gestern nur gefragt, ob er mir die Stadt zeigen soll und ich habe ja gesagt." „Wieso hast du mir das nicht erzählt?", fragte sie empört und stupste mich mit dem Zeigefinger an. „1.", sagte ich und hob einen Finger, „weil du mir nicht zugehört hättest und 2. ..." Ich zuckte mit den Schultern. „Ich hielt es nicht für wichtig." „Nicht wichtig?", fragte sie entgeistert. „Ich bin deine Freundin, wie soll ich denn sonst mit dir für ihn schwärmen oder über ihn lästern, wenn er Scheiße baut?", fragte sie und zog tadelnd eine Augenbraue hoch, was mit dem ernsten Gesicht wirklich lustig aussah. Ich musste lachen. „Da hast du Recht", stimmte ich ihr zu und sie drückte mich beste-Freundinnen-mäßig an sich und sagte: „Siehst du." Es klingelte zur ersten Stunde und ich machte mich auf den Weg in meine und sie in ihre Klasse. Wieder einmal bedauerte ich, dass wir nicht in dieselbe Klasse gingen. Sie ging noch in die erste und manchmal fragte ich mich, ob eine Klasse überspringen so eine gute Idee gewesen war. Aber durch Steve war dieser Gedanke lächerlich. Wie gewohnt setzte ich mich neben ihn, der mich musterte. „Du siehst schon viel besser aus als gestern", urteilte er und ich zuckte grinsend mit den Schultern. „Ich bin heute in guter Stimmung", sagte ich. Unsere Etikette-Lehrerin betrat den Raum und es wurde augenblicklich still. Wir alle erhoben uns, die Jungs verbeugten sich und die Mädchen machten einen Knicks. „Guten Morgen, Madame", riefen alle im Chor. Man spürte ihren unbeweglichen Blick und um ihren Mund erschienen grimmige Fältchen. „Guten Morgen, Klasse", grüßte sie mit formvollendeter Aussprache. Wir durften uns setzen und machten weiter mit dem Stoff der letzten Stunde. Die Anreden der Adligen, aber auch der Nichtadligen. Zum Beispiel nannte man den König und die Königin Al', alle Prinzen und Prinzessinnen Bal', den hohen Adel Cal' den niederen Adel Dal' und alle anderen El'. Daneben gab es noch Zwischenformen, die Krieger wurden zudem noch mit Ral' vor der anderen Anrede angesprochen, die Heiler und Wissenschaftler mit Mal' und die Lehrer und Meister immer, auch ohne andere Titel oder Namen mit Fal'. Ich fand es interessant, aber leider wusste ich das alles schon von meinem Privatunterricht. Die Professorin erklärte uns, dass die Anreden außer bei Zeremonien so gut wie nie verwendet wurden, sie uns aber so lange, bis wir sie auswendig kannten, bei unserem Stand anreden würde. „Also Cal' Steven, können sich die Stände eines Vampirs verändern?" Die halbe Klasse starrte Steve überrascht an, genauso wie ich. Steve und hoher Adel? Er sah etwas verärgert drein, wohl aber auch etwas verlegen. Trotzdem beantwortete er die Frage. „Eine Heirat, wobei die Frau den Stand des Mannes annimmt." Frau Kaude nickte verzögert. „Das ist eine Möglichkeit. Ja, Bal' Cal' Manuel?", fragte sie den Prinzen, der die Hand gehoben hatte. „Indem man durch besondere Taten in den Adelsstand erhoben wird oder ihn verliert.“ Frau Kaude nickte und sogar die Prinzessin meldete sich. „Nachdem ein Bal' zum König wurde, bekommen seine Geschwister den Zusatz Cal' und die Nachkommen der Geschwister werden nur noch Cal' genannt." „Sehr gut, Bal' Cal' Helena." Stolz lächelte Helena. „Danke, Fal'." Das entlockte sogar Frau Kaude ein klitzekleines Schmunzeln.

In der Pause ging ich schnurstracks in den Hof und ignorierte Steve. Ich konnte nicht glauben, dass er mir verschwiegen hatte, dass er ein Hochadeliger war. „Warte, Melissa." Ich blieb nicht stehen, sondern beschleunigte meine Schritte, zu unserem Platz beim Ahornbaum. Gina hockte unter dem Baum und sah mich überrascht an. Steve hatte mich eingeholt und legte die Hand auf meine Schulter. „Bitte. Lass mich erklären", sagte er außer Puste. Ich drehte mich einfach weg, aber er war mit zwei Schritten vor mir und hob mein Kinn. „Melissa", hauchte er und ich schaute verdutzt auf. Seine kobaltblauen Augen drangen tief in mein Herz, berührten es. Etwas in mir kribbelte. Verwirrt sah ich weg und er seufzte. Er scharrte mit den Füßen über ein paar Kiesel. Aber das Kribbeln war nicht verschwunden. Er hörte auf damit und wandte sich ein Wenig ab. Plötzlich hatte ich Angst, dass er gehen und mich alleine lassen würde und hielt ihn am Arm auf. Er drehte sich zu mir um und ich tat etwas, das ich definitiv nicht geplant hatte. Ich küsste ihn, einfach so. Und er, er zog mich an der Taille näher und erwiderte den Kuss. Das Kribbeln verstärkte sich. Er schob meine Haare nach hinten und intensivierte den Kuss. „Whoa, das glaub ich jetzt nicht", durchschnitt eine laute Stimme die Ruhe und ich und Steve trennten uns abrupt. Trotzdem tanzten meine Finger mit seinen. Die Berührung tat gut. Irgendwie war ich erleichtert, dass Gina uns unterbrochen hatte, sonst wären wir vermutlich noch weiter gegangen und das wäre hier in der Öffentlichkeit echt peinlich geworden. Ich sah verlegen zu Boden, aber Steve sah mich an und lächelte, sodass auch ich grinsen musste.

Nun lagen ich und Steve unter dem Baum. Gina hatte sich währenddessen aus dem Staub gemacht, um uns wohl etwas „Privatsphäre" zu gönnen.

„Weißt du noch wie wir uns kennen gelernt haben?", fragte er. „Natürlich", antwortete ich. Eine Cal', eine Herzogstochter, die zum Hofstaat der königlichen Geschwister gehörte, hatte Regina, unsere Gina, wegen ihrer Klamotten fertig gemacht. Ich, gerade zwei Tage an der Schule und schon mit ihr befreundet, hatte sie verteidigt und der Schnepfe reingedrückt für wen sie sich hielt und als sie antwortete, als etwas über unserem Niveau, hatte ich ihr ins Gesicht geboxt, was nicht wirklich schlau war. Sie war ein frischgebackener vollwertiger Vampir und hatte sich keinesfalls unter Kontrolle. Sie versuchte mich zu beißen, obwohl sie wusste, dass es Gift für sie war. Steve rettete mich aus der Gefahrenzone und ein anderer v.V., der den Streit mitbekommen hatte, hielt die Verrückte von uns fern. Das war ein Viertklässler gewesen, einer, den ich bisher noch nie beachtet hatte.

Die königlichen Geschwister und ihr Hofstaat hatten unbeteiligt geglotzt. Nachdem die unmittelbare Gefahr gebannt war, ließ ich eine Schimpftirade über alle Adligen los und da verstand ich wieso mir Steve nicht verraten hatte, dass er selbst auch dazu gehörte. Aber er war doch völlig anders. Nicht so eingebildet und kroch dem Prinzen auch nicht in den Arsch. Steve lachte plötzlich. „Du hast die ganzen Adligen so ohne Respekt zusammengestaucht, obwohl du wusstest, dass du dadurch Ärger bekommen könntest, und da habe ich gewusst, wir werden spitze Freunde." Sein Geständnis rührte mich und ich wollte ihn kumpelhaft umarmen, aber das konnte ich nach dem Kuss sowas von vergessen. Das alles war so ... komisch.

„Oder mehr", hörte ich ihn flüstern und ich spannte mich unwillkürlich an. Ich setzte mich auf. „Hör mal." Ich verstummte, wollte fragen, ob das denn so eine gute Idee war.

 Aber ich konnte ihm die Zweifel, die in mir wüteten, nicht erklären. Wie könnte ich mit jemandem zusammen sein, wenn ich bald vertrauenserweckend bei meinem Gefährten sein sollte? Ich wusste, so eine gute Schauspielerin war ich nicht. Würde ich mich nun auf Steve einlassen, würde man mein Zögern später gegenüber Fedon anmerken. „Hast du Angst wegen unserer Freundschaft?", fragte er sanft, aber ich gab keine Antwort. Er musste es wohl als Zustimmung angesehen haben, denn er sagte: „Wir müssen nicht. Und wir müssen auch nichts überstürzen, das wäre sicher dumm." Ich nickte. „Lass uns solange einfach Freunde sein, ja?", krächzte ich und räusperte mich verlegen. „Ja, gute Idee."

In der Klasse neben ihm zu sitzen fühlte sich seltsam an, aber ich verdrängte den Gedanken, schließlich war er immer noch Steve, mein bester Freund. Die Schule endete spät. Steve hatte schnell gehen müssen, denn er musste seiner Mutter beim Kochen helfen, die dabei eine heillose Katastrophe war. Wenn auch eine liebenswerte, wie ich aus seinen Erzählungen herausgehört hatte. Gina fing mich bei meinem Spint ab und wünschte mir viel Glück bei meinem „Date", obwohl ich versicherte, dass es keins war. Dennoch fühlte es sich von Sekunde zu Sekunde mehr danach an, schließlich traf ich mich nun mit einem Jungen, dazu noch einen sehr attraktiven und bald würde es dunkel werden. Der Sonnenuntergang stand kurz bevor. Ich huschte nun trotzdem noch in die Toilette, um mein Aussehen zu checken, obwohl ich mich eigentlich wegen solchen Sachen nicht verrückt machte. Gut, ich sah in Ordnung aus. Keine Pickel, die Haare sahen auch nicht aus wie ein Vogelnest und zwischen den Zähnen war auch nichts. Mein T-Shirt war einfach nur schwarz und ich trug schwarze Jeans. Wieso hatte ich heute Morgen nicht etwas Schickeres angezogen? Weil du da von deinem Glück noch nichts wusstest. Ach, sei's drum. Auf geht's.

Ich trat auf den Hof und Manuel lehnte an einem schwarzen Motorrad. Er wirkte eigentlich nicht wie ein Badboy, aber ich glaubte in seiner Akte gelesen zu haben, dass er Motorräder liebte. „Hey", grüßte er und kam näher, gab mir aber diesmal keinen Handkuss, sondern umarmte mich. Überrascht und freudig erwiderte ich es. „Bereit?", fragte er. Sein Lächeln war wieder strahlend und ich nickte unsicher. „Ist das deins?", fragte ich und deutete auf das Motorrad. „Ja, ich habe mir gedacht mit dem Motorrad könntest du die Stadt direkt erleben." Er warf seine Locken mit einer Kopfbewegung aus den Augen, was wirklich cool aussah. „Du hast doch nichts dagegen, oder?" Ich schüttelte grinsend den Kopf. Nein, ich liebte sie. „Ich habe selbst eins." Nur stand meines in Mailand. Erstaunt sah er mich an, fasste sich aber wieder und begann zu lachen. Sollte ist jetzt beleidigt sein? Hielt er mich für so ein Girly, das sich alles hinterhertragen ließ? Ich dachte spätestens nach meiner Prügelei wäre das klar gewesen. Etwas missmutig sah ich ihn an.

„'Tschuldige, ich hatte nur Angst, dass du dich davor fürchtest mitzufahren und mein ganzer Plan den Bach runter läuft." Plan? „Welcher Plan denn?", fragte ich so unschuldig wie möglich, Manuel grinste. „Wenn ich es verrate, wäre es doch keine Überraschung mehr. Also? Wollen wir?" Da das Eis gebrochen war, erwiderte ich: „Gerne." Mist, ich wollte doch nicht, dass er mir sympathisch war. Aber das wird schwieriger, als ich dachte. Er reichte mir einen der Helme und ich zog ihn an. Meine Finger verhedderten sich mit dem Verschluss, sodass er ihn kurzerhand schloss und ich seine warmen Finger an meinem Hals spürte. Er setzte sich auf das Bike und ich mich dahinter, klappte die Stütze mit dem Fuß weg und drehte den Schlüssel. Er ließ den Motor kurz aufheulen. Angeber. „Halt dich an mir fest", wies er mich an, seine Stimme klang gedämpft durch den Helm, und nach kurzem Zögern tat ich es. Meine Arme schlossen sich um seinen steinharten Bauch. Die Muskeln unter seinem Shirt waren überdeutlich zu spüren. Er sah nochmal kurz zu mir und fragte wieder: „Bereit?" Diesmal konnte ich sicherer und mit Vorfreude ehrlich mit „Ja" antworten. Er gab Gas und fuhr auf die Straße, auf der Allee entlang, die mitten in das Herz Roms führte. Der Fahrtwind wehte mir die Haare aus dem Gesicht und ich fühlte mich frei. Frei und gut.

Brunnen waren zu sehen, von alten Meistern aus der Zeit der Menschen, wie die Fontana di fiumi oder den Trevi Brunnen, wobei wir auch beim Pantheon vorbeisausten. Alte Häuser mit Balkonen, enge Gassen und versteckte Winkel. Er mied nun die Hauptstraßen, aber in diesen Gegenden spürte man den Flair Italiens. Menschen arbeiteten, brachten die Wäsche rein oder raus, kochten, fegten die Straßen oder fütterten Vieh. Man hörte Musik in der Nähe, trällernd, rhythmisch, perfekt zum Tanzen und ich bekam Lust dazu. Geschickt fuhr Manuel durch die engen und kurvigen Stellen, warf einen winzigen Blick zurück, den ich aber nur spürte, da mich die tanzenden Menschen auf dem Platz in der Nähe gefangen nahmen. Manuel fuhr langsamer, direkt darauf zu und hielt wenige Schritte bevor der Platz begann. Der Motor erstarb, er zog den Helm vom Kopf, stieg ab und reichte mir die Hand. Ich nahm sie höflicherweise, stieg auch ab und nahm den Helm ab. Die Sonne stand so tief, dass sie alles in ein goldenes Licht tauchte. Die roten Lampions, die überall aufgespannt waren, das gute Essen, das bis hierher duftete und die vielen Menschen, Jung und Alt, die in bunten Kleidern ausgelassen zu der Musik tanzten, die ein alter Mann, ein Junge und eine elegant gekleidete Frau spielten. Es zog mich wie magisch an und ich drehte mich zu Manuel, der mich beobachtet hatte. „Ist das deine Überraschung?", fragte ich, er jedoch schüttelte lächelnd den Kopf. „Eher ein spontaner Zwischenstopp." Trotzdem wiegte ich mich schon im Rhythmus, nahm seine Hand und freudig kam er mir nach, ich tanzte rückwärts in den Platz hinein, lachend ließ er mich eine Pirouette drehen und dann tanzten wir, wirr, ausgelassen, wie es uns gefiel. „Du magst Tanzen", stellte Manuel fest und ich beantwortete das damit, dass ich mich langsam in die Knie gehen ließ und wieder mit einem Hüftschwung aufsprang. Ich tanzte einmal um ihn herum, dann nochmal, bis ich hinter ihm stand und raunte: „Ja, ich liebe es." Er wirbelte herum und packte mich bei den Hüften und zeigte mir wie gut er tanzen konnte und ja, er konnte tanzen. Dann begann so etwas wie eine Bolognese und lachend reihten wir uns mit ein. Ein alter Mann und ein kleines Mädchen tanzten mit mir, dann tanzten die Kinder händchenhaltend um Manuel herum. Beim Anblick musste ich noch mehr lachen und bedauerte keine Kamera dabei zu haben, um den Moment festzuhalten. Die Musik wechselte zu schnelleren Klängen und die elegante Frau, die zuvor mit einer Gitarre gespielt hatte, tanzte dazu, auf einem anderen Niveau, als ich es je könnte. Ich bewunderte ihre fließenden Bewegungen, gebannt von ihrer Gestalt, die roten Stoffe, die sie mit einer Hand festhielt oder flatterten. Während die Sonne schwächer wurde, leuchteten die Lampions auf und ein Raunen ging durch die Menge. Es war so wunderschön. Ich stand am Rand des Kreises, der sich um sie gebildet hatte, spürte eine Hand an meiner, Manuels, dessen Körper ich warm neben mir spürte. Er nahm meine Hand und es gefiel mir. Jemand stieß mit mir zusammen. „Vampir", fauchte es plötzlich, es war der Junge, der die Trommel gespielt hatte. Alles wurde still, die Musik verstummte und ich hörte höchstens meinen Herzschlag und meinen Atem, der sich beschleunigte. Hass und Angst lagen in der Luft und die Menschen hielten Abstand. Hasserfüllte Blicke lagen auf mir und Manuel, der immer noch meine Hand hielt und langsam mit mir zurück wich, in Richtung seines Motorrades. Wir hätten nicht die geringste Chance, wenn sie uns angreifen würden, als Vampir-Blut waren wir genauso schwach wie Menschen. „Los!", brüllte Manuel und wir rannten zum Motorrad, die Leute hetzten uns nach. Ohne Helm sprangen wir auf, Manuel drehte am Zündschloss, aber der Motor sprang nicht schnell genug an. Ein großer Mann riss mich vom Motorrad und schleuderte mich an eine Häuserwand, sodass meine Wirbelsäule verräterisch knackte und ein heißer Schmerz durch meinen Rücken schoss. Der alte Mann, mit dem ich getanzt hatte, hatte von irgendwoher einen Stock, den er mir in die Seite trieb, bis plötzlich Manuel ihn ihm aus der Hand riss und weg warf, daraufhin bespuckte der Alte mich. Sie gingen auf ihn los, die kleineren Kinder waren kreischend davon gelaufen. Zwei Männer mit herben Gesichtern fassten Manuel links und rechts und ein Dritter boxte ihm in den Bauch, bis er Blut spuckte. Schmerzhaft hielt ich meinen Kopf oben, da hatte eine Frau eine Pistole auf mich gerichtet. Ich bewegte mich kein Stück, hörte meine Knochen knacken, als sie sich wieder einrenkten. Aber der Heilungsprozess war zu langsam. Und sowieso konnte ich nichts gegen eine Pistole ausrichten. „Halt!", herrschte in dem Chaos eine befehlende Stimme, eine Aura brandete über alle hinweg, die einen zum Erzittern brachte. Wut. Wut und Macht. Tatsächlich hörten die Menschen auf uns anzugreifen und starrten hinauf zu einem Balkon über meinem Kopf. „Rein mit euch!" Wieder die gleiche Stimme und alle Menschen taten es ohne Wiederspruch. Mit Angst und Grimm verschwanden sie durch eine Seitentür in das Gebäude. Plötzlich standen zwei Männer vor mir, sie waren wohl vom Balkon gesprungen und eindeutig v.V.. Einer kümmerte sich um Manuel, der in seinem Blut kniete, der andere reichte mir die Hand. Ich nahm sie zwar, doch beim Versuch aufzustehen knackte es verdächtig, ich verzog das Gesicht und ließ es bleiben. Er nahm mich an den Kniekehlen und am Rücken hoch und trug mich um die Ecke und durch eine andere Tür in einen angenehm kühlen Eingangsbereich. Manuel tauchte neben mir auf, er musste sich auf den anderen Vampir stützen. „Wer seid ihr?", fragte er mit kühlem Kopf, obwohl er etwas lallte. Ich sah genauer hin und bemerkte seine angeschwollene Nase und sein blutüberströmtes Gesicht. Seine Lippe war aufgeplatzt. „Hallo, meine Lieben", erklang eine Stimme von der breiten Treppe vor uns. Ein Mann Mitte zwanzig, an den Seiten silbernen Haaren unter den schwarzen und in einem schwarzen, teuer aussehenden Anzug, schritt die Stufen hinab. Ich traute meinen Augen nicht. Das war die Legende unter den Kriegern. Ral' Cal' Basil Baron von Aust. Er musterte uns und schnalzte unzufrieden mit der Zunge. „Schickt die Kinder zu Marie und dann hoch in mein Arbeitszimmer." Dass er uns Kinder nannte, ärgerte mich zwar, war aber vermutlich verständlich, wenn man schon über 500 Jahren auf Erden wandelte. Basil verschwand wieder um die Ecke. Der Vampir trug mich wohl so sanft wie möglich den Gang rechts entlang, aber ich spürte jeden Schritt schmerzhaft. Manuel folgte mit dem anderen. Mein Kopf pochte unangenehm und das Denken fiel mir schwer. Die Situation war alles andere, als geplant, aber zumindest mussten wir nicht mehr fürchten zu Brei verarbeitet zu werden. Und der Baron würde wohl spätestens bei meinem Namen um mich Bescheid wissen. Ich hoffte nur er würde Großvater nichts davon erzählen. Der Vampir öffnete eine Tür vor uns und brachte uns in ein kleines Zimmer, in dem zwei schmale, mit weißen Laken bespannte Betten standen. Es wirkte alles sehr weiß, aber nicht so grauenhaft steril und stechend wie im Krankenhaus. Eine junge, rundliche Frau mit einem Krankenschwester-Kleid und einer weißen Haube sah auf, als wir eintraten. Das war dann wohl Marie. „Was ist denn mit ihnen passiert?", fragte sie den Vampir. „Die zwei Blut wollten wohl mal von ein paar Menschen fertig gemacht werden." Haha, wirklich lustig, schönen Dank auch. Er legte mich sachte auf eines der Betten und mithilfe des Anderen setzte sich Manuel auf das andere. „Ach so ist das", murmelte die Frau geistesabwesend und scheuchte dann die Vampire aus dem Raum, weil sie angeblich Ruhe beim Arbeiten bräuchte. Marie sprach zu ihnen wie eine Mutter oder große Schwester. „Also, meine Hübschen, von wo kommt ihr denn her?", fragte sie und setzte sich neben mich ans Bett. „Wir sind nur zufällig hier", sagte Manuel und er klang schon deutlicher. Die Ärztin sah mich fragend an. „Wir wollten nur eine Fahrt durch die Stadt machen. Ganz sicher haben wir nicht beabsichtigt, dass so etwas passiert. Eigentlich wohnen wir beide nicht in der Gegend. Au!" Die leere Nadel war spurlos verschwunden, aber ich konnte mir schon denken, was das gewesen war. Vampirblut. Damit dürfte ich in Sekundenschnelle wieder topfit sein, wenn es Altes war. Missmutig sah ich sie an, aber sie lächelte nur. „Manche Leute haben Angst vor Spritzen", erklärte Marie. Die Ärztin hockte sich auch vor Manuel hin. „Aber leider funktioniert dieser Trick nur ein Mal."

„Ich habe keine Angst vor Spritzen", meinte er trotzig und ich musste kichern, was gar nicht mehr wehtat, als er bei der großen Nadel der Spritze die Augen aufriss. „Gut, dann zeig, dass du ein großer Junge bist und beiß die Zähne zusammen." Er tat es wirklich und sie setzte die Spritze an seinem Arm an und drückte sie unter die Haut. Ein kurzes Zusammenzucken konnte er nicht verhindern und ich musste mir ein Lachen verkneifen. Dann war alles vorbei, sein Gesicht schwoll ab und die Ärztin reichte ihm und auch mir ein nasses Handtuch. Als ich in den Spiegel an der Wand sah, erkannte ich mein blutbesprenkeltes Gesicht.

„Wer waren diese ganzen Menschen?", fragte ich und wandte mich an Marie. „Das war der Harem des Meisters", erklärte sie mir und bestätigte somit meine Vermutung.

„Aber seit wann darf ein Harem ein Fest veranstalten?", wunderte sich Manuel und das Gleiche fragte ich mich auch schon die ganze Zeit. Irgendwie nahm es dem Abend die Magie.

„Ach, Kindchen, da hat der Meister schon so seine Gedanken. Indem er ihnen ihre Feste lässt, will er sie zu Gehorsam ermutigen. Wie sagte man früher? Ach ja, Zuckerbrot und Peitsche." Ich verstand die Anspielung, Freundlichkeit und Strenge, wie bei den Diktatoren oder Monarchen der Menschen früher. Oder heute, wo ich an andere Führungspersönlichkeiten dachte. Fedon. Basil. Großvater.

Ich spürte Manuels Blick und sah ihn an. „Du hast da was", sagte ich und deutete auf einen Fleck an seinem Mundwinkel. Er wartete auf was auch immer, wischte es dann aber an der richtigen Stelle ab. „Warte", sagte er, „du hast da auch was." Er kam mit seinem Gesicht näher, doch ich war zu Stein erstarrt. Seine Lippen berührten meine, ganz sacht und liebevoll. Er trennte sich von mir, sah mir in die Augen und küsste mich wieder, knabberte an meiner Unterlippe. Es war wundervoll, jagte mir einen Schauer über den Rücken, aber an was dachte ich? Eine graublaue Uniform, kalte, blaue Augen. Ich schlug die Augen nieder. Es war so unfair. „Einen Versuch war es Wert", hörte ich ihn sagen und es schien, als würde er mir nichts übel nehmen. Hatte er geahnt, dass ich für einen anderen etwas empfand? „Wer ist es?", fragte Manuel. „Dieser Steven?" Als er den Namen meines besten Freundes nannte, sah ich hoch. „So ist das." Aber er verstand gar nichts.

Die Ärztin räusperte sich und von einem Augenblick zum Anderen war es mir furchtbar peinlich. Ich hatte sie vollkommen vergessen!

„Gut Kindchen, da ihr euch ja wieder besser fühlt, erwartet euch der Meister in seinem Arbeitszimmer." Woher sie wusste, dass er uns erwartete, gab mir Rätsel auf. Außer sie war tatsächlich mit einem der beiden Vampire verwandt, die uns hier her gebracht hatten und sie hatten telepathisch Kontakt zueinander aufgenommen. „Die Treppe rauf, links und immer gerade aus." Peinlich berührt ging ich zur Tür, Manuel direkt hinter mir. „Danke", sagte ich noch an die Ärztin gewandt. Sie winkte ab. „Ist schließlich meine Arbeit. Jetzt beeilt euch, der Meister wartet und das tut er nicht gerne." Wir nickten. „Und Melissa?" Ich drehte mich nochmals um. „Grüß deinen Großvater von mir." Ich nickte lächelnd. „Mach ich."

„Kennt sie dich?", fragte mich Manuel, kaum dass sich die Tür hinter uns geschlossen hatte. „Sie mich anscheinend schon." „Sie kam mir vage bekannt vor", meinte er. Ich zuckte die Schultern. Am Hofe kamen und gingen Dutzende am Tag, da war es wohl nicht verwunderlich. „Aber dein Großvater kennt sie." „Er kennt eine Menge Leute", wich ich aus. Das war ein Thema, das sehr heikel werden konnte. Ich musterte die noble Einrichtung. Gold, Marmor, Statuen und Gemälde. Die Treppe war mit rotem Teppich ausgelegt, in den man einsank. Ich nahm die künstlerischen Muster in mich auf, während es Manuel wohl eher langweilte. Er war Besseres gewohnt. Die besagte Tür war bereits einen Spalt offen, ich klopfte dennoch, wobei ich registrierte, dass sich Manuel im Hintergrund hielt und gerne mich machen ließ. Obwohl er hier ja offiziell der Prinz war. „Baron?" Baron Basil saß in einem braunen Ohrensessel hinter seinem Schreibtisch, die Hände gespitzt aneinander gelegt. Er sah auf, als er mich sah und sagte: „Kommt rein, kommt rein." Das taten wir und blieben vor dem Schreibtisch, ich unsicher, Manuel angespannt, stehen. Ich wusste, dass uns der Baron nichts tun würde, während Manuel vom Schlimmsten ausgehen musste. Auch der Baron erhob sich und führte uns an eine Tür, die zu einem kleinen Salon führte. Wir setzen uns in die alten Sessel. „Wein oder Wasser?", fragte er gönnerisch. „Wasser", sagte ich. „Wasser", kam auch von Manuel, der sehr vorsichtig und argwöhnisch wirkte, aber auch nicht unhöflich bleiben konnte. Da kam eine vielleicht dreißig-jährige Frau herein, die nicht allzu hübsch war. Sie war dünn und trug ein einfaches Kleid, eine Schürze und ein wohl mal blaues, nun aber fast weißes Kopftuch. Das Markanteste an ihr war das Veilchen um ihr linkes Auge. Das war dann wohl die Peitsche. Sie trug ein Silbertablett mit zwei Gläsern und einen Krug Wasser. Dass sie so schnell da war, war nur durch Telepathie möglich, die zwischen Mensch und Vampir so lange möglich war aufrecht zu erhalten, wie das Blut des Menschen im Organismus des Vampirs verbleibte. Schnell schenkte sie uns mit zittrigen Händen ein und verschwand wieder. „Mein Prinz, es tut mir schrecklich leid, was Ihr durch mein Eigentum erdulden musstet. Ich bitte vielmals um Entschuldigung." Mir gedachte er kaum eines Blickes. Gut, zumindest einer, der seine Rolle spielte. „Und Lady ..." Ich schüttelte den Kopf. „Keine Lady." „Oh", machte der Baron verlegen, in ein eigens aufgebautes Fettnäpfchen getreten. „Schon gut", murmelte ich. „Jedenfalls, mein Prinz, wird diese gewalttätige Aktion nicht unbestraft bleiben. Dafür sorge ich." „Natürlich, Baron", stimmte Manuel ihm zu, wirkte geschäftlich und vertrauensselig, nachdem er nun wusste, dass vom Baron keine Gefahr ausging. „Es ist wichtig, dass man seine Menschen unter Kontrolle hält", fügte Manuel hinzu und ich konnte nicht sagen, ob er es wirklich so meinte, doch beim Gedanken drehte sich mir der Magen um. „Da habt Ihr selbstverständlich Recht. Ich werde meine Regeln ab sofort härten. Da war wohl die Erwartung von braven Hunden, die alles für ein Leckerli tun, zu hoch angesetzt." Manuel lachte. „Aber die Idee gefällt mir. Bring sie ruhig zum Tanzen, deine Hunde. Wenn die Idee fruchtet, könnte man es anderen vorschlagen." Der Baron lachte mit. Ich versank im Sessel. Was war das für ein Gespräch, bei dem sich zwei nur etwas vorspielten? Gut, bei Manuel konnte ich es nicht sicher sagen. Ich beendete das Theater, indem ich immer wieder besorgt nach draußen sah und Manuel verstand den Wink und verabschiedete sich noch freundschaftlich, mit der Begründung, dass ich nicht zu spät nach Hause kommen dürfte. Dabei rang er dem Baron das Versprechen ab, sie bald am Königshof zu besuchen. Darüber hätte ich mich amüsieren können, wenn ich nun nicht in solch mieser Stimmung gewesen wäre. Oh ja, Prinz, deinen Baron wirst du sogar früher sehen, als dir lieb ist.

 

Draußen im Hof war es schon ziemlich kalt geworden, sodass ich bibbernd die Arme um meine Mitte schlang. Manuel merkte es, zog seine Jeansjacke aus und legte sie mir um die Schultern. „Danke." Wir kamen an seinem Motorrad an, das vom ganzen Aufruhr keinen Kratzer abbekommen hatte. Zumindest nicht, wenn ich es im Licht der Lampions richtig sah. Nachvollziehbar, wenn Manuel da ausgeflippt wäre. „Ich kann verstehen, wenn du es bereust und jetzt nach Hause willst", sagte er niedergeschlagen. „Nichts ist so gekommen wie geplant, aber ich dachte es wäre eine gute Idee zu diesem Fest zu fahren, als ich deinen Gesichtsausdruck gesehen habe." Ich legte meine Hand auf seinen Rücken. „Ich will nicht nach Hause." Ich zögerte, setzte zu einer Erklärung an. „Seit Langem habe ich mich nicht mehr so frei gefühlt wie mit dir auf deinem Motorrad. Ich liebe alte Gegenden und Feste und finde es beachtlich, dass du das gemerkt hast. Ich bereue es nicht mit dir auf dem Fest tanzen gewesen zu sein. Es war wundervoll, es hat Spaß gemacht. Und der Grund war nicht das Fest. Mit dir hat es Spaß gemacht." Ich hielt mich an seinem Arm fest und er nahm mich einfach in den Arm. „Danke", sagte er. „Wofür?" „Dass du gestern Ja gesagt hast." Ich lächelte und wusste, auch wenn wir nie ein Paar sein würden, er war in Ordnung. „Also", sagte ich und sprang freudestrahlend zurück „wo ist meine Überraschung?"

 

Rom bei Tag war grandios. Rom bei Nacht war sensationell, bezaubernd, einfach nur wunderschön. Das 360° Panorama war atemberaubend. Wir saßen im 150. Stock des Cesar Hotels, in der Kaiser-Suite. Man konnte von hier aus alles sehen. Das Kolosseum, die Türme des Vatikans, das Pantheon, den Circus Maximus, sogar unsere Schule und den Großen Parcour. Alles war beleuchtet in unterschiedlichen Farben, deutete Silhouetten an und darüber thronte der sternenklare Himmel. Es war überwältigend und am liebsten hätte ich Manuel für dieses Wunder geknutscht. Er musste mir schon versprechen, sobald er und ich die Transformation hinter uns hatten, dass wir uns alles noch einmal mit unseren geschärfteren Sinnen ansahen. Dann musste es noch überwältigender sein. Wir hatten gegessen, überteuerte Gerichte, die so schön aussahen, dass es zu schade wäre diese Kunstwerke zu zerstören, nur um etwas im Magen zu haben. Aber Manuel hatte meine Bedenken mit seinem Humor und Rotwein weggefegt. Sein Blick war dunkel, das Licht im einzigen Raum, der diese Etage darstellte, war gedämpft. Ich wusste, was ich wollte. Und er wusste es auch. Er beugte sich über den runden Tisch und nahm Besitz von meinen Lippen, willig drückte ich mich an ihn und ließ mich von ihm auf die Couch drücken, die halb um den Tisch verlief. Er massierte mein Ohr mit den Fingern, sein Mund öffnete sich und meiner tat es ihm gleich, seine Zunge drang in meinen Mund und wir tanzten, tanzten wie schon einmal an diesem Tag. Meine Bluse war weg, er befreite mich vom BH und umfasste meine Brust. Bestimmt drückte er sich gegen mich und ich spürte, dass er genauso wollte wie ich. Seine Locken waren ihm ins Gesicht gefallen, bevor er sie sich zurück wischen konnte, fasste ich in seine Haare, ließ sie durch meine Finger gleiten und meinte: „Ich liebe deine Haare." Er lachte rau und küsste mich wieder, sodass mein Verstand wie weggeblasen war. Er trug mich geistesgegenwärtig zum Bett an einer der Glasfronten. Es war weich und kühl, als er mich auf die Laken legte. Ich zog ihn aber gleich hungrig zu mir hinunter und fuhr von seinen Wangen zu seinen Schultern und über die Brust an seinem Bauch entlang, dessen Muskeln ich schon einmal hatte spüren dürfen. Er strich meine Haare beiseite und küsste meinen Hals, meinen Nacken, meine Schulter. Da erstarrte er, stieß sich vom Bett ab, verwirrt sah ich zu ihm, er raufte sich durch die Haare. Da fiel es mir siedend heiß ein. „Du bist gebunden?", fragte er und seine Stimme klang kalt, neutral, keine Spur Humor. Keine Spur vom lustigen, immer gut gelaunten Mädchenschwarm. Es war mir fast unheimlich. Er sah mich abwartend an. Aber er war beherrscht, schrie mich nicht an, er verlor nicht die Kontrolle über sich. „Ja", gab ich zu und sah auf meine Hände, die sich ineinander verkrallt hatten. Er lachte humorlos auf. Auch er wusste, dass eine Gefährtin tabu für alle anderen Männer war. Der Gefährte spürte, wenn seine Erwählte mit einem anderen schlief. Er würde nicht eher ruhen, bis der Andere tot war. Es war wie ein Zwang. In meinem Innern herrschte Chaos. Ich wusste wie dumm es war, aber durfte man nicht ein einziges Mal tun, was man wollte, ohne Sorgen vor Konsequenzen? Wieso war es mir verzagt mit einem anderen zusammen zu sein, wenn ich es nur wollte? Ich brach in Tränen aus, da umarmte mich jemand und ich krallte mich an denjenigen. „Es tut mir so leid", schluchzte ich. „Scht", machte Manuel und zog mich auf seinen Schoß. Ich spürte noch seine Erregung, ignorierte es aber. Als ich mich halbwegs wieder eingekriegt hatte, wiegte mich Manuel noch hin und her. „Es ist alles gut. Du kannst mir alles erzählen, wenn du willst", versprach er leise und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Ich fand das so nett und ich wusste ich brauchte jemanden, dem ich einfach alles anvertrauen konnte, weshalb also nicht er? Aber ich wusste nicht wie ich beginnen sollte. Er half mir nach langem Schweigen auf die Sprünge. „Weshalb bist du dieses Risiko eingegangen? Hasst du mich so sehr?", fragte er belustigt und das brachte mich zum Lachen. Ich schlug ihm auf die Brust. „Nein, du Blödmann. Ich hab dich sogar gern", gestand ich und er atmete laut aus. „Da bin ich aber erleichtert." Weshalb ich also das Risiko eingehen wollte? Wollte ich etwa, dass sein Bruder Manuel zerfleischte? Ich schauderte und wurde wieder erst. „Ich will ihn nicht", brachte ich nuschelnd raus. „Wen?" „Ihn." „Deinen Gefährten?" Ich brummte zustimmend, wenn auch wiederwillig. „Steven?", fragte er und ich glaubte Eifersucht rauszuhören. „Nein", sagte ich bestimmt. „Hm, kenne ich ihn?" „Vielleicht." Ich lachte und war erschrocken wie betrunken ich mich benahm und dabei alle Vorsichtig fallen ließ.

„Jemand aus unserer Schule?" Ich gab keine Antwort, aber die Stille war angenehm, beruhigend. An seiner Brust lehnend döste ich langsam weg, als er noch leise seufzte und mich richtig hinlegte.

 

Ich wachte auf und es war dunkel. Neben mir lag Manuel, der etwas Unverständliches brabbelte. Frische Luft, das brauchte ich jetzt. Ich schwang meine Beine aus dem Bett, warf mir einen Morgenmantel um und trat raus auf den Balkon. Bestaunte die Aussicht.

Bald würde es hell werden, ich sah es am Himmel. Der Vatikan war hell erleuchtet, ich fragte mich wie man mit so viel Licht nur schlafen konnte. Glaubte ich da ein Licht blinken zu sehen?

Brennender Schmerz überzog meine rechte Schulter, ich krümmte mich zusammen, die Stadt zu meinen Füßen. Das Brennen fraß sich durch meine Nervenbahnen in meinen Kopf, ich schrie kurz auf und dann wurde alles schwarz. „Melissa", hörte ich jemanden meinen Namen rufen und es war Manuel, der neben mir hockte und mir die Haare aus meinem Gesicht hielt. Wäh, ich hatte doch wohl nicht echt gekotzt, ohne, dass ich es mitbekommen hatte. Der Schmerz war noch da und ich zog Manuel am Kragen zu mir hinunter. „Weshalb verlässt dein Bruder die Stadt?", fragte ich grimmig und in diesem Moment waren mir alle Warnungen meiner Familie gleich. Dieser Schmerz, er sollte bloß weggehen. „Weshalb mein Bruder ..." Er riss die Augen bei der Erkenntnis auf aber ich flehte nur: „Bitte, sag ihm er muss hier bleiben, bitte." Ich war verzweifelt, gut, und ich heulte, aber ich hatte noch nie so sehr um etwas gebettelt, nicht einmal bei meinem Großvater. Meine Sinne schwanden und als ich wieder etwas wahrnahm, lag ich in Manuels Armen, der am Handy mit jemandem sprach. Ich wusste nicht, ob es der Notarzt war oder sein Bruder. Das Einzige, was ich wusste, war, er durfte mich ... nicht verraten.

3

Ich wachte zu Hause auf, in meinem Zimmer, bei Leandra. Ich fühlte mich schon etwas besser und fragte mich, ob das, woran ich mich erinnerte, nicht ein Traum gewesen war. Leandra brachte mir Tee und Amber fütterte mich heimlich mit meiner Lieblings-Schokolade. Noch nie war ich krank gewesen, aber genau so müssten sich wohl kranke Menschen fühlen. Ich lag elend im Bett, meine Glieder schmerzten wie nach einem Marathon und mein Kopf dröhnte. Nur mein Gefährtenzeichen gab Ruhe, manchmal kribbelte es, aber ansonsten war alles gut. Und ich wusste, dass sich alle Sorgen um mich machten. Als V.B. das Gefährtenzeichen zu erhalten war wie ein Sechser im Lotto. Es war gefährlich, denn der vorvampirische Körper war zu schwach, um solche Schmerzen auszuhalten und wenn es lange so weitergegangen wäre, wäre ich einfach elendig krepiert. Das Zeichen fing an zu schmerzen, wenn man zu weit voneinander entfernt war, eine Mahnung seinen Erwählten nicht zu verlassen, zu betrügen oder zu vergessen. Das funktionierte normalerweise auch beidseitig perfekt, aber ich als Blut vertrug die Schmerzen nicht so gut. Ihm machte es vielleicht nicht viel aus. Schließlich war er mächtig. Da kam mir der Gedanke, was, wenn er es zu diesem Zweck getan hatte? Wollte er seiner Gefährtin solche Schmerzen zufügen, dass sie freiwillig zu ihm kam? War es sein perfider Plan das Ganze noch weiter zu verkürzen, damit er auch die 1.000.000 Refni nicht zahlen musste, oder seine Gefährtin belohnen zu müssen? Wie viele Scharlatane wohl schon bei ihm gewesen sein mussten, Leute, die behaupteten ihren Namen und Identität zu kennen, Mädchen, die behaupteten sie zu sein. Wenn ich daran denke, ich würde selbst auch ziemlich erbost sein. Wenn es da jemanden gäbe, der sich mit allen Mitteln vor einem versteckte, die man, obwohl man sie nicht kannte über alles liebte und vermisste? Aber war es wirklich so? Liebte er mich, obwohl er mich noch nie bewusst wahrgenommen hatte? Mich selbst verfolgten seine Augen jeden Tag. Ich träumte von ihm. Nur ihm. Großvater wusste ab dem Cesar-Hotel Bescheid, und er konnte es nicht fassen, dass alle Spione, die den Vatikan beobachteten, versagt haben sollten. Darunter auch Kyle. Er hatte mich in der Villa besucht und total elend ausgesehen. Aber nur für mich, um mich zu sehen, war er gekommen, obwohl das nicht ungefährlich war. Dafür liebte ich ihn umso mehr. Ich versicherte ihm, dass es zehnmal mehr Wert war, ihn und alle wiederzusehen, als bei ihm zu sein, der mir diese Schmerzen erst eingebrockt hatte. Es war uns allen ein Rätsel weshalb er so weit gegangen war und dies vor Ablauf der zweiwöchigen Frist. Alle sind davon überzeugt, dass er es nicht so weit getrieben hätte, dass ich wirklich gestorben wäre, aber woher wollte er wissen wie weit zu weit war? Hatte er bei seinem Besuch in der Schule doch Verdacht geschöpft und daraufhin seinen Bruder auf mich gehetzt? Sollte er etwa herausfinden, ob ich die Eine war? Doch entweder hatte Manuel seinen Bruder für mich verraten oder er hatte mit der Sache nichts zu tun. Obwohl er ihn auch schon so betrog, denn auch wenn Manuel nicht von ihm geschickt worden war, war es seine Pflicht ihm zu verraten, dass er mich gefunden hatte. Alle außer meiner Schwester waren überzeugt, dass Fedon mich mit seiner fluchtartigen Abreise aus der Stadt raus locken wollte und dass Manuel mich gerettet hatte und mich immer noch vor ihm schützte. Sonst wäre ich schon längst aufgeflogen und ins Königshaus abgeführt worden. Wollte Fedon mich wirklich umbringen, würde er selbst daran zu Grunde gehen, wäre ich unglücklich, wäre er das unweigerlich auch. Gut, das mit den feinsten Gefühlen und der Telepathie musste sich erst noch entwickeln, sonst wäre ich jetzt schon im Eimer. Aber in nicht Mal zwei Tagen werde ich es dann sowieso sein, wenn ich dann zu ihm ging.

 

Am Abend ging es mir schon viel besser und wir konnten endlich mit meinen äußerlichen Veränderungen beginnen.

Meine Schwester bleichte meine Haare und Augenbrauen blond und durch eine Spritze aus ihrem Labor dürften meine Haare nur noch blond nachwachsen, da es durch eine Reaktion an der Luft das Melanin abstieß. Fand ich irgendwie eklig, aber sie meinte, dass man den Effekt nicht sehen dürfte, da sich das Melanin auflöste. Meine neue Haarfarbe fand ich schon krass, denn sie war sogar heller, als meine Haut, aber sehr schlimm fand ich sie nicht. Nun sahen meine Mutter und ich uns sogar noch ähnlicher. „Du hast so schöne Haare", meinte meine Mutter, als Dana meine Haare kämmte. „Vor allem Gesunde, sonst wären sie jetzt vom Bleichen kaputt." Meine Mutter sah zerknirscht aus. Auch Dana merkte es und ließ den Kamm sinken. „Mutter, was ist los?", fragte sie und setzte sich neben sie auf den Wannenrand. Mutter seufzte und konnte mir nicht in die Augen sehen. Auch ich stand vom Stuhl auf und setzte mich an ihre andere Seite, hielt ihre Hand in meiner. „Ihr beide wisst doch, dass ich euch lieb habe." Dabei sah sie uns beide an. „Natürlich", sagte Dana und ich nickte. „Cetty, es tut mir so leid, was ich dir alles zumute und bis jetzt war das alles auch ganz weit weg, aber nun ging alles so schnell und ich komme mir vor wie eine Rabenmutter." „Mum", sagte ich. „Nein, du weißt wie schlimm das Ganze für deinen Vater ist, er möchte dich am Liebsten in einen Tresor sperren und nie mehr rauslassen. Er will dich vor deinem Großvater in Sicherheit bringen." „Vor Großvater?", fragte Dana überrascht. „Ja, sicher. Er sieht nur die Bedrohung, dass ihm jemand sein Töchterchen wegnehmen will." „Aber er war doch dabei, als Großvater das Unternehmen gründete und wollte den König stürzen." „Das war, bevor er mich kennenlernte. Als er vom Schriftstück erfuhr, das eines meiner Kinder als Gefährtin des künftigen Königs angab und nachdem ich mit Kyle schwanger war und er wusste, dass es auch seine Kinder sein würden, wollte er mit mir fliehen. Aber ich konnte nicht." Natürlich, sie hatte die Ungerechtigkeit miterlebt, war mit Großvater und Großmutter auf der Flucht gewesen, als drohte herauszukommen, dass Großvater Pius überlebt hatte. Sie musste die Entbehrungen und die ständige Angst über Jahre hinweg ertragen und das hatte sie als Familie zusammengeschweißt. Seit Großmutter Anne gestorben war, war meine Mutter sogar noch entschlossener geworden.

„Mum, du bist keine Rabenmutter. Es ist meine Bestimmung, dass ich das tue. Es war schon immer so", versuchte ich sie zu trösten und umarmte sie, doch sie versteifte sich, fasste meine Arme und sah mich eindringlich an. „Mein Kind, ich möchte nicht, dass du dich zu irgendetwas gezwungen siehst. Wenn dein Herz dir etwas befiehlt, tu es. Auch wenn du vom Plan abweichst. Ich werde dir helfen, egal wofür du dich entscheidest." Meine Schwester war bei diesem Geständnis bleich geworden, das sah ich durch meinen Tränenschleier. „Mutter!", sagte sie aufgebracht, da ihre Worte an Verrat grenzten. „Scht, du willst doch auch, dass deine Schwester glücklich wird." „Natürlich, ich würde alles für sie tun", sagte sie und schluckte. „Ich stehe immer hinter euch", versicherte Dana und atmete tief durch. „Gut“, meinte meine Mutter lächelnd, „ich habe nichts Anderes von dir erwartet." Sie patschte uns auf die Schenkel und stand auf, sich die Tränen wegwischend. „Euer Großvater fragt sich bestimmt schon wo wir bleiben", sagte sie und lächelte. „Ja." Wir machten uns auf den Weg nach unten. Perfekte Masken über unseren Gesichtern. Nur, wie viel war Maske und wie viel echt?

 

Ich hatte Träume. Solche Träume, in denen ich ihn sah. Einen Mann, der mit dem Rücken lässig zu mir stand, vor dem Bett, in dem ich lag. Seine Haare waren blond und verwuschelt, sein Oberkörper war nackt und trainiert, die Haut glänzte warm im Licht der Kerzenflammen. Er drehte sich langsam um, blaue Augen sahen mich an, tief und sehnsüchtig. Mein Herz fing an laut zu pochen. Die Lippen waren rot, so rot und voll. Die Wangenknochen traten dunkel hervor, genauso wie seine Augen. Er ging um das Bett herum und meine Hand, die ich ausgestreckt hatte, mein Inneres, das ihn sehnsüchtig erwartete, wollte ihn berühren. Ich wollte ihn spüren, in seinen Armen versinken. Nur noch ein Hauch, dann würde er mit seiner Hand meine erfassen, dann wurde alles weiß. Ich träumte von dem gleichen Mann, in unserem Klassenzimmer, kalte Augen, furchteinflößend, dominant. Er jagte mir eine riesige Angst ein. Dann traf sein Blick auf meinen und mein Innerstes gefror. Da war keine Liebe in diesem Blick, aber ich fühlte mich gut.

Ich wachte schweißgebadet auf.

 

Der nächste Tag in der Schule war für mich ein ganz neues Erlebnis. Alle Schüler starrten mich an, mich, in meinem schicken, kostspieligen Look, mit blonden Haaren und türkisen Augen. Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel sah, sah mich eine Fremde an. Oh ja, Melissa Klein war gestorben. Vor euch stand Lucette Worthy, Cousine von Dana und Kyle Worthy, junge Abteilungsleiterin im Familienunternehmen und gerade aus Mailand hergezogen. Gina sah ich an ihrem Spint stehen, mit einem abwesenden Blick und mir fiel es schwer nicht zu ihr hin zu gehen und sie zu umarmen.

Die Laser-Op war schmerzhaft gewesen, aber ich hatte sie ohne zu jammern ertragen. Alles an mir war so ungewohnt, ich sah anders aus, trug andere Sachen und fühlte mich dadurch selbstbewusster. Die Mädels tuschelten und warfen mir schnelle Blicke zu, während die Jungs mich lüstern anstarrten. In diesen Momenten hätte ich gerne mein Gefährtenzeichen gezeigt, nur um diese Blicke nicht ertragen zu müssen. Ich warf die Haare nach hinten und ging zielstrebig den Gang entlang, direkt aufs Direktorat zu. Ich, neu an der Schule, musste dem Direktor ein paar Sachen klar machen. Keiner der Schüler hielt mich auf. Prinz Manuel stand mit seiner Clique und seiner Schwester in einer Ecke und starrte mich an. Kurz bekam ich Angst, begleitet von einem schlechten Gewissen. So wie ich es bei allen Zurückgebliebenen bekam. Bis ich Steves Blick eiskalt spürte. Mein Wangenmuskel zuckte, aber ich schottete alle Gefühle ab und betrat das Direktorat. Der Direktor saß an seinem Schreibtisch und sah überrascht auf. Gut so, wenn ich in meinem neuen Leben kein unbeschriebenes Blatt war, war es leichter in meine neue Rolle als selbstbewusste Diva zu schlüpfen. Und genug Selbstbewusstsein half mir in meinem neuen Leben. „Ja, Miss ...", fing er an. „Worthy, Lucette Worthy", half ich ihm auf die Sprünge. „Miss Worthy, was wollen Sie hier? Alle Formalitäten können Sie im Sekretariat erledigen." Seine Stimme klang missmutig. „Das schon, aber ich habe ein paar Forderungen, die vom Direktor selbst genehmigt werden müssen." Ich ging zu seinem Schreibtisch und legte das Blatt mit Nachdruck darauf. Er las es durch. „ ... Privatstunden ... neuen Spint ... Physiotherapie (Massagen), ... eigener Koch (Begründung: Allergikerin). Miss ..." „Worthy." „Miss Worthy, bei allen guten Dingen, diese Forderungen kann ich nicht erlauben." „Natürlich können Sie." Ich lächelte mein bezauberndstes Lächeln. „Diese ... Sonderbehandlungen haben nichts mehr mit Notwendigkeiten zu tun. Damit würde ich Sie bevorzugt behandeln und in meiner Schule gibt es so etwas nicht." Ich schnaubte. „Ach nein? Da habe ich aber ganz andere Sachen gehört. Zum Beispiel bestimmte Privilegien, die die Adligen genießen." Der Direktor sah mich erschrocken an und ich lächelte triumphierend. Am Ende unterschrieb er mir alles, was ich wollte und mit einem zufriedenen Lächeln verließ ich den Raum. Es hatte schon zur ersten Stunde geklingelt und fast niemand war noch in den Gängen. Niemand, außer die königlichen Geschwister und ihr Hofstaat. Prinzessin Helena kicherte mit ihren Freundinnen. Die hochadlige Franziska, der ich damals ins Gesicht geboxt hatte, sah mich schräg an, als ich mich ihnen näherte, um den Gang entlang zu gehen. Sie alle verstummten. Ich nickte ihnen grüßend zu und ging gemächlich weiter, als hätte ich alle Zeit der Welt. Sie nickten mir auch zu. Ihr Geflüster setzte wieder ein und ich war mir sicher, keiner von ihnen kannte mich, mein neues Ich. Keiner hatte gewusst, dass jemand Neues in die Schule kommen würde, obwohl sie sonst mit ihren Kontakten sicher immer darüber informiert wurden. Nun wussten sie nicht welchem Stand ich angehörte und wollten wohl nicht zu voreilig handeln. Der Tag verging langsam, ich war wieder in meiner alten Klasse gelandet und die Nachricht von Melissa Kleins Tod machte die Runde. Ich saß neben einem Typen aus Manuels Clique, in der hintersten Reihe, mit dem ich herumalberte. Aber auch er konnte mir nicht entlocken, welchen Stand ich besaß. So blieb er einfach freundlich und offen und da machte ich es ihm sicher nicht schwer. Plötzlich schepperte ein Stuhl und Steve verließ fluchtartig den Raum. Verwundert blickte ich ihm nach. „Was ist denn mit dem los?", fragte ich und der Junge aus der Clique, Anthony, meinte: „Der hat es wohl nicht vertragen, dass seine Schnecke weg ist." „Getrennt?", fragte ich. „Tot", meinte er achselzuckend. Ich nickte verstehend. Prinz Manuel hatte sich zu uns umgedreht, musterte uns und drehte dann seinen Stuhl zu uns um. „Alles klar?", fragte er und Anthony grinste nur dreckig und warf einen Arm um mich. „Mit solcher Gesellschaft doch immer." Es war mir ein bisschen unangenehm, sein Geruch war penetrant, aber ich lächelte. „Wie ist nochmal dein Name?", wollte Manuel wissen und wirkte wie Freitagnacht im Gespräch mit dem Baron. Zu freundlich. „Ich bin Lucette Worthy", antwortete ich, „und du?" Es war, als bemerkte er jede meiner Regungen. „Manuel Tiger", stellte er sich auch ohne jeden Zusatz vor, aber da jeder Idiot die Namen der königlichen Mitglieder kannte, hob ich erstaunt meine Hand vor den Mund, lächelte breit und sagte schlicht: „Freut mich." „Ganz meinerseits. Du kommst woher?" „Mailand, Bro, der Fashion-Stadt und Stadt der Schönen", kam mir Anthony zuvor und deutete nachdrücklich auf mich, was ich nur verlegen lächelnd überspielte, aber ich fühlte Manuels Blick über meine Gestalt gleiten. „Eindeutig ein Mailand-Mädchen", stimmte er zu. „Die Kleine will nur nichts Weiteres verraten", meinte Anthony gespielt traurig, ich stieß ihn aber mit meinem Ellbogen an und fragte: „Wen nennst du hier Kleine?" Anthony zog mich auf die Beine und wirklich, ich war ein paar Zentimeter kleiner, trotz meiner hohen Schuhe, aber auch ohne war ich immerhin 1, 70 m groß und das war definitiv nicht klein. „Du bist einfach nur zu groß", behauptete ich und stellte mich auf die Zehenspitzen, was aber fast nichts brachte. Anthony lachte mich aus und ich zog eine Schnute. Manuel war außergewöhnlich still, als ich ihn ansah, sah ich ihn zwar lächeln, aber es wirkte nicht echt. Ich bekam langsam Zweifel, ob ich ihm nicht doch alles verraten sollte. Wenn er es denn nicht schon ahnte. Später. Ich musste versuchen meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Schließlich konnte ich auch nicht immer meine Familie um Rat fragen oder Großvater blind gehorchen. Wie sollte ich sonst je als Königin regieren?

 Es klingelte zum Stundenende. In zwei Minuten hatten wir zwei Stunden Sport. Anthony zog mich mit sich und alle, die zum Hofstaat gehörten, versammelten sich vor der Klasse. Die schüchterne Amanda stellte sich vor und auch alle anderen nannten mir ihre Namen. Sie hatten wohl beschlossen mir eine Chance zu geben, wenn auch nur eine auf Probe. Aber ich war mir sicher, spätestens morgen werden sie herausgefunden haben, welchem Stand Lucette Worthy angehörte. So viele Adelsfamilien gab es schließlich auch nicht und oftmals akzeptierten sie nicht mal eine aus dem niederen Adel. Soweit würde es aber gar nicht kommen. Anthony wollte mir vor dem Unterricht noch schnell ein paar Teile der Schule zeigen, obwohl es schon zur Stunde klingelte, und ich willigte ein. „Du bekommt dann doch keinen Ärger, oder?" Er sah mich aufmerksam an. Ich grinste breit und das war wohl Antwort genug. „Du benimmst dich wie eine Prinzessin", sagte er und musterte mich. „Wenn du mir nichts verraten willst, dann rate ich eben", meinte er und ich blieb stumm. „Baroness, Gräfin oder Lady?" Ich schwieg schmunzelnd. Er schüttelte den Kopf und legte den Arm um mich. „Du machst es einen echt schwer." Er seufzte. „Ach ja? Wer wollte mir nicht verraten, dass er noch bei seinen Eltern wohnt." „Pssst", machte er geschockt, während ich kicherte. Er zog mich weiter. „Mit dir werden wir was miterleben." Ich grinste nur frech zur Antwort.

Sport war getrennt von den v.V., Anthony begleitete mich noch zu den Kabinen, verschwand dann sogleich, er hatte Glück. Er hatte die Transformation auch schon hinter sich. Der Unterricht der v.V. und V.B. war getrennt und fand zusammen mit der ersten Klasse statt. Ich wollte die Tür zur Mädchenumkleide öffnen, da rief eine Stimme: „Melissa." Manuel. Meine Hand verharrte eine Sekunde auf dem Griff, dann machte ich auf und betrat die Umkleide. In den Umkleiden war niemand mehr, ich suchte mir einen Platz und nahm aus Gewohnheit wie immer meinen ein, hinter der Ecke, wo einen niemand störte. Gina saß dort auf der Bank und als sie mich sah, stand sie hastig auf. Sie wischte an ihren Wangen, aber sie konnte nicht verbergen, dass sie geweint hatte. „Entschuldige, ich werde ...", stotterte ich und wollte mich auf den Weg zurück machen, sie aber sah mich lächelnd an und sagte: „Schon okay, bleib ruhig hier." Freundlich, wie sie immer war. Mein Herz tat weh. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. „Ich bin Regina", stellte sie sich vor und ich fasste glücklich ihre Hand. „Lucette", sagte ich. Eine Weile blieb es still. „Viele scheinen heute so bedrückt", sagte ich leise. Sie lächelte traurig, setzte sich und ich nahm zögernd neben ihr Platz. „Ja, eine aus der Schule hat ihre Transformation nicht überstanden. Viele haben Angst, dass ihnen das Gleiche passiert." „Aber bei dir ist es anders", stellte ich fest. Sie nickte. „Sie war meine beste Freundin." Wieder brach sie in Tränen aus und ich umarmte sie, einfach, weil es sich richtig anfühlte. Ich hielt sie so lange fest, bis sie sich beruhigt hatte, dann schnäuzte sie sich. „Tut mir leid, du bist neu hier und ich gehe dir schon mit meinen Problemen auf die Nerven." „Nein, kein Problem. ", versicherte ich und fasste ihre Schulter fester. „Ich habe meine beste Freundin auch erst verloren." Sie sah mich aus roten Augen an. „Wie steckst du das weg?", fragte sie und ich zuckte mit den Schultern. „Es muss weiter gehen." Sie sah mich skeptisch an, also holte ich weiter aus. „Eigentlich gibt es doch keine Wahl in solchen Dingen. Wir müssen darauf vertrauen, dass es mit der Zeit besser wird." Gina blieb still und ich wusste, sie dachte über meine Worte nach. „Keine Wahl, ja? Ich denke, die hat man immer", entschlossen ballte sich ihre Hand zur Faust. „Ich habe von Anfang an nicht geglaubt, dass sie tot sein kann, sie ist ein viel zu taffes Mädchen dafür. Sie muss noch leben!" Mitleidig sah ich sie an. Oh nein, Melissa war tot und auch, wenn ich es betrauerte, nicht nur sie hatte ihre beste Freundin verloren, auch ich könnte nicht so tun, als wäre alles wie vorher. All unsere gemeinsamen Erinnerungen gab es nicht mehr. Es war ein Neuanfang. Gina sah mich ernst an. „Ich weiß, das klingt vielleicht ein bisschen verrückt, aber ich werde herausfinden, was mit ihr passiert ist. Sieh mich nicht so an, als wäre ich gestört! Sie muss am Leben sein!" Sie war lauter geworden, aufgesprungen und sah stumm gegen die kahle Wand. „Gina ...", flüsterte ich. Sie wirbelte herum. Fragend sah ich sie an, da lachte sie über sich selbst. „Sorry, du hast dich gerade wie sie angehört. Nur meine engsten Freunde nennen mich so." „Oh, sollte ich nicht ..." „Nein, nein, schon ok. Du bist in Ordnung, du darfst mich so nennen." „Danke." Ich lächelte. „Und du hast Recht. Ich habe mich wirklich in Spinnereien verfangen." Sie wischte sich die aufkommenden Tränen weg. „Vergiss es einfach", meinte sie und ich nickte und machte mich wie sie für Sport bereit. Die Sportklamotten, rotes Top und kurze, schwarze Trainingshosen, nach Schulfarben. Die Schuhe hatte jeder selbst dabei. Wir banden uns die Haare zusammen und ich versuchte sie aufzuheitern, erzählte ihr wo ich her kam und dass ich nicht adlig, sondern einfach nur eine reiche Unternehmenstochter war. Ihr konnte ich das getrost anvertrauen, sie erzählte es sicher nicht den Adligen oder irgendwelchen Klatschbasen. Gina erzählte mir, dass sie in einem Herrenhaus aufgewachsen war und von den vielen Kindern dort. Sie verschwieg jedoch, dass sie dort nur gelandet war, weil ihr Vater sie verkauft hatte, um seinen Bauernhof zu retten. Aber das verstand ich. Ich würde auch nicht gleich jedem alles über mich erzählen. Wir machten uns auf den Weg zur Sporthalle, es klingelte gerade für die zweite Stunde Sport. Wir beeilten uns, da mir Gina erzählte, dass sie nicht zu spät kommen durfte, da sie nur für die erste eine Entschuldigung hatte. Ich wusste natürlich, dass sie Recht hatte. Die Halle war riesig, vier Fußballfelder groß, was natürlich auch mit der Schnelligkeit der v.V. zusammen hing, die aber heute draußen Sport hatten. Man sah viele V.B. außer Puste Runden rennen. Unser Anfang 30 wirkender Sportlehrer, Herr Nadler, war streng und griesgrämig und trieb die schwitzenden und hechelnden Jugendlichen nur noch mehr an. „Hampton!", brüllte er und marschierte auf uns zu. „Wo haben Sie so lange gesteckt?" Meine Freundin wurde ganz klein unter seiner Wut und ständig schreienden Stimme. Nach der Uhr an der Wand waren wir gerade Mal zwei Minuten zu spät. „Ähm, ich ...", sagte sie verlegen und reichte ihm den Zettel mit der Entschuldigung. „Da steht bis 11:30, nicht bis 11:32!", brüllte er. „Das ist meine Schuld, ich habe mich verirrt und Miss Hampton war so nett und hat mir den Weg gezeigt." Der Sportlehrer sah mich kurz an, aber wieder weg. Anscheinend hatte der Direktor alles gut hinbekommen, sodass sich kein Lehrer traute mich zurechtzuweisen. „Ach, so ist das", brummte er und für ihn schien die Sache damit gegessen zu sein. „Jetzt aber, los, los, aufwärmen und dann zwei Runden um den Platz!" Wir nickten gehorsam und stellten uns an den Rand, während wir uns dehnten. Ich hielt nach Steve Ausschau, aber ich sah ihn nirgends. „Wo ist eigentlich dieser Typ?", fragte ich Gina und sie sah mich an. „Welcher Typ?" „Da war so einer aus meiner Klasse, rotbraune Haare und mit so ... blauen Augen?" Ich tat so, als müsste ich überlegen. „Du meinst Steven. Nein, der ist gegangen. Das Mädchen, das es nicht geschafft hat, Melissa ... er war seit sie in die Schule kam total in sie verknallt." Ich erstarrte. Was? Schnell hatte ich mich wieder im Griff und dehnte mein linkes Bein. „Das muss schwer für ihn sein." „Ja, vor allem, weil sie anscheinend gerade darauf eingegangen war." Innerlich atmete ich tief durch. Ein paar Mädchen liefen gerade an uns vorbei. Da hörte ich auch schon ein langgezogenes, überdrehtes Hey. Anthony schlang von hinten seine Arme um mich und drehte mich einmal herum. Ich lachte dabei. Er ließ mich runter. „Was machst du denn da mit der Tomatenschlampe?" Der ganze V.B.-königliche Hofstaat war um mich versammelt und begrüßte mich freundlich. Ein Gefühl von Wut überkam mich und wäre ich noch Melissa gewesen, hätte ich ihnen so richtig die Meinung gegeigt. Aber das war ich nicht. Manuel stand dabei, genauso wie Amanda. Anthony grinste mich an. Ich erwiderte es. „Du hast dich doch wohl nicht etwa mit der angefreundet?", fragte Jessica geschockt und zog ein angewidertes Gesicht. Jessica war eine kleine Brünette, die zusammen mit Franziska, der ich die Fresse poliert hatte, Helenas Schoßhündchen abgaben. „Ich, ach gar nichts. Sie war nur so dumm mit mir zu reden und was soll man da schon machen? Zumindest hat sie mir den Weg hierher gezeigt." Ich lachte herablassend und alle grinsten mir zufrieden zu. „Also, können wir bitte weg von diesem Abschaum, so geht ihr Gestank noch auf uns über", meinte Jessica und hob eine Augenbraue. Anthony zog mich mit sich und so rannten wir die Bahn entlang. Manuel war mit einem seiner Kumpel, einem schwarzhaarigen Muskelprotz, schon vorneweg gerannt. Anthony hielt mit mir Schritt. „Was machst du denn hier?", fragte ich im Rhythmus zu meinen Schritten an ihn gewandt. Wie unfair, mir wurde schon verdammt heiß und er überholte mich, drehte sich zu mir um und lief rückwärts weiter. Er lächelte stolz. „Der Nadler hat mich ausgesucht, um dem neuen Sportlehrer die Geräte zu zeigen." „Hä?", machte ich und begann die endlose Kurve entlang zu rennen. Anthony deutete mit dem Kopf hinter sich und tatsächlich, da stand ein verdammt gut, nicht älter als 23 Jahre aussehender Vampir mit braunen Haaren, intelligenten, grünen Augen und verschränken, muskulösen Armen. Er behielt alle Läufer im Auge, konzentriert und wohlwollend. „Wow", entwischte mir und ich hätte mich schlagen können. „Der gefällt dir?", raunte Anthony und hob beide Augenbrauen. Ich boxte ihm gegen die Arme und er ließ es geschehen. Man, Dank ihm entwickelte ich mich noch zu einem richtigen Schläger. „Fahr die Krallen wieder ein", neckte er. Er drehte sich wieder um und lief neben mir, als wir gerade bei dem heißen Lehrer vorbeikamen. Er würdigte uns keines Blickes und das checkte auch Anthony. „Aber du hast doch noch mich", meinte er und wuschelte durch meine Haare, was ich noch nie leiden konnte. Ich fauchte und er lachte los. Nach noch einer Runde an deren Ende ich mich auf den Knien abstützen musste, um zu Atem zu kommen, standen Manuel und die anderen zusammen und flüsterten. Als ich und Anthony zu ihnen schlenderten, sagte Jessica laut: „Ant, geh weg von der." Verblüfft verfolgte ich das Ganze und Anthony machte wirklich intuitiv einen Bogen um mich. „Was ist denn los, Jessy?", fragte er, wie man ein kleines Kind fragen würde. „Die blonde Bitch da ist ein El'. Ihre Familie verkauft Kaffee." Sie lachte bellend auf. „Sie ist es nicht würdig sich mit uns abzugeben." Mir war das Blut, das zuvor vor Anstrengung im Kopf gepocht hatte, aus dem Gesicht gewichen. Unfähig etwas zu sagen, stand ich da. Mist, wer hatte mich verraten? Ich dachte an Gina. Mein Verhalten vorhin musste sie verletzt haben. Oder war es etwa Manuel, der schließlich eins und eins zusammengezählt hatte und mich bloß stellen wollte? Ganz toll. „Sorry, Lue", sagte Anthony, nahm aber Abstand, wie all die anderen. Es schmerzte. Sehr.

Ich kniff die Augen zusammen, wollte sie beschimpfen, aber dann kam mir in den Sinn was für Gesichter sie morgen machen werden. Ich lachte befreiend, und mir kamen sogar die Tränen. Alle sahen mich an, als wäre ich verrückt geworden. „Morgen versteht ihr es und dann kommt ihr angerannt und fleht mich an euch zu verzeihen." Ich wedelte mit der Hand ab, als Jessica sich tatsächlich herablassen wollte nachzufragen, ignorierte sie alle, auch Manuel, und marschierte zum neuen Lehrer. Gina stand mit Wany, einem asiatischen, netten, aber zurückhaltendem Mädchen in einer Ecke und machte ein finsteres Gesicht, als ich zu ihr blickte. Der neue Lehrer war zur Abwechslung wirklich ein verdammt guter Sportlehrer. Er motivierte, schickte mich, da ich ihm meine Hilfe angeboten hatte, ständig zum irgendetwas holen und machte, im Gegensatz zum Alten keine Unterschiede zwischen den Schülern, was den Adligen unangenehm auffiel, mich aber zum Triumphieren brachte. Da sprach wohl der Racheengel aus mir. Nur vermutlich würde das nur so lange gut gehen, bis der Direktor ihn einweihte, wie es in dieser Schule gehandhabt wurde. Da tat er mir jetzt schon leid. Ich hielt ihn nicht für den Typ, der bei solchen Spielchen mitspielte.

Trotzdem hoffte ich, dass er nicht gleich kündigen würde. Sport war viel zu schnell vorbei, obwohl ich vom vielen Rennen ausgelaugt und müde war. Ich schloss mich in eine der Toilettenkabinen ein und zog mich um. Mein Gefährtenzeichen dürfte man bei diesen Tops eigentlich nicht sehen, ich war aber dennoch froh, dass ich es am Morgen noch überschminkt hatte, auch wenn ich nun, nach dem Sport befürchtete, dass das Make-Up verwischt war. Gina wäre beim Anblick durchgedreht. Ich verstaute alles und schlich mich so unauffällig wie möglich aus den Umkleiden. Niemand sprach ein Wort zu mir, alle ignorierten mich. Ich seufzte, als ich die Tür hinter mir schloss und den Gang zu unserem Klassenzimmer entlang ging. Zwei Stunden Mathe. Bäh. Und das auch noch nach Sport. Wem war denn so was eingefallen? Plötzlich wurde ich am Handgelenk in eine finstere Nische gezogen, ich wollte schreien, aber jemand presste seine Hand auf meinen Mund und eine bekannte Stimme sagte nur: „Ich bin's." Ich beruhigte mich ein wenig, mein Körper blieb aber angespannt. „Nicht schreien, ja?" Ich nickte und er nahm seine Hand hinunter. „Sollte das eine Ehre für mich sein?", zischte ich mit gesenkter Stimme, meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und ich konnte sein Gesicht ausmachen. Jedoch machte er sich an meiner Bluse zu schaffen, ich wehrte mich und wollte schreien, aber plötzlich konnte ich nicht mehr atmen oder mich bewegen. Manuels Hand schob die Bluse über meine rechte Schulter und strich die Haare weg, wie in jener Nacht. Der Schweiß musste das Make-Up verwischt haben, ich hörte ihn ausatmen. „Melissa, du bist es." „Ja", sagte ich leise. Er legte die Hände an meine Wangen. „Du weißt nicht, was ich wegen dir durchmachen musste", flüsterte er und ich spürte seinen warmen Atem. Ich sah zu Boden. „Es tut mir Leid", sagte ich und fühlte mich mies. „Du musst es mir erklären, Melissa, bitte." „Nenn mich nicht so", nuschelte ich. Dann straffte ich mich. „Mein Name ist Lucette." „Lucette", murmelte er. „Ja, gut, ich erkläre dir alles. Nach der Schule?" Er schüttelte den Kopf. „Ratsbesprechung." Ich überlegte. „Lass und schwänzen." Er hob erstaunt eine Augenbraue. „Gut", sagte er einfach und wir huschten einen schmalen Gang entlang, der zu einem Ausgang führte, der zu wenig beschildert war, um als Notausgang zu gelten. Manuel drückte die Tür auf und wir standen auf einer Seite des Gebäudes. Wir eilten über das Gras und vorbei an den Ahornbäumen zum Schultor. Die Allee entlang, auf der anderen Seite der Straße, war ein kleines, unscheinbares Café, in das wir uns setzten. Wir setzten uns in die hinterste Ecke, des kaum besuchten Cafés und bestellten beide ein Wasser. Ich war nervös, noch nervöser, als bei unserem Date letzte Woche und kaute auf meiner Lippe herum. Da er selbst auch nichts sagte, versuchte ich erst mal meine Fragen an ihn zu richten. „Manuel, wen hast du eigentlich angerufen in jener Nacht?" Seine Kiefermuskeln traten hervor und er sah weg. „Meinen Bruder." Er trank einen Schluck von seinem Wasser und ich wartete, dass er weitersprach. Tat er aber nicht. „Was hast du zu ihm gesagt?", wollte ich wissen, musste ich wissen, wenn ich sicher sein wollte, dass der König von nichts ahnte. Dass ich immer noch sein Vertrauen gewinnen konnte. Manuel schniefte mit der Nase. Er sah mich dann an. „Ich habe einen Notfall erfunden und gesagt, dass ich seine Hilfe brauche, weil ich in Schwierigkeiten stecke." Sein Mundwinkel zuckte. „Ich hab die Geschichte mit dem Baron aufgebauscht und er ist umgekehrt, denn so war er schon immer. Wenn ich Mist baue, holt er mich da raus. Immer." Ich schluckte und wiederstand der Versuchung nach Vampiren, die für den König oder meinen Großvater spionierten, Ausschau zu halten. „Ok", sagte ich und schwieg. „Du musst es mir aber erklären, Me... Lucette." „Du hast ihm nichts gesagt?", fragte ich und sah ihn an, er verneinte. „Aber ich verstehe es nicht. Ich weiß nicht, was hier gespielt wird oder wieso du das tust. Ich brauche einen Grund, um dich nicht zu verraten." Bitte, verrate mich nicht, hatte ich das wirklich gesagt, als ich kurz aus der Bewusstlosigkeit erwacht war? Aber er hatte Recht. Er war sein Bruder. Er wird es ihm sagen, wenn ich ihm nicht einen Grund gab, das mein Geheimnis rechtfertigte und sein Gewissen beruhigte. „Aber bitte lach nicht, wenn du die ganze Geschichte hörst." Er nickte ernst, war im Moment für keine Späße zu haben. Ich holte sicherheitshalber meinen Notizblock aus der Tasche und einen Stift. Das Café hatte Augen und Ohren. Ich zeichnete ein Auge und ein Ohr und schrieb darunter: Überall. Ich lächelte, als ob es ein Spiel wäre und sagte: „Du bist dran." Er sah von mir zum Block und wieder zu mir. Auch er lächelte wieder dieses aufgesetzte Lächeln, mit dem er vielleicht andere täuschen konnte. „Du hast schon gewonnen." Er stand auf, bezahlte und flüsterte der Kellnerin etwas zu. Manuel winkte mich zu sich und wir folgten der Kellnerin in den Hinterraum und von da aus eine steinerne und tropfende Treppe hinunter. Dort unten war ein moderner Gang und mehrere Türen zweigten davon ab. Die Frau gab uns eine Karte mit einer Nummer, wir suchten die richtige Tür, und betraten den Raum. Hinter uns machte es klick und wir waren allein in einem Schlafzimmer. „Die Zimmer sind schalldicht. Wir können reden." Manuel und ich setzten uns aufs Bett. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen und beschloss von vorne anzufangen. „Ich bin eine Dragon", fing ich an und erzählte die ganze Geschichte über unseren Sturz und von meinem Großvater. Über die Rebellion, die schon tausende Mitglieder in ganz Europa hatte. Vom geplanten Krieg und kurz, bevor mein Großvater ihn durchgeführt hätte, von dem Schriftstück, das alles verändert hatte. Ich erzählte von Mailand und meinen Versuchen abzuhauen, aber Großvater hatte mich immer wieder erwischt. Ich hätte gerne erzählt, dass ich nicht durch die Angst vor meinem Großvater mein Schicksal akzeptiert hatte, sondern dass ich es wollte, um eine bessere Herrscherin zu sein, als sie alle. Kein Zuckerbrot und Peitsche. Keine Diskriminierungen oder Privilegien. Aber die Wahrheit war, ich hatte Angst vor ihm. Ich erzählte, dass ich mich nur so sehr sträubte, endlich mein Leiden zu beenden und zu meinem Gefährten zu gehen, da man mich unweigerlich umgebracht hätte, wenn man nach meiner Transformation meine frappierende Veränderung erfahren hätte, die wie mit Neonschrift verriet, wessen Nachkomme ich war.

Manuel hörte mir aufmerksam zu und stellte keine Zwischenfragen, wofür ich ihm sehr dankbar war. Er war geduldig, wenn ich nicht wusste, wie ich fortfahren sollte. Er hörte zu, bis zum Schluss. „Also ist heute der große Tag", stellte er fest und ich nickte. Ja, heute Abend würde ich endlich zu ihm gehen, ich könnte das tun, das sein, wofür ich geboren wurde. Ich schluckte. „Ich hatte noch nie so große Schmerzen", sagte ich und dachte zurück an die Nacht, in der mich mein Gefährte hätte umbringen können. „Du hattest Glück, dass das Vampirblut der Spritze noch in deinem Körper war. Ich hatte Angst um dich. Ein wenig mehr und du wärst gestorben." Das stimmte wohl. „Danke", sagte ich, „du hast mich gerettet und ich habe dir nicht Mal gedankt. Das kann ich nie wieder gutmachen." „Nein. Du gehörst zur Familie. Und auch wenn es nicht so wäre, mag ich dich viel zu sehr, um dich einfach sterben zu lassen." Ich krabbelte in seine Arme, er lehnte sitzend im Bett an der Mauer und ich hörte seinen Herzschlag. Ich fühlte mich wohl. „Weißt du, ich hatte mich wirklich ein wenig in dich verguckt", gestand er und ich sah im Augenwinkel sein Schmunzeln. „Du warst das erste Mädchen, das uns eine geschlagene halbe Stunde böse anschauen konnte, ohne wegzugucken." Mein Kopf wurde heiß. Wie peinlich. Er hatte es in der Cafeteria gemerkt. „Und du bist das erste Mädchen, das freiwillig ein El' gewesen ist und uns Kontra geboten hat." Er zog mich enger an seine breite Brust. „Außerdem stehst du zu deinen Freunden, dir ist egal, woher sie kommen oder was für einen Stand sie haben. Du hast mich damit sehr beeindruckt." „Ich dachte schon deine Schwester hätte die Nase voll davon und wollte mich verprügeln", dachte ich an ihrem Auftritt in der Mädchentoilette zurück. Ich erzählte ihm die Geschichte und er lachte und ich musste mit lachen. „Das ist mir ehrlich gesagt peinlich. Wer schickt schon seine Schwester los, um rauszubekommen, ob ein Mädchen ihn mag?" „Sie hätte es vielleicht geschickter anstellen können, aber am Anfang dachte ich trotzdem sie wäre ein teuflisches Genie, das mich drangekriegt hatte und ihren Sieg auskosten wollte." Seine Brust vibrierte vom Lachen. Dann hob und senkte sie sich wieder ruhig.

 „Vermisst du ihn? Deinen Gefährten?", änderte er das Thema. Ich sah zu ihm auf, aber sein Gesicht zeigte keine Regung. Ich beschloss ihm die Wahrheit zu erzählen. „Ich weiß es nicht. Irgendwie möchte ich das nicht, ich kenne ihn nicht und trotzdem. Mein Gefühl sagt mir da fehlt etwas. Ich sehe ihn vor mir, wenn ich mit jemand anderem zusammen bin. Als er mich angesehen hatte, damals in der Klasse, war da kein Erkennen, keine Gefühle. Aber es war genug." „Ist es das immer noch?" „Es ist schön zu wissen, dass er mich braucht. Aber es ist nicht schön zu wissen, dass er auch jede andere haben kann." „Er wird keine Andere mehr wollen, wenn er erst dich hat." „Das sagt niemand." „Willst du denn noch andere, als ihn?" Er sah mir in die Augen und sie waren wie ein Ozean voller Leben. „Dich ...", sagte ich und er fing an zu lachen, hielt es wohl für einen Scherz. Ich schmunzelte, aber mir war nicht nach Lachen. Mir brannte die Frage auf der Zunge, ob er wirklich einen Menschen umgebracht hatte. Aber ich konnte sie nicht stellen. Ich kuschelte mich in seine Arme. An seiner Haltung merkte ich wie er wieder ernst wurde. „Lucette, ich weiß nicht wie viel mir mein Bruder geglaubt hat. Es könnte sein, dass er mir misstraut. Ich versuche dir zu helfen, aber verlass dich nicht zu sehr auf mich." Ich fragte mich auch wie viel ich mich auf alle um mich verlassen konnte. Manuel war ein Tiger und er konnte es nicht gut heißen, dass ich irgendwann zumindest versuchen müsste einige wichtige Männer und Frauen, die Fedon treu ergeben waren, loszuwerden. Er würde dabei sicher nicht tatenlos herumsitzen. Und es bestand jetzt umso mehr die Möglichkeit, dass er mir in den Rücken fallen würde, wenn nicht jetzt, dann später. Was ich auch vollkommen verstehen konnte, schließlich war es seine Familie, die er beschützen musste. Auch wusste ich nicht, ob ich die zweite Phase so durchziehen werde. Ich war keine Mörderin und die Wege und Ziele meines Großvaters rührten aus Rache für unsere Familie und unsere Ehre, aber wie viel hatten sie mit mir als Person zu tun? Ich verscheuchte diese Gedanken. Das waren Probleme, die mich erst viel später treffen würden. Das Wichtigste war nun, dass ich mich heute noch ins Königshaus begab, denn es gab keinen anderen Weg. Für mich als vom Schicksal vorherbestimmte Gefährtin durch das Gefährtenband, dem sich niemand zu lange entgegensetzten konnte. Und auch für unseren Plan, der unweigerlich in die erste Phase, dem Einleben und Freunde finden, ging. Aber das sah ich irgendwie nicht als wirklicher Teil des Plans. Es war mein Leben, das mein Großvater einen Plan nannte, aber es war mein Leben und ich bestimmte.

Es war schon später Nachmittag und gleich wäre die Schule zu Ende.

Manuel richtete sich etwas auf und ich rieb meine Augen. „Da du als meine Schwägerin ab sofort zur Familie gehörst, ist es meine Pflicht dich sicher nach Hause zu bringen.“ Ich wollte wirklich nur noch nach Hause, am liebsten in die Villa zu Leandra und Amber, aber das war nicht Lucette Worthys zu Hause. Nun wohnte ich in einer viel größeren Villa, zusammen mit meinem Bruder, nicht weit von unserem Unternehmen entfernt. Eingeschlossen zwischen der Villa meiner Schwester und ihres Gefährten und der unserer Eltern, in der auch Großvater offiziell wohnte, doch er verließ so gut wie nie den Rebellionsstützpunkt. Genau wie früher in Mailand. „Ja, das wäre toll." Wir verließen das Zimmer und gaben die Karte der Kellnerin zurück. Auf dem Schulparkplatz stand sein Motorrad. Manuel fuhr mich zur Villa. Da Kyle mich nun offiziell als seine Cousine zur Schule fahren konnte, hatte er das gleich heute Morgen gemacht, sodass ich mein neues Auto noch gar nicht hatte ausprobieren können. Gina wäre wohl ausgeflippt, wenn sie Kyle gesehen hätte, aber sie war wegen dem Regen nicht im Hof gewesen, wie die Meisten. Kyle hatte geschmollt, da er die Prinzessin nicht wieder angraben hatte können.

Manuel fuhr die Auffahrt zur Villa hoch und blieb direkt vor dem Eingang stehen. Er begleitete mich bis zur Tür. „Wir sehen uns dann am Abend, wenn du die Ratsversammlung sprengst." Ich lachte. „Da freu ich mich schon drauf." Da ging die Tür auf und ein überraschter Kyle stand vor uns. Er musterte Manuel misstrauisch. Schließlich wusste er, dass Manuel unserem Plan gefährlich sein konnte und vielleicht meine wahre Identität aufgedeckt hatte. „Ich kann ihm vertrauen", sagte ich entschieden und stellte mich vor Manuel. Argwöhnisch musterte er uns. „Wieviel weiß er?", fragte Kyle. „Alles. Ich habe ihm alles erzählt." Kyle musterte ihn nochmals. Die Stimmung war ziemlich angespannt. Manuel ließ sich von seiner Abwehrhaltung nicht beirren, sondern lächelte leicht. „Also, ich muss dann auch schon", sagte Manuel, ich wusste, er wollte mich umarmen, wagte es aber wegen Kyle nicht. Manuel ging schon wieder zu seinem Auto und winkte nochmal. Kyle starrte ihm nach, bis er weg war. „Du hättest ruhig etwas freundlicher sein können", warf ich meinem Bruder vor und zwängte mich an ihm vorbei in die Villa, in der ich mir die Schuhe von den Füßen riss. „Wie lange kennst du ihn? Vier Tage? Woher willst du wissen, dass du ihm vertrauen kannst?" „Ja, aber er hat mich nicht verraten." Ich erzählte ihm nun doch die Geschichte von vor dem Desaster im Hotel. Vom Fest der Menschen, von der Schlägerei und von Baron Basil. Von der Spritze und davon wie nahe ich wohl wirklich dem Tod gewesen war, erzählte ich nichts. Kyle wirkte trotzdem noch sehr misstrauisch. Ihm hatten die Spione meines Großvaters wohl nichts davon berichtet, aber ich war mir sicher, mein Großvater musste es trotz allem Beten meinerseits wissen. Wir gingen in den Essraum, in dem schon Clara, unsere Köchin und Mitglied der Rebellion, mir einen dampfenden Teller hinstellte. Ich begrüßte sie und bedankte mich und sie hatte es schon wieder eilig und verschwand. „Wo wolltest du überhaupt hin?", fragte ich Kyle, als ich mich hinsetzte. „Zum Stützpunkt. Großvater wollte mich sprechen." Er setzte sich neben mich. „Dann solltest du los", meinte ich mit vollem Mund, aber er schüttelte den Kopf. „Du bist doch gleich fertig, dann nehme ich dich gleich mit." Ich verschluckte mich fast und meine angespannten Nerven machten mich fertig. Schlimmer als vor jeder Klausur. Ich ließ mir extra viel Zeit mit dem Essen, aber schließlich waren wir doch zu Fuß auf dem Weg zum Unternehmen.

4

In der großen Halle waren alle da. Die Mitglieder der Rebellion wünschten mir viel Glück und ich verabschiedete mich mit vielen Umarmungen und Tränen. Die Zeit im Stützpunkt, egal welcher, waren für mich gezählt und viele waren für mich zu einer Art Familie geworden, da ich mit ihnen in Mailand aufgewachsen war. Sie alle konnte ich sicher eine ganze Weile nicht mehr sehen. Die Spione des Königs würden mich lange nicht aus den Augen lassen.

Da wäre Mikelson, ein kräftiger Mann, der wie ein Bodybuilder aussah und Unmengen an Tattoos besaß, seine Gefährtin Emma, eine zierliche Blondine oder auch Tom, ein Junge in meinem Alter, der als Waise zu uns gekommen war, da man seine Eltern als Verräter enttarnt und hingerichtet hatte. Auch Leandra, die sich die letzten zwei Wochen um mich und Amber gekümmert hatte, und Amber waren da. Leandra und sie hatten ihren Besuch im Kaffeeunternehmen als eine Besichtigung getarnt, die jede Woche in den Fabrikräumen und Ausstellungshallen stattfand. Die Familie und engsten Freunde versammelten sich in Großvaters Salon. Mein Großvater besprach mit uns noch alle Details. Vor einem gewissen Krieger Adalbert sollte ich mich in Acht nehmen. Er war neu an den Hof gekommen und Fedon, sowie zuvor seinem Vater grenzenlos treu ergeben. Er hatte den alten König wie einen Bruder geliebt. Ich hörte zu, auch wenn sich mein Kopf zu voll anfühlte, um auch nur die kleinste Information aufnehmen zu können. Ich war nur froh, dass meine Familie mich durch den Brauch zum Königshof begleiten würde. Die Eltern der Rolle Lucette Worthy wurden vor ein paar Tagen ermordet, weshalb Lucette erst zu ihrer Tante und den Rest ihrer Familie nach Rom gekommen war. In solchen Fällen, wenn es keine Eltern gab, oder diese sich weigerten die Erwählte zu ihrem Gefährten zu begleiten, konnten andere, bevorzugt aus der Familie, deren Platz einnehmen.

Amber ließ mich versprechen brieflich mit ihr in Kontakt zu bleiben und sie so früh wie möglich zu besuchen. Und ich wusste, auch wenn ich sie nicht sah, die anderen würden immer in meiner Nähe sein und mich beobachten.

Mikelson würde mich heute als mein Bodyguard begleiten. Dana und Kyle würden auch mitkommen.

Ich war so aufgeregt, dass meine Handflächen wie verrückt schwitzen. Ständig strich ich mir nervös die Haare aus dem Gesicht. Dana versuchte mich zu beruhigen und sie und Mutter erklärten mir, dass ich überhaupt keinen Grund hatte mich so zu fühlen. Es soll das schönste Gefühl überhaupt sein, endlich seinen Gefährten zu sehen und ich wusste sie hatten Recht. Doch auch sie sagten, dass es ihnen nicht besser ergangen war, als mir.

Auch wenn sie wussten, dass ihr Gefährte sie bedingungslos lieben würde, waren sie besorgt nicht schön, schlau, nicht gut genug zu sein. Sie beide traf es damals unvorbereitet. Dana war mitten in ihren Prüfungen als Spionin. Als sie ihr Gefährtenzeichen erhielt, war sie vor Freude gleich Mal durch die halbe Stadt gerannt. Ihr Zeichen offenbarte, dass es ein alter, mächtiger Vampir war, sogar älter als Großvater. Das Alter sah man an der Größe, die Macht erkannte man durch die intensiven Farben des Zeichens. Ihres war tellergroß, knallrot und bestand aus Mustern, Linien und Formen, die gleich wie die Aura sein Wesen ausmachten.

Sie erzählte es gleich der Familie und es traf uns total unvorbereitet, dass sie in so jungen Jahren schon einen Gefährten haben würde. Noch am selben Abend hatten sich Dana, Kyle, meine Eltern und Großvater auf dem Weg gemacht und waren dem inneren Gefährtenband Danas gefolgt. Amber und ich mussten im Stützpunkt bleiben, da sie offiziell als Familie Worthy auftreten würden und ich und Amber in dieser Familie laut Großvaters Lügen, in den Vereinigten Staaten lebten.

Die Spur des Gefährtenbandes funktionierte ausgezeichnet, da Dana sowie auch ihr Gefährte vollwertige Vampire waren, wie es in den meisten Fällen war. Ihr Gefährte David wartete schon auf sie, denn wie es Brauch war, besuchte die Gefährtin, sobald sie ihr Zeichen auf der Schulter entdeckte, mit Eltern und oftmals auch Geschwistern den Erwählten. Normalerweise konnte dies, wenn der Gefährte meilenweit entfernt war oder es sonstige Probleme für die Gefährtin gab den Weg zu ihm zu finden, ein paar Tage dauern. Erst nach wohl einer Woche, wenn sie immer noch nicht da war, würde der Gefährte sie suchen, denn auch er konnte durch das Band seine Gefährtin finden. Was wohl mein Gefährte dachte, als es keine Spur gab, mit der er seine Erwählte finden konnte? Denn bei mir als V.B. war die Spur nutzlos. Sie war nur unterschwellig aktiv und nicht wie ein Peilsender, der die Richtung angab.

Dana telefonierte während der Autofahrt die ganze Zeit mit mir und ich musste sie immer wieder ermutigen, damit sie keine kalten Füße bekam. Die Autofahrt war schlussendlich kürzer, als sie alle dachten, denn sie kamen nach zwanzig Minuten Fahrt an. Und wem das Herrenhaus gehörte, wussten Vater und Mutter nur zu gut. Dana war plötzlich still am Handy geworden und man hörte meine Mutter. Sie versuchte Dana Mut zu machen und ich wusste am Handy erst, was los war, als Kyle meine Schwester beglückwünschte, dass es David war. Zum Schluss, hatte mir Dana erzählt, wäre ihr erstes Treffen als Gefährten das Schönste gewesen, was ihr hätte passieren können. Ständig starrten sie sich sprachlos in die Augen und konnten dem Gespräch, das meine Familie versuchte am Laufen zu halten, nicht folgen. Sie gaben es auf und ließen die beiden für ein paar Stunden für sich. Dana wollte zum Schluss gar nicht mehr mit nach Hause kommen, doch ihre Pflicht als angehende Spionin ließ es nicht zu. Trotzdem bettelte sie und nahm telepathisch Kontakt zu Großvater auf, der sie jedoch auf den Boden der Tatsachen stellte: Sie durfte die Prüfungen nicht verhauen, sonst würde sie noch ein Jahr warten müssen, bis sie offiziell und legal für die Familie Worthy arbeiten konnte. Sie gab nach und David ließ sie gehen. David, als langer Freund Großvaters und über 400 Jahre alter Vampir kannte noch die Zeit, in der die Dragons regiert hatten. Er war ein treuer Anhänger der Familie und als er erfahren hatte, dass Großvater Pius noch lebte, war er gleich der Rebellion beigetreten und hatte ihm die Treue geschworen.

Ich atmete tief durch, wappnete mich für das Kommende, versuchte mir aber nicht zu viele Gedanken zu machen, was mir durch Danas Geplapper und Kyles Gezanke auch einigermaßen gelang. Mikelson erzählte mir rührend wie sie und seine Gefährten sich auf einer Party kennen gelernt hatten und zusammen gekommen waren, Jahre bevor ihre Gefährtenzeichen aufgetaucht waren. Niemand sprach noch von Dingen, die ich für den Plan noch unbedingt wissen musste oder Sachen, die es zu beachten galt und dafür war ich dankbar. Mit mir in Vaters Mustang fuhren meine älteren Geschwister und Mikelson, als mein Bodyguard. Mikelson fuhr, Kyle war auf dem Beifahrersitz und Dana neben mir und hielt meine Hand. Meine Eltern und Großvater fuhren vor uns in Großvaters Mercedes. Ich trug die Sachen, die für die Rolle Lucette Worthy selbstverständlich waren, das hieß einen roten Blazer, darunter ein schickes, weißes und rückenfreies Shirt, schließlich wollte ich, um zu beweisen, dass ich die Erwählte war es nicht riskieren, dass ich mich vor versammelter Masse ausziehen musste, enge Jeans und rote Ballerinas. Ich war nicht geschminkt, denn ich hasste das Zeug und auch in meiner neuen Rolle konnte ich es nicht über mich bringen mir jeden Tag was ins Gesicht zu spachteln. Ich fühlte mich wohl in den Klamotten, denn ich wusste, es war das, was man von einer Unternehmenstochter erwartete. Das stellten wir heute geschlossen dar: Eine reiche, entschlossene Unternehmerfamilie, die die Erwählte zu ihrem Gefährten brachte. Die Minuten flossen dahin, es war nicht weit, höchstens eine viertel Stunde, das wusste ich und ich war schon so oft am Königshaus vorbei gegangen. Es war vertraut und doch alles so neu. Mit der Zeit wurde viel daran verändert. Vor ein paar Jahren wurde gründlich renoviert, seitdem die Vampire sich offenbart, die Welt nicht mehr nur aus dem Untergrund regiert und alle Menschen unter sich, für ihre Harem, aufgeteilt hatten. Da es sehr viel mehr Menschen als Vampire gab, dauerte alles ein wenig länger als geplant. Der Grund für die Offenbarung war eigentlich lächerlich. Eine Gruppe terroristischer Vampire hatte zu viel Blödsinn angestellt, um es noch vertuschen zu können. Die Menschen hielten Vampire für Monster, auch wenn einige versuchten ein harmonisches Miteinander anzustreben. Aber als die Wahrheit raus war, hielten viele junge Vampire es nicht mehr für nötig ihren Blutdurst im Zaun zu halten. Die Menschen, die sich in dieser schweren Krise verbündet hatten und viele wehrlose Vampir-Blut umgebracht hatten, erklärten den Vampiren den Krieg. Wie es kommen musste, besiegten die Vampire die Menschen und unterjochten sie. Ein paar Wenige waren noch frei, in den Einöden, aber das waren Ausnahmen. Vampire waren überall auf der Welt und waren klar im Vorteil und der zentrale Machtpunkt konzentrierte sich hier, in Rom. Der Vatikan war ein Schmuckstück. Gold und Diamanten überall. Der Stein Tigerauge zierte die Säulen um den Petersplatz. Die Engelsstatuen waren bemalt worden. Die neuen Gebäude, um die das Königshaus gewachsen war, waren neue Wohntürme, die mit Brücken miteinander verbunden waren. Mein Herz klopfte wie wild, als wir auf dem Platz hielten. Man zielte mit Gewehren auf uns, als die zwei Wagen unangemeldet stehen blieben. Es war klar, dass wir ohne Audienz so nicht weit gekommen wären. Großvater stieg aus und die Schützen erkannten ihn und steckten ihre Waffen wieder weg. Die Audienz war erst für vier Stunde angemeldet, eigentlich. Gerade fand noch die Ratsversammlung statt und da durfte niemand stören. Ich öffnete die Tür und stieg wie der Rest aus. Ein untersetzter Mann in Krawatte und mit Brille und eine attraktive, brünette Frau kamen auf uns zu gerannt und kamen vor Großvater zum Stehen. Er und die Frau schüttelten sich die Hände. „Sie sind früh", behauptete die Frau, die ich gleich durch ihr Outfit, Bleistiftrock und Bluse, als Sekretärin einschätzte. Großvater zog die Brauen hoch. Der Kerl wirkte freundlich und auch nervös, was ich, wenn man meinem Großvater gegenüber stand, gut verstehen konnte. „Wir kommen doch nicht ungelegen?" „Nein, nein", meinte der Mann hastig, die Frau aber ließ ihn mit einer Armbewegung verstummen. Er tat mir leid. „Es findet gerade die Ratsversammlung statt, währenddessen ist der Zutritt für Unbefugte verboten. Außerdem ist die Audienz nur für eine Person beantragt." Sie musterte unseren Haufen vielsagend. „Das mag stimmen, doch wenn wir die Erwählte bringen, dürfte das alles zweitrangig sein." Die Sekretärin musterte uns und ihr Blick blieb an meiner Schwester hängen. „Die Frauen, die meinen jene zu sein, kommen alleine, zu Fuß und stellen sich in der Empfangshalle an, wie alle anderen auch", berichtigte sie uns. Sie wollte schon Dana am Ärmel greifen und betätigte den Knopf für das Sicherheitspersonal, um den Rest von uns zu beseitigen, doch Dana entwischte ihr und Kyle stellte sich vor sie. Er knurrte warnend. Der untersetzte Mann, Gert stand auf seinem Namensschild, nahm unterdessen seine Brille ab und schüttelte Großvater die Hand. „Kommen Sie alle mit", bestimmte er freundlich und zur Empörung der Frau folgten wir Gert, der sie ignorierte und auch die Sicherheitsleute kehrten wieder um, als er ihnen: „Fehlalarm", entgegen rief. Durch eine Seitentür kamen wir in einen breiten Gang und Großvater und Gert verabschiedeten sich. Wir spazierten unbekümmert durch die Gänge und lösten wohl jeglichen Alarm aus, den das Gebäude besaß. Neue Wachleute kamen auf uns zu gerannt, doch Großvater und wir nahmen einen versteckten Korridor, gingen um ein paar Ecken und kamen in einen Gang, der uns nur noch vom Audienzsaal trennte. Inzwischen waren die Wachen herbeigeeilt und umzingelten uns. Die Türen des Audienzsaales öffneten sich und heraus kamen Hochadlige, die dem Rat angehörten. Sie waren wohl genauso schaulustig, wie alle Wesen und wähnten sich durch die Wachen sicher. Dabei hatten sie vielleicht Recht, aber wir hatten auch nicht die Absicht sie zu vermöbeln. Zum Schluss kamen auch die königlichen Geschwister Helena und Manuel hinaus, ihr Cousin Tobias, ihr Onkel Herzog Hannes und ihre Tante Gräfin Rosalie. Manuel wandte sich ab und seine Schultern bebten kurz, aber er hatte sein Lachen schnell im Griff. Der Herzog und sein Sohn blickten grimmig, Helena verängstigt. Der König trat an sie alle vorbei. „Was ist hier los?", verlangte König Fedon zu wissen. Seine Stimme ließ mich erzittern und sein Anblick intensivierte dieses Gefühl. Er stand gerade, seine Arme waren verschränkt und sein kalter Blick musterte jeden von uns. Seine Augen waren so kalt wie ein Gletscher und sein Haar wieder adrett frisiert, wenn auch Ringe unter seinen ausdrucksstarken Augen lagen und er den müden Eindruck nur schwer überspielen konnte. Großvater stand seitlich vor mir, Dana und Kyle hinter mir, meine Eltern auf meiner rechten Seite und Mikelson auf meiner linken. Großvater lächelte einnehmend und hob beschwichtigend die Hände. „Wir, die Familie Worthy, bringen nach altem Brauch die Erwählte zu ihrem Gefährten." Gemurmel setzte ein und dann erschallte ein spöttisches Lachen. Hinter Fedon tauchte eine kleine, schwarzhaarige Frau auf, die mit ihrem Aussehen sehr girliehaft und billig aussah. Sie hielt sich an Fedons Arm fest, ging auf Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss. „Ich bin seine Gefährtin", sagte sie im Brustton der Überzeugung. Ich war bleich geworden und schwindlig, musste mich an Mikelsons Arm festhalten „Alles in Ordnung?", flüsterte er besorgt und ich nickte. Wie konnte so etwas geschehen? Wie konnte er, wenn er die eine nicht gleich fand gleich zur Nächsten gehen? Wie hatte er mich nicht erkennen können?

„Schatz, schick sie weg, das sind offensichtlich Betrüger und dreiste hinzu." Großvater ging einen Schritt auf sie zu, sofort richteten die Wachen ihre Waffen auf ihn. Er blieb stehen. „Meine Liebe, ich möchte Sie nicht beleidigen, aber Sie geben sich als etwas aus, das Sie nicht sind." „Wollen Sie damit etwa sagen ich wäre hier die Betrügerin?", quiekte sie. „Beweisen Sie das Gegenteil." Der König war vorgetreten. „Schluss damit! Wer von euch soll es sein?" Er blickte durch unsere Runde, an Dana und Kyle vorbei. Mikelson schob mich vor sich, neben Großvater. Fedons Blick blieb auf mir haften und meiner sank in seine Augen, in denen Eis in Gletscherseen floss. Sie waren tief, aber ich wusste er würde mir so nicht glauben. Er fühlte es nicht. Oder wollte nicht. Ich wollte gerade meinen ganzen Mut zusammen nehmen und meinen Blazer ausziehen, als der König gelangweilt weiter sprach: „Zu den Anderen mit ihr!" Zwei Wachen packten mich und die Ärmel des Blazers, sie meinten wohl, ich hätte eine Waffe. Mikelson und Großvater schüttelten ihre Hände von mir ab, aber mein Blazer war inzwischen schon zerrissen und zu Boden gesegelt. „Dreh dich um, Kleine", sagte Großvater ermutigend und er drehte sich zum König um. „Seht selbst, Eure Hoheit." Der König sah entsetzt aus, ein Gefährtenzeichen war etwas sehr Privates, das erst ab dem ersten Biss an die Gefährtin anderen gezeigt wurde. Deshalb hatte er alle, die sich als seine Gefährtin ausgegeben hatten, selbst und in einem privaten Raum überprüft, ob das Zeichen identisch mit seinem war. Aber das war wohl das Kleinste meiner Probleme. Ich wollte gerade die Worte Großvaters befolgen, als mich Dana noch davon abhielt. Überrascht sah ich sie an. Sie schüttelte den Kopf. „Sag etwas." Ich verstand nicht genau, was sie meinte, doch wenn sie es für so wichtig und richtig hielt und deswegen sogar gegen Großvater handelte, musste es einen Grund geben. Ich wandte mich wieder vollends nach vorne.

 „Eure Hoheit", sagte ich sanft, schaffte es aber nicht ihm in die Augen zu sehen. Als ich es doch langsam wagte, da alles still war, war sein Gesicht weiß. Er entzog der Schwarzhaarigen seinen Arm, trat ein paar Schritte vor, mit furchteinflößend dunklen Augen und hauchte befehlend: „Sag das noch Mal."

„Eure Hoheit", wiederholte ich und er packte plötzlich in meinen Nacken. Er legte aber nur, in v.V.-Geschwindigkeit die Jacke seiner Uniform über meine Schultern, wenn auch ziemlich grob. „Bringt sie in meine Gemächer." Die Wachen standen zunächst nur verwirrt herum, aber als Fedon: „Jetzt", brüllte und seine Aura ausbrach und alle einschüchterte, kamen sie auf mich zu und nahmen meine Arme, diesmal sanfter. Sie zogen mich den Gang hinauf, an die Ratsmitglieder vorbei. „Was ist nun mit der Versammlung?", ergriff eine Dame mit strengem Dutt, verärgert das Wort. „Ist auf morgen verlegt", antwortete Baron Basil, den ich bis jetzt noch gar nicht bemerkt hatte und beschwichtigte die Dame, die aufbegehrte. „Schickt alle Bewerberinnen nach Hause", hörte ich den hohen Beamten, Will van Heven, sagen. Der König befahl etwas und meine Familie folgte Gert, der plötzlich wieder da war. Fedon begleitete sie. Die Wachen führten mich um eine Kurve und die gesamte Umgebung sah schon viel bewohnter aus, wenn der Eindruck auch bloß von den frischen Blumen und den liebevollen Dekorationen und Bildern herrührte. Sie führten mich links eine Treppe hinauf, den langen Gang entlang und dann war da eine große Tür. Sie führte in einen Aufzug. Wir fuhren nach ganz oben, in eine gläserne Koppel, von der aus wir uns nach rechts wandten und die komplett gläserne, quadratische Brücke, überquerten. Dann standen wir wieder vor einer Tür. Eine der Wachen holte eine Karte hervor und öffnete die Tür. Sie begleiteten mich in ein offenes und sehr geräumiges Wohnzimmer, drehten um und verließen ohne ein Wort den Turm. Die Tür machte klick. Natürlich war das Erste, das ich tat, überprüfen, ob ich eingesperrt war. Wie eine Irre rüttelte ich an der Tür, die aber nicht aufging. Seufzend wandte ich mich wieder zum Wohnzimmer und betrachtete alles. Wohnzimmer rechts mitsamt Küchenzeile hinten links und daneben ein Esstisch. Modern geschnitten, fast schon steril.

Ich seufzte. Toll, alles ging schief, nichts nach Plan. Wieso sperrte er mich hier ein? Ich sollte mit ihm und meiner Familie dort unten sein und mit ihm reden, wie es der Brauch vorgab, was deswegen ursprünglich so war, damit meine Familie entscheiden konnte, ob sie ihn als meinen Gefährten akzeptierte, oder mich wieder mitnahm. Dass er den Brauch so mit Füßen treten würde, hätte ich nicht gedacht. Und so wusste ich nun auch nicht, was Kyle oder Dana, Mutter, Vater oder Großvater von ihm persönlich hielten. Wie sie mit ihm zurechtkamen, mit ihm sprachen. Arschkriechen käme nämlich nicht in Frage. Ich überlegte wie ich hier abhauen konnte, um doch noch alles in rechte Bahnen zu lenken, als mir einfiel, dass ich dadurch nur großen Zorn auf mich laden würde, den er sicher ohne zu Zögern an mir auslassen würde. Immerhin war er beim Anpacken, wenn auch sanft beabsichtigt, ziemlich grob. Bei dem Gedanken, schmiss ich seine Uniformjacke in eine Ecke. Scheiß drauf. Ich wollte hier raus. Ich musste zeigen, dass ich eigenen Willen hatte und mich nicht herumkommandieren ließ. Er als mein Gefährte konnte mir nichts tun, sonst verwirkte er jedes Recht auf mich. Ich inspizierte das Wohnzimmer auf weitere Ausgänge, fand aber nur, wie ich bereits durch die Pläne, die mich Großvater Pauken ließ, wusste, eine Treppe hinunter, die in ein Bad führte, eine Treppe hoch, die in ein Schlafzimmer und nochmals eine hoch, die wieder in eine Glaskoppel führte. Das waren die Wohntürme. Unter dem Bad befanden sich noch weitere Räume, die von den Bediensteten als Schlafräume oder Arbeitsräume genutzt wurden, aber diese begannen erst fast 20 Meter unter dem Bad. Ganz unten, noch unter der Erde, waren die Räume seines Harems.

Ich versuchte es wieder an der Tür, benutzte ein Messer am Kartenschlitz und wackelte damit hin und her, aber es brachte nichts. Ich konnte sowas nicht und hätte nie gedacht das eines Tages zu gebrauchen. Ich gab es an der Tür auf und öffnete ein Fenster. Die Aussicht war toll, fast so toll wie jene aus dem Cesar-Hotel. Die Sonne stand tief und würde jeden Moment untergehen. Plötzlich hörte ich die Tür klicken, sie ging auf und zwei Bedienstete in gelben Livreen kamen herein. Die eine, eine Blonde, trug einen Koffer und ich erkannte, dass es meiner von zu Hause war. „Entschuldige, warum sind meine Sachen hier?" „Anordnung des Königs", kam es unfreundlich. Die andere, eine Brünette, trug ein Kleid am Bügel und ein schwarzes Köfferchen und hängte das Kleid an einen Haken an der Wand und stellte das Köfferchen auf einen Tisch. „Die Familie isst in einer Stunde zu Abend. Bis dahin müssen wir Euch vorzeigbar machen." Die beiden standen nebeneinander und falteten die Hände. „Ihr solltet duschen gehen. Findet Ihr Euch im Bad zurecht?" „Ja, ich denke schon", meinte ich, drehte mich aber in meiner genauso schon schicken Kleidung. „Kann ich nicht so gehen?" „Nein, alle tragen ihre besten Kleider zur Feier des Tages." Ach, so war das. Zögernd wollte ich mir Unterwäsche aus dem Koffer holen, aber die Blonde schien meine Gedanken zu erraten und hatte von irgendwoher gewagte Spitzenunterwäsche hervorgezaubert, die sie mir reichte. Skeptisch sah ich sie mir an. Ein durchsichtig-roter Hauch von nichts. „Nicht sein Ernst", sagte ich, die beiden zuckten aber nur mit den Schultern. „Auf gar keinen Fall." Das wäre ja so, als wollte ich mich ihm heute darbieten. Und das, obwohl ich ihn noch nicht einmal kannte. Nein, das konnte er vergessen, ich würde ihm nicht nachlaufen, oder gar um Aufmerksamkeit betteln. Und für solche Gedanken hatte ich weder die Geduld, noch die Nerven. Ich suchte mir meine immerhin noch sehr sexy Unterwäsche raus, die aber zumindest etwas verdeckte und tappte runter ins Bad. Das Bad hatte die gleiche Größe wie das Wohnzimmer, die ganze Länge und Breite des Turms einnehmend. Es gab steinartige Fließen, an einer Wand floss Wasser, bestrahlt durch farbiges Licht, hinunter. In der linken Ecke stand eine riesige, begehbare Dusche, in der rechten war eine runde Badewanne in den Boden eingelassen. Die rechte Wand war über den zwei Steinwaschbecken verglast. Schnell huschte ich in die Dusche, bevor ich das alles noch mehr bestaunte. Die Dusche war voll automatisch, gab Schaum, Shampoo, Haarmittel. Sie war toll. Nach gefühlten zehn Minuten war ich fertig und nahm eines der kuscheligen, weißen Handtücher und trocknete mich ab. Ich nahm meine schwarze Unterwäsche, zog sie an, wickelte mich ins Handtuch und ging wieder hoch. Die Blonde hatte inzwischen ihr Köfferchen offen auf dem Esstisch gelegt, die Brünette stand daneben mit Föhn und Bürste. Du meine Güte. „Kann ich das nicht selbst machen?", fragte ich hoffnungsvoll. Die beiden schüttelten die Köpfe. „Anordnung des ..." „Jaja, ich weiß schon." Die Blonde holte das Kleid aus seiner Hülle. Es war ein rotes Kleid, hinten hoch geschlossen und vorne in einem tiefen Herzausschnitt. Figurbetont und knielang. „Ist das nicht ein bisschen zu ..." Ich suchte nach Worten, „verrucht?" „Rot ist des Königs Lieblingsfarbe." Die Blonde hob beide Augenbrauen. „Was, wenn ich nein sage?" Sie sahen sich an. „Dann werden wir etwas anderes finden. Aber die Zeit drängt. Sarah?" Die Brünette verließ hastig den Turm. „Setzt Euch", sagte die Blonde. „Ich bin Lucette", stellte ich mich vor. „Ich weiß. Ich bin Danika und meine Kollegin heißt Sarah. Wir werden dich als persönliche Stylisten bei jedem wichtigen Anlass zurechtmachen." Ich nickte und setzte mich auf den Stuhl, der vor ihr stand. Sie kämmte meine glatten Haare. Die Brünette kam schnell wieder, bevor ich auch nur einen Satz formulieren konnte und übernahm meine Haare. Währenddessen wollte mir Danika etwas ins Gesicht spachteln. „Muss das sein?", fragte ich unsicher und sie sah mich einfach langsam nur genervt an, also biss ich die Zähne zusammen und ließ sie machen. „Du hast sehr schöne Augen", lobte sie mich. „Und einen unglaublich warmen Hautton." „Ich bin ja auch noch ein Vampir-Blut." Danika und Sarah erstarrten. „Das solltest du aber niemandem verraten", riet Sarah mir und ich nickte. Ich wusste, eigentlich hatte sie Recht und es wäre sicherer. Aber es würde sowieso herauskommen. Spätestens bei der Frage wo ich so lange gesteckt hatte und ich allen unsere zusammengebastelte Geschichte auftischte. Aber es war wohl besser es nicht gleich herumzuposaunen, denn ich wollte keinen auf die Idee bringen mich zu töten, da ich noch sehr einfach umzubringen war. Wie viele wohl noch mit der Hoffnung herum rannten, dass sie doch noch Königin werden oder die Belohnung einsacken konnten? Der König hatte es schließlich noch nicht offiziell gemacht und vermutlich würde er erst Mal noch mein Zeichen sehen wollen. Das neue Kleid war immer noch rot, was mit meiner Haut sehr gut harmonierte, jedoch hinten, sowie vorne hoch geschlossen, ab der Taille, an der ein rubinenbestickter Gürtel lag, wurde es fallend und ging bis zu den Fußknöcheln. Nur am unteren Rücken hatte es einen Ausschnitt, aber da mein Zeichen von meiner rechten Schulter bis über mein Schulterblatt verlief, war es verdeckt. Meine Haare lockte Sarah leicht und Danika verpasste mir noch etwas Rouge, rosanen Lidschatten und Wimperntusche. Den roten Lippenstift lehnte ich trotz Allem ab. Das wäre doch zu viel des Guten gewesen. Sarah legte mir noch ein Metallband mit Rubinen um, das direkt am Hals anlag. Da die Ärmel des Kleides nur die Schultern verdeckten, legte sie mir noch einen Armring am rechten Oberarm im gleichen Stil um. Fertig war ich und ich war es gewiss nicht, die mich da aus dem Spiegel ansah. Dieses Mädchen sah einfach toll aus. Danika erzählte mir von Nora, dem schwarzhaarigen Weib, das sich als seine Gefährtin ausgegeben hatte. Sie war von hohem Adel und behauptete, dass sie fast gestorben sei, als der König die Stadt verlassen wollte. Niemand wusste etwas von der Flucht des Königs und alle waren verwundert. Nur der König schickte sie dann in eines der privaten Gemächer, um ihr Zeichen zu überprüfen. Doch sie ließ ihn nicht.

„Man hat gehört, dass der König schon nicht mehr an die Liebe des Gefährtenbandes glaubte, an das unwiderstehliche Begehren. Deshalb ließ er fast Jede in die privaten Räume, wenn sie auch nichts in ihm auslöste." „Wobei das bei seinem Gesichtsausdruck schwer zu sagen ist", warf Sarah ein.

„Der Herzschlag lügt nicht. Erst als Nora dies mit jener Nacht erwähnte, schlug sein Herz schneller, aus Aufregung oder Nervosität."

„Vielleicht ja nur, weil er nicht dachte, dass jemandes Spione so gut sind, um ihn bei dem verdeckten Verlassen der Stadt zu beobachten."

„Oder weil er dachte er wäre mit ihr einen Schritt näher an seiner Gefährtin."

„Dachte er sie wäre es?", fragte ich und mein Herz zog sich zusammen.

Danika und Sarah lachten. „Nein, ganz bestimmt nicht. Wohl eher dachte er, dass die Erwählte es ihr verraten hatte und Nora noch in Verbindung zu ihr steht." Mein Herz beruhigte sich ein wenig. „Wie war dieses Gefühl, als er sich immer weiter entfernte?", wollte Sarah wissen, doch Danika haute ihr auf die Finger. „Sowas fragt man doch nicht. Am besten vergessen wir das." Sarah sah betreten aus, aber ich sah auch ihre Neugier. Ich sagte die halbe Wahrheit. „Zu diesem Zeitpunkt war ich noch in Mailand. Erst vor zwei Tagen bin ich hier her gekommen, da meine Eltern verstorben sind. Aber mein Zeichen brannte schon seit einer Woche und das zog sich den Kopf hinauf. Jedoch konnte ich meinen Gefährten nicht finden, da gab es keine Spur, der ich hätte folgen können, was vielleicht daran liegt, dass ich meine Transformation noch nicht hinter mich habe. Natürlich habe auch ich davon gehört, dass der König seine Gefährtin suchte und mit der Zeit kam es auch hin, aber ich hätte nie gedacht, dass ich es sein könnte. Als wir nach Rom fuhren, damit ich bei meinen Verwandten leben konnte, wurden die Schmerzen weniger und in Rom hörten sie dann ganz auf." Meine Stimme war leiser geworden. „Dann ist ja gut, dass du jetzt hier bist", sagte Danika und drückte meinen Arm. „Ja."

„Dann hoffen wir mal, dass seine Stimmung jetzt wieder besser wird", meinte Sarah grinsend und wir machten uns auf den Weg.

 

Die erste Frage, die ich ihm stellen wollte war die, weshalb er meinen Koffer herbringen ließ. Ich weiß, kein guter Anfang einer interessanten Konversation, aber es war mir wichtig, dass sich meine Befürchtungen nicht bewahrheiteten. Meine Brust fühlte sich eng an. Danika und Sarah begleiteten mich über die Brücke und zurück zum Hauptwohnhaus. Wir fuhren in den ersten Stock. Vor dem Speisesaal standen zwei Wachen. Sie öffneten die Türen gleich, als sie uns sahen. „Viel Glück", wünschte mir Danika und Sarah drückte mir zum Zeichen die Daumen. „Danke", sagte ich und wäre am liebsten mit ihnen mitgegangen, als sie wieder zurückgingen. Ich atmete tief durch. Jetzt oder nie.

Der Saal war riesig. Überall fand man Fresken an den Wänden und der Decke. Alte biblische Motive aus der Menschenzeit. Es gab drei Tafeln, an der Stirnseite eine quer, die anderen zwei längs zum Eingang hin. Viele Adlige waren anwesend, sie saßen an den Tischen, mit schönen Klamotten, die meisten in schwarz, gold und gelb, um wohl den Tigers mit ihren Hausfarben zu schmeicheln. Die adligen Krieger und Kriegerinnen trugen ihre grau-blauen Uniformen und die adligen Spione ihre schwarz-violetten Körperanzüge. Nicht-Adlige gab es hier kaum. Ich entdecke als Einzige den Hofmaler, den Hofmusiker und den Hofarzt, die man an ihren Hüten erkannte. Die Tafel an der Stirnseite war voll. Unsicher ging ich durch die ganzen Menschen, aber hey, ich war Lucette Worthy, ich sollte fröhlich und selbstzufrieden sein. Ich lächelte und sah zu Boden, während ich durch den Gang zwischen den Tafeln ging. Ich wusste, die Vampire starrten mich an. Als ich wieder hoch sah, war da der Blick des Königs, der sich in meinen bohrte. Mit offenem Mund blieb ich stehen und ich wusste, jeder konnte hören, wie mein Herz anfing zu hämmern. Ich schluckte und ging weiter, bis ich vor der Tafel stand. Helena und Manuel saßen rechts neben ihm, dann kam die Königsmutter, die mich abschätzend betrachtete. Neben ihr saß ihre Schwester, Gräfin Rosalie. Zum Schluss Herzog Hannes und Tobias. Helena wirkte gefasst, aber auch für sie musste es ein Schock gewesen sein. Bestimmt hatten ihre Freundinnen und sie, nachdem sie Lucette Worthys Stand herausgefunden hatten, über mich abgelästert. Auf der anderen Seite des Königs war ein Platz frei, dann kam ... Kyle! Und daneben Dana, Mutter, Vater und Großvater. Ein gutes Stück erleichtert blickte ich wieder zum König. Er war aufgestanden und alle Anwesenden taten es ihm gleich. Er hob sein Glas. „Ich möchte darauf anstoßen, dass sie endlich zu mir gefunden hat. Auf dass sie immer an meiner Seite bleibt und uns mit ihrer Schönheit bezaubert. Auf sie, meine Gefährtin Lucette Worthy." „Auf Lucette Worthy", ertönte es im Chor und man hörte Gläser klirren. Fedon trank aus dem polierten Weinglas, das mit etwas Rotem, Blut, gefüllt war. Sein unergründlicher Blick blieb währenddessen auf mir haften. Mein Platz war neben dem König und ich war froh, dass ich auf den Weg dahin nicht stolperte oder in Ohnmacht fiel. Aber ich lächelte wieder, meine Mutter berührte mich an der Hand, als ich an ihr vorbei ging und lächelte auch. Meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder trugen die hautengen Spionageanzüge. Großvater und Vater trugen Kriegeruniformen. Sie hatten auch sie zurecht gemacht und sahen toll aus. Als ich mich setzen wollte, schob Fedon mir den Stuhl nach hinten. Ich setzte mich. „Danke", sagte ich und ich sah, dass seine Hand an der Lehne erstarrte. Gleich darauf setzte er sich wieder. Ihn so neben mich zu spüren, zu wissen, dass er es war, der der Eine war, den ich wollte, den ich immer wollen würde. Den ich über mein Leben lieben sollte. Alles an ihm brachte mich durcheinander. Es machte mich verrückt, ihn so nahe zu wissen, ohne ihn zu berühren. Seine bloße Gegenwart machte mich kirre. Ich fühlte mich so wohl und doch so aufgekratzt wie noch nie. Ich starrte auf mein Glas und es schien, als wären die Ränder meines Blickfeldes schwarz.

Deshalb bekam ich auch nicht mit, als mein Bruder neben mir etwas sagte. Erwartungsvoll sah er mich an. „Wie bitte?", fragte ich durcheinander. „Du siehst toll aus", machte er mir ein Kompliment, aber ich sah auch das freche Glitzern in seinen Augen. Das kann ich nur zurückgeben Ich grinste und er rollte mit den Augen. Dann schmunzelte er aber und sah an mir vorbei. Ich folgte seinem Blick. Fedon sah mich an, als wäre ich eine Außerirdische. Sein Gesicht war so nah und er nahm alles ein, meinen Blick, meine Gefühle, mein Denken, mein Sein. „Entschuldige", murmelte er und wandte den Blick ab. Seine Kiefermuskeln traten hervor, als er schluckte. Schon okay, wollte ich sagen, brachte aber kein Wort heraus. Stattdessen konnte ich meinen Blick nicht von ihm wenden. Sein Profil mit der geraden Nase, die Wangenknochen und langen Wimpern. Das stolze Kinn. Ich wollte etwas sagen, irgendetwas, aber meine Stimme würde ihn nur wieder aus dem Konzept bringen. Ich wartete also, bis er etwas sagen würde. Da kamen auch schon Kellner aus den Seitentüren und stellten die Teller vor den Gästen ab. Es war eine Tomatensuppe. Einer der Kellner füllte meinen Kelch, ohne zu fragen, mit etwas Rotem. Angewidert schaute ich darauf. Ich hatte ja nichts dagegen, dass andere es tranken, aber ich als Vampir-Blut brauchte es noch nicht und würde es auch nicht anrühren.

„Das ist Wein", erklang leise eine warme Stimme und Fedon sah mich sanft an, aber ich konnte in seinem Blick nicht lesen. „Vampir-Blut bekommen bei uns kein Blut." Ich sah Manuel, der lachend mit seiner Schwester sprach und das rote Zeug runterkippte. „Schau." Fedon schob sein Glas neben meines und man erkannte, dass seines trüb war, während die Flüssigkeit in meinem klar und dunkelrot leuchtete. Ich war erleichtert. „Achso", sagte ich und wieder sah mich Fedon so seltsam an, als wolle er mich ergründen, was ich fragend erwiderte. Er schüttelte schief lächelnd den Kopf. „Deine Stimme geht mir durch und durch." Wieder sah er mich mit diesen blauen Augen an, aus denen das Eis geschmolzen war. Er ging mir durch und durch. „Iss", befahl er und in mir keimte leiser Ärger. „Sonst wird es noch kalt", erklärte er. Ich nickte und probierte die Suppe. Sie war würzig und gut. Aber heiß. Ich verbrannte mir die Zunge, ließ es mir aber nicht anmerken. Zumindest glaubte ich das, bis Kyle leise sagte: „Geht es dir gut? Du bist ganz rot im Gesicht." Ich musste vor Lachen prusten und hob schnell die Serviette an den Mund. Ich schüttelte den Kopf. „Ja. Die Suppe ist nur etwas heiß."

Der König sah mich von der Seite mit einem intensiven Blick an. Meine Hand fing an zu zittern. Aber nicht nur er war es, der mich mit Blicken durchbohrte. Die Schwarzhaarige, in einem roten Kleid, Nora, versuchte mich mit Blicken zu erdolchen. „Kümmere dich nicht um sie", raunte Fedon und mir lief ein Schauer über den Rücken. Ich nickte und löffelte die Suppe weiter. Sobald ich fertig war, wurde auch schon der nächste Gang gebracht. Lammkoteletts mit Kroketten und grünem Salat.

Plötzlich stand jemand zu meiner Linken auf. Es war Annabelle, die Königsmutter. „Ich möchte euch alle um Aufmerksamkeit bitten." Die Dame sah in die Runde. „Es ist Tradition, dass zu Abenden wie diesen die alten Lavrás geteilt werden. Lasst mich also der Tradition gerecht werden." Sie räusperte sich. „Der Tiger tanzt um die Gazelle. Die Gazelle ist flink und springt." Es ist der Anfang einer Geschichte, die ich bereits kannte. Jede Familie besaß so etwas. Annabelle drehte sich zu mir um und deutete mir aufzustehen. Überrascht tat ich es, war aber gefasst. Ich sollte wohl die Geschichte zu Ende bringen. „Der Tiger ist schneller und holt sie ein, doch er tötet sie nicht. Er unterwirft sie." Alle hatten meinen Worten gelauscht und nachdem das Letzte verstummt war, erkannte ich, dass ich in der alten Sprache gesprochen hatte. Der Vampir-Sprache. Ich wurde nervös, ließ es mir aber nicht anmerken. „Du musst einen guten Lehrmeister gehabt haben", lobte mich Annabelle und ich lächelte nur. Wenn sie wüsste, dass keiner mich das gelehrt hatte. Wir, mit dem Blut der alten Vampire, kannten die Sprache intuitiv, aber sie wurde so gut wie nie benutzt, denn sie war für andere verwirrend kompliziert. Annabelle hatte mir eine Falle gestellt. Sie klatsche und alle fielen zögernd ein. „Auf meine zukünftige Schwiegertochter und dass sie mir viele Enkel schenkt." Mir wurde bei den Worten übel. Aber was hatte ich auch erwartet? Das wurde von mir verlangt. Doch gab ich mich nicht der Hoffnung hin, dass Annabelle mich akzeptierte. Sie war eine kluge Frau und wie eine Löwin, die ihre Jungen beschützen wollte. Wie mein Vater es war. Ich setzte mich wieder und versuchte, dass mich das alles nicht durcheinander brachte. Das Dessert wurde serviert. Es war köstlich, ein Creme brulee, aber ich brachte nicht mehr als einen Bissen herunter. Schade eigentlich.

„Eure Mutter mag mich wohl nicht besonders", versuchte ich ein Gespräch in Gang zu bringen.

„Sie braucht nur etwas Zeit, um sich an die neuen Umstände zu gewöhnen. So wie wir alle." „Wie wir alle?" „Ja." Fedon sah mich an, als wüsste er etwas. Als wäre er mir auf der Spur.

Da fiel mir wieder die Frage ein, die ich eigentlich schon zu Beginn hatte stellen wollen. Ich brauchte Gewissheit.

„Meine Sachen sind hier. Wieso?", meine Stimme war weich und das konnte ich nicht verhindern.

„Ist das nicht klar? Du bleibst hier." Es traf mich eiskalt, obwohl ich es mir schon gedacht hatte.

„Wieso?" Meine Lippen waren spröde und ich kaute darauf herum.

„Ich habe dich endlich bei mir. Ich lasse dich nicht mehr gehen." Hatte er etwa Angst, dass ich verschwinden könnte? Wie absurd! „Ich werde dich nicht verlassen." „Dann tu es nicht und bleib." Er wandte sein Gesicht nach vorne. Nach seinen Worten klang es so logisch, aber es verlief nicht nach Plan. Es war meistens schon, dass Gefährten gleich ein paar Tage beieinander blieben, denn sie konnten die Augen und Finger nicht voneinander lassen. Aber sie würden nicht gleich zum anderen ziehen. „Ich ...", wollte ich schon protestieren, denn ich war darauf überhaupt nicht vorbereitet gewesen.

„Cousine", unterbrach mich Kyle. Ich drehte mich zu ihm um. „Wir sollten nicht unüberlegt handeln", flüsterte er mir ins Ohr. Wusste meine Familie davon und hatte dem zugestimmt? Vermutlich. Über was hatten sie alles gesprochen und gehandelt ohne mich zu fragen? Schnell widmete er sich wieder seinem Dessert und nun merkte ich auch den eiskalten Blick, der mich im Nacken streifte. Eifersüchtig. Auch ich wandte mich dem Dessert zu. Fedon strich mir die Haare hinters Ohr und wisperte drohend: „Komm in den nächsten Tagen keinem Mann zu nahe, sonst gibt es ein Unglück." Ich versteifte mich und nickte. Von wegen nicht unüberlegt handeln, Kyle! Seine Fingerspitzen streiften meinen Nacken und ein wohliger Schauer rieselte durch meinen Körper. „Du gehörst mir", hörte ich Fedons Stimme hallend. „Was hast du gesagt?", fragte ich überrumpelt. Fedon aber aß die Creme brulee und sah mich verwirrt an. „Gar nichts." Ich musste es wagen. „Darf ich?", fragte ich und wollte seine Hand berühren. Er reagierte nicht, nahm dann aber von sich aus meine Hand. Bei der Berührung fühlte sich mein ganzer Körper unter Strom an. Ich fühlte eine Verbindung, so direkt und klar und erkannte das Gefährtenband, die Spur, die mich mit ihm verband. Eine Brücke von seinem Geist zu meinem. Es prasselten Gedanken und Gefühle auf mich ein, wirr, ohne Zusammenhang. Rot, ein Kleid. „Sie ist es." Schwarz, die Nacht, Schmerz. „Wo ist sie?" Blau, die Verzweiflung. „Ich muss sie finden." Abrupt ließ ich seine Hand los. Er sah mich an, sprachlos. Er muss es auch gespürt haben. Nur was hatte er von mir alles gesehen? Ich musste vorsichtiger sein!

Trotzdem fühlte ich die Leere, die nun herrschte. Es war die pure Versuchung ihn noch Mal zu berühren. Die Teller wurden abgeräumt und ein Ehepaar des rechten Tisches erhob sich und kam auf uns zu. Es waren Will van Heven und seine Gefährtin. Sie stellten sich mir vor und ich lächelte, schüttelte ihre Hände. Nach und nach standen die Adeligen auf, kamen auf mich zu und ich schüttelte Hände bis zum Abwinken. Die Meisten Adeligen kannte ich schon, schließlich hatte ich ihre Namen, ihren Status und Ländereien auswendig gelernt, aber es waren auch ein paar dabei, die mir neu waren. Ein hoch angesehener Wissenschaftler, der nur auf der Durchreise war, oder ein junges Mädchen, ein Vampir-Blut, das auf den Weg zu seiner Familie seine Tante am Hof besucht hatte. Baron Basil stellte sich auch vor, genauso wie die Frau aus dem Rat mit dem strengen Dutt, Vanessa. Die schwarzhaarige Vampirin Nora und ihre Eltern waren auch dabei, neben ihr die schüchterne Amanda, und überrascht registrierte ich, dass sie Schwestern waren. Die Eine das komplette Gegenteil. Amanda mit lockigen, wirren mausbraunen Haaren und bleicher Haut, die sich mir lieb als Amanda Wolf vorstellte. Nora mit erstaunlich gebräunter Haut und glatten, schwarzen Haaren. Ihr Gruß war begleitet von einem kalten Lächeln und gespickt mit gezischten Worten, wie bei einer Schlange. Ich wusste, ich musste mich vor ihr in Acht nehmen. Sogar Anthony und seine Eltern, die Bears, waren dabei. Anthony gab mir strahlend die Hand, stellte sich vor und sagte: „Mit dir erlebt man wirklich was mit." Der König wirkte sauer und Anthony entschuldigte sich verbeugend. Man spürte die Angst in seinen Knochen. Auch die Schoßhündchen von Helena stellten sich vor. Jessica und Franziska. Sie waren Cousinen, die Fox und stellten sich ziemlich steif vor. Dann kamen zwei Jungen, einer mit rotbraunen Haaren und royalblauen Augen. Mein Herz raste, als ich ihn sah. „Steven Lion." Ich reichte ihm die Hand und er nahm sie kurz und drückte sie. „Lucette Worthy." Er drehte sich wieder um und verschwand zu seinem Platz. „Matthew Lion." Irritiert sah ich zu dem Jungen, der Steve verdammt ähnlich sah. „Freut mich." Er verbeugte sich und ging, was ich aber nur am Rande wahrnahm. „Das musst du mir erklären", meinte Fedon neben mir. „Er ist nur jemand, den ich früher kannte", wand ich mich heraus. Fedon brummte, aber ich wusste, er glaubte mir nicht. Zuletzt stand noch ein sehr breiter Mann auf, in die Uniform der Krieger gehüllt. Er hatte eine Narbe quer über der Stirn. Das musste Adalbert sein. „Adalbert Rix", stellte er sich vor und reichte mir seine große, grobe Hand. „Lucette Worthy." „Es ist mir eine Ehre. Ich hoffe Ihr werdet stets hinter dem König stehen." „Natürlich", versicherte ich und hielt seinem Blick stand. Er lächelte leicht. „Gut. Auf ein Wiedersehen, Lucette Worthy." Ich nickte, aber ich fühlte mich ziemlich zu Unrecht beschuldigt. „Du musst ihn verstehen. Er ist ein erfahrener Krieger und den Tigers mehr als treu ergeben. Er vertraut nicht gleich jedem." Er klang wohlwollend. „Ja." Zum Schluss stellten sich noch Herzog Hannes, sein Sohn Tobias, Gräfin Rosalie, Manuel und Helena vor. Helena wirkte abweisend und genauso kalt wie ihre Mutter. Ich atmete tief durch. Ja, alle müssen sich an die neuen Umstände gewöhnen.

Als all das durchgestanden war, plauderten viele erwachsene Adlige noch miteinander. Währenddessen machten sich die Jüngeren auf den Weg. Stimmt, morgen war wieder Schule und es war bereits Mitternacht. Auch ich wurde unruhig. „Du solltest schon Mal hoch gehen", sagte Fedon und wandte sich mit einem Lächeln an Kyle und den Rest der Familie. Ich fühlte mich wie ein Kind, das ins Bett geschickt wurde, damit die Erwachsenen Erwachsenengespräche führen konnten. Als Lucette Worthy würde ich das nicht so einfach dulden, als Lucette Dragon war ich zwar total eingenommen von ihm, aber sie würde sich nie etwas befehlen lassen. Und da ich wusste, dass es meine Stimme und meine Berührungen waren, die ihn verrückt werden ließen, wie er mich mit seinem ganzen Wesen, wollte ich das ausnutzen. „Ich möchte aber nicht." Ich strich wie ausversehen über seine Hand und sein entrückter Blick bewies, dass es funktionierte. „Was möchtest du?" „Ein eigenes Zimmer." Er sah mich an und mein Blick verhakte sich in seinem. „Wie du willst", sagte er und rief einen Diener von den Wänden her. Er flüsterte ihm etwas zu und dieser nickte. „Folge ihm", befahl Fedon, aber der Befehl weckte nicht mehr halb so viel Ärger, denn ich bekam, was ich wollte. Nun wusste ich wie ich Fedon um den Finger wickeln konnte. Doch sein berechnender Blick ließ mich zweifeln, ob ich es hier war, die gewonnen hatte.

5

Ich folgte der kleinen Wache und sie führte mich aus dem Saal in eine Suite ganz oben im Haupthaus, sodass ich nur noch ein Stockwerk hochfahren müsste und die Brücke entlang, um zu Fedon zu gelangen. Es sah im Prinzip genauso aus wie die Zimmer in Fedons Wohnturm, nur alles kleiner und auf derselben Etage. Wenige Augenblicke später klopfte es und die gleiche Wache brachte meinen Koffer und gab mir eine blaue Karte zum Verschließen und Öffnen der Tür. Sie verbeugte sich und war wieder weg. „Danke", kam es viel zu spät von mir. Ich zog dieses Kleid aus und hängte es in den Schrank. Dann zog ich meinen schicken Pyjama an und machte mich fertig fürs Bett. Sogar an meine Zahnbürste hatten die, die meinen Koffer gepackt hatten, gedacht. Aber es passte mir immer noch nicht, dass irgendwer meine Sachen gepackt und hier her geschleppt hatte. Es entschied immer noch ich wo ich blieb. Aber Fedon hätte trotz meiner Stimme oder Berührungen wohl nicht zugestimmt, dass ich nach Hause ging. Vielleicht aber, wenn seine Angst nachgelassen hatte, könnte ich ihn dazu überreden. Denn ich war zwar seine offizielle Gefährtin seit heute, aber ich war noch nicht mit ihm zusammen oder gar verlobt.

Ich warf mich in das mega bequeme Bett und dachte nach. Wäre heute alles anders gelaufen, wenn ich nichts gesagt hätte? Wäre ich dann bei all den anderen gelandet, die vorgaben die Erwählte zu sein? Und was wäre, wenn ich das Lavrá der Tigers nicht gekannt hätte? Oder wenn ich Fedon einfach gehorcht hätte, schon mal hoch zu gehen? Meine Gedanken kreisten auch um morgen. Alle würden mich mit Respekt behandeln. Die Adeligen, die Lehrer, sogar das Volk. Ich würde beweisen müssen, dass ich würdig war, Königin zu werden. Ich wollte zeigen, dass ich keine dieser diskriminierenden Adligen war. Und vor allem mir selbst musste ich beweisen, dass ich die Person werden konnte, die ich sein wollte. Nur wer wollte ich sein?

Ich drehte mich auf die Seite und schlief endlich ein.

 

Es war noch dunkel, als ich meine Augen aufschlug. Geborgen, so fühlte ich mich. Ich spürte einen starken Arm um meinen Bauch, einen Atem im Nacken und etwas Warmes, Starkes hinter mir. Langsam drehte ich mich um und die Mondstrahlen ließen mich tiefe Augen erblicken, die auf mich gerichtet waren. Verführerische Lippen und verwuschelte Haare. Seine Lippen zogen mich wie magisch an und ich gab dem Sog nach. Ich schloss die Augen, als diese weichen Lippen auf meine trafen, erschauderte zu tausend Mal und drückte meinen Mund fester auf seinen, erhaschte seinen Geschmack, seinen männlichen Geruch und wollte nie mehr weichen. Meine Hand fand seine weichen Haare und spielte mit ihnen, während meine andere seine Brust erkundete. Seine Hand streichelte meinen Bauch und die andere zog mich am Rücken noch näher zu sich.

 

Erschrocken wachte ich auf. Ich lag allein im Bett. Aber das Gefährtenband war spürbar, genauso wie eine zerbrechliche Brücke, die meinen Geist mit seinem verband. Ich sah ein Bild vor meinem inneren Auge. Schwarz und doch alle Konturen des Zimmers erkennbar. Dann verschwommen ein Mädchen in einem roten Kleid, das sich lachend drehte. Das Band riss ab. Was war das gewesen? Eine Erinnerung oder war er wieder eingeschlafen und hatte geträumt? Ich schüttelte die wirren Gedanken ab.

Die Sehnsucht wollte mich in seine Arme treiben, aber ich war noch lange nicht bereit dafür. Auch früher hatte ich schon einen festen Freund, aber ich war nichts für überstürzte Sachen. Das alles ging mir zu schnell. Mir fiel der Kuss mit Steve und mit Manuel ein. Was hatte dies zu bedeuten?

Ich stand auf, zog mich schnell an, wieder Lucette Worthy-like und fuhr mit dem Aufzug in die erste Etage. Dort gab es eine Küche. Auch wenn ich nicht sonderlich hungrig war, wollte ich etwas frühstücken, um fit zu sein, denn der Kühlschrank in der Suite war leer. Und es wiederstrebte mir einen der Diener, die herumschwirrten darum zu bitten mir etwas zu bringen.

Es war gerade mal fünf Uhr morgens, ich hatte nicht mal fünf Stunden geschlafen, aber ich wusste, ich würde auch nicht noch mal einschlafen können. In der großen Küche war Licht und eine einzige Person war da. Prinzessin Helena stand an einer Anrichte und hatte ein Glas in der Hand, aus dem sie trank. „Prinzessin?", fragte ich, um sie nicht zu erschrecken, so wie sie in Gedanken versunken schien.

Sie drehte sich um und leckte die letzten roten Spuren von ihren Lippen. „Hallo, Melissa", sagte sie und ich zuckte zusammen. „Ich bin Lucette." Sie ging mir entgegen, war noch in das blaue Kleid des Abends gehüllt und auf den hohen Schuhen kippte sie um und mir in die Arme. „Du bist betrunken." „Nein", meinte sie. „Komm, ich bring dich hoch." „Nein", zischte sie und war in Vampirgeschwindigkeit wieder an der Anrichte und lachte. Vorsichtig näherte ich mich ihr. „Was ist los, Helena?" „Ich möchte die Wahrheit wissen", sagte sie, nickte nachdrücklich und goss von einem Krug in zwei Gläser. Wein oder Blut gemischt mit Wein. „Weißt du, als ich dich gestern in der Schule sah, da fiel mir auf, dass du mir zu bekannt warst. Aber ich war mir nicht sicher." Sie reichte mir eines der Gläser und ich nahm es. „Du sahst so anders aus. Die blonden Haare und erst dein ganzes Outfit. Dein neues Auftreten. Ich fühlte mich ... etwas ausgestochen." Sie schnalzte mit der Zunge. „Aber naja, als ich gesehen habe, wie Manuel und du euch angesehen habt. Da wusste ich es." „Weshalb hast du mich dann nicht verraten?" „Ich bin nicht dumm. Etwas muss hinter dem Ganzen stecken und ich will wissen, was." Sie sah mich an, trübe Augen, direkt auf mich gerichtet. „Du bist betrunken, Helena, du solltest ..." Ihr Glas zerbrach. „Sag mir nicht, was ich zu tun habe, El'!" Ich verstummte. „Wie hast du es geschafft, dass Manuel den Mund hält? Das würde er nicht blindlings für jeden tun." „Ich habe ihm die Wahrheit erzählt." „Ich höre." „Ich ... es ist kompliziert." „Ich habe Zeit." Sie lehnte sich an die Anrichte, schwankte zwar, aber hielt sich. „Nun ja, die Wahrheit ist ..." „... Dass sie mir gefallen wollte." Fedon trat in die Küche. „Das ist auch der Grund, weshalb sie erst so spät aufgetaucht ist." Er sah mich an und ich sagte: „Woher ..." ... willst du das wissen, wollte ich fragen. Er wusste, dass ich früher Melissa war! Oder versuchte er nur, mich vor seiner Schwester zu beschützen und wusste von nichts? „Dein Großvater." Großvater. Aber er konnte Fedon nicht verraten haben, dass ich Melissa war. Jemand anderes musste es Fedon verraten haben. Nur wer? Manuel?

Helena beobachtete mich. Ich schluckte meine Gedanken hinunter und spielte mit. Beschämt sah ich zu Boden. „So ist das also? Du dachtest du wärst nicht hübsch genug?" Sie lachte. „Du hast doch vorher auch nicht schlecht ausgesehen. Gut, die braunen Haare waren etwas langweilig und nichts Besonderes zu der Hautfarbe, im Gegensatz zu jetzt." Ich betete, dass sie das mit mir und Manuel nicht erwähnte. Sie sah mich nochmals genau an. Ich stellte das Glas weg.

„Es macht einen einfach unsicher, wenn man seinen Gefährten nicht kennt." Dabei sah ich Fedon in die Augen und mir blieb die Luft weg. Wieder sah ich zu Boden. „Überhaupt wenn man erfährt, wer es sein soll." Damit bestätigte ich ihre Spekulation, dass die Gefährtin eine aus dem Volk war, die sich nicht traute. Unsicher, eitel. Egal.

Helenas Gesicht war weich geworden, sie stand in Sekundenschnelle vor mir und umarmte mich plötzlich. „Du hast Recht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schnell man Komplexe deswegen haben kann. Wie sehr wir Frauen unter Druck stehen perfekt zu sein ist einfach nur ungerecht." Sie fasste mich an den Schultern. „Aber keine Sorge, ab jetzt bin ich für dich da und werde dafür sorgen, dass den Männern die Spucke wegbleibt." Sie wandte sich an Fedon. „Und wehe dir, wenn du sie schlecht behandelst oder ihr das Gefühl gibst nicht gut genug zu sein, auch wenn sie eine El' ist." Fedon nickte nur lächelnd und nachsichtig, auch wenn seine Hand zur Faust geballt war. Drohungen konnte er wohl nicht so gut wegstecken. „Ich sollte hochgehen", murmelte sie und schwankte wieder bedrohlich. Ich stützte sie. „Das solltest du." Wir stolperten voran und Fedon stützte sie auf der anderen Seite, wir fuhren im Aufzug hoch und wandten uns nach links, gingen diese Brücke entlang. Fedon öffnete die Tür mit einer blauen Karte. Er warf mir einen Seitenblick zu, der mir durch und durch ging. Schnell wandte ich den Blick ab. Wir kamen in Wohnräume, die genauso aussahen wie in Fedons Wohnturm, wenn auch in anderen Farben, gelb und blau und kuschlig. Ich half ihr beim Kleid ausziehen, steckte sie ins Bett und deckte sie zu. Vor der Tür wartete Fedon. Helena fasste mein Handgelenk. „Ich wollte schon, als du Melissa warst mit dir befreundet sein", sagte sie und zog mich auf das Bett, sodass ich saß. „Manuel hat so von dir geschwärmt und ich wusste du bist anders, als die Anderen vom Volk. Du hast keine Angst vor uns." Wenn sie wüsste. Ich lächelte nur und sie sprach weiter. „Aber wir können jetzt Freundinnen sein." Sie sah mich mit unschuldigen, großen Augen hoffnungsvoll an. „Ja, das würde ich gerne. Aber bitte verrate niemandem, dass ich früher Melissa war." „Ahja, damit niemand von deinen Komplexen weiß. Mein Mund bleibt versiegelt." Sie ließ mich los und kuschelte sich in die Decke. „Gute Nacht, Melissa." „Gute Nacht, Helena." Leise stand ich auf und verließ das Zimmer. Fedon war nirgends zu sehen. Ich zuckte die Schultern, auch wenn ich komischerweise enttäuscht war. Ich verließ den Turm, schloss die Tür. Davor herrschte Zwielicht und die gläserne Brücke war in Licht getaucht.

Da packte mich jemand und drückte mich an meinem linken Arm an die Wand. „Hattest du was mit meinem Bruder?", zischte es und mein Herz fing an zu rasen. Er hatte Helenas Worte gehört! Scheiß Vampirgehör! „Nein", brachte ich atemlos hervor. Die Szene unseres Kusses spielte sich vor meinem inneren Auge ab und Fedons Griff wurde unerträglich schmerzhaft. Es knackte. Mir wurde schwarz vor Augen und ich sank in mich zusammen. „Lucette!" Aber ich hörte ihn schon gar nicht mehr richtig.

 

Ich wachte in einem Bett auf. Ich war nicht allein. Neben mir stand ein Mann mit einem schwarzen Hut, auf dem man das Wappen der Heiler und Ärzte sah. Er betastete meinen linken Arm. Ich stöhnte vor Schmerz. In einem Sessel saß eine Gestalt und sah bei meinem Laut hoch. Es war Fedon. Er sah elend aus. Weil er mir den Arm gebrochen hatte oder weil er Manuels und meinen Kuss gesehen hatte?, dachte ich gehässig. „Achtung, Fräulein, das könnte jetzt wehtun." Ich biss die Zähne zusammen und ein gellender Schmerz setzte ein, als er meinen Arm richtete. Aber ich gab keinen Laut von mir. Er legte eines dieser weichen Hüllen um meinen Arm, um ihn ruhig zu halten und holte eine Spritze aus seinem Mantel. Eine dunkle Flüssigkeit waberte darin. Nicht schon wieder. Er sah mich an und zog die Augenbrauen hoch. Ich nickte und er verpasste mir die Spritze in den anderen Arm. Der Arzt stand mit seinem Koffer auf. „Ihr müsst Euch ein paar Stunden ausruhen. Am besten bewegt Ihr Euch so wenig wie möglich." Das hieß wohl das Vampirblut war nicht sehr alt. Ich nickte und spürte schon, wie mein Arm warm wurde und prickelte. Der Arzt verabschiedete sich mit einer Verbeugung und ging.

Toll, jetzt war ich mit Fedon alleine. Er stand auf und setzte sich aufs Bett, vermied jede Berührung. „Es tut mir leid", sagte er und wich meinem Blick aus. „Ich wollte dir nicht wehtun, aber als ich dich mit Manuel gesehen habe ... Da wollte ich ihn töten und dich ..." Er sah mir nun doch in die Augen. „ ... dich nehmen und kennzeichnen." Kennzeichnen. Beißen. Ich schluckte. „Aber ich weiß, dass ich kein Recht dazu habe. Natürlich hattest du auch schon vor mir Partner." „Nein. Es sollte mir leidtun." Meine Stimme war heiser. „Weshalb?" Nun konnte ich ihn nicht ansehen. „Weil ich damals schon gebunden war." Schweigen setzte ein und ich wusste, vielleicht hatte ich nun jegliches Vertrauen verloren. „Wieso hast du es dann getan?" Das war die Frage. Ich lachte und da war mir der Grund so klar. Mein Leben lang hatte ich keine echte Wahl gehabt. Nenne es Schicksal oder Feigheit. „Ich wollte beweisen, dass ich eine Wahl habe." Er seufzte, sah sehr nachdenklich aus. „Ich glaube, ich verstehe. Willst du das immer noch beweisen? Hast du dich deshalb so lange versteckt gehalten?", wollte er wissen. Ich nahm seine Hand und dachte daran, wie ich während des ersten Kusses mit Manuel nur ihn gesehen hatte und wie sehr ich meine Schuldgefühle, während unserem Herumgemache im Hotel, beiseiteschieben und in Alkohol ertränken musste. Es war das erste Mal, dass ich etwas absichtlich mit ihm teilen wollte und seinem Gesicht nach zu urteilen, funktionierte es. Fedon drückte meine Hand. „Ich werde dir beweisen, dass du das Schicksal nicht ändern musst." Er kam mir näher und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. Es fühlte sich so gut an und ich musste lächeln. Vielleicht hatte er Recht.

 

Die Schule konnte ich für heute vergessen. Ich bekam Essen ans Bett von Dienern, die augenscheinlich Zwillinge waren, die mich mit Hoheit ansprachen, obwohl ich erklärte, dass mir dieser Titel nicht gebührte, aber davon wollten sie nichts hören. Ich langweilte mich, denn ich saß schon seit drei Stunden in diesem Bett fest, das, wie ich festgestellt hatte, größer war, als das in der Suite im Hauptturm. Fedons Bett. Fedons Wohnturm. Es war neun Uhr und ich beschloss, dass die paar Stunden, die mir der Arzt verordnet hatte, vorbei waren. Da Fedon bereits lange weg war, da sein Zeitplan als König sehr strickt war, wollte ich es wagen. Ich zog meinen Arm aus dem Schaumgummi und bewegte meine Hand, dann meinen Arm und stellte fest, dass alles schmerzfrei funktionierte. Also stand ich auf, machte mich fertig und machte mich auf den Weg in den Garten. Der Treffpunkt schlechthin für den königlichen Hof. Ältere Mädchen, Ex-Schülerinnen, saßen in einer Gartenlaube und unterhielten sich. Nora und ein rundlicher Junge spazierten einen der Wege entlang. Hastig versteckte ich mich in einer der Gartenlauben und sah sie in einiger Entfernung vorbei spazieren. „Ich kann sie auch nicht leiden." Ich schreckte zusammen und drehte mich um. Das Mädchen, das ihre Tante besuchte, diese Bee, saß in einer dunklen Ecke im Schneidersitz, mit einem Buch in der Hand. „Du bist doch dieses Mädchen ..." „Laura." „Genau." Ich lächelte. „Ich bin ..." „Ich weiß schon, die Gefährtin unseres Königs, Lucette Worthy. Hab's nicht vergessen." „'Tschuldige, dass ich deinen Namen vergessen habe. An diesem Abend musste ich so viele Hände schütteln." „Kein Ding. Es erwartet ja niemand, dass du dir alle gleich merkst." Ich setzte mich auf den Stuhl neben sie. „Was machst du hier so ganz allein?", fragte ich. Sie deutete auf ihr Buch, in dem sie versunken war. Sie sah abweisend aus. „Hier habe ich meine Ruhe beim Lesen. Wenn dir das zu langweilig ist, kannst du ruhig zu den Tratschtüten wechseln." Sie hatte mich geduzt. Das erleichterte mich irgendwie. „So meinte ich das nicht." Auch wenn ich selten las, wusste ich, dass sich manche gerne damit die Zeit vertrieben. Früher hatte ich mehr gelesen, aber da ich ständig so viel pauken musste, im Privatunterricht, sowie für die Pläne unserer Familie, war mir die Lust daran vergangen. Ich erkannte das Buch, das sie las. Ewige Tränen. Ein Liebesroman mit viel Herzschmerz. „Weißt du, Kathleen hat mir nie besonders gut gefallen." Verdutzt sah sie auf. „Du meinst Kathleen Gino?" „Ja, ich finde als beste Freundin für Carlo hat sie ziemlich versagt." „Das finde ich auch!" Laura erzählte mir nochmals wie die Geschichte abgelaufen war, denn ich wusste es nicht mehr so genau. Wir unterhielten uns gefühlt nur kurz über das Buch, währenddessen ihr auch etwas über ihr Leben herausrutschte. So war sie es leid dem Geschwafel der Tratschtüten zu folgen, seitdem alle über Helena und Manuel dummes Zeug verbreiteten. Sie redeten hinter dem Rücken über Helena, wollten alle Manuel als Freund haben und lästerten vermutlich auch über mich, seitdem sie die Chancen beim König endgültig begraben konnten. Sie hatte sich, seitdem das angefangen hatte, von ihnen distanziert und nachdem sie dann zurück nach Hause gegangen war, wollte sie eigentlich so schnell nicht wieder zurück an den Hof. Obwohl sie und Helena als Kinder sehr gute Freundinnen gewesen waren. Aber so lange Helena lieber mit ihren hinterlistigen Freundinnen Zeit verbrachte, hielt sich Laura von ihr fern. „Das solltest du auch. Helena ist naiv, aber in manchen Sachen vertraut sie den falschen Leuten und kann eins und eins zusammen zählen. Dumm ist sie jedenfalls nicht." Ich nickte und fragte mich gleichzeitig wie viel Helena von dem frühmorgendlichen Aufeinandertreffen mit mir noch wusste. Musste ich mir Sorgen machen, dass sie alles doch noch verriet? Obwohl, Fedon wusste von meiner früheren Identität und hatte kein weiteres Wort mehr darüber verloren. Solange sie es nur noch Mal dem König anvertraute, und nicht zu ihren Freundinnen rennen würde, gab es keinen Grund zu handeln. Und wie sie schon gesagt hatte, sie wusste, dass etwas vor sich ging, das sehr pikant war und hatte deshalb niemandem sonst etwas verraten. Aber die Frage, wer mich überhaupt an Fedon verraten hatte, blieb. Die Glocke zum Mittag läutete und Laura nahm ihr Buch. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg in den Speisesaal. Es war zwölf Uhr.

In zwei Stunden würde die Schule zu Ende sein und dann müsste ich mit Helena sprechen. Und Manuel. Der Saal war heute nicht mehr halb so voll wie gestern Nacht. Laura erzählte, dass die Meisten gestern zum Abendessen gekommen waren, als Folge der Einladung des Königs. Er hatte mich allen vorstellen wollen. Wie peinlich es da sein müsste, wenn ich nicht die Echte gewesen wäre. „Hat er dich denn gecheckt?", fragte Laura leise und setzte sich an den rechten Tisch. Ich setzte mich einfach neben sie. „Gecheckt?" „Na dein Zeichen." „Achso, nein, hat er nicht." Sie staunte. „Und er glaubt dir einfach so, dass du es bist?" Ich zuckte die Schultern und erzählte ihr wie es abgelaufen war. „Wow, und ich dachte dieses Liebeszeugs zwischen Gefährten wäre nur aufgebauscht, damit die Mädchen auf den Einen warten."

„Lucette!", rief jemand und ich drehte mich zu der Stimme. Annabelle. „Komm her, Liebes. Setz dich zu mir." „Ich finde es aber schön hier." Sie lächelte verständnisvoll aber streng.

„Der König wird gleich da sein und da will er dich bestimmt an deinem Platz sehen." Bin ich ein Hund? Ich lächelte freundlich und stand auf. „Bis später, Lue", murmelte Laura. „Ja, bis später." Ich ging zu meinem Platz, da winkte sie mich zu sich und raunte: „Meinen Sohn kannst du vielleicht mit deinen Hundeaugen um den Finger wickeln, aber bei mir hast du dir damit in den Finger geschnitten." Als wäre mir das nicht schon klar gewesen. Dann schickte sie mich mit einer Handbewegung weg. Ihr Blick war eindeutig. Sie wollte spielen, schön. Sehen wir, wer mehr Einfluss auf ihn hat. Ich setzte mich an meinen Platz. Fedon und Adalbert betraten diskutierend den Raum. Adalbert verbeugte sich und ging an einen Platz weit hinten. Fedon ging zu unserem Tisch und blieb wie ich gestern stehen, als er mich da sitzen sah. Er war wie immer in seine Uniform gehüllt und hatte immer noch dunkle Ringe unter den Augen. Er umrundete den Tisch, begrüßte mich und seine Mutter und setzte sich. Als er saß nahm er meine Hand fest in seine und atmete tief durch. Es schien, als brauchte er mich wie Luft zum Atmen. Als könnten seine Sorgen damit weg gehen. Das Band loderte auf und es flossen seine schwerfälligen Gefühle hindurch, aber auch Erleichterung. Ich wusste nicht, was er durch mich fühlte, und ich wusste, ich musste vorsichtig sein, dass er nicht zu viel sah, aber ich wollte, dass er nie wieder meine Hand los ließ. „Tut mir leid, dass ich dich damit so ausnutze", sagte er, aber ich schüttelte den Kopf. „Wenn du mich brauchst, bin ich da." Er lächelte leicht. Dann ließ er meine Hand los. Es war wie ein kurzer, widerwilliger Funke, der durch mich hindurch raste, meine Hand brannte und dann war da nichts mehr. Auch er schien es gespürt zu haben und sah mich erstaunt an. „Du scheinst mich auch zu brauchen." „Ach wirklich?", fragte ich sarkastisch, war aber verwirrt. War ich das gewesen?

„Ich finde du bist ziemlich arrogant", meinte ich beleidigt und begann den Salat in mich hineinzustopfen, der mir gerade gebracht worden war.

Er lachte und dieses Lachen ließ mich glücklich schmunzeln, auch wenn ich es schnell wieder verbarg.

„Dann musst du wohl mit einem arroganten, schrecklichen Gefährten zurechtkommen." Ich hielt inne. Schrecklich? Nein, obwohl er mir den Arm gebrochen hatte. Wurde ich langsam vor Tatsachen blind, nur weil meine Gefühle für ihn durchdrehten? „Was hast du?"

„Nichts, gar nichts." Fedon sah mich skeptisch an, aber ich wollte nicht darüber reden. War Großvaters ganzer Plan gefährdet, nur weil ich meine Gefühle nicht im Griff hatte? Aber vor allem müsste ich klar denken können, um selbst zu entscheiden, was richtig war. Natürlich hatte ich gewusst, dass Fedon meine Sinne vernebeln würde, das Problem aber als nicht so gravierend betrachtet. Fedon sprach während des Essens nicht mehr und ich hielt das nicht aus. „Ich will nur nicht, dass ich alles, was mir wichtig ist, vergesse, weil du bei mir bist." Er sah mich an und dieser durchdringende Blick war kalt. „Wenn du mich nicht sehen willst, dann sag es einfach." Er stand auf. „Nein", sagte ich etwas zu laut. Die Vampire drehten sich zu uns um und ich sprach leise weiter. „Du bist mir viel zu wichtig und ich habe Angst davor. Bitte." Ich fasste seinen Arm an der Jacke, aber er hatte sich schnell von meinem Griff befreit und sah mich nur an. „Ich weiß überhaupt nicht wer du bist." Es schnitt in mein Innerstes und er verließ den Saal durch eine Nebentür. Ein Gefühl ließ mich erschaudern und ich sah Annabelle gehässig lächeln. Auch alle anderen mussten unseren Streit mitangehört haben. Abrupt stand ich auf und ging mit der Würde, die mir noch blieb, hinaus. Ich ging durch die vielen Gänge, ziellos und war doppelt froh, dass ich den Grundriss auswendig kannte. Irgendwann landete ich in einer Nische am Ende einer gewundenen Treppe und ließ mich erschöpft darin nieder. „Das ist mein Versteck." Erschrocken drehte ich mich um und entdeckte einen kleinen Jungen, in die Ecke gekauert. „Vampire dürfen nicht mitspielen." Geschockt sah ich den Kleinen an. War er etwa ein Mensch? „Kleiner, was machst du denn hier?" „Mich verstecken", erklärte er leise augenrollend. „Und vor wem?" „Na vor dem bösen Onkel." „Böser Onkel?" „Jaha." Ich ließ mich auf die Knie nieder. „Und wieso versteckst du dich?" „Damit er mich nicht findet." „Und wenn er dich doch findet?" „Das darf er nicht." Ängstlich sah er mich an. „Soll ich dir helfen?", fragte ich ihn. „Du bist ein Vampir! Denen darf man nicht trauen." „Ja, ich bin ein Vampir, aber ich bin ein netter Vampir. Ich beiße nicht." Skeptisch sah er mich an und ich lächelte. Ich schaute mich um und flüsterte: „Weißt du was?" „Was?" „Ich kenne ein viel besseres Versteck, wo dich der böse Onkel ganz sicher nicht findet." Ich stand auf und reichte ihm die Hand. Der Kleine zögerte zuerst. „Gibt es da Essen?" „Unmengen", versprach ich. Strahlend nahm er meine Hand. „Ich bin Lucette." „Quinn." „Wie alt bist du, Quinn?" Er hob vier Finger hoch. „Schon vier!" Gemeinsam gingen wir ins Haupthaus. Die Blicke der Vampire waren mir egal und Quinn schien sich so wohl zu fühlen, dass er immer wieder vorlief, zurück lief und nach dem Weg fragte. In der obersten Suite des Haupthauses waren noch meine ganzen Sachen. Unterwegs hatten wir in der Küche vorbei geschaut und Quinn hatte sich für ein belegtes Brot und viel Eiscreme entschieden, das wir mit hoch nahmen. Nun saßen wir vor dem Fernseher, es lief eine Zeichentrickserie Der rote Frosch und Quinn kleckerte sich mit Eis voll. Da klopfte es an der Tür. Ich ging vorsichtig hin und blickte aus dem Türspion. Vorsorglich hatte ich abgeschlossen. Es war Sarah. Ich machte auf und sie fiel hysterisch in den Wohnraum ein. „Lucette, Ihr müsst etwas unternehmen!" „Was ... Warte, was ist los?" „Ein paar Menschen aus Fedons Harem sind verschwunden und einer wird noch vermisst und Fedon rastet aus." „Warte, warte, warte. Du sagst ein paar Menschen." Ich nahm ihre Arme. Sie beruhigte sich ein wenig, dann entdeckte sie Quinn. „Ihr habt ihn ..." Ich sah sie streng an und schob sie mit mir in das Schlafzimmer, dessen Tür ich schloss. „Ja, Sarah, ich habe ihn mitgenommen." „Aber wieso?" Ich lachte humorlos. „Ganz einfach, weil sich die Menschen fürchten. Sie lassen sich die Kinder im Haus verstecken, damit der „böse Onkel" sie nicht findet. Wenn sie solch große Angst haben, muss es nicht allzu schön für sie sein." „Mag sein, aber was interessiert Euch das überhaupt? Das sind Menschen." „Ja, Menschen. Genauso denkende und fühlende Wesen wie wir. Sie haben Respekt verdient." Sarah schüttelte den Kopf. „Aber dass Ihr einen einfach mitnehmt ändert daran doch nichts." „Vielleicht nicht, aber das wird es noch." Ich ging aus dem Schlafzimmer und setzte mich zu Quinn. „Hey, schmeckts?" Er hielt mir den leeren Becher unter die Nase. „Mehr!" „Ja, du bekommst mehr." Ich wuschelte ihm durch die dunklen Haare und holte ihm den nächsten Becher aus dem Tiefkühler. So hatte das Ding zumindest einen Zweck. Sarah stand verloren im Wohnzimmer. „Lucette." „Was ist denn noch?" „Trotzdem solltet Ihr mitkommen." „Weshalb?" „Der König ist nicht aufzuhalten. Er ist wie von Sinnen. Nicht einmal die Königsmutter oder seine Geschwister schaffen es ihn zu beruhigen." Unglaublich. Der sonst so besonnene, unnahbare Fedon rastete aus? „Quinn, kann ich dich hier ein paar Minuten alleine lassen?" Er nickte. „Wo gehst du hin?" „Ich muss den bösen Onkel lieb machen." Der Kleine hielt mich fest. „Geh nicht, er tut dir weh." Wie süß. „Quinn, keine Angst. Der Onkel tut mir nicht weh. Das kann er gar nicht." „Sicher?" „Ganz sicher." „Na gut. Aber du kommst doch wieder?" „Ich komme wieder, spätestens wenn Der rote Frosch vorbei ist." „Okay." Er umarmte mich mit seinen dünnen Armen und ich machte mich mit Sarah auf den Weg. Sie begleitete mich hinunter und über den Rasen zum unteren Eingang von Fedons Wohnturm. Die Treppe hinunter hörte man schon entsetzliches Brüllen. Mir schlug das Herz bis zum Hals, jeder weitere Schritt führte zu weiteren kalten Gefilden. Die Treppe endete an einer Tür. Sarah sah mich ermutigend an. „Ich kann dir leider nicht helfen." Das wusste ich. Wer sich dem König in den Weg stellte oder seine Befehle missachtete, erwartete harte Strafen. Ich öffnete die Tür und betrat die Hölle.

Es war dunkel wie in einem Verlies, trotzdem war der Raum groß. Es roch nach Erde, Moos und Fäulnis. Igitt. Ein erneutes Brüllen ließ mich zusammen zucken. Mein Innerstes erkannte seine Stimme mit Haut und Haaren. Ich folgte ihr quer durch den Raum in den nächsten. Fedon stand dort an der Wand. Er hielt eine junge Frau und trank ihr Blut. Ihre Kleider waren zerrissen und Fedons eine Hand betatschte sie. „Fedon", entschlüpfte es mir leise und kurz verharrte er in seinem Tun, machte aber gleich darauf weiter. Als er wohl genug von ihr getrunken hatte, ihre Augenlider flatterten schon im Kampf gegen die Bewusstlosigkeit, ließ er sie fallen und ihr Körper glitt zu Boden. Von einer Ecke kamen Wimmern und Klagen, als ich hin blickte, waren da Menschen, viele Menschen, sich Mund und Augen zuhaltend. Viele Menschen, die meisten jung. Junge Frauen, ein paar Männer. Kinder. Nein.

Fedon wandte sich ihnen zu und ging entschlossen hinüber, packte ein junges Mädchen von vielleicht 13 Jahren und stieß sie zu Boden. Er stürzte sich auf sie und begrub sie unter seinem Gewicht, riss ihre Kehle auf. Sie schrie, versuchte sich zu wehren, Fedon aber schlug ihr auf den Kopf und ruhig, bewegungslos war sie. „Fedon", schrie ich und er horchte auf. Wacklig tapste ich zu ihm hin. „Fedon, hör auf! Das bist nicht du." Ich wollte ihn an der Schulter fassen, aber er schlug mit seinem Arm zurück und ich flog durch den Raum und prallte gegen die Wand. Ich blieb kurz still liegen. Etwas Nasses rann meine Wangen hinunter. Langsam bewegte ich meine Hände und Füße. Ich konnte aufstehen und ich tat es. „Fedon, bitte, hör mir zu." Er hatte sich bereits wieder einen Menschen geschnappt, einen Jungen, der versuchte ihn zu treten und zu schlagen, aber Fedon brüllte wieder, schleuderte ihn zu Boden und trat auf seine Hand. Es knirschte entsetzlich. „Fedon ..." „Kindchen, lass es. Rette dich, solange du kannst." Eine ältere Frau sah mich aus verlorenen Augen an. Sie hatte ihre Hand auf meine Schulter gelegt. Ich schüttelte sie ab. „Das kann ich nicht." Wieder stolperte ich zu ihm hin, er riss gerade den Brustkorb des Jungen auf. Überall war Blut, so viel Blut. Aber ich sah weg, war endlich bei ihm, umarmte ihn von hinten und er hielt still. „Bitte, hör auf." Ein Stromschlag. Ich ließ alle beruhigenden Gefühle, die ich aufbringen konnte, all den Schmerz und die Angst, die er mir und den Menschen zufügte, auf ihn einströmen. Fedon stand langsam auf, drehte sich um und fasste mit seinen blutbeschmierten Händen mein Gesicht. „Lucette." Er streichelte mein Gesicht und kam mit seinem Gesicht immer näher. Da vergrub er sein Gesicht an meinem Hals und ich versteifte mich, aber der erwartete Schmerz blieb aus. Er fuhr mit der Nase an meinem Hals, inhalierte meinen Duft. Ich legte meine Arme um seinen Rücken. So engumschlungen war es schön. Auch wenn mein Herz immer noch vor Aufregung pumpte. „Ich habe auch Angst", gestand er und ich musste mich bemühen ihn zu verstehen. Ein Bild entstand in meinem Geiste. Das Zeichen, das er eines Morgens bei sich entdeckt hatte und er sich fühlte, als hätte er eine Bürde mehr zu tragen. Die Erleichterung, aber auch ein nagendes Gefühl, als ich all die Wochen nicht auftauchte. Die gewaltigen Schmerzen, als er vor Sehnsucht an nichts, als an seine Gefährtin denken konnte und deshalb die Stadt nach Norden verließ und ihn der Schmerz fast umhaute. Sein Misstrauen gegenüber der Geschichte, dass ich zu der Zeit in Mailand, also im Norden gewesen sein sollte. Ich, wie ich auf dem Gang stand, sich erschüttert durch diese zwei Worte Eure Hoheit fühlte und er alles stehen und liegen ließ, all seine Pflichten über Bord warf und mich als Seine ansah. Die Angst, durch diese Gefühle den Fokus auf das Regieren, auf alles Wichtige, zu verlieren. Er hatte auch Angst.

„Wie wäre es, wenn wir herausfinden, was wichtig ist."

„Oder wenn wir es schaffen unsere Köpfe frei zu kriegen." Seine Stimme ging in ein Knurren über und er packte mich am Po. Meine Seite schmerzte, aber ich biss die Zähne zusammen. „Wo ist der Gentleman hin?" „Seit du da bist, ist er verschwunden." „Komm", sagte ich, nahm seine Hand und führte ihn zur Tür. Dort blieb ich stehen und zeigte auf die Verwüstung, die er angerichtet hatte. Er wurde bleich. „Wer hat das angerichtet?" „Erinnerst du dich nicht?" Er schüttelte den Kopf, sah auf seine Hände, die immer noch rot waren. Roch das viele Blut. „Du hast mich umarmt", sagte er und drehte sich zu mir. „Du hast meinen Namen gerufen." Ich nickte, sah mich um. „Du warst das." Ein paar Menschen kauerten noch in der Ecke, die anderen knieten neben den Jungen oder dem Mädchen. Aber es war zwecklos. Beide waren tot. „Monster", schrie eine Frau an der Seite des Mädchens und starrte uns hasserfüllt, mit geröteten Augen an. „Ihr alle! Alle Vampire und besonders ihr zwei." Ich zog den geschockten Fedon aus dem Raum. Schloss die Tür. Wollte sie nie mehr öffnen. „Was ist da drin alles passiert?" „Du hast gewütet und ich habe dich beruhigt." „Ist das alles?" „Ja." Aber ich fühlte die Verzweiflung, als ich diese zwei Menschen nicht retten konnte, den Schmerz darüber, dass er mich nicht erkannt, mich blindlings an die Wand geklatscht hatte. Da ich dummerweise immer noch seine Hand hielt, hatte er meine Gefühle bemerkt. „Ich muss es wissen." Seine tiefblauen Augen strahlten aus diesem rotbesudelten Gesicht. Meine Hand lag nun an seiner Wange. „Nein, musst du nicht." Er zog mich an sich, und küsste mich. Es war so viel Gefühl. Der Schmerz, die Szene von vorhin, diese Lippen, die das alles vergessen ließen. Atemlos lehnte meine Stirn an seiner und ich schluckte. Seine Hand tastete an meiner Seite und ich zuckte vor Schmerz zusammen. „Wie soll ich das je wieder gut machen?" „Lass es niemals mehr so weit kommen. Vergiss die Menschen dort. Du hast mich." Forschend blickte er mir in die Augen. „Bist du dir sicher? Danach wirst immer nur du es sein." „Ich will es so." „Ich werde dich nie wieder gehen lassen können." „Das war nie eine Option." Er lächelte wieder, mit geschlossenen Augen, seine Stirn an meiner.

 

„Kannst du mir erklären weshalb du so ausgerastet bist?", fragte Manuel seinen Bruder beim Abendessen. „Ich habe dich nicht wiedererkannt." Fedon nahm meine Hand in seine, verschränkte sie miteinander. „Wir alle haben dich so noch nie erlebt. Es war nicht nur wegen des verschwundenen Blutmenschen." „Nein, war es nicht", bestätigte er und sah mich an. Ich beugte mich vor und gab ihm einen kleinen, elektrisierenden Kuss. Ich konnte nicht glauben, dass ich ihn so küssen durfte. Die Worte, die zwischen uns gelegen hatten, waren weit weg. Es gab eine Lösung. Und ich wollte sie. Er sollte mir gehören. Meine Seite war von einem hübschen, geschwollenen rot-violett zu einem grüngelb übergegangen. Dank dem Vampirblut, das noch von der Spritze in meinem Körper war. Manuel schüttelte nur den Kopf.

Nach dem Essen musste Fedon auch schon los zur Ratsversammlung, die heute fortgesetzt wurde. Er küsste mich sanft und wollte sich, genauso wie ich mich von ihm, nicht lösen. Aber er musste. Pflicht und so. Ich passte Manuel vor dem Audienzsaal ab. „Ich muss mit dir reden." Manuel drehte sich zögernd zu mir um. Nach noch einem Blick in den Saal folgte er mir in einen der Gänge. Ich kam gleich zum Punkt.

„Hast du Fedon von Melissa erzählt?" „Was?", fragte er leise. „Melissa, hast du ihm verraten, dass ..." Ich zeigte auf mich. „Nein", behauptete er, doch seine Verblüffung wirkte echt. „Weshalb sollte ich das tun?" „Du hast selbst gesagt ich solle dir nicht zu viel vertrauen. Etwas hätte schiefgelaufen sein können." Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe es ihm nicht gesagt." Wer dann? „Wie kommst du darauf, dass er es weiß?" Ich erzählte ihm von dem nächtlich/morgendlichen Treffen mit seiner Schwester, wenn auch in einer sehr zensierten Version, die hoffentlich kein Außenstehender verstand. Nachdenklich lehnte er sich an die Wand. „Wer weiß alles von dir?" Als ob ich einem potenziellen Feind meine Verbündeten preisgeben würde. „Du hast Recht. Verrate es mir nicht. Aber vielleicht war es einer von ihnen." „Unmöglich", beharrte ich. All diese Leute arbeiteten schon so lange für und mit meinem Großvater in der Rebellion. Was hätten sie davon den Plan zu sabotieren? „Die einzig andere Möglichkeit wäre, dass er es gerade erst mitbekommen hatte, als er zur Küche kam." Ja, wäre natürlich auch möglich. „Ich muss das überprüfen", sagte ich und plante mich Baron Basil anzuvertrauen. Er war hoffentlich noch am Königshof.

„Aber Lucette." Fragend sah ich Manuel an. „Du hast sehr viel Kontrolle über Fedon. So etwas wie heute ist noch nie passiert. Bitte pass auf, dass es das nicht wieder tut."

Ich nickte betroffen „Versprochen. Nie wieder." Ich wusste, es musste schwer sein zu akzeptieren diese große Gefahr in die Hände einer Person zu legen. „Ich verlass mich auf dich." Manuel klopfte mir nochmals freundschaftlich auf die Schulter und ich fragte mich wie sehr es für ihn von Bedeutung war, dass ich unerreichbar für ihn war. Helena hatte ich glatt verpasst. Entweder hatte sie mich auch nicht gesehen oder sie hatte unsere Aussprache vergessen oder bereute sie. So musste ich erneut eine Nacht in Ungewissheit verbringen. Ich nahm noch Nachschub für meinen hungrigen Gast aus der Küche mit und fuhr hoch in die Suite im Haupthaus.

6

Jemand sprang mir gleich entgegen, als ich die Tür öffnete. „Quinn!" „Du warst viel länger weg, als du gesagt hast." Ich ging in die Knie. „Ja ich weiß und es tut mir sehr leid." Er bestaunte die Süßigkeiten und die warme Pizzaschachtel, die ich mitgebracht hatte. „Komm, Kleiner, du kannst was essen und dann nichts wie ab ins Bett." Seine Augen glitzerten. „Aber was ist mit dem bösen Onkel?" Sacht streichelte ich seine Wange. „Er ist ganz lieb geworden und wird keinem mehr etwas tun." Aber wenn die Menschen von Fedon nicht mehr gebraucht wurden, um seinen Durst und andere Gelüste zu stillen, würden sie an andere Vampire verkauft werden. Es hätte nie ein Ende. Freie Menschen gab es nicht. Jedenfalls noch nicht. Der Kleine umarmte mich. „Was ist mit Belle?" „Wer?" „Belle, meine Schwester." Er hatte eine Schwester? „Ihr geht es ganz bestimmt gut", beruhigte ich ihn. „Ja?" „Ja. Gleich morgen werde ich nach ihr sehen." „Kann ich mitkommen?" „Sicher."

Quinn aß die ganze Pizza und verdrückte so viele Bonbons und Schokolade, wie er nur konnte. Zähne putzen konnte er schon alleine und ich war froh, dass den Menschen Hygiene gestattet war. Im großen Bett hatten wir beide Platz und nach einer Gutenachtgeschichte schlief er auch schon ein. Als ich sicher war, dass er schlief, schlüpfte ich aus dem Bett und machte mich auf den Weg zu Fedon. Ich musste mich an meine Worte halten und bevor ich es noch überdenken konnte, verließ ich die Wohnung. So ging ich in ein Negligé und einen Morgenmantel gehüllt über die Brücke. Ich hatte nicht vor ihn zu verführen oder mit ihm zu schlafen, aber so konnte ich seinen vampirischen Trieben einheizen. Er sollte es sich nicht zweimal überlegen müssen. Meine Hände schwitzten, ich war verdammt nervös. Ich klopfte. Eine Sekunde später öffnete mir Fedon die Tür und bewunderte meinen Aufzug. „Das musst du nicht tun", sagte er, aber seine Stimme klang rau. Ich zog ihn einfach am Kragen an mich, küsste ihn und wir beide spürten das Band, das aufflammte, die Elektrizität, unsere Gedanken, die sich überschlugen. Ich wurde gewagter. Wir stolperten in den Turm und mit einem Fuß schloss ich die Tür. Er trug sein Uniformhemd und die Hose. Seine Haare waren geelfrei und weich. Sein Blick zeigte, dass er mich wollte. Ich drängte mich an ihn und küsste mit dem elektrisierenden Gefühl seine Brust, öffnete die Knöpfe seines Hemdes. Alle Nervosität war wie weg gewischt. In nullkommanichts hatte er mich in die Luft gehoben und wir standen eine Etage höher, im Schlafzimmer. Die Jalousien waren offen und der Mond war voll, schickte seine silbernen Strahlen ins Zimmer. Fedon beugte seinen Kopf und fuhr wieder mit seiner Nase an meiner Halsbeuge entlang. Meine Hände verharrten an seiner Brust. Ein leichtes Schaben an meinem Hals ließ mich erschaudern. Der Morgenmantel fiel von meinen Schultern. Er sah hoch und sah das Zeichen, ich wusste es. Dann kam ein Knurren aus seiner Kehle und er machte weiter, schabte mit seinen lang gewordenen Eckzähnen an meiner Kehle, um die Stelle zu betäuben. Er veränderte die Position, plötzlich lagen wir auf dem Bett, er auf mir und ich ließ mich fallen. Seine Gefühle und meine vermischten sich zu einem Vulkan. Mehr, mehr, mehr, und es war nicht nur mein Gedanke. Meine Hände schoben automatisch das Hemd von seinen Schultern. Fedon zog sein Gesicht weg von meinem Hals, um mir ins Gesicht zu sehen. Letzte Chance auf einen Rückzieher. Aber ich wollte sie nicht. Ich küsste ihn, spürte die langen Zähne und er erwiderte den Kuss. Dann legte er wieder sein Gesicht an meinen Hals. Seine Hand lenkte meine Aufmerksamkeit auf meinen Bauch, den er streichelte. Meine Hände nahmen ihre Fahrt über seine Brust auch wieder auf. Da war kein Schmerz. Liebe explodierte in meiner Brust, Begehren flammte in mir auf, die sich in einem Strudel in meinen Unterleib zog. Bilder kamen auf. Ein kleiner Junge, der seiner Mutter ein Geschenk machte. Sie schlug ihn dafür. Der Junge, der seinem Vater nachrannte. Der Vater nahm ihn hoch auf die Schultern und nahm ihn mit. Neben ihnen ein Mann mit einer Narbe auf der Stirn. Eine kleine Schwester, die er um alles in der Welt beschützen wollte und ein kleiner Bruder, den er alles beibringen wollte. Ein Junge, dem er vertraut und der ihn verraten hatte. Die Bilder verschwanden und das Begehren kehrte zurück. Blind zog ich Fedon zu mir hinunter. Er gab nach und küsste mich, aber leicht und nicht halb so leidenschaftlich, wie ich wollte. Er nahm mein unzufriedenes Seufzen hin und umarmte mich stattdessen leicht. Meine Finger fuhren über seine Hüften, aber er hielt sie fest. Du wirst es bereuen. „Nein", nuschelte ich. Doch. Wir kennen uns noch nicht lange, auch wenn es sich anders anfühlt. Du hast das doch nur getan, damit es für mich leichter ist. Aber ich will es. Das stimmt nicht. Ich sehe es. Ich seufzte wieder und kuschelte mich an ihn. Es stimmte. Und ich spürte, dass etwas Schweres auf seiner Seele lastete, aber er verriet es nicht. Ich habe Fragen. Aber die können warten. Ich nickte. Und schlief ein.

Es war noch früher Morgen, als ich aufwachte, aber das war auch besser so. Ich musste zurück, hinüber zur Suite, zu Quinn. Auch wenn es sich falsch und ein bisschen wie ein Onenigthstand anfühlte hier herauszuschleichen, während Fedon schlief. Er sah so schön aus. Die Haare verwuschelt, wie ich es mochte, die Lippen geöffnet und gut, auch das Oben-Ohne war nicht zu verachten. Die Augenringe waren weg und er sah insgesamt viel gesünder aus. War Gefährtenblut wirklich so nährstoffreich und heilend? Um mich nicht ganz so schlecht zu fühlen, drückte ich noch kurz meine Lippen auf seine und schrieb auf einen Zettel Ich bereue nichts. L. und legte ihn auf das Kissen neben ihm.

Ich zog mir den Morgenmantel wieder über und war glücklich. Fedon hatte mich zurück gehalten und oh ja, ich hätte es bereut.

„Lue", murmelte Fedon im Schlaf und ich musste lächeln. Über die Brücke ging ich schnell, zwar war es noch dunkel, aber es musste mich nicht jeder von unten mit Unterwäsche sehen oder mir begegnen. Drüben in der Kuppel des Haupthauses steckte ich im Aufzug die Karte rein und wählte den Stock meiner Suite. Alles war leise, alles war dunkel. Es war viertel vor fünf Uhr morgens. Ich hatte versprochen mit Quinn zu seiner Schwester zu gehen, also musste es jetzt sein, vor der Schule. Ich wusste auch nicht wie lange das mit Quinn in meiner Suite gut gegangen wäre. Irgendwer putze hier sicher und hätte ihn gefunden. Zwar hatte Sarah mir versprochen dicht zu halten, aber irgendwann hätte man ihn sicher entdeckt. Es tat mir zwar in der Seele weh, den Kleinen so früh morgens zu wecken, aber er war hellwach, als ich seine Schwester Belle erwähnte. Der Kleine zog sich an und verdrückte eine Schale Müsli. „Hast du eigentlich eine Mama?", fragte ich Quinn, während ich mich neben ihn setzte, denn wer würde sich um ihn kümmern? Er schüttelte den Kopf. „Ich habe Belle. Die anderen mögen uns nicht besonders." „Weshalb denn?" „Sie hat gesagt das darf ich nicht sagen." „Das verstehe ich, Quinn. Du musst mir nichts erzählen, wenn du nicht willst." Er rang mit sich, das sah ich, er wollte es loswerden. Mehrere Sekunden kaute er auf seiner Lippe herum. Seine herzliche, offene Seite gegen das Misstrauen, das ich schon bei unserer ersten Begegnung gespürt hatte. Seine offene Seite und vielleicht sogar Vertrauen, das er zu mir hatte, gewannen schließlich. Mit entschlossener Miene sah er zu mir hoch. „Aber du darfst es nicht weitersagen." „Hoch und heilig versprochen." Ich hob zwei Finger zum Schwur und er nickte ernst.

„Belle redet oft mit dem bösen Onkel. Deshalb hat er immer nur sie gewollt und mich hat er gelassen. Die anderen haben sie dann immer böse angeschaut, weil sie dachten, dass sie das gerne tut. Bis gestern ein paar einfach weg gewesen sind. Der böse Onkel ist wütend geworden und Belle hat mich zum Versteckspielen geschickt."

„So ist das." Belle war ein wirklich mutiges Mädchen. Sie hat sich angeboten, damit ihr Bruder verschont blieb. „Wie bist du denn aus dem Turm und so weit in die Gänge gekommen?" Er zuckte die Schultern. „Ich bin nur gerannt und habe mich versteckt." „Das hast du gut gemacht, Kleiner." Ich nahm ihn in den Arm und er zuckte zuerst zurück, drückte sich dann aber vertrauensselig an mich. Leicht strich ich über sein Haar. „Komm, lass uns endlich zu Belle gehen." Quinn nickte, erstarrte dann aber. „Und der böse Onkel?" „Der böse Onkel ist jetzt ein netter Onkel und ist auch nicht da." Quinn schien darüber nachzudenken, wollte mir aber anscheinend glauben und nickte entschlossen.

Wir kehrten zurück in den Keller des Turms, doch Quinn führte mich vom ersten großen Raum, der, wie ich gerade feststellte kahl und eher einem Verließ, als einen Eingangsbereich ähnelte, in einen anderen. Wachen standen nun überall, aber sie erkannten mich und ließen uns ohne Fragen durch. Wir traten in einen Gang mit vielen Türen. Ich spürte, dass Quinn hibbelig war. Aus Angst oder aus Freude, dass er seine Schwester wiedersehen würde? An einer Tür rechts blieb Quinn stehen. Er öffnete sie, sprang in den Raum und rief: „Belle", blieb dann stehen. Der Raum war nicht groß. Zwei Betten standen links und rechts, Truhen an den Bettenden. Ein Schrank neben der Tür. Es war schlicht, aber sauber. Niemand war hier. Kein Mädchen. „Vielleicht ist sie ja was essen gegangen", kam mir die Idee. „Wo ist denn die Küche?" „Ja", sagte Quinn und rannte schon los, wieder in den Flur. Ich beeilte mich, um ihm nachzukommen.

„Quinn!" Eine ältere Dame, die, die mich und Fedon als Monster beschimpft hatte, umarmte ihn und checkte ihn ab. Der Kleine befreite sich aus ihren Armen. „Was machst du nur für Sachen?", fragte die Frau. „Hallo", sagte ich und die Frau sah blitzend zu mir auf. „Wir suchen seine Schwester, Belle." Die Frau schob Quinn hinter sich und kam wütend auf mich zu. Quinn hatte gesagt niemand mochte die Geschwister hier. Ich blieb also skeptisch. „Verschwinde von hier", knurrte die Frau und ich musste mich zusammenreißen, um sie nicht anzuschnauzen. Niemand redete so mit mir. „Und du bist?", fragte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Das geht dich nichts an. Niemand darf hier her, außer unser Herr." „Wie steht es mit seiner Gefährtin?" Sie spuckte aus. „Lüg nicht. Du bist doch das Mädchen, das ihn angestachelt hat. Wegen dir hat er zwei Menschen getötet, aber das zählt bei Euresgleichen ja nicht viel." „Ich bin diejenige, die ihn aufgehalten hat", konterte ich ruhig. „Wärst du nicht gewesen, hätte es nichts aufzuhalten gegeben. Fühlt es sich gut an zwei Leben auf dem Gewissen zu haben?" Meinte sie das im Ernst? Mein Körper gefror zu Eis. „Das habe ich nie gewollt." „Ihr solltet euch schämen." Jetzt reichte es. „Ich brauche deine Beleidigungen nicht. Wir suchen nur seine Schwester." Die Alte lachte. „Seine Schwester? Seine Schwester ist tot!" Die Aggression der Frau ergab plötzlich Sinn, auch wenn es sicher nur ein Tropfen auf dem heißen Stein gewesen war. Aber wie viel konnte ich ihr vertrauen, oder ihr gar Quinn anvertrauen, wenn er sie nicht leiden konnte? Und schreckliche Geschichten über mich oder andere Vampire in seinen Kopf setzen würde? Quinn stand an einer Tür gekauert und hielt sich die Ohren zu. „Komm, Quinn, wir gehen." Ich streckte ihm meine Hand hin. „Aber Belle, ich muss zu ihr", piepste er. „Zuerst müssen wir nach oben, dann wird alles gut." Der Kleine bewegte sich auf mich zu, Tränen glitzerten in seinen Augen. Die Frau hielt ihn aber zurück. „André, Moris!" Zwei junge, schmächtige Kerle traten auf den Flur und an ihre Seite. „Sie will den kleinen Quinn mitnehmen. Haltet sie auf." Die beiden musterten mich und ein spöttisches Lächeln erschien auf den Lippen des einen. Dieser fasste meinen Arm und bevor ich reagieren konnte, holte der andere aus und boxte mir in den Bauch. „Nein!", schrie der Kleine laut. Es tat weh und ich krümmte mich. „Wachen!", rief ich. Der andere schlug mir auf den Rücken, ich ging zu Boden und er trat mir an die Stirn. Ich stöhnte. Da waren dunkle Schatten über mir und ich hörte es knacken. Jemand fasste meinen Ellbogen und zog mich hoch. Eine sehr große Wache stand bei mir, hielt mich, eine andere war bei den Kerlen, beide auf dem Boden, bei einem war der Arm komisch gebogen. Beide lagen regungslos da. „Betäubungspfeile", erklärte die größere Wache. Die Frau stand erstarrt da, immer noch Quinn hinter sich. Ich richtete mich gerade auf, ungeachtet der Rebellion meines Körpers, durch den heiße Wellen von meiner Mitte abstrahlten. Als ich sicher stand, ließ die Wache mich endgültig los und trat zurück. Mein Blick durchbohrte die Alte. „Wie heißt du?" Ihre Lippe bebte. „Fiona", wisperte sie. „Fiona, ich werde über diesen kleinen Vorfall heute hinweg sehen. Keiner wird davon erfahren und ich erwarte auch, dass keiner den Zwischenfall von euch erfährt. Ich bin nur her gekommen, damit Quinn und seine Schwester in Sicherheit kommen, aber hier gibt es keine Sicherheit. Quinn kommt wieder mit mir." Fiona knirschte mit den Zähnen, hatte anscheinend die Überraschung und die Angst verdaut. „Wer sagt, dass er das denn will? Ihr seid Vampire! Ihr benutzt uns. Quinn, was haben wir dir über Vampire beigebracht?" „Sie sind böse." „Genau." Fiona lächelte triumphierend, als ob ihr Wort auch nur das leichteste Gewicht in dieser Welt hätte. „Aber Lucette ist ein netter Vampir." Ein warmes Gefühl erfasste mich, ich breitete die Arme aus und Quinn lief auf mich zu. Die größere Wache hielt Fiona fest, als sie auf uns zu kommen wollte. „Er ist einer von uns, das darfst du nicht." Die Wache drehte ihren Arm und sie verzog das Gesicht. „Sprich deine zukünftige Königin gefälligst mit Respekt an." Fionas Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. „Nicht meine Königin." Die Wache schlug ihr auf den Kopf, was ein knirschendes Geräusch verursachte, und Fiona sackte bewusstlos zusammen. Ich hielt Quinn fest an mich gedrückt. Es wäre nicht nötig gewesen, dass die Wache so rabiat vorging. Ihre Reaktionen waren verständlich, wenn man in Gefangenschaft leben musste und mies behandelt wurde. Auch wenn es das nicht entschuldigte. Da fiel mir etwas bei den Wachen auf. Ihre schwarze Kluft sah anders aus, als die der anderen. Dynamischer. Waren sie mir gefolgt? Für meinen Schutz zuständig oder spionierten sie mich aus? Ich merkte mir die Augen des Größeren. Huskyaugen. Wenn sie mir folgten, würde ich sie wiedererkennen. Schnell sah ich weg. „Gut, Quinn. Wir gehen." Ich nahm ihn auf den Arm und er drückte sein Gesichtchen an meinen Hals. Mit ihm verließ ich den Keller und kehrte in das Haupthaus zurück. Beobachtet. So fühlte ich mich die ganze Zeit.

Ich öffnete die Tür der Suite und Fedon stand im Raum. Er starrte uns an, besser gesagt Quinn. Er blinzelte. „Du hast ..." Ich ließ Quinn von meinem Arm runter und schickte ihn mit einem Klaps ins Schlafzimmer. Fedon hatte ein Glas in der Hand. Blut. „Fedon." Er schüttelte den Kopf. „Du hast ihn versteckt, die ganze Zeit. Vor meiner Nase." „Es tut mir Leid." Plötzlich war er direkt vor mir. Er trank einen Schluck von dem Blut, auch wenn er von dem Geschmack das Gesicht verzog. „Wieso hast du das getan?" Ich wollte ihn berühren, aber er wich nach hinten aus. „Was spielt das für eine Rolle? Du brauchst sie nicht mehr. All die Blutmenschen, dein ganzer Harem. Sie sind nicht mehr wichtig." Ein Harem war für einen Vampir etwas, das seinen Status wiederspiegelte. Er war ihm wichtig, solange er ungebunden war. Genau das war der Punkt. „Aber ich verstehe es nicht. Weshalb beschützt du dann einen von ihnen, versteckst ihn sogar?" Ich gab keine Antwort. „Du hast Mitleid mit ihm." „Ich wollte Quinn dieser Gefahr nicht aussetzen." „Er ist ein Mensch." „Ich weiß." Ich fühlte mein Innerstes gefrieren. Er war doch wie all die anderen. Er drehte sein Glas. „Ist es, weil er ein Kind ist? Sind da Muttergefühle in dir aufgetaucht?" Fassungslos sah ich ihn an. „Nein." Fedon ging wie ein Raubtier auf mich zu. In diesem Moment wirkte er wirklich gefährlich, aber dem hielt ich dagegen. Eisaugen verbrannten mich. „Wenn du schon ein Kind bemuttern musst, dann dein eigenes." Meine Hand klatschte auf seine Wange, bevor ich auch nur realisierte, was ich da tat. „Wie kannst du es wagen?", fauchte ich, drehte auf den Absatz um und verschwand ins Schlafzimmer. Kurz darauf hörte ich die Tür knallen. Hatte ich mich so in ihm getäuscht? Wer war diese Person, die so kalt und verletzend solche Sachen sagen konnte? Wie konnte er, nach dem, was ich für ihn getan hatte?

War ihm das Blut von Menschen wichtiger als ich? Wollte er seinen Harem so dringend behalten? Ich hätte mich nicht beißen lassen müssen, hätte ihn auch weiterhin in seinem geschwächten Zustand dahinvegetieren lassen können. Das hatte ich doch nur für die Menschen getan! War er nicht genauso geschockt gewesen, als er erfahren hatte, gesehen hatte, dass er zwei Menschen umgebracht hatte? Oder bereute er den Biss? Wollte er von mir unabhängig sein? Und wie konnte er mir vorwerfen mich um ein unschuldiges Kind zu kümmern, wenn es Hilfe brauchte? Wie konnte er mit eigenen Kinder anfangen? Kinder waren etwas Heiliges. Selten wurde ein Vampirkind geboren und das Leben erschaffen ging auch nur mit dem Gefährten, auf den man oft Jahrhunderte lang warten musste, oder mit einem Menschen. Außerdem konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Wenn ich mich um ein anderes Kind kümmern wollte, dann tat ich es. Er hatte mir nichts vorzuschreiben.

Ich beschloss Quinn bei mir zu behalten. Sollte Fedon dem etwas entgegenzusetzen haben, würde ihn eine sehr lange Diät erwarten. Ich rief vom Zimmertelefon an und bestellte Essen rauf. Auch Sarah ließ ich zu mir schicken. Schließlich musste jemand auf den Kleinen aufpassen, während ich in der Schule war. Sarah stellte sich zwar sichtbar ungeschickt im Umgang mit Kindern an und nannte ihn die ganze Zeit Mensch, aber sie willigte ein den Babysitterjob zu übernehmen und dafür war ich ihr unendlich dankbar. Und einen Gefallen schuldig. Ich nahm meine Tasche, verabschiedete mich und fuhr mit dem Aufzug nach unten. Wieder fühlte ich mich immens beobachtet. Ab dem 3. Stock stieg Laura ein und freudig umarmte ich sie, doch als sie zusammen zuckte, ließ ich sie augenblicklich los. Sie sagte ihre Arme taten ihr komisch weh und sie wollte zum Hofarzt sich untersuchen lassen. Da schrie sie auf und hielt sich den Kiefer. Langsam begriff ich, was vor sich ging. Ihre Transformation kündigte sich an. Angeblich spürte man es, wenn sie nahe war. Es sollte mit einem merkwürdigen Kribbeln in den Gliedern anfangen, man bekam Gefühlsschwankungen und konnte nicht mehr essen. Auch sollte das Gebiss anfangen zu schmerzen. Mist. Wenn ich es mir so dachte, wollte ich es eigentlich schon hinter mich haben. Aber leider konnte ich es genauso wenig beschleunigen, wie ich durch Wände gehen konnte. Ich wartete darauf, dass es anfing und schreckte gleichermaßen davor zurück. Laura hielt sich an der Seitenstange, wir hielten im ersten Stock und ich begleitete sie zum Krankenflügel. Der Arzt bestätigte meine Vermutung. Laura sollte doch froh sein, sagte der Arzt. Es war die Reifeprüfung schlechthin. Bestehst du, wirst du ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft, versagst du, stirbst du. Laura wirkte gar nicht fröhlich und ich konnte sie perfekt verstehen. Mir wird es gleich ergehen. Ich wünschte ihr noch viel Glück, versprach ihr sie nach der Schule zu besuchen und musste mich dann auch schon beeilen, um nicht zu spät zu kommen. Da blitzte blondes Haar hervor, versteckt hinter einer Ecke. Helena. Ich ging auf sie zu und ihr besorgter Blick gab mir darüber Aufschluss, dass Laura ihr doch etwas bedeutete. „Helena." Sie sah zum Zimmer, in dem Laura lag. „Was ist mit ihr? Ist sie krank? Was ist los?" Machte sie sich etwa Sorgen? „Was interessiert dich das?", wollte ich freundlich, doch verständnislos wissen. „Wir sind doch Freundinnen, oder?" Sie konnte sich also erinnern. „Natürlich." „Dann bitte sag mir wie es ihr geht." „Es geht ihr den Umständen entsprechend. Ihre Transformation hat eingesetzt. Aber wieso willst du das wissen? Ich dachte ihr wärt nicht befreundet." Sie sackte in sich zusammen und wischte sich niedergeschlagen eine Strähne hinters Ohr. „Nein, momentan kann man uns nicht als Freundinnen bezeichnen, aber sie war meine beste Freundin und auch wenn sie sich von mir abgewandt hat ... Ich muss wissen wie es ihr geht." „Um über sie zu lästern." „Nein! Auch wenn wir keine Freundinnen mehr sind, wir waren es mal und ich habe immer noch das Gefühl ihr helfen zu müssen. Ich will ihr helfen." „Nur in diesem Fall kannst du nichts tun." „Ja, ich weiß." Sie rieb sich die Arme, als ob sie frieren würde und ich erkannte, dass sie es ehrlich meinte. Das bewog mich für meine nächsten Worte. „Aber du kannst für sie da sein." Zweifelnd sah sie mich an. „Ich weiß nicht ob sie das will." „Dann finde es heraus. Ich besuche sie nach der Schule. Komm doch mit." „Ich weiß nicht." „Was hast du zu verlieren?" Sie zögerte. „Überleg es dir einfach." „Das werde ich, danke. Du bist eine gute Freundin." Sie drückte meinen Arm kurz, dann hakte sie sich bei mir unter. „Dann lass uns den Tag schnell hinter uns bringen." Erstaunt sah ich sie an. „Jessica und die anderen sind ziemlich geschockt. Aja, und Fedon hat Manuel gebeten auf dich aufzupassen." „Wirklich?" „Ja und so ein Mikelson war hier und hat gesagt er wäre dein Bodyguard." „Ja, mein Großvater hat ihn eingestellt." Sie nickte. „Dein Großvater ist wohl sehr besorgt um dich." „Ja, besorgt."

Wir fuhren mit dem Aufzug runter in die Tiefgarage und da wartete schon Manuel, der uns lächelnd zunickte und auch Mikelson war da. Bei Mikelsons vertrautem Gesicht war mir schon viel wohler. Mit seinen gefalteten Händen und der Sonnenbrille, dazu das Muskelshirt, das seine vielen Tattoos offenbarte, sah er aus wie ein gefährlicher Gangster oder Mafiaboss. Auch wenn er innerlich das komplette Gegenteil war. Als wir an ihm vorbeigingen, verbeugte er sich. Mein Auto, ein weißer Fedi-Sportwagen, hatte jemand her geholt. Helena folgte meinem Blick. „Du kannst mit mir fahren." Ich nickte, wenn auch mit Bedauern, denn ich hätte mein Auto sehr gerne eingeweiht. Ihr Cabrio war pink, teuer und passte perfekt zu ihr. Wir stiegen ein und das Garagentor glitt auf. Helena fuhr hinaus auf den Petersplatz und bog in die Straße ein. Im Seitenspiegel sah ich Mikelsons und Manuels Motorräder, die hinter uns her fuhren, bis es plötzlich aufheulte und Manuel mit einem Grinsen an uns vorbei schoss. Helena verdrehte bei seinem Machogehabe die Augen und ich verkniff mir zu lachen. Doch der Gedanke, der schon so lange in meinem Hinterkopf herumschwirrte, drängte sich in den Vordergrund. „Helena." Sie sah mich kurz an. „Was ist?", wollte sie wissen, aber ich wusste nicht wie ich es ansprechen sollte. Sie sah wohl, wie ich herumdruckste und meinte: „Wenn es wegen heute ist, brauchst du keine Angst zu haben. Meine und Manuels Freunde sind zwar schockiert, aber sie werden es verdauen und akzeptieren müssen. Wenn du dich einfach gleich am Anfang behauptest, wird es für dich einfacher sie für dich einzunehmen. Falls du das vorhast." „Ja, danke für den Tipp." Ich sah aus dem Fenster. Zwar verursachte mir der Gedanke an ein erneutes Zusammentreffen mit ihrem Hofstaat tatsächlich leichte Bauchschmerzen, aber das war nicht die Priorität. „Es ist aber nicht nur das. Niemand darf von Melissa erfahren, okay? Das ist wirklich, wirklich wichtig." Bittend sah ich sie an. Ihre Stirn runzelte sich leicht. „Wieso ist das für dich so wichtig?", fragte sie. Meine Miene wurde ernst. „Ich darf in der Öffentlichkeit nicht schwach erscheinen. Das habe ich schon in Mailand gelernt. Und als die, die ich wohl sein werde, ist es noch viel wichtiger, was die Leute von mir denken." Helena nickte langsam. „Ich verstehe, dass großer Druck auf dir lastet. Bei mir ist es nicht anders. Ich bin so aufgewachsen, als das, was ich bin, ein Mitglied der Königsfamilie. Aber ..." Sie warf mir einen kurzen Blick zu. „Du darfst nicht zu viel auf das geben, was andere Leute denken. Es ist nicht falsch sich selbst zu hinterfragen, nur musst du selbst erkennen, wer du bist. Wenn du das einmal weißt, werden auch die anderen diejenige in dir erkennen." Überrascht von ihren tiefgründigen Gedanken, bekam ich keinen Ton heraus. Da lachte sie. „Sieh mich nicht an, als wäre ich durchgeknallt." „Es ist nur ... Ich hätte nur nie vermutet, dass du so denkst." „Naja, du hast Recht damit, dass viele Leute nun ein Auge auf dich haben werden. Genau genommen die ganze Vampirgemeinschaft. Du musst früh lernen dich zu schützen. Dich und deine Familie, deswegen werde ich niemandem dein Geheimnis verraten. Denk immer daran: Du bist ihr Idol, ihre Herrscherin, ihre Prinzessin. Du bist mehr wert, als sie alle." „Aber das stimmt doch gar nicht", winkte ich ab. „Mag sein. Aber als die, die du nun bist, bist du die, die es zu schützen gilt. Du bist das Herz dieses Reichs. Ohne dich würde unsere ganze Gesellschaft untergehen." „Du übertreibst." „Tue ich das?", fragte sie, aber ihre Worte schienen ernst gemeint. Sie erschien mir in einem ganz anderen Licht. Gab es da etwas, das ich nicht wusste? Ich wollte gerade nachfragen, doch sie kam mir zuvor. „Ich bin nicht die Richtige, um es dir zu erklären. Frag Fedon." Da fuhren wir schon in den Parkplatz vor der Schule ein. Und Helena war wieder die, die wohl alle in ihr sehen sollten: Der hübsche, naive und mächtige Star der Schule.

7

Wir kamen sogar ein paar Minuten vor der ersten Stunde in der Schule an. Helena parkte auf den reservierten Plätzen für die Hochadligen, direkt neben Manuels Motorrad und Mikelson bei den normalen Pätzen. Ich war wohl die Einzige der Schule mit Bodyguard und das obwohl viele nicht minder wichtige Kinder von Adligen weltweit hier zur Schule gingen. Die Schule war ja auch gut geschützt. Kameras, die sogar ein v.V. mit bloßem Auge nicht fand, Bewegungsmelder, die bei Unbefugten -also weder Lehrer, Schüler oder Angestellte- Alarm schlugen. Man sollte wohl meinen es wäre gut genug geschützt. Doch meine Schwester konnte unbemerkt eindringen und auch wenn sie eine hervorragende Spionin war, es gab viele, die auf dem gleichen Level und besser waren.

Helena, Manuel, Mikelson und ich mussten schon ein Gespann abgeben, als wir in die Schule marschierten und wir alle anhielten, weil ich zur Salzsäule erstarrt war. 

Steve hatte unseren neuen Sportlehrer an die Wand geschubst und der Professor versuchte ruhig auf ihn einzureden, doch Steve ließ sich nicht beruhigen und wollte Professor Oak angreifen, dieser wich geschickt aus, drehte Steves Arme mit Leichtigkeit auf den Rücken und zischte ihm Worte ins Ohr. Steve atmete tief ein, sein Gesichtsausdruck angespannt. Dann ließ er seinen Kopf sinken, er schien zuzuhören und sagte ruhig etwas, als hätte er nachgegeben. Professor Oak ließ ihn auf der Stelle los und sprach noch ein paar Worte, bevor er Steve auf die Schulter klopfte und davon ging. Steve stand mit hängenden Schultern da. Einige Schüler starrten ihn noch kurz an, aber sie wandten sich schon wieder ab und tuschelten. Darunter auch der Hofstaat der königlichen Geschwister. Steve hob den Kopf und mein Blick fing sich in seinem, doch da lag kein Erkennen. Diffus fuhr er sich durch die Haare und verschwand in einem anderen Gang. Da klingelte es auch schon und Helena sah mich mit erhohenen Augenbrauen an, weil ich immer noch am Eingang stand. „Alles in Ordnung mit dir?", fragte sie, schnell nickte ich und folgte ihr zu ihrer Clique. Manuel unterhielt sich schon angeregt mit Anthony und als wir uns dazu gesellten, stellte sich Manuel an meine Seite und legte seinen Arm um mich. Anthony, Franziska und Jessica sahen mich musternd an, während die schüchterne Amanda ein kleines Lächeln um die Lippen hatte. „Darf ich nochmals vorstellen? Al' Lucette Worthy", sagte Manuel und sah die anderen an.

Anthony fing an zu lachen, während Jessica sehr unbehaglich aussah. Sollte sie auch, so wie sie mit mir gesprochen hatte. Franzika versteckte sich hinter Jessica. Diese blickte betrübt, knickste aber überraschenderweise vor mir. „Es tut mir schrecklich leid, was ich gesagt habe, ich wusste nicht dass -" Ich hob die Hand und sie verstummte, ein ängstlicher Ausdruck in ihren Augen, doch auf meinem Gesicht bildete sich bloß ein wohlwollendes Lächeln. „Ich wusste, dass ihr es herausfinden werdet. Man kann es also als meine Schuld betrachten. Also nehme ich deine Entschuldigung an ..." Bei ihr machte sich sichtlich Erleichterung breit, aber ich war noch nicht fertig. „... wenn du Regina aufhörst zu nerven, Tomatenschlampe." In your face, bitch, dachte ich, bis ich die verblüfften Blicke aller sah. „Weshalb?", fragte Anthony stattdessen. Weil ich es will, ganz einfach. „Die ist doch bloß eine ... ähm", stoppte sich Franziska noch rechtzeitig. „Genau deswegen", stellte ich klar. „Ich verlange nicht, dass alle Nichtadligen wie wir behandelt werden, aber ich möchte klarstellen, dass ich Beleidigungen nicht ausstehe. Wenn ihr es schon nicht bei allen El' einhalten könnt, bei einer wird es doch möglich sein." „Das ist doch sowas von ..." Mein Blick bohrte sich in den von Jessica. Man merkte wie sie unter meinem Blick zusammen schrumpfte. „Du kannst bei mir akzeptieren, dass ich eine El' bin, bei ihr wisst du es auch können." Sie schluckte und nickte unterwürfig. Manuel hatte den Arm von meiner Schulter genommen. Nicht nur Jessica wirkte eingeschüchtert, sie alle. Wie hatte ich das denn gemacht? „Gut, dann ist doch alles klar", meinte Helena gespielt fröhlich, die noch als einzige gefasst war und brach die angespannte Atmosphäre. Anthony lächelte nervös, Manuel fuhr sich durch die Haare und Amanda wirkte als Einzige so etwas wie zufrieden. Die Klingel ertönte zum zweiten mal und so langsam machten wir uns auf den Weg in den Klassenraum, Mikelson hinter uns wie ein Schatten. „Wer ist der Kerl?", wendete Franziska sich irgendwann leise zu Helena und ich antwortete: „Mein Bodyguard." Franziska blinzelte und nickte brav, dann verließen sie und Amanda uns an einer Abzweigung, da sie noch in die erste Klasse gingen. Pro Jahrgang gab es nur eine Klasse, da es nicht so viele Schüler gab, die diese Eliteschule besuchen konnten. Adlige und reiche Vampirnachkömmlinge aus aller Welt, den USA, Kanada, China und Norwegen, um nur einige zu nennen, gingen hier zur Schule, da sie als eine der Besten galt. Nur wenige, die entweder gar nicht adlig oder reich waren, konnten durch ein Stipendium hier landen. Beispielsweise Regina. Anthony und Manuel scherzten gerade über etwas, aber noch wirkte es angespannt. War ich wirklich so furchteinflößend gewesen? „ Habe ich überreagiert?", fragte ich Helena, die nicht mal von ihrem Handy hoch sah. „Mach dir darum keine Sorgen. Ich verstehe zwar nicht wieso du dich für diese Regina so einsetzt, aber zumindest wissen sie jetzt wo ihr Platz ist." Natürlich wusste sie wieso ich das für Gina tat, schließlich wusste sie, dass ich Melissa war. Aber die anderen wussten es nicht. Ihre Antwort bestätigte mein ungutes Gefühl. Hatten sie wirklich so viel Angst vor mir, nur weil ich nun *seine* Gefährtin war? Meine Gedanken begannen sich um Fedon zu drehen und wie wir uns schon wieder im Streit getrennt hatten. In der Klasse setzte ich mich wieder zu Anthony und ich war froh, dass er nicht so abgeschreckt war, aber auch bei ihm merkte ich die Zurückhaltung. Hinter mir an der Wand klebte Mikelson, schien wirklich professionell und verhielt sich wie ein zweiter Schatten. Der Lehrerin hörte ich gar nicht richtig zu. Politik war zwar eines der spannenderen Fächer, aber das lag nur an der Lehrerin und auch wenn diese alles so toll wie immer rüberbrachte, war mein Kopf so voll mit Problemen, dass es keinen Sinn machte zuzuhören. 

 

Die kurze Pause am Vormittag verbrachten wir im Schulhof, Mikelson als Schatten in der Nähe. Zum ersten mal stand ich nicht abseits, sondern mit den anderen von Helenas und Manuels Clique im Zentrum, bei dem Tisch mit den zwei Bänken. Sie redeten über eine Poolparty, die morgen bei Franziska stattfinden sollte. „Willst du auch kommen?", fragte Franziska vorsichtig. „Klar", meinte ich und konnte mich endlich in das Gespräch über die Party integrieren. Die Stimmung in der Gruppe wurde viel entspannter, Anthony und Manuel scherzten herum wie sonst immer und sogar Jessica taute mir gegenüber auf. Amanda war noch etwas in ihrer Schüchternheit gefangen, aber hin und wieder vergaß sie diese komplett, vor allem, wenn Manuel sie ansprach.

„Helena", ertönte eine hohe Stimme hinter uns. Ich drehe mich um und meine Laune sank augenblicklich. Schwarze, lange Haare und ein schwarzes, viel zu enges Kleid. Nora. „Ich wollte dich nur daran erinnern, dass wir bei der Aufführung immer noch zu wenig Helfer haben." Eine Aufführung? „Ja ich weiß *Nora*, aber im Gegensatz zu dir, habe ich gearbeitet und keine Zeit für andere Beschäftigungen, während du anscheinend gestern sogar Zeit hattest im Hofgarten zu spazieren statt zum Unterricht zu gehen." Stimmt, ich hatte Nora gestern sogar gesehen, mit einem rundlichen Jungen, als ich mich vor ihr verstecken musste. Nora klappte nur ein paar Mal den Mund auf und zu. „Trotzden habe ich zwei Perosnen gefunden." Helena reichte Nora einen Zettel, die ihn nahm und durchlas. „Es fehlt noch einer", schnappte Nora. „Deine Aufgabe", schnaubte Helena und kehrte ihr den Rücken zu, auch alle anderen wandten sich von ihr ab. Nora zischte empört ab. Ich verkniff mir ein Lachen. „Ihr mögt sie wohl nicht besonders." Helena sah mich an. „Nora ist eine selbstgerechte Schlampe", fauchte Franziska, bevor Helena erklärte: „Nora hat einfach keinen Anstand. Sie hat sich schon fast jeden Freund von Jess, Franzi und mir weggeschnappt. Sie hat nie versucht eine von uns zu sein, sondern bleibt arrogant und für sich. Wenn sie mal freundlich ist, will sie meistens etwas, also pass auf, wenn sie mal so kommt wie jetzt. Wir haben ihr zu oft eine Chance gegeben. Vor allem, weil sie Amandas Schwester ist." Das konnte ich fast nicht glauben. Diese Eigenschaften hatte ich bis letzte Woche dem geschwisterlichen Hofstaat zugesprochen. Auch konnte ich nicht behaupten Helena und die anderen richtig zu verstehen. Von der Oberflächlichkeit mal abgesehen war da definitiv mehr. „Von was für einer Aufführung hat sie gesprochen?", wechselte ich das Thema. „Die Maskierten", sagte Manuel. „Das ist ein Duo, niemand kennt ihre wahre Identitäten oder ihre Gesichter. Sie machen akrobatische Aufführungen und morgen kommen sie in die Stadt." Helena nickte. „Genau. Wir, also ich und Nora, waren bei einer Aufführung in London. Das war als wir uns noch besser verstanden haben. Wir hatten natürlich besondere Plätze und vielleicht haben sie uns deshalb beachtet. Nach dem Auftritt haben sie gefragt, ob wir Helfer für eine Aufführung in Rom stellen können und wir haben zugesagt. Das ist schon ein Jahr her, aber Nora ist leider noch immer dabei."

„Helfer wofür?", fragte ich interessiert.

„Alles mögliche. Das Duo ist nicht reich und kann sich keine feste Crew leisten. Deshalb brauchen sie Leute, die die Kulissen und Tribüne aufbauen, Getränke und Essen verkaufen, Security und Leute am Eingang, die die Eintrittskarten kontrollieren. Eigentlich haben wir schon alle Helfer, außer einen, aber Nora hat gar nichts gemacht, um Leute für die Arbeit zu finden", antwortete Helena. Das bestätigte mein Bild, dass ich von Nora bisher gewonnen hatte. Arme Amanda. Immerhin war es ihre eigene Schwester, mit der ihre Clique nicht zurecht kam. „Naja, Nora ist seit ihrer Lüge mit Fedon sowieso unten durch bei uns", sagte Helena. Ich nickte. Ja, dafür hasste ich sie auch. 

Mein Handy klingelte und verwundert entschuldige ich mich bei den anderen und entfernte mich ein Stück. Wer konnte das sein? Niemand besaß meine Nummer, außer Anthony, den ich sie vorgestern gegeben und wahrscheinlich der ganzen Clique weitergeben hatte. Niemand aus der Rebellion würde mich auf diesem Handy anrufen. Die Leitung wurde sicher abgehört, aber für meine neue Rolle brauche ich nunmal ein stinknormales Handy. Also wer war es? Unbekannte Nummer. Ich nahm ab. „Hallo?" „Hallo Lucette", ertönte die tiefe Stimme, die es in mir vibrieren ließ. Es war Fedon. Sofort stellte sich bei mir der Zorn wieder ein, aber auch das Sehnen. Ich blieb still. „Lucette, ich wollte dir sagen, dass es mir leid tut. Mein Verhalten die gegenüber war nicht richtig. Dafür gibt es auch keine Entschuldigung." Keine Entschuldigung? Da hatte er Recht. So etwas ging gar nicht. Nachdem ich ihm schon zwei mal verziehen hatte, baute er einfach wieder die gleiche Scheiße. Und das nach so kurzer Zeit. Ich wusste zwar nicht was für Bindungsprobleme er hatte, aber nein. Diesmal würde ich nicht so schnell verzeihen. „Lucette, bist du noch ..." „Ja, ich bin noch dran, aber sag mir persönlich was du zu sagen hast." Es klingelte. „ Ich muss wieder zum Unterricht, tschüss." „Lu..." Ich beendete das Gespräch und ging zurück zu den anderen, die mich neugierig ansahen. Ich lächelte. „Beziehungen sind anstrengend", sagte ich, da die v.V. unter ihnen sowieso gelauscht hatten. Wir kamen zu spät in die Klasse, aber den Geschichtelehrer schien es nicht zu stören. Innerlich ziemlich froh darüber, zugleich aber auch verärgert, setzte ich mich zwischen Helena, die in der nächsten Stunde gehen würde, da sie in Sprachen ziemlich gut war, und Anthony. Ich schloss kurz die Augen. Steve, er war hier. Er saß eine Reihe vor uns, unsere Reihe und unterhielt sich mit einem Kumpel. Er sah schon besser aus, als heute morgen, aber das lag nur daran, dass er lachte. Tief in seinen Augen lag ein Ausdruck reines Schmerzes. Ich biss die Zähne zusammen. Wieso musste das alles, der ganze Plan nur so unfair sein? Aber nein. Es war notwenig. Notwendig, weil ich unbedingt schon als Melissa in die Schule wollte, um Helena, Manuel und ihren Hofstaat zu inspizieren. Ich hatte nicht erwartet gleich so gute Freunde zu finden, die so dachten, wie ich. Die mir in manchen Momenten aus der Seele sprechen konnten. Die Stunde zog sich lange, genau wie Vampirsprache, bei der ich die Theorie nur verstehen konnte, wenn ich die Praxis intuitiv anwand, und Italienisch. 

Als es zum Schulende klingelte, verließen wir beinahe als letzte die Schule. Draußen blieb ich stehen, als ich sah wer da mit seinem Auto stand. Lächelnd ging ich auf ihn zu und umarmte ihn, Helena umarmte Kyle auch. Verdächtig lange hielten sie sich im Arm. Was hatte ich verpasst? „Hey, Leute. Ich muss nur kurz Lue entführen. Wir haben ein Familientreffen." Manuel wirkte nicht sehr erfreut, den anderen schien es egal zu sein. Was Fedon dazu sagen würde? Ach, war mir egal. Ich verabschiedete mich von allen und wollte einsteigen, da sah ich Gina hinter einem Ahornbaum Kyle anstarren. Der Hofstaat machte sich schon auf zu ihren Autos und Motorräder und beachtete uns gar nicht mehr. „Nur einen Moment, Kyle." Ich schloss wieder die Autotür, ging auf Gina zu und jeder Schritt fühlte sich schwerer an. Als sie mich entdeckte, wandte sie sich ab. „Gina", kam es leise von mir und sie blieb stehen. „Was willst du?", zischte sie und besah mich mit einem Seitenblick. Heute war wirklich Tag der Entschuldigungen, dachte ich amüsiert und traurig zugleich. „Ich wollte mich wegen vorgestern entschuldigen. Was ich gesagt habe, war falsch. Ich finde dich nämlich wirklich nett." „Du schuldest mir keine Entschuldigung. Wäre ja nicht so, als wären wir befreundet." Autsch. Aber sie hatte recht. Lucette war nicht mit ihr befreundet. „Trotzdem habe ich einen Fehler gemacht. Ich habe etwas getan, das nicht ich bin. Es ist nicht richtig, das weiß ich und deshalb werden die anderen dich auch nicht mehr belästigen." Für endlos lange Sekunden starrte sie mich nur sprachlos an. „Ist das dein Ernst?" Ich nickte. „Ja. Ich konnte sie überzeugen dich in Ruhe zu lassen." „Wieso?" „Weil ich genauso bin wie du. Eine El'. Und nur deswegen fertig gemacht zu werden ist unter allem Niveau." Sie schüttelte den Kopf. „Du bist keine El' mehr." „Doch, bis zu meiner Hochzeit schon und die kann gerne noch sehr lange warten." Der skeptische Ausdruck in ihrem Gesicht schwand nicht. Dann seufzte sie. „Na gut. Ich will ja nicht so sein. Ist ok", sagte sie und ich umarmte sie glücklich. Sie erstarrte, legte dann die Arme leicht um mich und lachte leise. Als wir uns voneinander lösten, war ihr Lächeln etwas schuldbewusst. „Mir tut es leid, dass ich verraten habe welchen Stand du besitzst. Ich dachte mir schon, dass es geheim bleiben sollte. Mi dispiace." „Schon gut. Die Katze ist aus dem Sack. Ich sehe es als ausgleichende Gerechtigkeit." Ich nahm ihre Hand. „Ich muss leider gleich los, aber ich würde dir wirklich gerne jemanden vorstellen." Ich musste grinsen und zog sie einfach mit mir. Kyle wartete mit verschränkten Armen an die Fahrertür gelehnt. Mikelson saß bereits im Auto. „Kyle, darf ich vorstellen? Das ist Regina Hampton." Kyle sah sie an, reichte ihr die Hand, die sie nahm und erwiderte freundlich, aber nicht wirklich interessiert: „Freut mich. Ich bin Kyle, der Cousin von der Trantüte da." Ich stieß ihn leicht mit dem Ellbogen in die Seite. Er lachte und wandte sich mir zu. „Wir sollten langsam los, sonst könnte Großvater ungemütlich werden." Ich nickte. Leider hatte er Recht. Wirklich niemand wollte erleben, wenn Großvater sauer wurde. „Ciao, Gina." Schnell umarmte ich sie und stieg in Kyles Auto. „Wir sehen uns." Kyle stieg ein, winkte nochmal und wir fuhren los. Im Autospiegel sah ich Gina dastehen, rot im Gesicht und fast hyperventilieren. Zwar war ich immer noch skeptisch über den Gedanken Kyle und Gina, aber das war ich ihr schuldig.

Als wir an der ersten Kreuzung abbogen, wurde ich ernst. „Kyle. Es gibt ein Problem." Er warf mir einen schnellen Seitenblick zu. „Ich bin vielleicht aufgeflogen." 

Mikelson hinter mir nahm seine Sonnenbrille ab und schnaufte erstmal durch. „Was soll das heißen, Lue?", fragte er. „Irgendjemand muss wissen, dass ich Melissa bin und es dem König gesagt haben." „Warte, warte. Wann soll er es herausgefunden haben?" Ich erzählte von meinem Aufeinandertreffen mit Helena und wie Fedon unbeeindruckt herein kam und mir aus der Patsche geholfen hatte. Seine Antwort wer es ihm gesagt haben soll: Dein Großvater. „Unmöglich", sagte Kyle und schaltete einen Gang höher. Die Landschaft um uns wurde grüner, weniger bis keine Häuser. Nur vereinzelt Höfe. Und unser Unternehmen. „Ich stimme Kyle zu. Es muss einen anderen Grund geben. Vielleicht glaubt er Helena auch nicht und Fedon erfand etwas. Das wird euch euer Großvater gleich verraten können." Ich starrte Kyle an. „Was habt ihr mit Fedon besprochen, nachdem die Ratsversammlung unterbrochen wurde?" Und er mich alleine in den Wohnturm einschließen ließ?, dachte ich bitter. Kyle antwortete zunächst nicht. „Nur das, was wir mit dir besprochen haben. Du konntest deinen Gefährten nicht finden, da du noch ein Vampir-Blut bist. Wenn Großvater eine weitere Lüge hinzugefügt hat, dann ohne uns zu informieren. Aber das ist nicht der Grund, weshalb uns Großvater zusammenruft." 

Das Unternehmen kam in Sicht, Kyle parkte davor und wir marschierten hinein, erreichten den dritten Stock, ab dem die unsichtbaren Räume waren, und benutzen die Geheimtür, witzigerweise ein lebensgroßer Kaffeeautomat. Dahinter war die weiße Eingangshalle und die breiten, lichtdurchfluteten Gänge. Vampire in lila und schwarz der Spione und graublau der Krieger, allesamt mit Waffen, die sie offen und sichtbar trugen, bevölkerten das Unternehmen. Viele grüßten uns und wir drei fuhren mit dem Aufzug hoch in den obersten Stock. 

Laut klopfte ich an den Salon. Mit einem Ruck öffnete sich die Tür und ein strahlendes Gesicht blickte mich an. Amber sprang an mir hoch und umarmte mich. „Hey, Kleine", sagte ich und drücke sie an mich. „Ich hab dich so vermisst", murmelte sie in mein Haar und schluchzte einmal. „Scht, Amber. Ich dich auch. Aber wir sind hier bei Großvater. Du musst dich zusammenreißen, ja?" Amber nickte, ich ließ sie runter und betrat mit ihr den Raum, Kyle und Mikelson hinter uns. Meine Mutter war die nächste, die mich stürmisch umarmte, Vater und Dana folgten. Zum einen war ich gerührt, denn ich hatte sie schon vermisst, aber zum anderen waren es doch nur zwei Tage ohne mich gewesen. Kürzer, als wir alle dachten. Emma drückte mich auch kurz und warf sich dann in Mikelsons Arme, was danach folgte, war nicht mehr so hundert prozentig jugendfrei. „Setzt euch", ertönte die strenge Stimme Großvaters, der am Fenster stand, hinaus blickte und die Hände hinter dem Rücken verschränkt hielt. Ich setzte mich zu Dana und ihren Gefährten auf's Sofa, Amber sprang gleich auf meinen Schoß und plapperte los. Ein Blick Großvaters genügte und Emma forderte Amber auf mit ihr rauszugehen. Amber bockte ein wenig, gab schließlich aber nach. Großvater setzte sich auf seinen Sessel. Er verzichtete auf das Gedanken lesen, was mich erstaunte. Aber vor Vater hatte er vielleicht doch noch genug Respekt, um es nicht vor allen Leuten zu machen. Die Stille war beinahe mit Händen zu greifen. „Berichte erst mal von deinen Eindrücken, Lucette", verlangte Großvater. Ich drückte den Rücken durch und atmete aus. „Also ..." Was sollte ich erzählen? Es war so viel passiert. Vor allem Unerfreuliches. „Zunächst sind da zwei Wachen, die anders sind, als die restlichen. Ich denke sie sollen mich im Auge behanlten." Ich stockte. „Das war zu erwarten. Weiter." Augen zu und durch. „Ich habe Prinz Manuel alles erzählt." Der Schlag kam unerwartet hart. Ich schloss kurz die Augen. „Er hat herausgefunden wer ich bin und ich musste es tun, damit er mich nicht verrät", fuhr ich unbeirrt fort. Mein Vater war angespannt wie eine Feder. Wenn Mutter nicht ihre Hand auf seinen Arm gelegt hätte, wäre er ganz sicher aufgesprungen. Dana sah zu Boden. Kyle schaute weg. Mein Kopf war vor Scham rot geworden. „Was hast du noch falsch gemacht?" Großvater sprach ganz ruhig und ich zwang mich die Wut in meinem Bauch zu unterdrücken. „Helena weiß nur, dass ich früher Melissa war. Sie denkt aber, dass ich mich nur so verändert habe um Fedon zu gefallen. Fedon hat das behauptet, nachdem Helena die Wahrheit verlangte", erzählte ich monoton weiter. „Großvater, hast du das Fedon erzählt?" Großvater schien angespannt. „Nein", antwortete er. „Nichts dergleichen sagte ich zu ihm." Er schien nachzudenken. „Kyle, finde heraus was Fedon weiß. Er ahnt auf jeden Fall etwas. Hör seine Gespräche ab, ich will wissen, wenn er etwas plant." Kyle nickte. Großvater richtete seinen Blick wieder auf mich und ich sah ungerührt zurück. „Sonst noch etwas?" Ich wollte schon den Kopf schütteln, als mir Quinn einfiel, aber über ihn und meine Krisen mit Fedon würde ich nichts berichten. Leider bemerkte Großvater mein Zögern. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ein schreckliches Erlebnis blitzte vor meinen Augen auf. Goldene, aufgerissene Augen und eine hilfesuchende Hand. „Ich finde wir sollten zum nächsten Punkt übergehen", meinte Dana und wunderlicherweise wurde Großvater nicht wütend, warf ihr und mir nur einen warnenden Blick zu. „Hör zu, was deine Schwester sagt." Dana rollte ein Pergament auf dem niedrigen Tisch vor uns auseinander, das neben ihr gestanden hatte. An der vergilbten Oberfläche und den rissigen Rändern erkannte man das hohe Alter des Schriftstücks. Alle Anwesenden waren wie gebannt, nur ich, wie es schien, war unbeeindruckt. „Diese Magie", murmelte Vater und sah mit gerunzelter Stirn darauf. „Das ist das magische Schriftstück." Nun war auch meine Neugierde geweckt. Das war also der Grund dafür, wieso wir nicht vor Jahren schon eine blutige Schlacht angefangen hatten. Der Grund für einen Plan, der auf meine Person gründete.

„Es besagt das, was ihr alle schon wisst." Alle beugten sich vor, um die Worte in der alten Vampirsprache zu lesen. Eine der ältesten Linie wird kommen und die Vorherbestimmte des nächsten Thronräubers sein. Ich runzelte die Stirn. „Warte", sagte Kyle und sah sich den unteren Rand genauer an. „Das ist nicht das Ende", flüsterte ich. „Genau", sagte Dana, „es ist nur der erste Teil des Schriftstücks. Der zweite Teil befindet sich nicht in unserem Besitz. Sondern in den der Tigers." Großvater erhob sich von seinem Sessel und sah auf mich hinab. „Unsere Feinde haben ein Stück Zukunft und du, Lucette, wirst mir dieses Stück bringen."

Dragon and Tiger

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.08.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich meiner engsten Freundin, mit der ich Geschichten erfinden konnte um des Spaßes Willen. Außerdem widme ich es all jenen, die einfach aus einem Bauchgefühl heraus losschreiben und nicht damit aufhören können, bis der Nervenkitzel der Story zwischen den Zeilen verewigt ist.

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