Das Puzzle oder die Geometrie des Augenblicks
Erzählung
BookRix GmbH & Co. KG
80331 München
Meinen Enkelkindern Friedrich, Lina und Mattis
Nothing gets ever lost. All that one has seen is always going to be present.
Henri Cartier-Bresson
"Wie ich als Kind war?", wiederholte sie die Frage. "Wer will das wissen?" Sie hob den Kopf, schaute unbekümmert auf und fokussierte. Die Augen glitten von dem Puzzleteil in ihrer Hand zu den Bildfragmenten auf dem Tisch. "Da", schrie sie, "es passt!", blickte lachend in die Runde: „Ich darf noch einmal!“, und nahm ein weiteres Puzzleteil auf.
"Deine Regel?“, spottete ihre Tischnachbarin flinken Auges auf das Puzzle.
"Das ist nicht, worauf wir uns geeinigt haben", vermeldete der Kontrahent.
"Typisch", merkte der Vierte an. "So funktioniert das nicht!"
Lea schüttelte den Kopf. Sie ahnte, aus dem Spiel wird Ernst. Sie ließ den Blick schweifen.
"Schaut, es schneit", rief sie, "wie schön!", sprang auf, lief zum Fenster, öffnete es weit, beugte sich hinaus und erhaschte einige Schneeflocken.
"Wie groß sie sind! Ich habe schon so lange keinen Schnee mehr gerochen."
"Mach zu! Mir ist kalt", rief ihre Tischnachbarin zitternd mit verschränkten Armen.
Sie schloss das Fenster und wandte sich um.
Ihr Gegenüber betätigte das Display der Smartwatch an seinem Handgelenk. Schnee und Blitz Eis. Es bliebe kalt, sagte seine Wettervorhersage. Er lachte stolz.
"Das neue Modell ist sein Geld wert. Genial!"
"Das Wort Gottes", gab der Vierte am Tisch. „Auf gehts!“, sagte er und schlug vor, nach Hause zu fahren, bevor es dunkel würde. "Bereit?", fragte er.
Sie rückten die Stühle zur Seite, nahmen die Mäntel vom Haken, stellten auf dem Weg nach draußen die Kragen hoch, stiegen ins Auto und verabschiedeten sich.
"Abwarten. Wenn das Wetter besser wird, machen wir weiter."
"Du sagst es, Tom!"
"Lass es so, wie es ist!"
"Mach dir keine Sorgen, Mona. Hier, dein Schal.“
"Danke, Lea, bis bald!"
"Bis bald, Daniel. Auf Wiedersehen. Gute Heimfahrt!"
Der Schnee schluckte das Geräusch der zufallenden Autotüren. Die Rücklichter verschwanden. Lea ging ins Haus. Es fühlt sich gut an, allein zu sein, dachte sie und öffnete das Fenster, atmete ruhig und hörte dem leisen Zischen des Schneetreibens zu. Bald war ihr kalt. Sie suchte den wärmsten Pullover, schlüpfte auf der großen Couch vor dem hohen Fenster bis zum Kinn unter die Decke und genoss die Stille und die frische Luft.
Am nächsten Morgen hatte es aufgehört zu schneien. Das Licht der aufgehenden Sonne brach sich in Myriaden Kristallen, von denen keiner dem anderen glich.
"Wie gut es mir geht", gähnte Lea, reckte sich und schloss das Fenster. In der Küche schaltete sie die Kaffeemaschine und das Radio ein, ging ins Bad und bürstete sich die Haare. Einmal vor dem Duschen und das zweite Mal danach. Sie macht es genau wie ihre Mutter. Oft hatte sie ihr dabei zugesehen, wie sie ihr rotes Haar aufrechten Hauptes vom Scheitel abwärts, von der linken Seite zur rechten und umgekehrt, und dann kopfüber vom Nacken gegen den Strich bürstete. Es fühlte sich gut an, dachte sie. Das Haar glänzte. Ein Blick in den Spiegel genügte. Manchmal ein Augenzwinkern: „Ja, Mama, du bleibst die Schönste von allen!"
Leas Kaffee duftete nach frischem Ingwer. Sie füllte ihn in zwei Thermoskannen und würde ihn während des Tages trinken. Jetzt war das Frühstück vorzubereiten. An jenem Morgen ein Tomatensalat mit Bröckchen von Getoastetem, Kürbiskernen und einem Schuss Kürbiskernöl. Eines ihrer Lieblingsfrühstücke.
Der Schnee blendete, als sie das Haus, das sie Villa Hügel nannte, verließ. Niemandem außer ihr hätte dieser Name einfallen können. Das Gebäude befand sich in einem augenscheinlich verwahrlosten Zustand und hatte wenig zu bieten. Abgesehen von seiner privilegierten Lage über der Stadt und den vielen Fenstern mit weitem Blick in den Himmel verfügte es über viel Licht, Wasser und Strom. Insgeheim sind wir Zwillinge, antwortete sie auf die Frage, wo und wie sie wohne. Sie akzeptierte den Verfall als Preis für die Zeit und alles, was sie mit sich brachte. Und sie schämte sich nicht für das, was sich ihrer Verantwortung entzog.
Bestand jemand darauf, zu erfahren, was sie tue, dass ihre Zeit so wertvoll ist, dann hüllte sie sich in beiläufiges Schweigen oder öffnete das Deck mit verdeckten Karten nur vorsichtig. Sie war überzeugt, diesen Tribut ein Leben lang für ihre Sicherheit und den Schutz Ihrer Sinne zahlen zu müssen.
Sie lud nur engste Vertraute in ihre Zeit der Magnolien, des Flieders, der Kirschbäume und zwitschernden Vögel, der Eisblumen auf dem Küchenfenster und des Nebels über dem Fluss, sogar zu dem Klatschmohn, einem Sonnenaufgang, einer Mondsichel, den Sternen einer klaren Nacht und anderen unter bewölktem Himmel, zu prasselndem Regen, zu Hagel und dem Tropfen der kaputten Dachrinne.
Sie nahmen das Morgenrot und die Melancholie des ausklingenden Tages auf, l'heure bleue der Berge, Wolken und Täler. Pollen, verwehte Blüten und raschelnde Blätter, die sie in helle und dunkle Zeiten führten. Freunde hielten sich die Ohren zu, wenn Sägen kreischten und Laubbläser röhrten und sprangen beim Heulen der Sirene auf. Hörten Kirchenglocken, kannten Stundengebete, Gesänge und das Schweigen der Steine. Sie warnten vor dem Orkan und spürten den Stich der Mücke.
Sie sind vertraut mit den Schatten tiefer und trauriger Wunden. Mit dem Schmerz eines Lachens und den Küssen der Liebe. Vor allem jedoch, ehren sie das Geheimnis der Verwandlung und respektieren die Scham des Träumens in Zeiten tiefer Angst.
Lea war noch immer auf dem Weg zum Postamt. Die Winterschuhe hielten ihre Schritte. Sie freute sich, dass das Paket für L. in ihren Rucksack gepasst hatte. Sie versenkte die Hände in den Taschen. Außerdem war sie froh, dass sie die Mütze aufgesetzt hatte, wenngleich die Modepolizei sie längst aus dem Verkehr gezogen hätte. Im Vorübergehen wünschte sie denen, die ihre Bürgersteige vor den Häusern freischaufelten, einen guten Morgen. Auf der Straße bewegte ein Reinigungsfahrzeug den gräulichen Schnee auf dem Asphalt.
Auf beiden Seiten entstanden kniehohe Kordilleren.
„Gott sein Dank“, murmelte Lea, als sie den Staubsauger später zurück an seinen Platz stellte. „Schon ist wieder Glanz in der Hütte.“ Im Radio sang Juliette Greco. „Et je m’ en vais clopin clopant, dans le soleil et dans le vent ...“ Sie sang mit und sah, dass Mona angerufen hatte. Sie wählte die Nummer.
„Hallo Mona. Seid ihr gestern gut nach Hause gekommen?“ Mona war außer sich.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Cover: Gisela brunn
Lektorat: Werner Ganzmann
Tag der Veröffentlichung: 29.07.2020
ISBN: 978-3-7487-5193-9
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