Inhalt
Alle Kurzgeschichten aus Nuun
Impressum
Kurzgeschichten aus Nuun - Band 1
Die Schriftrolle
Angriff und Verteidigung
Die Begegnung
Nieder mit Caedarx
Kurzgeschichten aus Nuun - Band 2
Danksagung
Die Gruft
Lieferung von Krokk
Herzblut
Im Wartezimmer zur Hölle
Leckerbissen
Durst
Hunger
Die Bewährungsprobe
Dunkelbrauner Horizont
Der Job
Danke!
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Das Ende?
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Alle Kurzgeschichten aus Nuun
Ein Buch aus der Reihe "Doppelmond"
Dieses Buch enthält folgende Werke:
Kurzgeschichten aus Nuun - Band 1
(November 2012)
Leckerbissen
(Februar 2013)
Kurzgeschichten aus Nuun - Band 2
(Dezember 2013)
Impressum
© Februar 2016 Benjamin Spang
Version 2 – Februar 2016
Benjamin Spang
Am Franzschacht 4
66299 Friedrichsthal
kontakt@benjaminspang.de
Alle Rechte vorbehalten
Titelbild von Simon Kramhöller
und Benjamin Spang
Korrektorat von Kerstin Fricke
Besuchen Sie auch die offizielle Homepage
zu den Doppelmond-Geschichten:
www.doppelmondsaga.de
Kurzgeschichten aus Nuun - Band 1
Die Schriftrolle
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen betrachte ich die Person, die direkt auf mich zugerannt kommt. Ihre Bewegungen und das Husten wirken unheimlich und ungesund.
„Helena?"
Meine beiden Wachen werden nervös, zücken ihre Gewehre und zielen.
„Wartet!"
Wenige Meter vor mir fällt die Person auf ihre Knie. Ich kann erkennen, dass es ein Mann ist. Speichel fließt ihm unkontrolliert aus dem Mund. Kopf und Gliedmaßen hängen herab wie nasses Laub und sein Atem dringt vor Erschöpfung pfeifend aus seinem Rachen.
Ich renne zu ihm, dicht gefolgt von meinen Wachen, die noch immer ihre Gewehre im Anschlag haben.
„Was ist passiert? Was ist mit Ihnen?"
Der Mann hebt langsam seinen Kopf. Seine Augen sind fahl, die Mundwinkel tief nach unten gezogen, und der Mund steht weit offen. In der linken Hand hält er eine Schriftrolle fest umklammert, als würde er sie nie wieder hergeben wollen. Mein Blick sucht seinen Hals und seine Kleidung prüfend nach Bisswunden oder Blut ab.
„Du ... darfst sie ihm nicht geben ... hörst du?"
Seine Stimme ist heiser, und sein Atem geht schwer.
Noch bevor ich fragen kann, was er damit meint, kippt er nach vorne und sein Kopf schlägt auf den Boden. Jetzt sehe ich den großen Pfeil, der in seinem Rücken steckt, eingerahmt in einen riesigen Blutfleck.
„Beim mächtigen Allvater! Los, schafft ihn ins Lazarett!"
Die Wachen tragen den Mann in unser Hauptgebäude, während andere das große Gittertor hinter uns zusperren und den Elektrozaun wieder in Betrieb nehmen.
Mit schnellem Schritt folge ich den Wachen, die den Mann in einen Operationsraum gebracht und dort bäuchlings auf einen Tisch gelegt haben.
„Danke, Jungs! Und jetzt ruft Doktor Fleisner! Schnell!"
Beide stürmen an mir vorbei. Ich bin gespannt auf die Reaktion des Doktors. Als einfache Krankenschwester hat man hier nicht viel zu sagen. Er wird nicht begeistert sein, aber es geht um Leben und Tod. Diesem Menschen kann noch geholfen werden.
Ich bereite das Besteck vor und ziehe mir meine Operationskleidung an.
„Was ist hier los, Frau Keska?"
„Gut, dass Sie da sind, Herr Fleisner! Dieser Mann kam außerhalb des Lagers auf mich zugerannt. Er wurde angeschossen!"
Die Augen des Arztes werden eng, und seine Miene wird finster.
„Das sehe ich. Sie wissen, wie gefährlich es ist, jemanden einfach so hier in unsere Klinik zu bringen? Vor allem, wenn er offensichtlich von Werwölfen angegriffen wurde?"
„Ja, aber ich konnte keinen Biss oder Sonstiges an ihm feststellen ... Seine einzige sichtbare Verletzung stammt von dem Pfeil!"
„Sie sind und bleiben eine kleine, dumme und naive Krankenschwester! Wegen Ihnen wird unsere Lazarettstation hier noch zugrunde gehen! Und jetzt gehen Sie beiseite, damit ich sehen kann, wie tief die Wunde ist ..."
Ich trete zwei Schritte zurück. Der Arzt zieht seinen Mundschutz hoch und reißt das Hemd des Mannes auf. Der Pfeil steckt ziemlich tief. Ohne diesen weiter zu untersuchen, befühlt er den Hals des Verletzten und nimmt nach ein paar Sekunden den Mundschutz wieder ab.
„Sie haben uns hier eine Leiche angeschleppt! Sorgen Sie für ihren Abtransport, und machen Sie alles sauber! Ich habe keine Zeit für solche Späße. Es gibt Menschen hier, die mich brauchen!"
Mein Herz fängt an zu rasen, und mein Kopf wird schwer.
„Ja, Herr Doktor!"
Ich atme tief durch. Der Unbekannte war viel zu lange unterwegs, und der Pfeil steckt zu tief in seinem Körper. Wieder ein Toter.
Ich frage mich langsam, was ich hier überhaupt noch zu suchen habe. Ich mache sauber, sammele unter Bewachung Kräuter vor der Sicherheitsabsperrung und schaue zu, wie man Menschen zwar helfen will, diese aber letzten Endes doch sterben müssen.
Ich löse die Bremsen an den Rollen des Tisches und fahre ihn langsam in den Totenraum. Hier werden alle paar Tage die Leichen abgeholt und verbrannt, sollte sich bis dahin kein Angehöriger gemeldet haben. Es gibt hier zu viele Tote, um sie alle zu begraben. Ihre letzte Ruhe müssen sie in diesem kalt gefliesten Raum finden.
Als ich den Tisch an eine freie Stelle schiebe, fällt mir die Schriftrolle auf, die der Mann immer noch fest umklammert. Ich solle sie ihm nicht geben, hatte er gesagt. Wer „er" sein mag? Und warum soll ich sie ihm nicht geben? Irgendetwas in mir will diese Schriftrolle. Ich weiß, dass ich im hohen Bogen aus dem Lazarett fliege, wenn es bemerkt wird.
„Seufz. Ich bin eine kleine, dumme und naive Krankenschwester."
Ich horche kurz, um mich zu vergewissern, dass keine Ärzte oder Schwestern in der Nähe sind. Nur das Surren der viel zu grellen Lampen ist zu hören und das gelegentliche Austreten von Gasen aus den aufgedunsenen Körpern. An den Gestank hat man sich auch nach Jahren nicht gewöhnt. Mit leichtem Ziehen versuche ich, die Schriftrolle aus der steifen Hand zu lösen. Sein Griff ist fest. Ich beschließe, etwas grober vorzugehen. Finger für Finger biege ich gerade. Ein leises Knacken ist zu hören, dann kommt knittriges Papier zum Vorschein. Ich kann die Schriftrolle endlich an mich nehmen und lege den Arm des Mannes in die vorherige Position.
Mit einem Ruck springt die Tür hinter mir auf.
„Hallo, Kindchen! Wie geht es dir?"
Mein Atem stockt. Ich erschrecke mich furchtbar, bekomme aber keinen Ton heraus. Ich wirbele herum, die Hände hinter meinem Rücken.
„Danke, gut!"
Ich versuche, ein freundlich-harmloses Lächeln aufzusetzen. Es ist Schwester Rosmarie, eine beleibte ältere Dame, die zu den freundlicheren Personen hier zählt. Sie ist schon jahrelang hier und so etwas wie die hilfsbereite gute Seele.
„Na, meine Liebe. Schon wieder eine Leiche?"
„Ja, ich ... habe sie nur schnell hierhergebracht. Ich muss noch den OP-Raum fertigmachen für Herrn Fleisner."
„Ach, lass dich nicht aufhalten. Ich wollte den Bestand der Leichen überprüfen, da morgen wieder ein Transporter kommt. Freiwillig ist man hier ja nicht."
Sie dreht sich zur anderen Seite des Raumes um. Diese Gelegenheit nutze ich, um die Schriftrolle in meiner Kitteltasche verschwinden zu lassen.
„Nun, Rosmarie. Ich werde dann mal wieder gehen!"
„Ja, Helena. Ach ja, heute werden wir noch schauen, welche Medikamente besorgt werden müssen. Du wirst die Liste dann am Abend bekommen, ist dir das recht?"
„Ja, gut. Das ist okay!"
Mit hastigen Schritten gehe ich zum Ausgang.
Als die riesige Metalltür hinter mir zuschlägt, entweicht eine große Menge Luft aus meiner Lunge, und ich fange wieder an zu atmen. Mein Herz hämmert wild gegen meine Brust. Jetzt schnell zurück in den Operationsraum.
Nach wenigen Handgriffen im OP kommt Herr Fleisner mit ein paar Schwestern und seinem Patienten auf dem fahrbaren OP-Tisch. Ich werde rausgeworfen, wie immer viel zu früh. Kaum ein Patient bekommt einen sauberen Operationsraum. Zu wenige Schwestern hier und zu viele Patienten da draußen. Eine Situation, die mich schon lange beschäftigt und mich immer depressiver werden lässt. Die mangelnde Fürsorge unserer Ärzte trägt ihr Übriges dazu bei, denn sie haben kein Verständnis und schon gar kein Einfühlungsvermögen.
Manchmal denke ich, ich bin diejenige, die hier nicht normal ist.
Und jetzt stehe ich, wie so oft, in der Medikamentenkammer. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich habe schon vor Längerem damit angefangen, mir das Leben hier auf diese Weise zu erleichtern. Bisher hat keiner das Verschwinden des Jawa-Staubs bemerkt. Dieser wird aus großen Blüten gewonnen, die auf Feldern gezüchtet werden. Die Patienten bekommen ihn zur Betäubung durch die Nase. Ich nehme ihn auch, um mich zu betäuben. Eine kleine Menge des gelben Pulvers liegt auf meinem Finger. Die offene Dose steht neben mir, daneben der Dosierlöffel. Ich lege meine Nase auf die Fingerspitze und lasse den Finger unter ihr durchgleiten, während ich einen tiefen Zug nehme. Sofort spüre ich das Kribbeln und höre das Rauschen des Blutes in meinem Kopf. Die Umgebung wird langsam heller und klarer. Ein leichtes, wohliges Gefühl durchströmt meinen Magen. Das hat man hier auf der Station viel zu selten.
Schritte.
Es kommt jemand. Nein!
Die Tür geht auf. Rosmarie spaziert herein, dahinter Herr Fleisner.
„So, mein Kind. Hier ist die Liste mit ..."
Sie schaut auf und entdeckt den Jawa-Staub.
Große Augen auf beiden Seiten, aber aus unterschiedlichen Gründen.
„Beim allmächtigen Allvater, was denken Sie sich?"
„Ach Kindchen, was machst du da?"
Rosmarie springt vor, um die Dose mit dem Staub zu nehmen und zuzuschrauben.
„Sie wissen, dass damit Ihre Zeit hier im Lazarettkrankenhaus besiegelt ist? So ein unerhörtes Verhalten können und werden wir hier nicht dulden!"
Herr Fleisner ist in seinem Element. Sein Gesicht wird rot, und seine Falten tanzen in einem wütenden Rhythmus.
Wut und Verzweiflung steigen in mir auf, trotz des Rausches.
Ich finde keine Worte.
„Suchen Sie Ihre Sachen zusammen, und dann will ich Sie hier nicht mehr wiedersehen. Sie werden mit dem nächsten Transporter das Lager verlassen! Außerdem überprüfen wir unseren gesamten Medikamentenbestand. Sollte noch mehr fehlen, bezahlen Sie das!"
Das hier war eigentlich mein Berufswunsch. Was jetzt?
Meinen Eltern wird mein Scheitern gefallen. Sie wollten schon immer, dass ich in ihrer Bäckerei arbeite. Was Anständiges, Handfestes mache. Was Sicheres, wie meine beiden Schwestern. Jetzt muss ich zurück zu ihnen nach Hellmark, worauf ich mich nicht gerade freue. Bei meinen Eltern wohnen möchte ich nicht. Zu viele Vorwürfe und Nörgeleien. Keine noch so hohe Dosis Jawa-Staub würde mich das auf Dauer aushalten lassen. Meine beiden Schwestern hatten keine Probleme mit meinem Berufswunsch. Sie haben mir geholfen, wo sie konnten. Katarina ist über mehrere Wochen hinweg jeden Tag nach ihrer Frühschicht mit mir den menschlichen Knochenbau durchgegangen. Susanne, die Jüngste von uns, half mir bei den verschiedenen Kräutermixturen, weil sie sich auch dafür interessierte. Katarina und Susanne sind die Einzigen, die ich hier vermisse.
Ich erinnere mich gut an den letzten Tag mit den beiden.
Es war ein schöner Mondtag. Katarina hatte auf dem Markt eingekauft und gerade in der Küche unseren Picknickkorb bestückt. Der gute Eek-Käse, den ich so mag, und eine Flasche Kizz-Saft waren auch dabei, dazu noch weitere Früchte. Wir wollten gemeinsam an den Tarus spazieren und dort essen.
„Katarina, können wir? Susanne ist schon ganz ungeduldig."
„Lass mich noch kurz das Brot einpacken. Selbst gebacken, duftet herrlich!"
Ich grinste sie an.
„Freust du dich auf die Herausforderungen im Lazarett?", fragte sie völlig aus dem Nichts.
Eine kurze Pause.
„Na ja. Ich weiß nicht, was auf mich zukommt ..."
Ich verzog den Mund.
„Das wird schon, Helena! Mach dir da mal keine Gedanken!"
Sie nahm den Korb in die Hand.
„Gut, lass uns gehen! Vater und Mutter kommen erst später nach Hause. Sie müssen mal wieder viel erledigen."
Ich folgte ihr vors Haus, wo Susanne mit ihrer kleinen Stoffpuppe spielte.
Mit meiner ausgestreckten Hand bat ich sie, zu mir zu kommen.
„Jaaa, es geht endlich los! Hast du gehört, kleine Paula?", rief sie freudig.
Wir gingen aus der Innenstadt heraus.
Der Smog und der ganze Dreck in der Luft wichen langsam einer herrlichen Brise. Unser Ziel lag vor uns. Der Tarus mit seinem blauen, klaren Wasser. Zumindest hier in der Natur ist es noch frei von Verschmutzung. Wir ließen uns auf einem großen Stück Wiese direkt am Fluss nieder. Katarina faltete die große Wolldecke auseinander, während Susanne zum Fluss rannte, um zu spielen.
Der große Kirchturm von Hellmark war von hier gut zu sehen. Seine roten Dachziegel leuchteten im hellen Strahl der beiden Monde.
Wir setzten uns auf die Decke und öffneten den Korb. Ich griff sofort nach dem leckeren Eek-Käse. Katarina grinste und schenkte uns ein Glas Kizz-Saft ein. Dann brachen wir uns beide ein Stück Brot ab und begannen zu essen.
„Sag mal ... Hast du Angst?", fragte Katarina. Ich wusste sofort, was sie meinte und zögerte mit meiner Antwort.
„Ja. Vor allem der Umgang mit Verletzten und vielleicht auch Toten ist für mich noch sehr ungewohnt."
„Das verstehe ich gut", sagte sie.
„Ich hoffe, dass mein Chef und die anderen, die dort arbeiten ... Na ja, nett zu mir sind."
Mein Kopf wurde schwer, und ich musterte die rot-weiß karierte Wolldecke unter mir.
„Ach, meine Liebe, das wird schon gut gehen. Am Ende gefällt es dir noch so gut, dass du nicht mehr zurückkommen willst!", erwiderte sie und lachte mir zu.
„Euch zwei werde ich auf jeden Fall vermissen!"
Sie lächelte und kroch auf den Knien zu mir, um mich zu umarmen. Ihr typischer Duft drang in meine Nase: Ein Hauch von süßen Gänseblümchen gepaart mit dem leicht säuerlichen Waschmittel, das unsere Mutter benutzt. Ihre Körperwärme tröstete mich. Ich drückte sie leicht zurück, bevor sie wieder auf ihren Platz rutschte.
„Ich hoffe, es wird alles so, wie du dir das vorstellst!"
Wir beobachteten Susanne eine Weile, wie sie versuchte, einen Loomy aus der Luft zu fangen. Es waren mehrere in einem kleinen Schwarm an der Wasserstelle. Ihre Körper leuchteten leicht bläulich, was schön anzusehen war und wir wunderten uns beide, dass sie vor den Insekten keine Angst hatte, denn sie waren im Durchschnitt so groß wie ein Fingernagel und besaßen lange, buschige Fühler.
Aus der Ferne drang Gelächter in unsere Ohren.
Wir schauten in die Richtung der Stimmen und sahen drei Jungs. Einer von ihnen war etwas fülliger. Er lachte am lautesten. Als sie ungefähr zwanzig Meter von uns entfernt waren schauten sie zu uns rüber und kamen plötzlich direkt auf uns zu.
„Was wird das jetzt?", fragte ich Katarina. Sie sah mich erschrocken an.
„Susanne, kommst du bitte zu uns?", rief ich. Sie quengelte und versuchte weiterhin, einen Loomy zu fangen.
„Susanne! Du kommst sofort hierher zu uns, verstanden?"
Katarinas scharfe Zunge zündete schließlich.
„Menno, ich war noch nicht fertig. Paula will so ein Glühdings haben."
Sie zog eine Schnute, ging zu Katarina und setzte sich.
Die drei Jungs kamen näher. Sie waren schätzungsweise in unserem Alter. Der dickste der Drei hatte krauses, rotes Haar. Die beiden anderen überragten ihn um eine ganze Kopflänge. Der Hintere schien eher scheu zu sein, denn er schaute auf den Boden und ließ die Schultern hängen, während der andere breit grinste und die Nase weit oben trug.
Der kleine Dicke begann zu sprechen.
„Hallo, die Damen! Wir haben gesehen, dass ihr hier leckere Sachen bei euch habt, und da wollten wir uns schnell bedienen, bevor wir weiterziehen."
Mein Herz begann, schneller zu schlagen. Was bildete der sich ein?
Katarina antwortete.
„Und warum sollten wir euch etwas abgeben?"
„Weil wir es uns sonst einfach nehmen werden. Deswegen!"
Ich wurde wütend und mein Blut fing an zu kochen. Das war mein letzter Tag mit den beiden, und den wollte ich mir nicht von solch dummen Rostschrauben vermiesen lassen.
„Ihr werdet gar nichts von uns nehmen! Und jetzt lasst uns in Ruhe!", antwortete ich und nahm all meinen Mut zusammen.
Der Rote wurde auf einmal aktiv und ging an unseren Korb. Ich stand auf und zog ihn weg. Wir rangelten. Susanne fing an zu weinen.
Wie aus dem Nichts nahm der Große Anlauf und rammte mich mit voller Wucht. Ich flog auf den Boden und purzelte herum, bis es schwarz um mich wurde. Und nass.
Ich riss meine Augen weit auf, versuchte zu atmen und schluckte Wasser. Instinktiv glitt ich nach oben zum Licht und war wieder umgeben von Sauerstoff.
Ich hustete. Der Schreck saß tief.
Noch bevor ich begriff, was geschehen war, sah ich, wie die drei Jungs davonliefen. Der Korb war noch da. Und meinen beiden Schwestern schien es gut zu gehen. Katarina versuchte gerade, die Kleine zu beruhigen.
„Geht es dir gut, Helena?", rief sie mir zu.
Ich saß im Wasser.
„Es ... geht mir gut."
Ich prustete und stand auf. Meine Kleidung klebte an mir und meine Haare waren schwer wie Beton.
Ich schüttelte mich und tapste mit Schlurfgeräuschen zu den beiden.
„Was ist passiert? Die sind ja ziemlich schnell gerannt!"
Erst jetzt sah ich, dass Katarina eine aufgeplatzte Lippe und aufgerissene Fingerknöchel hatte.
Ich sah sie mit großen Augen an.
Sie hatte einen entschlossenen Blick.
„Wenn dumme kleine Jungs dir Böses wollen, dann wehre dich mit allem, was du hast! Sei niemals ein leichtes Opfer!"
Ich hielt einen Moment inne ...
„Verstanden?"
... und setzte mich auf die Decke.
„Verstanden ..."
Susanne hatte sich in der Zwischenzeit beruhigt. Sie krabbelte zu mir und lehnte sich bei mir an. Ich streifte ihr durch die Haare und blickte zum Dach des roten Kirchturms hinüber. Die Dachziegel glühten noch immer in hellem Rot.
Es ist Abend, meine Liege besonders unbequem, und die Gedanken kreisen. Was soll ich jetzt machen? In Hellmark gibt es keinen Bedarf an Krankenschwestern. Tausendbein liegt in der Nähe, das Leben dort ist dafür auch gefährlicher, weil die Stadt nahe an den Werwölfen und nahe am Krallenmoor liegt. Dort gäbe es bestimmt Arbeit für mich. Wieder ein Grund für meine Eltern, sich aufzuregen. Ich atme tief durch und schließe die Augen ... Die Bilder des Tages kommen hoch. Angefangen bei dem verletzten Mann, seinen Augen und kalten Fingern mit der ... Schriftrolle!
Ich springe auf und mache zwei schnelle Schritte zu meinem Kittel. Ein Griff in die Tasche, da habe ich sie. Das wird Ärger geben. Eigentum von Patienten müssen wir grundsätzlich am Empfang abgeben.
Rausgeworfen wurde ich ohnehin schon, also mache ich mir keine weiteren Gedanken.
Ich schaue die Schriftrolle eine Weile an. Ein kleines, schwarzes Band hält sie zusammen. Das Papier ist recht verknittert und gewellt.
Ich setze mich an den Tisch zu der kleinen Kerze, die mein ebenso kleines Zelt beleuchtet, und atme tief ein. Dann beginne ich, das schwarze Band zu öffnen. Ein paar Mal zupfen reicht und ich kann die Schriftrolle entfalten.
Es ist ein Plan.
Ich schaue mir die Formen und Zeichnungen an. Eine große Fläche ist zu sehen, die kleinere Zeichnungen beinhaltet. Links ist ein großer Turm eingezeichnet. Daneben ein rotes Kreuz, neben dem „Schwachstelle" steht. Eine bläuliche Linie führt an dem Turm vorbei.
Wasser.
Der Geschmack von Käse.
Die Haare von Susanne.
„Das ist Hellmark!", sprudelt es aus mir heraus.
Weitere rote Kreuze sind auf der rechten Hälfte zu erkennen.
„Schwachstellen."
Sieht aus wie ein Plan für einen Angriff.
Beim allmächtigen Allvater ...
Mein Herz wird schwer wie Beton. Ich starre das Papier an und mustere die einzelnen Fasern. Leere in meinem Kopf.
„Kindchen, bist du da?"
Mein Kopf schnellt nach oben. Die Schriftrolle verschwindet in einem dicken Buch auf dem Tisch. So langsam fängt diese alte Frau an zu nerven.
„Ja?"
Meine offene Zelttür geht zaghaft zur Seite und der rundliche Kopf von Rosmarie kommt zum Vorschein.
„Helena? Ich störe dich ungern, aber da sind ein paar Herrschaften. Sie sagen, sie kennen diesen Toten. Du weißt schon, den du in den Totenraum gebracht hast."
Mein Herz setzt aus. Soll ich diesen Leuten die Schriftrolle geben?
„Ja, Rosmarie! Danke, ich komme gleich!"
Nachdem sie mich zwei Sekunden lang angestarrt hat, zieht Rosmarie ihren Kopf nach draußen und lässt das Zelt zufallen. Hastig greife ich das dicke Buch mit dem eingelegten Plan und werfe es unter mein Bett.
Ich atme tief ein und gehe ins Freie.
Mittlerweile ist es düster geworden, der zweite Mond wird bald untergegangen sein. Mein Blick geht zum Haupttor. Da stehen sie. Ein Menschenzug. Jene kleinen Truppen, die durch Nuun ziehen, im Kampf gegen die Dämonen des Landes. Soldaten. Ihr Vorankommen zu behindern, kann schwer bestraft werden. Ich gehe mit kurzen Schritten in ihre Richtung. Unter ihnen ist eine junge Frau mit einem langen Gewehr auf dem Rücken. Sie schaut sich unsicher um. Der schmale junge Mann neben ihr blickt in meine Richtung. Er trägt, wie alle anderen, einen langen grauen Mantel. Ihre schweren Schuhe mit der goldenen Schnalle in Form des Kreuz-Emblems sind dreckig und verstaubt. Der große, stämmige Mann macht mir am meisten Angst. Er steht mit dem Rücken zu mir, auf dem er ein schweres Kettensägenschwert trägt. Die Worte des Toten kommen mir in den Sinn.
„Du darfst sie ihm nicht geben ..."
„Sie wollten mich sprechen?"
Der Stämmige dreht sich um. Sein Blick ist finster, und mein Körper steht unter Spannung. In seinem Mundwinkel klebt eine Zigarette mit Quintabak. Seinem Gestank nach zu urteilen raucht er viel zu viel.
Seine dunklen, kurzen Haare sind zersaust und die Wangen von einem dichten Bart bewachsen. Das Gesicht ist rau und kantig. Scheinbar der Zugführer. Seine klobige Hand greift nach der Zigarette in seinem Mund. Ein kurzes Schmatzen, als er sie rausnimmt.
„Ihre Wachen haben uns gesagt, dass Sie unseren Freund aufgenommen haben. Was ist mit ihm?"
Mein Blick wird schwer. So etwas mache ich nicht oft.
„Er ... war schwer verletzt und total außer Atem. Wir haben ihn in unser Lazarett gebracht, konnten ihm aber nicht mehr helfen. Er ... ist gestorben."
Sein Blick geht zu Boden. Er streicht sich mit der Hand, die nicht die Zigarette festhält, über das Kinn, und ich kann das Knistern seines buschigen Bartes hören.
Die blonde Frau macht einen Schritt nach vorne.
„Haben Sie ... Konnten Sie sehen, was ihn verletzt hat?"
„Er hatte einen Pfeil in seinem Rücken. Leider steckte er zu tief, als dass wir noch helfen konnten."
„Ein Pfeil", erwidert der Stämmige. Er als Soldat weiß, was das zu bedeuten hatte.
Jetzt wurde der schmächtigere der beiden Männer munter.
„Hat er noch was sagen können? Was ihm passiert ist? Hatte er etwas bei sich?"
Ich zögere mit meiner Antwort.
„Nein. Er kam zu mir gerannt, fiel auf die Knie und war tot."
Ich habe viel mit Menschen zu tun und verlasse mich gerne auf mein Bauchgefühl. Der Große ist mir nicht geheuer. Ich schlucke.
Die junge Frau streicht durch ihre stoppeligen, blonden Haare.
„Wir ... Ich meine ... was sollen wir jetzt tun?"
Sie zieht den Blick des Großen auf sich, dessen Stimme jetzt lauter wird.
„Was meinst du denn? Wir ziehen weiter. Das werden wir tun!"
Er blickt nach oben in Richtung Mond und seufzt laut.
„Da stehe ich ein einziges Mal nachts nicht am Baum, um zu pissen, und schon passiert so eine Scheiße!"
Er zieht kräftig an seiner Zigarette und schnipst sie dann auf den Boden. Den Rauch atmet er durch die Nase wieder aus und wirkt dadurch wie ein wild gewordener Bulle, der zum Angriff übergehen will.
„Wie ist Ihr Name?"
„Ich ... heiße Helena. Helena Keska."
„Gut, Helena. Können wir die Nacht hier verbringen? Wir sind den ganzen Tag marschiert, und wie es aussieht, ist die Umgebung hier nicht mehr sicher."
„Ich kann das nicht entscheiden. Sehen Sie das kleine Gebäude mit den braunen Ziegelsteinen? Dort wird Ihnen jemand sagen können, ob Unterkünfte frei sind."
„Gut."
Mit diesen Worten stapft er los. Seine zwei Gefolgsleute hinterher. Die junge Frau kommt zögernd auf mich zu.
„Vielen ... Dank für ... alles!"
Mit den Worten kommt ein zaghaftes Lächeln.
„Gern geschehen!"
Ich schaue ihnen hinterher, wie sie mit ihren klobigen Stiefeln davonziehen. Ihre grauen Mäntel wehen in der leichten Brise, die aufgezogen ist.
Es bereitet mir jetzt schon Unbehagen, dass sie die Nacht hier verbringen könnten. Meine Zelttür kann ich nicht absperren. Ein Reißverschluss wird niemanden daran hindern, zu mir vorzudringen, wenn er möchte.
Ich gehe zurück in mein Zelt. Das Buch liegt wieder auf seinem alten Platz, und ich halte den Plan in meinen Händen. Ich starre auf die Zeichnung und versuche, aus jedem kleinen Strich eine Information herauszubekommen, aber mehr als die markierten Stellen ist nicht zu entdecken.
Hektisch ziehe ich meinen Arbeitskittel an und greife meine Umhängetasche, in der ich den Plan verstaue. Zurückgeben werde ich ihn nicht.
Mittlerweile ist es dunkel geworden. Die Eulen sind positioniert, um beim geringsten Verdacht auf einen Angriff Alarm zu schlagen. Große Scheinwerfer leuchten in Richtung Wald. Außer den vereinzelten Wachposten sind alle in ihren Zelten. Nur die leisen Rufe der Eulen sind zu hören. Ein Zeichen für Sicherheit und Geborgenheit.
Ich gehe mit bestimmten Schritten auf die Kantine zu. Dort steht ein alter, großer Heizofen. Dieser soll das letzte Grab dieses abscheulichen Plans werden. Soll er in Rauch aufgehen, um keinen Schaden anzurichten.
Ich nähere mich der Kantinentür. Gerade als ich den Schlüssel aus meiner Tasche nehmen möchte, sehe ich einen pechschwarzen Spalt. Die Tür ist offen! Mit meiner flachen Hand drücke ich sie langsam nach innen. Im Eingangsbereich gibt es keine Fenster. Das helle Licht der beiden Monde wird von der Dunkelheit förmlich aufgefressen.
„Hallo ...?"
Wer sollte um diese Uhrzeit noch etwas hier zu suchen haben? Außer er hat vor, seine Familie und die Hauptstadt der Menschen zu retten.
Ich gehe vorsichtig weiter, während sich meine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnen. Außer meinen ehemaligen Arbeitskolleginnen fällt mir niemand ein, der für die Kantine einen passenden Schlüssel hätte. Durch Raten, alten Erinnerungen und das, was ich schemenhaft erkennen kann, finde ich die große Tür des Speisesaals. Langsam schiebe ich sie auf.
Ein großer Raum mit vielen Tischen und Stühlen liegt vor mir. Durch die großen Fenster auf der linken Seite strömt das Licht der Monde herein wie ein weißer Wasserfall in einen dunklen, schwarzen See.
„Ist jemand hier?"
Ich gehe weiter. Dank des Lichts komme ich schneller voran. Die Küche ist am anderen Ende des Saals.
Ein Poltern ist zu hören.
Ich nähere mich langsam der Tür und öffne sie.
Dunkelheit liegt vor mir, sowie das vereinzelte Aufblitzen von Töpfen und Pfannen. Nur ein sehr kleines Fenster dicht unter der Decke lässt ein wenig Licht in den schmalen Raum hinein.
Wieder das Poltern.
Ich schaue mich um. Große Messer hängen an der Wand. Ich nehme mir eins und gehe langsam weiter. Aus den Schatten und Umrissen der Gegenstände versuche ich, eben diese zu erahnen, auch um eine mögliche Gefahr frühzeitig zu erkennen.
Ich atme tief durch und gehe langsam weiter. Den Ofen habe ich gleich erreicht.
Eine Hand ergreift meine Schulter!
Ich wirbele herum, will reflexartig zustechen, aber mein Arm wird festgehalten.
„Hey, hey, hey! Willst du mich töten?"
„Aaaah! Wer bist du, und was willst du hier?"
Ich erschrecke mich furchtbar.
Mit einem Stoß schubst er mich gegen die Wand. Ich halte das Messer weiter schützend vor mich.
„Ach, du bist es! Beruhige dich bitte. Erkennst du mich nicht?"
Er macht einen Schritt nach vorne. Durch die Lichtreflexionen der weißen Wandkacheln erkenne ich sein Gesicht. Es ist der jüngere der beiden Männer aus dem Trupp. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich behalte das Messer in meiner Hand.
„Oh ... Hallo! Entschuldige bitte, du hast mich erschreckt ..."
„Das habe ich gemerkt. Ich habe ebenso wenig damit gerechnet, heute Abend hier jemanden anzutreffen.
Mein Name ist übrigens Octavio."
Auf einmal ertönen gellende Schreie von draußen.
Unsere Blicke gehen zu dem kleinen Fenster, dann wieder zurück zu unserem Gegenüber.
„Sind das eure Eulen?"
Jetzt ertönen pulsierende Alarmsirenen.
„Wir müssen raus hier, los!"
Ich renne in den Speisesaal, dicht gefolgt von Octavio.
Durch die großen Fenster können wir sehen, was sich im Lazarett abspielt. Ein muskulöser Werwolf steht mitten im Lager. Jemand versucht, vor ihm zu fliehen, aber er erwischt ihn mit seinem riesigen Streitkolben, an dessen Ende eine stachelige Steinkugel befestigt ist. Der Mann wird mit einer Blutfontäne brutal weggeschleudert. Die Ketten des Werwolfs, die er über seiner robusten Lederhose trägt, schleudern umher. Seine langen Haare wehen im Wind, und die Reißzähne blitzen auf. Ich bleibe wie angewurzelt stehen.
Es tauchen weitere Werwölfe auf, die auf allen Vieren rennend, Jagd machen auf die Menschen, die wie wild gewordene Ameisen umherlaufen. Markerschütternde Schreie mischen sich mit bedrohlichem Brüllen. Vereinzelt sind Schüsse zu hören.
„Helena, wir müssen hier verschwinden!"
Ich höre ihn zwar, aber ich kann mich nicht bewegen.
„Helena!"
Plötzlich ein lautes Knallen aus dem Flur. Die Eingangstür wurde aufgestoßen!
Ein Knurren ist zu hören und Schritte, die von einem spitzen Klackern begleitet werden.
„Runter, Helena! Unter den Tisch!"
Oh mächtiger Allvater.
Ich krieche unter einen der Speisetische, verschränke die Arme vor meinen angewinkelten Beinen und starre voller Angst in Richtung Tür, das Messer fest umklammert.
Das Klackern und Schnauben wird lauter. Erst jetzt sehe ich, dass Octavio ein kleines rotes Päckchen in den Händen hält. Eine grünliche Schnur ist daran befestigt, die er mit einem Gasfeuerzeug anzündet. Grelle Funken erhellen den Raum, die von einem lauten Zischen begleitet werden.
Die Tür springt auf.
Ein großer, knurrender Werwolf steht auf allen Vieren im Türrahmen.
Das Zischen, das gerade noch direkt neben mir war, wandert in Richtung Tür. Erst spät sehe ich, wie das kleine Päckchen den Werwolf direkt am Kopf trifft und neben ihm auf den Boden fällt.
Er reagiert auf diese Attacke mit einem lauten, zähnefletschenden Brüllen, während sich Octavio unter einen Tisch wirft. Eine laute, schädelerschütternde Explosion bringt alles um uns herum zum Beben. Staub und Gestein werden aufgewirbelt. Stühle und Tische fliegen in unsere Richtung, dann Taubheit und ein hohes Piepsen in den Ohren.
Ich huste mit voller Kraft und kriege kaum Luft.
Aus dem Nichts erscheint eine Hand, die nach mir greift und mich unter dem Tisch herauszieht.
Gedämpft und undeutlich kann ich ein „Helena! Raus hier!" vernehmen.
Ich konzentriere mich und stehe auf. Octavio deutet mir, ihm zu folgen.
Dort wo vorhin noch eine Tür und ein großer Werwolf waren, ist jetzt ein riesiger weißer Schutthaufen vermischt mit roter, breiiger Grütze.
Wir rennen beide durch.
Fast rutsche ich auf den Gedärmen des Werwolfes aus, kann aber gerade noch das Gleichgewicht halten.
Das Messer lasse ich dabei fallen.
Draußen angekommen atme ich tief ein. Frischluft. Ich huste ein letztes Mal den Staub aus meinen Lungen, dann schaue ich auf.
Um mich herum herrscht Panik.
Die Wachen sind ausgerückt und kämpfen gegen die anstürmenden Werwölfe.
Ein Blick zum Haupttor verrät mir, wie sie es durch den großen Elektrozaun geschafft haben. Ein riesiger Baumstamm hat das Tor in der Mitte gespalten und bildet eine Brücke für den anstürmenden, geifernden Tod.
„Da hinten sind die anderen! Los!"
Wir sprinten in die entgegengesetzte Richtung des Haupttors, was mir Sorgen bereitet.
Von Weitem kann ich den Großen aus dem Trupp erkennen. Er trennt einem vor ihm liegenden Werwolf gerade den Kopf ab. Blut spritzt, und sein Kettensägenschwert knattert in verschiedenen Tonlagen.
Wir rennen weiter. Plötzlich erscheint ein Werwolf, der von der Seite angerannt kommt. Er hat es auf mich abgesehen! Er starrt mich an, während er sich bedrohlich nähert.
Ein Schuss lässt mich zusammenzucken, sodass ich beinahe stürze. Der Werwolf jedoch fällt mitten im Lauf hin, rutscht ein paar Meter und bleibt reglos liegen.
„Dafür können wir uns später bei Dina bedanken!", schreit mir Octavio über die Schulter zu.
„Gabo!"
Der Große dreht sich zu Octavio um und macht eine finstere Miene.
„Wie viele Schrauben hast du locker, wo warst du?"
„Material besorgen! Wie sieht dein Plan aus?"
„Mein Plan? Wir verschwinden von hier! So schnell wie möglich!"
Sein Blick fällt auf mich.
„Was macht die Krankenschwester hier?"
„Ich habe sie unterwegs getroffen. Wir müssen sie mitnehmen!"
Er mustert mich mit verächtlichem Blick.
„Ich kann es nicht leiden, unnötigen Ballast dabei zu haben. Das bringt nur Schwierigkeiten. Aber bevor sie hier stirbt ... Von mir aus ..."
Gabo schaut suchend an mir vorbei.
„DINAAAA! ABMAAARSCH!"
Er deutet in Richtung der Backsteingebäude. Dahinter ist der Zaun, also eine Sackgasse.
„Los, folgt mir!"
Ohne zu fragen rennt Octavio ihm hinterher. Ich zögere einen kurzen Moment, folge den beiden dann aber.
Um uns herum bellende Schüsse und Schreie. Kugeln fliegen durch die Luft. Blut und Gedärme liegen auf dem Boden, neben den Körpern, denen sie einmal gehört haben.
Gabo rennt an den Zaun.
Schüsse hinter uns, die immer lauter werden.
Schließlich stößt die blonde Frau zu uns.
„Können wir hier raus, Dina?"
„Das ... Das können wir", antwortet sie völlig außer Atem.
Gabo startet sein Kettensägenschwert.
Ich mache große Augen.
„Moment mal! Du wirst dich umbringen!", schreie ich ihm entgegen. Gabo grinst mich jedoch nur herablassend an und sägt unter lautem Geknatter ein Loch in den Zaun. Ich schütze mein Gesicht vor dem Funkenregen.
Er stellt den Motor des Schwertes wieder ab.
„Ich ... habe mich um den Strom gekümmert", entgegnet mir Dina mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen.
Nacheinander schlüpfen wir durch den Zaun nach draußen. Gabo kommt als Letztes.
„Los, bewegt euch!"
Wir rennen. Vor uns ein kleines steiniges Tal mit großen Felsen und einem kleinen Wald.
Langsam wird der Untergrund felsiger, und meine Füße beginnen zu schmerzen. Mit diesem Problem scheine ich alleine zu kämpfen, die anderen laufen fleißig weiter.
Meine Tasche mit dem Plan darin schlägt gegen mein linkes Bein. Ich halte sie fest.
Schnauben um mich herum, mal heller, mal dunkler. Bei Gabo mischt sich Husten dazu.
„Okay, gehen wir normal weiter", höre ich von vorne und bin dankbar darüber.
Meine Beine hätten das nicht mehr lange mitgemacht.
Einen kurzen Augenblick atme ich durch.
„Wo gehen wir hin?", frage ich schnaubend.
„Erst entfernen wir uns weit genug vom Gefahrengebiet, dann schlagen wir unser Nachtlager auf", antwortet Gabo.
Schnauben und Schritte. Niemand sagt etwas.
Nach einem langen Fußmarsch kommen wir zu einer riesigen Felsformation, in deren Mitte sich eine kleine, relativ ebene Fläche befindet.
Octavio schaut sich um.
„Ich würde mal behaupten, hier können wir es aushalten."
„Ja. Schlagt eure Schlafplätze auf", raunt uns Gabo zu.
Ich beobachte, wie alle ihre Rucksäcke von den Schultern nehmen und die erforderlichen Dinge herauskramen. Dina rollt ihren Schlafsack aus und hat noch mit den Schnallen an der Seite zu kämpfen, während Gabo sich erst einmal eine Zigarette anzündet und sich die Gegend anschaut. Ich stehe daneben und fühle mich recht überflüssig.
Octavio scheint dies zu bemerken. Er kommt zu mir.
„Hey! Du kannst Olokas' Ausrüstung haben."
Ich überlege einen kurzen Moment.
„War das sein ... Name? Olokas?"
„Ja."
Erst jetzt sehe ich, dass Octavio zwei Rucksäcke getragen hat. Er gibt mir einen. Er ist beige und hat viele Schnallen und Taschen in verschiedenen Größen. Ich halte ihn kurz in meinen Händen, dann stelle ich ihn auf den Boden und öffne ihn. Ich ziehe den Schlafsack heraus, finde ein Essgeschirr sowie eine Trinkflasche und den Mantel, den auch die anderen tragen.
Meinen Schlafplatz baue ich zwischen Dina und Octavio auf. In der Mitte hat Gabo eine Feuerstelle errichtet, deren Holz er von den knochigen Lampyrbäumen neben den Felsen abgebrochen hat. Ihre Knospen leuchten normalerweise in einem angenehmen Weiß, aber diesen Exemplaren war das Leben längst entwichen.
Wir sitzen um das Feuer, und Octavio beginnt, einen kleinen Topf mit Zutaten zu füllen. Dina schaut zu mir rüber.
„Warum bist du überhaupt bei uns?"
„Ich bin auf Octavio gestoßen, als ich in der Kantine ... noch etwas holen wollte."
„Der Angriff hat uns auch überrascht", wirft Octavio ein.
„Was hattest du eigentlich in unserer Kantine zu suchen?", frage ich ihn.
„Siehst du das hier?" Er hält eine kleine bräunliche Packung in den Händen.
„Was soll das sein?"
„Zucker! Die wichtigste Zutat für die Zubereitung von ordentlichen Rauchgranaten!"
Mit diesen Worten kippt er die braunen Kristalle in den Topf und dazu noch andere seltsame Pulver, die er anschließend über dem Feuer verrührt.
Meine anfängliche Hoffnung auf eine warme Mahlzeit ist dahin.
„Das in der Kantine war aber eindeutig keine Rauchgranate!"
„Das stimmt. Explosionsgranaten stelle ich auch her, aber bestimmt nicht abends am Lagerfeuer. Und außerdem ist mir das rote Färbepulver ausgegangen. Mir fehlte die Zeit, euer Lazarett danach zu durchsuchen." Ein verschmitztes Lächeln tanzt über seine Lippen.
„Wo musst du hin?", kommt es auf einmal von der anderen Seite des Lagerfeuers.
Gabo hat seine Zigarette im Mundwinkel und schaut mich an.
„Ich muss nach ..."
Mein Atem stockt.
„Hellmark ..."
Gabo nimmt einen Zug und stößt den Rauch wieder aus seiner Nase aus.
„Das ist definitiv zu weit weg. Wir werden dich nach Hofstein bringen. Wir können uns dort neu ausrüsten und einen neuen Mitstreiter suchen. Von Hofstein aus kannst du ja mit der Dampfeisenbahn nach Hellmark fahren."
Seine Zigarette wandert wieder in seinen Mundwinkel, als wolle er damit seine Aussage als endgültig unterstreichen.
„Wie lange werden wir bis nach Hofstein brauchen?"
„Wenn wir gut vorankommen, schätze ich mal, dass wir übermorgen in der Abenddämmerung da sein werden", antwortet mir Gabo.
In Octavios Topf hat sich mittlerweile ein ekliger Brei gebildet, der langsam anfängt zu dampfen. Die Dämpfe sind süßlich und sauer zugleich, und der Zucker ist fast vollständig karamellisiert. Er schaut zu mir, während er weiter umrührt.
„Habt ihr in eurem Lazarett auch Nebelschatten behandelt?"
Die Frage überrascht mich.
„Nein. Fälle von Nebelschatten hatten wir nicht. Viel zu behandeln gibt es da ja auch nicht", sage ich zögernd.
„Oh, okay. Ich dachte, in der Zwischenzeit hätte man vielleicht ein Mittel zur Linderung gefunden."
Ich schweige und überlege, was Octavio mir sagen will.
Er schaut in seinen Topf, rührt weiter und korrigiert die Position auf dem Feuer.
Einen Moment lang ist es ruhig im Lager.
„Meine Frau ist an Nebelschatten gestorben. Daher meine Frage."
Ein kurzes, knappes Lächeln, dann schaut er mit ernster Miene auf seinen Topf.
„Das tut mir leid", erwidere ich nach ein paar Sekunden.
„Mein Sohn Aalon ist seitdem bei einer Krankenschwester in Tausendbein. Ihr Name ist Kristina, kennst du sie vielleicht?"
„Ähm ... Nein, ich ..."
„Na ja, hätte sein können."
Weitere Fragen möchte ich nicht stellen und schaue stumm in das kleine Feuer vor mir.
Gabo schnippt seine Zigarette in die Glut.
„Versucht jetzt zu schlafen. Je eher wir morgen aufbrechen, desto eher erreichen wir Hofstein. Mein Tabak ist auch bald verbraucht, und ohne Tabak werde ich ungemütlich!"
Ich schaue auf meinen Schlafsack. Es graut mir bei dem Gedanken, die Nacht hier im Freien verbringen zu müssen. Ich schäle mich aus meinem hellgrauen Kittel und falte ihn zu einer Art Kopfkissen zusammen. Während Octavio seine angerührte Masse gerade in mehrere Formen gießt, lege ich mich in den Schlafsack eines Toten. Die Trageschlaufe meiner Tasche wickele ich mehrmals um meinen Arm und die Schnalle zum Öffnen presse ich an meinen Körper. Das Ganze mache ich so schnell wie möglich unter meinem Schlafsack, damit es niemandem auffällt. Ich lege mich auf die Seite und schaue ins Feuer. Das Knistern beruhigt mich ein wenig. Immer öfter schließe ich die Augen und spüre, wie die Müdigkeit über mich kommt. Das helle Feuer wird grauer und dunkler. Die Flammen verlieren an Schärfe, und das Knistern wird dumpfer.
Schwärze.
Die Nacht ist unruhig. Ich wache des Öfteren auf, drehe mich im Schlafsack hin und her und fühle nach meiner Tasche. In kleinen Schüben kann ich etwas schlafen.
Ein lautes Klopfen lässt mich aus meiner letzten Schlafphase aufschrecken.
Mit kleinen Augen schaue ich in den Morgenhimmel und sehe, dass der zweite Mond kurz davor ist aufzugehen. Ich sehe mich um, und bemerke, dass das Klopfen von Octavio kommt, der mit dem Rücken zu mir auf dem Boden kniet. Gabo und Dina sind gerade beschäftigt, ihre Sachen zusammenzupacken.
„Kann mal einer unsere Krankenschwester aufwecken bitte?", ruft Gabo, der dabei ist, das Feuer auszupinkeln.
„Nicht nötig ... Ich ... bin wach."
Grinsend schaut mich Gabo an, während sein gelber Strahl auf das verkohlte Holz prasselt.
Ein langes Zischen, und beißend sauerer Dampf steigt mir in die Nase, was mir sehr dabei hilft, wach zu werden.
Ich richte mich angeekelt auf und bemerkte, wie sich Octavio zu mir umdreht.
„Ah, wieder unter den Lebenden. Konntest du schlafen?"
„Ja, ein wenig."
Erst jetzt sehe ich, dass Octavio seine gehärtete Masse aus den Formen schlägt und die fertigen Granaten in seinen Rucksack fallen lässt.
Gabo knöpft seine Hose zu und geht von der Feuerstelle weg, die immer noch zischt und weißen Rauch ausspuckt.
Ich schäle mich aus dem Schlafsack, nehme meine Tasche und drehe mich mit dem Rücken zu den anderen. Ich öffne sie schnell und sehe den Plan. Erleichterung steigt in mir auf.
Hastig rolle ich meinen Schlafsack zusammen, verschnüre ihn und stecke ihn in meinen Rucksack. Dina versucht derweil, ihren Mantel zu richten, der unter dem Munitionsgürtel verrutscht ist. Der Kragen hat sich verdreht.
„Ga... Gabo. Kannst du mir den Munitionsgürtel kurz abnehmen?"
Jetzt kann sie ihren Mantel glätten und den Gürtel sauber darüberstreifen. Ich ziehe meinen Kittel an und bemerke, wie kalt mir ist. Mein Blick fällt auf den Mantel in meinem neuen Rucksack.
„Octavio? Meinst du, ich darf den Mantel von eurem Freund tragen?"
Octavio schaut auf.
„Ja, ich denke, das sollte kein Problem sein."
Ich ziehe den Mantel heraus, schüttele ihn auseinander und schlüpfe in den ersten der beiden Ärmel.
„Was machst du da?"
Gabo, der schon in voller Montur ist, schaut zu mir herüber.
„Den wirst du nicht anziehen, pack ihn sofort in den Rucksack! Wir haben vierundzwanzig lange Monde hart gearbeitet, um diesen Mantel anziehen zu dürfen. Da wird keine einfache Krankenschwester ihn einfach so anziehen. Zumindest nicht in diesem Trupp!"
Mit diesen Worten schmeißt er seine Zigarette auf den Boden, die er mit einem Tritt auslöscht.
Octavio schaut vielsagend zu mir herüber. Ich kann in seinem Gesicht ablesen, wie leid ihm dieser Zwischenfall tut, und schlüpfe aus dem Ärmel heraus. Enttäuscht und sauer schiebe ich den Mantel zurück in den Rucksack.
„Können wir endlich?"
Gabo geht voran, wir folgen ihm.
Mein Magen knurrt. Es ist lange her, seit ich das letzte Mal was gegessen habe. Ich schätze,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Benjamin Spang
Lektorat: Kerstin Fricke
Tag der Veröffentlichung: 16.03.2016
ISBN: 978-3-7396-4364-9
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