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Vor vielen, vielen hundert Jahren lebte im Gebirge der Riese Silberstein. Er stapfte durch den dichten Wald und trug einen riesigen, schweren Hammer über seiner Schulter. Immer, wenn er an einem Felsen vorbei kam, schlug er mit Wucht darauf ein, dass nur so die Funken stoben. Dann zitterten alle Waldbewohner und meinten, es wäre ein furchtbares Gewitter ausgebrochen, mit Blitz und Donner.
Eines Tages kam der Riese an einen hohen Berg des Gebirges. Auf ihm standen schlanke Fichten, die bis in den Himmel ragten. Und zwischen den Fichten wohnten kleine Leute, die Fichtel-Wichtel. Manche Leute nannten sie auch Kobolde, denn sie flitzten hierhin und dorthin und trieben mancherlei Unfug. So bewarfen sie die Wanderer mit Tannenzapfen, raschelten in den Zweigen oder versperrten die Wege mit tiefen Pfützen.


Am schlimmsten trieben es die Brüder Wolfram und Nickel. Sie versteckten sich hinter den Stämmen der Fichten und gaben furchterregende Geräusche von sich, sie meckerten und wisperten, sie wieherten und krächzten, und wenn die Wanderer schreiend davonrannten, dann hielten sie sich ihre Bäuche und lachten.
Aber nicht der Riese Silberstein! Er trug eine dicke Wollmütze und so taten ihm die Tannenzapfen, die auf seinen Kopf fielen, nicht weh. Mit seinen großen, schweren Stiefeln stapfte er in die tiefen Pfützen, dass es nach allen Seiten spritzte und die Kobolde ganz nass wurden. Und als die bösen Wichtel ihren schauerlichen Gesang anstimmten, da nahm er seinen schweren Hammer von der Schulter und schlug damit gegen den Fels, dass den Brüdern Wolfram und Nickel die Mützen von den Köpfen flogen und ihnen Sehen und Hören verging. Nun lachten sie nicht mehr, sie sannen auf Rache.


Dann fiel ihnen eine ganz schlimme Bosheit ein und sie machten sich gleich emsig ans Werk. Mit Hilfe der anderen Wichtel, die sie nun alle gegen den Riesen Silberstein aufgehetzt hatten, gruben sie ein tiefes Loch und bedeckten es mit losen Zweigen und Ästen. Danach legten sie sich auf die Lauer und beobachteten den Riesen. Der hatte sich zum Abendessen ein Wildschwein erlegt und briet es jetzt über einem großen Feuer. Der Duft stieg den Fichtel-Wichteln in die Nasen und sie bekamen großen Appetit.
Sie häuften viele Tannenzapfen vor sich auf und dann begannen sie alle gleichzeitig mit dem Beschuss des Riesen. Von allen Seiten wurde er nun getroffen, am Hinterkopf, an den Ohren, an der Nase, an der Stirn, auf Brust und Bauch und an den Schultern. Er wusste gar nicht, wo er sich zuerst schützen sollte und so stand er auf und rannte ein Stück davon. Darauf hatten die Fichtel-Wichtel nur gewartet. Im Nu waren sie bei dem Braten, hoben ihn auf ihre kleinen Schultern und trugen ihn in Windeseile davon.


Als das der Riese Silberstein sah, brüllte er laut, schwang seinen Hammer in der Luft und rannte hinter den Räubern her. Die flinken Fichtel-Wichtel liefen über die Wiese, umrundeten ein Gebüsch, kletterten über einen umgefallenen Baumstamm und rannten weiter in den tiefen Wald hinein. Der Riese Silberstein rannte hinterher, er sprang über das Gebüsch, stieg über den Baumstamm und ach – der Boden unter ihm gab nach und er fiel in eine tiefe Grube. Weil lose Zweige und Äste darüber lagen, hatte er sie nicht gesehen. So war er nun gefangen und konnte nicht herausklettern. Die Fichtel-Wichtel lugten über den Grubenrand, sahen auf den tobenden Riesen Silberstein hinab und hielten sich ihre Bäuche vor Lachen. Dann setzten sie sich an den Grubenrand und verspeisten das Wildschwein. Sie schmatzten so laut, dass dem Riesen das Wasser im Munde zusammenlief und sein Bauch laut zu knurren anfing. Vor Wut schlug der Riese mit seinem großen Hammer auf den Felsen ein, dass die Funken stoben und es sich anhörte, als würde es donnern und aussah, als würde es Blitze regnen.


Er schlug und schlug und es lösten sich einzelne Steine aus dem Fels und so entstand eine Stufe. „Das ist ja toll“, dachte der Riese und schlug gleich noch mal und noch mal auf den Felsen ein. Es entstand noch eine Stufe und noch eine Stufe und ehe es die Fichtel-Wichtel merkten, war der Riese auf seinen Stufen aus der Grube gestiegen und packte sie fest am Kragen. Sie zappelten heftig und bettelten den Riesen, sie frei zu lassen. Dieser dachte aber gar nicht daran. „Ihr seid böse Räuber und ich werde Euch bestrafen. Jetzt werdet ihr in dieser Grube schmoren.“ Er stieg mit den Fichtel-Wichteln zurück in die Grube.
Er stellte jeden von ihnen auf einen Stein, nahm seinen Hammer und schlug die Fichtel-Wichtel in den Fels. In einem Fels war nun der Fichtel-Wichtel Wolfram, im zweiten war Nickel, im nächsten, war Zinn, gegenüber landete der Fichtel-Wichtel Wismut, daneben trieb er den Wichtel Eisen in den Stein, in einen anderen Fels rammte er den Wichtel Uran und einen, dessen Namen er nicht wusste, trieb er an der hintersten Wand in den Fels und sagte, hier sollst Du nun bleiben, du Kobalt. Zum Schluss setzte er den Fichtel-Wichtel Radon auf die unterste Treppenstufe und trieb ihn in den Stein.


Dann sagte er: “Und hier sollt ihr nun so lange schmoren, bis Euch jemand findet und wieder herausholt. Aber das wird nicht so bald geschehen, denn ich werde die Grube gut verschließen und Erde darüber decken. Es werden hohe Fichten auf der Grube wachsen und viele hundert Jahre werden vergehen, bis hier einmal Menschen herkommen und nach Euch suchen werden.“
Dann drehte sich der Riese Silberstein um und wollte gehen. Doch da donnerte es gewaltig, noch viel gewaltiger, als er es jemals mit seinem Hammer bewerkstelligt hätte. Eine tiefe Stimme sprach zu ihm: „Riese Silberstein, Du hast nicht das Recht, die Fichtel-Wichtel ihrer Freiheit zu berauben. Sie wohnten hier seit vielen hundert Jahren auf ihrem Fichtelberg. Zur Strafe sollst Du das Los mit ihnen teilen. Ein gewaltiger Blitz zuckte vom Himmel und streckte den Riesen Silberstein nieder. Mit einem tosenden Donnerschlag wurde er in den Fels getrieben und ruht nun neben den anderen Erzen im Fels.
So ist das Erzgebirge entstanden.


Und wie es der Riese Silberstein gesagt hatte, so geschah es auch.
Nach vielen hundert Jahren kamen Menschen in das Erzgebirge, bauten Dörfer und Städte und bohrten tiefe Löcher in den Berg. Dann stiegen sie mit ihren großen Hämmern in die Gruben und schlugen dort auf den Stein ein, dass nur so die Funken flogen.. Und sie fanden das wertvolle Erz, das Silber, Eisen, Zinn, Wolfram, Nickel, Uran und Radon und bauten es ab.
Und wenn Ihr heute ins Erzgebirge fahrt, könnt Ihr die Bergwerke und Museen besichtigen, die über das Leben der Bergleute im Erzgebirge berichten.
Wenn Ihr dann auf den Fichtelberg steigt und ganz leise seid, könnt Ihr noch heute hören, wie die Fichtel-Wichtel wispern und kichern und ihren Spuk treiben.
Und wenn ein Gewitter heranzieht und es so richtig blitzt und donnert, dann denkt an den Riesen Silberstein, der mit seinem großen Hammer auf den Felsen schlägt, dass nur so die Funken fliegen.

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Texte: © Leonore Enzmann
Tag der Veröffentlichung: 30.12.2009

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