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Dienstag war mein freier Tag. Ich hatte mich mit meiner Freundin Tina zum Mittagessen verabredet und sprang vorher noch kurz in die Kreissparkasse, um den monatlichen Scheck meines Vaters einzureichen. Der Bankangestellte begrüßte mich: „Guten Tag, Fräulein Conrad. Wie immer, Ihr Scheck?“ Er lächelte breit und sein Goldzahn blinkte mir entgegen. Ich überreichte ihm den Scheck und lächelte zurück. „Wie immer Herr Dittgen, heute ist wieder mal der Fünfzehnte.“
Dittgens Augen richteten sich starr auf einen Punkt hinter mir. Ich hörte ein Geräusch und dann eine Stimme: „Das ist ein Überfall. Alle auf den Boden!“
Mir wurde zugleich heiß und kalt. Ich drehte mich langsam um und erblickte eine schwarze Maske. Hellblaue Augen starrten mich unverwandt an. Die Mündung eines Revolvers war auf mich gerichtet. „Runter!“ Die Stimme überschlug sich. Langsam ließ ich mich zu Boden gleiten.
Der Bankräuber entfaltete eine große Plastiktüte und reichte sie Dittgen. „Nur Scheine, keine Münzen!“ Sein Dialekt wies ihn als Einheimischen aus, er sprach schnell und aufgeregt.
Dittgen fing an die Scheine einzusortieren. Der Bankräuber achtete mit einem Auge auf die am Boden liegenden Kunden, mit dem anderen schielte er auf Dittgen. Ich sah etwas, was er nicht sah. Am anderen Tresen bückte sich eine Bankangestellte unter den Tisch und drückte einen Knopf. Drei Minuten später jaulten die Sirenen.
Der Gangster riss Dittgen die Tüte aus der Hand, bückte sich und hielt mir die Waffe an den Kopf. „Du kommst mit!“
Wie in Trance erhob ich mich. Noch ehe die Polizei vor der Sparkasse eintraf, war der Gangster mit mir durch die Tür verschwunden. Er schubste mich zu einem Wagen, stieß mich hinter das Steuer, setzte sich selbst auf den Beifahrersitz und hielt mir wieder die Waffe an den Kopf. „Los fahr!“
Und ich fuhr, die Straße hinunter, immer gerade aus. „Wohin soll ich fahren?“
Er hatte die Tüte mit der rechten Hand umklammert und hielt mit der linken weiter die Waffe auf mich. „Aus der Stadt raus, schnell, gib Gas! Jetzt rechts – wieder rechts – hier vorn auf den Parkplatz.“ Von Weitem quäkte eine Sirene.
Ich steuerte den Wagen auf den „Kauflandparkplatz“ zwi-schen die anderen Wagen. Er sah sich kurz um, sprang aus dem Auto, zerrte mich hinter sich her, entdeckte einen Wagen, dessen Fenster ein kleines Stück nach unten gelassen war, angelte einen Draht aus seiner Tasche und öffnete damit gekonnt die Türverriegelung. Er stieß mich auf den Beifahrersitz und setzte sich hinter das Steuer. Hektisch riss er die Drähte heraus und schloss den Wagen kurz. Dann fuhr er los.
Als wir auf der Straße waren kam mir zum Bewusstsein, dass ich die kurze Zeit, in der er mit dem Knacken des Autos beschäftigt war, zur Flucht hätte nutzen können. Keine Sekunde hatte ich daran gedacht. Nun fuhr er aus der Stadt hinaus, bog auf die Landstraße ein, raste mehrere Kilometer auf ihr entlang und steuerte auf das Betriebsgelände der Müllverbrennungsanlage zu. Dort wechselte er auf dem Betriebsparkplatz wieder den Wagen. Auch diesmal floh ich nicht, wohl aus Angst, er würde mich erschießen.
Wir fuhren durch mehrere Dörfer. Im dritten Dorf bog er in einen Waldweg ein. Nach etwa einem halben Kilometer stand, von hohen Bäumen umgeben, neben einem kleinen Weiher, eine alte Villa. Er fuhr das Auto hinter das Haus, stieg aus und forderte mich auf, ihm zu folgen.
Im Erdgeschoss war eine Scheibe kaputt. Er half mir, hindurch zu klettern. Dann stiegen wir die Treppe zur ersten Etage empor und betraten einen Raum, der einstmals als Wohnzimmer gedient haben musste. Uralte verstaubte, mit Spinnweben verhangene Möbel, mottenzerfressene Gardinen und ein baufälliger Ofen bildeten die Einrichtung. Er ließ die Tüte mit dem Geld fallen, angelte aus seiner Jackentasche einen Strick und fesselte meine Hände auf den Rücken. Dann schob er mir einen Stuhl in die Kniekehlen. Ich setzte mich und er fesselte meine Knöchel an die Stuhlbeine. All dies geschah schnell, präzise und schweigend.
Als er damit fertig war, nahm er seine Maske vom Gesicht und schaute mich unschuldig an. Er hatte ein schmales Knabengesicht, kurze blonde Haare und einen Knick in der schmalen Nase, der auf einen alten Nasenbeinbruch schließen ließ. Seine blauen Augen blickten geradezu wie um Verzeihung bittend. Auf alle Fälle war es nicht das Gesicht eines kaltblütigen Gangsters. Unsicher lächelte er. „Es musste sein, sonst wäre alles umsonst gewesen. Ich hoffe, du verstehst das.“
Empört schüttelte ich meinen Kopf. „Ich verstehe es nicht. Warum hast du das getan? Du siehst gar nicht aus wie ein Krimineller.“
Verblüfft schaute er mich kurz an. Dann sagte er: „Wir werden eine Weile hier bleiben müssen. Ich gehe jetzt das Auto wegschaffen und hole uns was zu essen. Wirst du schreien, wenn ich fort bin?“
Ich funkelte ihn wütend an: „Worauf du dich verlassen kannst.“
Das hätte ich lieber nicht sagen sollen. Er zog unter seinem T-Shirt ein Halstuch hervor und band es mir vor den Mund. Dann sagte er: „Ich bin bald wieder da.“
In der Stunde, die er fort war, überdachte ich meine Lage und sah mich um. Eine Weile versuchte ich, mich zu befreien, aber es gelang mir nicht. Er hatte gute Arbeit geleistet.
Das Zimmer war zumindest trocken und warm. Es hätte schlimmer kommen können. Ein Telefon gab es allerdings nicht und ich bezweifelte, dass der Strom und das Wasser funktionierten. Schon aus hygienischen Gründen hoffte ich, nicht allzu lange hier aushalten zu müssen.
Mir fiel meine Freundin ein, mit der ich zum Mittagessen verabredet war. Sicher wird sie sich gewundert haben, dass ich nicht erschienen bin. Und die Polizei hatte mein Entführer ja auch erfolgreich abgehängt. Jetzt hoffte ich inständig, dass er wirklich wiederkommt.
Natürlich würde er wiederkommen, die Tüte mit dem Geld lag keine drei Meter von mir entfernt.
Als er kam, packte er zwei flache Kartons und zwei Flaschen Cola auf den Tisch, nahm das Halstuch von meinem Mund und fragte: „Wirst du friedlich sein?“
Ich nickte. Ein verführerischer Pizzageruch stieg mir in die Nase. Er schaute mich zweifelnd an und schüttelte dann seinen Kopf. „Ich werde dir die Fesseln lieber nicht abnehmen.“ Und dann begann er, mit einem Messer die Pizza in Stücke zu schneiden und mich zu füttern. Seine Hände waren feingliedrig mit langen Fingern und sauberen kurzen Nägeln. Keine Arbeiterhände.
Er öffnete eine Flasche und hielt sie mir an den Mund. Und ich schluckte und dann verschluckte ich mich. Ich hustete und japste nach Luft und er klopfte mir den Rücken. Als der Anfall vorbei war bedankte ich mich. Und dann fragte ich ihn ganz spontan: „Wie heißt du eigentlich?“
Eine Weile sagte er gar nichts, und dann: „Warum willst du das wissen?“
„Naja“ sagte ich, „damit ich dich ansprechen kann. ‚He du‘ klingt so blöd.“
Er zog die Stirn in Falten und einen Mundwinkel nach oben. Das sah komisch aus und ich musste mir das Lachen verkneifen.
„Michael. Und du?“
„Ich bin Rosemarie Conrad. – Hör zu! Ich werde nicht schreien und auch nicht weglaufen. Ich verspreche es. Aber mach bitte meine Fesseln ab. Sie schneiden mir so ins Fleisch, dass ich meine Hände kaum noch spüre.“
Er stopfte seine Pizza in sich hinein und reagierte nicht. Ich versuchte es noch einmal. „Bitte Michael, mach mich los. Ich werde ganz bestimmt nicht fliehen. Ehrenwort!“
Kauend schaute er mich an und nahm einen Schluck aus der Flasche. Dann sagte er: „Warum kann ich dir bloß nicht glauben? Ach ja, weil Frauen nie die Wahrheit sagen. Sie können nur eins: Männer verführen, ausnützen und dann wegwerfen.“
Irritiert sah ich ihn an. „Du hast wohl keine guten Erfahrungen mit Frauen gemacht?“
„Das kann man wohl sagen!“ Er erhob sich, faltete die leeren Pizzaschachteln zusammen und brachte sie in den Nebenraum. Eine Weile rumorte er herum und ich überlegte, was er wohl dort machte.
Ich rief: „Verdammt, mach mich endlich los. Wie lange willst du mich hier so gefesselt lassen? Bis ich abgestorben bin? Was machst du da drüben eigentlich? Was ist das für ein Raum?“
„Die Küche. Aber es gibt kein Wasser.“
„Na toll, und wahrscheinlich auch keinen Strom und keine Heizung. Was hast du denn erwartet? Dass das hier ein Hotel ist?“
Er kam wieder durch die Tür und hielt eine Gitarre in der Hand. „Schau mal, was ich gefunden habe.“ Er setzte sich mir gegenüber und klimperte auf den Saiten herum. Es klang schauderhaft.
„Ich kann spielen. Gib sie mir.“ Bittender konnte meine Stimme nicht klingen.
„Nein, du willst abhaun.“ Er klimperte weiter.
Jetzt wurde ich langsam sauer. „Verdammt, sei doch nicht so blöd. Du hast doch einen Revolver. Denkst du, ich will mich erschießen lassen?“
Er stand auf und angelte nach seiner Waffe, die er achtlos auf dem Tisch hatte liegen lassen. „Also gut. Aber wehe, du machst Mist!“ Er schnitt mit dem Messer meine Fessel durch und legte die Klampfe vor mich hin.
Ich rieb mir die Handgelenke, bis das Taubheitsgefühl verschwand. Dann nahm ich das Instrument und zupfte ein paar Akkorde. Sie war etwas verstimmt und ich spannte die Saiten nach Gehör. Jetzt klang sie besser und ich fing an zu spielen. Michael machte es sich auf dem Sofa bequem, hielt aber die Waffe im Anschlag. Nach einer Weile sagte er: „Du spielst gut. Wo hast du das gelernt?“
„Von meiner Mutter. Sie war Cellistin am Stadttheater, bevor ich geboren war. Ich hatte auch Klavier- und Violinenunterricht. Und ich spiele im Musikverein Orgel.“
„Und dein Vater? Was macht der?“
„Er ist Arzt, Unfallchirurg im Kreiskrankenhaus. Und ich studiere ebenfalls Medizin, falls es dich interessiert!“
„Du lebst also in einer richtig tollen Familie. Mama und Papa lesen dir jeden Wunsch von den Augen ab, du hast keine Geldsorgen und brauchst dir keine Gedanken um die Zukunft machen. So ein Leben muss man haben!“
Michael wirkte sauer. Scheinbar war er von einem normalen Leben weit entfernt. „Und was führst du für ein Leben, wenn man fragen darf?“
„Ein beschissenes. Ja genau – ganz beschissen!“
Ich legte die Klampfe zur Seite und sah ihn an. „Willst du darüber reden?“
Er spielte mit der Sicherung des Revolvers und ich hatte Angst, ein Schuss könnte sich lösen. Nach einer Weile knurrte er. „Was soll das bringen?“
Ich überlegte. „Meinst du, dieser Banküberfall kann dein Leben verbessern? War es das wert? Hast du Schulden? Schau doch wenigstens, ob das Geld dafür reicht.“
So weit hatte er scheinbar noch gar nicht gedacht. Er starrte auf die Tüte, stand auf, nahm sie und schüttete sie auf dem Tisch aus. Er nahm ein Bündel Scheine und fing umständlich an, sie zu zählen.
„Soll ich dir helfen?“
Er nickte leicht. Ich rutschte mit meinem Stuhl zum Tisch und wir zählten gemeinsam. Es waren genau zwölftausendreihunderfünfzig Euro.
„Scheiße. Der Kerl hat so langsam gemacht. Ich hoffte, es wären mindestens ...“
„Wie hoch sind denn deine Schulden?“
„Allein die Autos machen schon dreiundzwanzigtausend. Und dann noch die Frau und die Kinder.“
„Du hast Frau und Kinder? Willst du mir nicht doch erzählen, was passiert ist?“
Er schaute mich stirnrunzelnd an. „Vielleicht morgen. Es wird langsam finster. Ich schau mal, ob ich ´ne Decke finde.“ Er erhob sich und ging zur Tür. Dann drehte er sich zu mir um und feixte. „Ne ne, du kommst schön mit.“ Er griff wieder nach seinem Revolver und ich musste vor ihm her gehen.
In einem Zimmer stand ein Bett mit einer alten buckeligen Matratze darauf. Eine graue zerschlissene Steppdecke lag darüber.
„Hier, leg dich hin und schlaf!“ Michael zog sich einen Stuhl zum Fenster und stierte in die Finsternis, die jetzt ziemlich schnell hereingebrochen war. Ich blieb stehen und betrachtete angewidert meine Schlafstatt. „Und du?“, fragte ich überflüssigerweise. Er drehte seinen Kopf zu mir um, warf einen Blick auf das Bett und dann auf mich und verzog sein Gesicht zu einem leichten Grinsen. „Ich pass auf dich auf.“
„Wie du willst.“ In voller Montur legte ich mich auf das Bett und schloss die Augen. Nach zehn Minuten fror ich jämmerlich. Mir blieb nichts anderes übrig, als die schäbige Decke über mich zu ziehen. Michael beobachtete mich. Ich fragte ihn: „wie lange willst du das Spiel hier eigentlich durchziehen? Sie suchen nach uns und bald werden sie uns gefunden haben. Dann gehst du in den Knast und die ganze Aktion war umsonst. Und das alles für läppische zwölftausend!“
Eine Weile sagte er nichts. Dann fing er doch an, zu erzählen. „Knast ist allemal besser, als das Leben, das ich jetzt führe. Da kriege ich wenigsten regelmäßig was zu essen, und ein Bett habe ich auch.“
Ich fragte: „Kannst du denn nicht wieder zu deinen Eltern ziehen, wenn es mit deiner Ehe nicht klappt?“
Es vergingen mindestens fünf Minuten, ehe er antwortete. „Ich habe keine Eltern. Bin im Kinderheim aufgewachsen. Da war’s gar nicht so schlecht. Wir hatten schon Spaß dort. Dann lernte ich Maurer und bekam von der Jugendhilfe ein Zimmer zugewiesen. Aber als ich fertig war mit lernen, bekam ich keinen Job. Und weil ich noch nicht gearbeitet hatte, bekam ich auch kein Arbeitslosengeld, und Sozialhilfe auch nicht, weil angeblich meine Papiere nicht vollständig waren. Da habe ich mir einen Job gesucht in einem Hallenbad als Aufsicht. Ging aber nur vier Wochen. Wurde schlecht bezahlt. Dann verteilte ich ein viertel Jahr Flyer. Das Geld dafür habe ich bis heute nicht gesehen. Dann lernte ich in einer Kneipe meine Frau kennen. Sie nahm mich mit zu sich nach Hause. Das erste Mal ging‘s mir wieder richtig gut. Melanie wurde schwanger und wir heirateten. Ihr Vater arbeitet in einer Autowerkstatt. Ich habe da ein bisschen mit geholfen. Dort kaufte ich auf Raten den Passat. Als sie entbunden hat, bin ich ins Krankenhaus gefahren. Ich war so aufgeregt, weil sie Zwillinge bekam und da hatte ich dann diesen Unfall. Beim Überholen blieb ich an dem LKW hängen und wurde von ihm ein paar hundert Meter mitgerissen, ehe er merkte, dass ich mich bei ihm verhakt hatte. Mein Auto war Schrott. Mir ist nichts weiter passiert. Ich hab mir dann noch mal einen Passat gekauft, bei der gleichen Firma. Sie haben die Raten bloß aufgestockt. Dann habe ich mich freiwillig zur Bundeswehr gemeldet, wegen dem Geld. Ging ja auch ´ne Weile gut. Nur meine Frau machte Stress, weil ich so selten zu Hause war. Dann bekam ich Urlaub und fuhr heim. Von unterwegs rief ich meine Frau mit dem Handy an und sie machte wieder Theater. Und da habe ich mich so aufgeregt, dass ich mich verlenkte und eine Böschung runterstürzte. Das Auto war natürlich wieder Schott und ich kam leichtverletzt ins Krankenhaus. Ich bat Melanie, mir bei ihrem Vater noch mal ein Auto zu besorgen. Das tat sie dann auch. Er borgte uns sogar Geld, weil mein Sold nicht mehr ausreichte, die Schulden zu bezahlen. Naja, und dann hat die Bundeswehr Stellen abgebaut und ich saß mit meinen Schulden auf der Straße. Und meine Frau hatte nichts Besseres zu tun, als die Scheidung einzureichen. Nun muss ich Unterhalt für sie bezahlen, für die Zwillinge und die Raten für drei Autos. Und aus der Wohnung hat sie mich auch rausgeschmissen.“
Ich sah, dass er sein Gesicht in den Händen vergraben hatte. Seine Schultern zuckten. Ich stand auf und legte den Arm um ihm. Er war eiskalt.
„Willst du nicht ins Bett kommen?“ Er tat mir plötzlich leid. Seine Lebensgeschichte hatte mich tief beeindruckt. Er hatte sein ganzes Leben nur Pech gehabt.
Er schaute mich an und seine Stimme klang zweifelnd. „Ich kann doch nicht ...“
„Komm, du holst dir sonst den Tod.“ Ich packte ihn am Arm und zog ihn zum Bett. Ich wickelte uns in die Decke und spürte, wie er zitterte. Da schlang ich meine Arme um ihn und wollte ihn wärmen. Und er fasste das wohl als Aufforderung auf und küsste mich. Wir konnten es beide nicht verhindern, es erfasste uns wie eine Welle, wir segelten von der tiefsten Depression hinauf zum höchsten Glücksgefühl.
Der nächste Tag verging mit reden, lieben, essen und Zeitung lesen. Michael hatte uns noch einmal etwas Essbares von einem nahe gelegenen Kiosk geholt und gleich eine Zeitung mitgebracht. In großen Lettern auf der ersten Seite stand der Artikel über den Banküberfall und die Geiselnahme. Darunter war ein Aufruf meiner Eltern abgedruckt. Sie baten den Geiselnehmer, mir nichts zu tun und mich freizulassen. Sie wollten dann von einer Strafanzeige absehen.
Wir sprachen darüber und über seine Aussichten, einen fairen Prozess zu bekommen. Ich erzählte ihm, dass der beste Freund meines Vaters ein sehr guter Rechtsanwalt wäre. Ich würde ihn von Michaels Zwangslage überzeugen. Sicherlich würde er ihn herausboxen.
In der darauffolgenden Nacht konnte ich Michael endlich dazu bringen, sich am nächsten Morgen zu stellen. Ich wollte ihn zur Polizei begleiten und für ihn sprechen. Doch als wir am anderen Morgen erwachten, war das Haus umstellt. Der Verkäufer im Kiosk hatte, wie ich später erfuhr, Verdacht geschöpft und die Polizei informiert. Durch ein Megafon forderten sie Michael auf, die Geisel frei zu lassen und mit erhobenen Händen heraus zu kommen. Durch das Fenster sah ich, dass weiter hinten meine Eltern vor einem Auto standen. Ich ging als erste durch die Tür. Danach kam Michael. Der Polizist rief: „Werfen Sie die Waffe auf den Boden.“ Michael hatte sie aber gar nicht in der Hand, sondern in der Hosentasche. Er griff hinein, um sie heraus zu holen. In diesem Augenblick schoss einer der Polizisten. Die Waffe flog in hohem Bogen durch die Luft und landete vor den Füßen des Schützen. Dieser hob sie auf und rief: „Es ist eine Schreckschusspistole!“
Michael war tödlich getroffen zusammengebrochen. Ich warf mich über ihn, weinte und schrie: „Ihr Schweine! Heute wollte er sich stellen. Er ist kein schlechter Mensch.“ Ich umklammerte und schüttelte ihn. Seine gebrochenen blauen Augen starrten erstaunt ins Leere. Aus seinem Mund rann ein rötlicher Faden.
Meine Eltern hoben mich auf und nahmen mich in die Arme. Und mein Vater sagte: „Weine nicht um ihn. Er ist ein Verbrecher und keine Träne wert.“
Was wusste er von ihm?

Impressum

Texte: © 2009 Alle Rechte bei Leonore Enzmann. Nachdruck oder Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 08.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Aus meinem Buch: Menschen und andere Tiere

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