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In der Disko war es stickig, überfüllt und ohrenbetäubend laut. Lille kämpfte sich mit finsterem Gesicht durch die Massen. Seine Narben und Pusteln schillerten in allen Farben, er schwitzte heftig. Nach etlichen Drinks stand er nicht mehr ganz sicher auf seinen Beinen. Aber er vertrug eine Menge. So schnell brachte ihn nichts aus dem Gleichgewicht. Nur seine innere Unruhe wuchs. Er hatte sich durch das Toilettenfenster Zugang zur Disko verschafft, der Einlassdienst hatte ihn wie üblich abgewiesen. Es war immer dasselbe. Durch seine Allergie war er hässlich entstellt, kein Mädchen würde mit ihm tanzen und die Burschen schauten ihm angeekelt hinterher.
Dass er von den Türstehern noch nicht entdeckt worden war verdankte er der Tatsache, dass er relativ klein war. Aber er war auch sehr kräftig. Er tauchte in der sich ständig bewegenden Menge unter und – er suchte. Von Minute zu Minute stieg seine Anspannung. Heute musste es wieder geschehen. Seine Hormone spielten verrückt. Er brauchte eine Frau. Er würde sich eine schnappen und ihr ganz unauffällig die Halsschlagader abdrücken. Mit zu einem Entsetzensschrei geöffneten Mund und riesigen Augen würde sie ihn anstarren, bevor ihre Sinne schwanden. Dann konnte er sie auf seine Arme heben und sie zur Toilette tragen, als wäre seiner Partnerin plötzlich schlecht geworden. Und in der Toilette hätte er sie dann ganz für sich allein. Er würde nicht lange brauchen. Nur wenn sie zwischendurch zu sich käme, würde es gefährlich. Zuweilen musste er sehr grob werden. Manche Frauen kämpften wie die Löwinnen um ihre handbreit Wolllusttempel. Das war auch der Grund für seine ständigen Wohnsitzwechsel. Es war zum verrückt werden. Er war schließlich kein schlechter Kerl. Er hatte doch nur die gleichen Bedürfnisse wie andere junge Männer seines Alters auch. Aber sein Äußeres nahm ihm jede Chance, ein normales Liebesleben zu führen.
Da sah er „SIE“. Sie saß mit einigen anderen Mädchen an einem Tisch ganz nahe der Tanzfläche. Er arbeitete sich mühsam in ihre Richtung. Durch die rhythmischen Klänge des Schlagers und das Stimmengewirr der tanzenden Pärchen hindurch nahm er ihr glucksendes Lachen wahr.
Sie drehte den Kopf in seine Richtung und sah ihn an. Keine drei Meter war er von ihr entfernt. Sie hatte das schönste Gesicht, das er jemals gesehen hatte – und sie lächelte ihn an. Ungläubig und mit angehaltenem Atem blieb er stehen. Hatte sie wirklich ihn angelächelt?
Abrupt endete die Musik. In die beißende Stille hinein schrie der Diskjockey: „Damenwahl!“
Die Mädchen am Tisch erhoben sich alle gleichzeitig und stoben auseinander. Nur sie blieb stehen und blickte in seine Richtung. Unsicher kam sie auf ihn zu.
„Darf ich bitten?“ Ganz dicht stand sie nun vor ihm und er roch deutlich ihr Parfüm. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und suchte mit der rechten nach seiner.
„Ich bin keine sehr gute Tänzerin. Sehen Sie mir bitte nach, wenn ich Ihnen auf die Füße trete.“
Und sie lächelte ihn unschuldig an. Er konnte nicht fassen, was ihm da geschah.
Zögernd nahm er sie in den Arm und drehte sich mit ihr zu den langsamen Klängen der „Sechziger-Jahre-Schnulze“.
„Ich heiße Jane.“ Ihre blauen Augen strahlten wie Saphi-re. Sekundenlang hielt er ihrem Blick stand, dann senkte er seine Augen.
„Ich bin Lille.“ Er sprach sehr leise, aber sie hatte ihn verstanden. Mit abnehmendem Augenlicht war ihr Gehör immer schärfer geworden.
„Lille.“ Sie ließ die Buchstaben auf ihren Lippen zergehen.
„Ist das Ihr richtiger Name?“
Er überlegte. Von Klein auf hatte man ihn nur Lille gerufen, als ironischen Hinweis auf seine „Liliputgestalt“. Dabei war er einszweiundsechzig groß. Jane war kleiner als er. Es gab nicht viele Mädchen, denen er auf den Scheitel schauen konnte.
„Ich heiße Klaus.“
„Klaus.“ Wieder strahlte sie ihn an. „Sie tanzen sehr gut. Sie sind wohl oft hier?“
„Nein, nicht sehr oft.“
„Ich bin heute das erste Mal hier. Schoki wollte unbedingt, dass ich mit komme.“
Suchend blickte sich Lille um. Jane war also nicht allein gekommen.
„Schoki, ist das die Halbafrikanerin, mit der Sie am Tisch saßen?“
„Ja. Ihr Vater ist Sudanese. Aber sie hat ihn nie kennen gelernt. Schokis Mutter hat ihn sehr geliebt, er studierte hier in Deutschland. Aber dann musste er zurück zu seinem Stamm. Er hat sich nicht einmal von ihr verabschiedet und er hat nie von seiner Tochter erfahren. Ist das nicht traurig? Schoki ist so ein hübsches Mädchen.“
„Sie sind aber auch sehr hübsch. Sicher haben sie einen Freund.“
Jane wurde rot. Über dieses Thema sprach sie nicht einmal gern mit Schoki und nun fragte sie dieser junge Mann mit der sympathischen Stimme danach. Langsam schüttelte sie ihren Kopf.
„Im Augenblick nicht.“
Lille atmete leicht auf. Da ihm nichts einfiel, was er sie noch fragen könnte, drückte er sie etwas fester an sich. Regelrecht sehnsüchtig erwartete er ihr Zurückweichen. Doch im Gegenteil, sie schmiegte sich an ihn und ließ sein Herz höher schlagen.
‚Wieso tut sie das? Hat sie mich in der Dunkelheit des Raumes nicht richtig angesehen?‘
Er fühlte ihren schlanken Körper in seinen Armen und strich ihr mit der Hand zart über den Rücken. Ein Schauer stieg in ihm empor.
‚Kann es sein, dass sie meine Hässlichkeit nicht bemerkt?’ Bei diesem Gedanken krallte er seine Finger in ihren Rücken. Sie sollte aufhören, ihn wie einen normalen Jungen zu behandeln, der an jedem Tanzabend ein anderes Mädchen abschleppen konnte. Was fand sie an ihm? Wieso machte sie es ihm so schwer, ihr weh zu tun? Aus diesem Grund war er doch hier. Er musste eine Frau zittern sehen. Erst wenn ihn das blanke Entsetzen aus ihren Augen anschrie, fand er Befriedigung.
Er presste sie an sich. Die misstrauischen Blicke der anderen Pärchen machten ihn rasend. Wieso gestanden sie ihm keine Partnerin zu? Sie sollten sich um ihren eigenen Dreck kümmern. Er wollte niemanden sehen. Wütend drückte er sein pusteliges Gesicht an ihren Hals. Und wieder kam sie ihm entgegen. Sie legte beide Arme um ihn und nun tanzten sie, als wären sie miteinander verschmolzen.
Dann war die Musik zu Ende. Aber sie lösten sich nicht voneinander.
„Möchtest du etwas trinken?“ In seiner Stimme ganz nah an ihrem Ohr schwang ein Vibrieren. Wenn er sich an ihr festhielt sah sie vielleicht nicht, wie seine Hände zitterten. Er hatte sie „geduzt“. Wie würde sie reagieren?
„Gern.“
Es war nur ein Wort, aber ihre Lippen hatten dabei sein Ohrläppchen berührt und da konnte er sich nicht mehr beherrschen. Er drückte seine verschorften Lippen auf ihren Mund.
Ein gellender Schrei brachte die Lawine ins rollen. Grob wurde er von dem Mädchen gerissen. Er erhielt einen Stoß vor die Brust und taumelte gegen einen Pfeiler. Vor ihm tauchte eine braune Fratze auf und im gleichen Augenblick wurde ihm eine Faust in die Magengrube gerammt.
„Du verdammtes Schwein, lass die Finger von meiner Freundin. Du hässliches Stück Scheiße, ich reiß dir die Eingeweide heraus, wenn du sie noch einmal anrührst.“ Und unbarmherzig trommelten Schokis Fäuste auf ihn ein.
Nach seiner ersten Verblüffung schlug er zurück. Er traf Schoki hart am Kinn und sie fiel um wie ein Brett. Aufschreiend stürzte sich die Menge auf ihn. Als letztes sah er Janes entsetzt aufgerissene Augen. Wie schön sie doch war in ihrer Angst. Aber dann fiel er unter den wuchtigen Faustschlägen und Fußtritten der vom Blutrausch enthemmten Meute ins Koma.



Lille wachte unter einem dicken Kopfverband auf. Er hatte von Jane geträumt. Sie lag in seinen Armen und er küsste sie. Zärtlich streichelte sie ihn über die Haare. Mit ihr war alles so vollkommen anders. Ihr brauchte er nicht weh zu tun, um ihr seine Macht über sie zu beweisen. In seinen Lenden regte es sich auch ohne das Entsetzen in ihren Augen. Er war so erfüllt von den zärtlichen Gedanken an Jane, dass er ihr Bild jetzt, wo er die Augen aufschlug, ganz dicht vor sich sah und ihre Hände auf seiner Brust spürte. Als sich die Nebel vor seinen Augen teilten, blickte er in zwei dicke Brillengläser. Vielleicht war es ja die Ärztin? Aber sie trug keinen weißen Kittel, sondern ein luftiges Sommerkleid. Und dann stieg ihm der bekannte Duft ihres Parfüms in die Nase. Es war Jane. Und jetzt wusste er auch, warum sie an jenem Abend nicht vor ihm zurückgeschreckt war. Sie hatte sein entstelltes Gesicht einfach nicht sehen können. Und so spielte sein Aussehen für sie überhaupt keine Rolle. Für sie zählte nur der Mensch, der sich um sie bemühte, der höflich und später zärtlich um sie warb.
Und auch jetzt, mit ihrer dicken Brille, konnte sie ihn nicht sehen, denn sein geschundenes Gesicht war mit einem dicken Verband bedeckt.
Jane setzte ihre Brille ab und lächelte glucksend.
„Erkennst du mich jetzt? Du schuldest mir noch einen Drink.“
Lille verzog schmerzhaft sein Gesicht zu einem Lächeln.
„Ich habe dich erkannt. Setze ruhig deine Brille wieder auf. Auch so bist du für mich das schönste Mädchen auf der Welt.“
Jane wurde rot. „Sag‘ sowas nicht. Bitte mach‘ dich nicht über mich lustig. Ich weiß, wie mich die Brille entstellt. Aber ohne sie bin ich fast blind.“
Lille hob zögernd seine Hand zu ihrem Gesicht und streichelte sie über die Wange. Da beugte sie sich zu ihm herab und gab ihm einen Kuss auf seine aufgeplatzten Lippen.
„Es kommt nicht auf die äußere Schönheit des Menschen an, sondern auf seinen Charakter.“
Lille hatte sich diese Phrase schon tausendmal selbst gesagt, aber als er diese Worte vor ihr aussprach, schämte er sich dafür.
„Du hast Recht. Es zählt nur, ob einer ein guter oder ein schlechter Mensch ist. Schoki hat mir gesagt, du seiest hässlich und hättest lauter Ausschlag im Gesicht. Aber ich kann nichts davon entdecken. Unter deinem Verband schauen nur blaue Flecken von den Faustschlägen hervor. Und die verschwinden schließlich wieder. Und auch, wenn du so hässlich wärest, wie Schoki behauptet, was soll’s, ich spüre, dass du ein guter Mensch bist, und nur das ist wichtig. Gegen Ausschlag kann man was tun. Oftmals ist er auch nur psychisch bedingt und verschwindet von selbst, wenn man sein seelisches Gleichgewicht gefunden hat. Ich denke, das kriegen wir hin.“
Und sie nahm Lille in ihre Arme und küsste ihn und sie besuchte ihn jeden Tag im Krankenhaus, bis zu seiner Entlassung. Und als ihm der Verband abgenommen wurde, war von den Pusteln und Narben fast nichts mehr zu sehen.

Impressum

Texte: © 2009 Alle Rechte bei Leonore Enzmann. Nachdruck oder Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 07.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Aus meinem Buch "Menschen und andere Tiere"

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