Eines Tages sah ich unter der Birke in unserem Garten einen kleinen roten Hut leuchten. Wäre ich im Wald gewesen, hätte ich die kleine Rotkappe kurzerhand herausgedreht und mitgenommen. Wer weiß, wann ich wieder an dieser Stelle vorbei gekommen wäre, ein anderer Pilzsammler hätte sie in der Zwischenzeit weggeschnappt.
Aber sie stand ja in unserem Garten sicher vor dem unberechtigten Zugriff von Passanten. Und so ließ ich sie wachsen und gedeihen.
Am zweiten Tag hatte sie schon die doppelte Größe erreicht. Sie war wunderschön, ihr roter Hut glänzte in der Sonne. Der unten leicht verdickte weiße Stiel mit seinem schwarz gestrichelten Muster setzte sich leuchtend vom satten Grün des Rasens ab.
Ich strich mit dem Finger zart über den Hut und flüsterte ihr leise ins nicht vorhandene Ohr, was für eine Schönheit sie sei.
Am nächsten Morgen zeitig früh, meine Familie schlief noch, schlich ich mich leise in den Garten. ein prächtiger Riesenpilz prangte unter der Birke. Ich bückte mich und strich wieder mit dem Finger am Hutrand entlang. Igitt – mein Finger stieß an etwas Schleimiges. Da hatte sich doch unter dem Hut eine dicke Schnecke eingenistet und fraß ein großes Loch in die samtigen Röhren.
Mit spitzen Fingern umfasste ich den Fressfeind, zog ihn von meinem Pilz und warf ihn über den Gartenzaun. Töten wollte ich die Schnecke nicht, schließlich bin ich ein Tierfreund.
Ich betrachtete meinen Pilz von allen Seiten, von oben sah man ihm die Freveltat der Schnecke nicht an.
Ich verabschiedete mich von ihm und wünschte ihm einen schönen Tag.
Als ich am Nachmittag vom Einkaufen zurückkehrte und mit den gefüllten Einkaufstaschen den Garten durchquerte, traute ich meinen Augen nicht. Mein Pilz war weg!
Ich stellte die Tasche ab und eilte zur Birke. Leer war die Stelle!
Fassungslos nahm ich meine Taschen auf und betrat die Küche. Grinsend kam mir mein vierzehnjähriger Sohn entgegen: „Schau mal, Mutti, was ich in unserem Garten gefunden habe, eine riesige Rotkappe. Leider ist sie schon von einer Schnecke angefressen worden. Ich habe sie schnell mitgenommen, dass nicht noch die Maden rein gehen.“
So weit hatte ich noch gar nicht gedacht. Mein schöner Pilz sollte ungenießbar sein? Niemals!
Vergessen waren meine Einkaufstaschen. Ich schnitt mit dem Messer den Pilz, der von außen noch strahlend schön aussah, auseinander. Doch welch ein Graus! Die Röhren waren von unzähligen Gängen durchzogen, in denen sich dicke Maden tummelten. Und der Stiel? In den hatte sich ein dicker schwarzer Mistkäfer eingenistet und sein Zerstörungswerk fast vollendet.
Und was sagt mir das?
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!
Texte: © 2009 Alle Rechte bei Leonore Enzmann. Nachdruck oder Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin.
Coverbild: www.pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2009
Alle Rechte vorbehalten