Pünktlich vierzehn Uhr dreißig schloss Helga Winter ihre Bankfiliale auf, vor der schon die Rentnerin Anni Ermisch wartete.
„Guten Tag, Oma Ermisch. Na, haben die Enkel wieder Wünsche?“ Frau Winter beugte sich weit über den Bankschalter und brüllte der schwerhörigen Rentnerin ins Ohr. Diese stützte sich auf ihren Regenschirm, schüttelte den kleinen, weißhaarigen Kopf und brüllte zurück: „Nein, heute brauche ich das Geld für meine Party. Ich werde übermorgen achtzig. Da kommen sie alle; meine vier Kinder, neun Enkel und drei Urenkel. Geben Sie mir fünfhundert!“ Sie schob der Kassiererin ihr Sparbuch über den Tresen.
„Oje, da haben Sie ja volles Haus. Und Sie wollen ganz allein alles kaufen und vorbereiten? Helfen Ihnen denn die Kinder nicht?“
„Doch, doch. Meine Tochter holt mich dann von zu Hause mit dem Auto ab und fährt mit mir in den Supermarkt. - Was haben Sie denn?“
Die Augen der Kassiererin fixierten starr einen Punkt hinter der Rentnerin. Plötzlich wurde diese von einem jungen Mann zur Seite geschoben. Er beugte sich über den Tresen und schob Helga Winter einen Zettel zu.
„He, junger Mann, haben Sie denn gar keinen Anstand?“ brüllte Oma Ermisch. „Sehen Sie nicht, dass ich an der Reihe bin?“
Verblüfft starrte der mit einem Dreiecktuch maskierte Bursche die Rentnerin an. Dann sagte er: „Halts Maul, Alte!“ und reichte der Kassiererin eine Aktentasche.
Helga Winter hatte den Zettel fallen lassen, auf dem in ungelenken Großbuchstaben stand: ICH SCHIESSE SOFORT, WENN SIE ALARM GEBEN. ALLES GELD IN DIESE TASCHE.
Zitternd versuchte sie Oma Ermisch klar zu machen, dass dies ein Banküberfall ist. Mit weißem Gesicht schrie sie: „Nicht, Frau Ermisch, das ist ein Überfall!“
Aber Oma Ermisch hatte bereits ihren Schirm gehoben und drohend die Spitze gegen den Bankräuber gerichtet. Dabei zeterte sie: „Dir frechen Kerl müsste man den Hosenboden stramm ziehen! Und nimm den Lappen aus dem Gesicht, wenn du mit einem redest, man versteht dich ja nicht!“
Helga Winter stürzte hinter dem Schalter hervor und stellte sich vor die Rentnerin. Sie schrie: „Hören Sie auf, er wird uns alle erschießen!“
Der Mann zog eine Pistole, richtete sie auf die Frauen und brüllte: „Keine Dummheiten!“ Erst da erkannte die Rentnerin den Ernst der Situation. Mitten in der Bewegung hielt sie inne und erstarrte zur Salzsäule.
Mit fahrigen Bewegungen füllte Helga Winter die Tasche und schob sie dem Gangster hin. Dieser riss sie an sich, stieß die Rentnerin zur Seite und rannte rückwärts zur Tür. Als er mit aufheulendem Motor davon raste, brach Helga Winter weinend mit einem Nervenschock zusammen.
Die resolute Rentnerin aber lief leichtfüßig wie ein junges Reh aus der Bankfiliale und merkte sich Automarke, Farbe und die ersten drei Zahlen des Kennzeichens. Sie ballte ihre kleine Faust und rief: „Die heutige Jugend! Kein Wunder, dass es mit dem Staat bergab geht!“
Erneut betrat sie die Bank und notierte ihre Beobachtungen. Kopfschüttelnd betrachtete sie kurz die völlig aufgelöste Kassiererin, dann umrundete sie kurz entschlossen den Kassenschalter und klopfte Helga Winter beruhigend auf die Schulter. „Nicht weinen, mein Mädchen, ist ja nochmal gut gegangen. Der kommt nicht weit.“ Sie blickte sich kurz um, dann fand sie, was sie suchte. Sie nahm den Telefonhörer und wählte 110.
Dank ihrer Geistesgegenwart konnte der Täter zwei Tage später verhaftet werden. Ihre Geburtstagsparty aber wurde vom Bankdirektor persönlich ausgerichtet
Texte: © 2009 Alle Rechte bei Leonore Enzmann. Nachdruck oder Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin.
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Tag der Veröffentlichung: 03.05.2009
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Widmung:
Aus meinem Buch "Menschen und andere Tiere"