Kapitel Eins
Elinor saß zusammengekauert auf ihrem Diwan und brütete über einem Kreuzworträtsel. Die langen Beine steckten in bequemen Jeans und die Füße in monströsen Teddy - Hausschuhen. Ein weiter Pulli kaschierte ihren üppigen Busen. Die hüftlangen blonden Locken hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In dieser Aufmachung fühlte sie sich zu Hause am wohlsten. Natürlich würde sie sich so nicht auf die Straße wagen, denn sie hatte Stil.
Sie besaß eine sehr schöne Figur, war einsfünfundsiebzig groß und hatte beinahe Mannequinmaße , 93 – 62 – 91. Schon während ihrer Schulzeit wurde sie von einer Modellagentur entdeckt, als sie auf einer der zahlreichen privaten Partys ihrer Eltern eigene Kreationen selbst geschneiderter Kleidungsstücke vorstellte. Sie bewegte sich ungezwungen und trotzdem graziös und gab in langer Abendgarderobe eine ausgesprochen gute Figur ab. Nur ihre zu starken Oberschenkel, die sie sich beim Mountain-Byke-Fahren antrainiert hatte, machten eine Laufsteg-Karriere unmöglich. In Bademoden oder Unterwäsche fühlte sie sich wie ein Monster.
Aber selbst im Rampenlicht zu stehen entsprach auch nicht ihrem Wesen. Sie absolvierte eine Schneiderlehre und ihr großes Geschick wurde zum Beruf.
Bei einem Talente-Wettbewerb hielt man ihre Kreativität für förderungswürdig. Sie erhielt als Preis einen Studienplatz an der Kunsthochschule, Fachrichtung Modedesign. Seit zwei Jahren studierte sie nun und ihre Schränke füllten sich weiterhin mit Unikaten.
Noch waren Semesterferien, die Fachbücher lagen hinter den verschlossenen Schranktüren versteckt, die Nähmaschine war abgedeckt. Elinor wollte im Moment vom Studium nichts sehen und hören. Vom Studium nicht und besonders nicht von den Lehrern!
Ihr Leben stand wieder einmal auf dem Kopf. Ihr sehnlichster Wunsch hatte sich nicht erfüllt, die seelische Katastrophe hatte sie selbst zu verantworten. Sie durfte gar nicht über die Konsequenzen nachdenken, die sie sich da eingebrockt hatte. Aber der Alptraum hatte gerade erst begonnen.
‚Es müsste einen Knall geben und die Zeit um ein halbes Jahr zurückdrehen. Ich würde alles anders machen. Warum werde ich aus Fehlern immer erst hinterher klug?
Und warum habe ich nicht auf Susanna gehört? Jetzt sitze ich in der Patsche. Wie schön hatte ich mir alles ausgemalt. Ich war doch so glücklich, hatte die große Liebe gefunden. Aber ich habe mir selbst etwas vorgemacht. Zum zweiten Mal habe ich einem Mann vertraut und bin auf die Nase gefallen. Nur, dass ich jetzt mein Leben endgültig verpfuscht habe. Ich bin schon eine dumme Gans!‘
Schluss mit den düsteren Grübeleien! Sie musste einfach mal an etwas anderes denken, das Gehirn frei bekommen, spazieren gehen, ein schönes Buch lesen.
Gelesen hatte sie schon immer viel und war Stammgast in der Bibliothek. Besonders gern lieh sie historische Romane aus – und Mysteri. Am Besten beides in einem. Sie liebte es, wenn Elfen oder Hexen, Schamanen oder Zauberer ihr Unwesen trieben und die Menschen in Verzweiflung stürzten. Und wenn dann ein unschuldiges Kind oder ein bildhübscher Ritter die Menschheit rettete, konnte sie die Tränen kaum zurückhalten. Dann schwebte sie in einer Märchenwelt, aus der sie am liebsten nicht mehr in die Realität zurück gekehrt wäre.
Ein bisschen tat ihr schon der Rücken weh von der unbequemen Haltung. Sie langte neben sich und angelte nach dem schwarzseidenen Sofakissen mit dem roten Drachen darauf, welches sich am Fußende des antiken Sofas befand. Der Diwan war ein altes Erbstück ihrer Eltern und hatte schon viele Jahre auf dem Buckel, mehr als Elinor sich vorstellen konnte. Mutter saß auf ihm, als Elinor noch ganz klein war, und auch da war das Museumsstück schon uralt und unzählige Male neu bezogen worden. Ursprünglich besaß es einen Brokatüberzug. Der Diwan war zwar alles andere als modern, aber sie hing an ihm. Außerdem war er eine Erinnerung an viele unvergessliche Stunden, in denen sie im Schneidersitz vor ihrer wunderschönen Mutter auf dem alt ehrwürdigen Möbel saß und spannenden Geschichten von Königen und schönen Jungfrauen lauschte.
Dann hatte sie sich in allen Einzelheiten ausgemalt, selbst eine Prinzessin zu sein, in einem Schloss zu wohnen und einen Königssohn zum Gemahl zu haben. Und sich das vorzustellen fiel ihr auch recht leicht, denn
die Wohnung der Eltern war wie ein Museum in einem alten Schloss eingerichtet. Die Möbel waren sicherlich ein paar hundert Jahre alt und Elinor kannte niemanden in der heutigen modernen Zeit, der auch nur annähernd so eine Ansammlung musealer Stücke besaß.
Als sie fünf war, hatte Mama ihr eine Krone gebastelt und sie ihr auf die goldenen Locken gesetzt. Dabei lächelte sie geheimnisvoll und sagte: „Du bist wirklich eine Prinzessin, meine kleine Elinor. In meinem Herzen wirst du immer eine Prinzessin sein.“ Und Elinor hatte geantwortet: „Ja Mama, und du bist meine Königin und Papa der König. Nur schade, dass wir keinen Prinzen haben, den ich heiraten kann.“
Da hatte die Mama sie in die Arme geschlossen und gesagt: „Du wirst ganz sicher einen wunderschönen Prinzen finden und eine große Hochzeit feiern. Und alle Leute werden euch zujubeln, wenn ihr auf dem Thron sitzt und das Königreich regiert.“ Und so spannen sie ihr Märchen weiter und weiter.
Elinor wurde ganz traurig, wenn sie an diese unbeschwerten Zeiten dachte, in denen sie in einer Märchenwelt lebte.
Seit dem Tod ihrer Eltern vor drei Jahren lebte sie allein in der Junggesellenbude. Den Tag würde sie nie vergessen. Es war ihr zwanzigster Geburtstag. Sie erwartete ihre Eltern aus dem Urlaub zurück. Elinor hatte alles vorbereitet, die Kaffeetafel war gedeckt, der Kuchen gebacken, Tischschmuck liebevoll arrangiert.
Da klingelte es Sturm an der Tür. Zwei Polizisten standen davor und machten ein betretenes Gesicht. Nach einigem Herumdrucksen kamen sie mit der Horrornachricht heraus. Auf der Autobahn hatte es einen Unfall gegeben. Siebenunddreißig Fahrzeuge waren ineinander gerast. Ihre Eltern verstarben noch an der Unfallstelle.
Eine Welt brach zusammen. Von einem Tag auf den anderen stand sie vollkommen allein da, denn sie besaß keine Geschwister und auch sonst keine Verwandten. Der einzige Mensch, an den sie sich nun mit Macht klammerte, war ihr Freund Hendrik – ein junger Mann aus der Nachbarschaft, der vor vier Monaten mit seinen Eltern in die Stadt gezogen war. Sie hatte sich unsterblich in ihn verliebt, aber er liebte seine Freiheit mehr als sie. Er warf ihr vor, sie würde sich wie ein Kind an ihn klammern, er fühlte sich von ihr eingeengt; sie nähme ihm die Luft zum atmen. Zu ihr in die große Wohnung ziehen wollte er auf keinen Fall.
So löste sie die elterliche Wohnung auf und mietete die Singlemansarde. Kurz darauf verließ ihr Freund sie endgültig und zog mit einem anderen Mädchen ab. Elinor erlitt einen Nervenzusammenbruch. Wäre Susanna nicht gewesen..., oje. Trotzdem sie Susanna in den letzten Monaten so vernachlässigt hatte, war sie jetzt ihr letzter Halt im Leben, schließlich war sie ihre beste Freundin, die sie schon aus der Schulzeit kannte.
Susanna war eine Frohnatur. Sie hatte Elinor nicht zur Ruhe kommen lassen. Und sie war eine Rebellin. Susanna duldete keine Widerrede. Trübsalblasen gab es bei ihr nicht. Sie nahm Elinor auf Veranstaltungen und Demonstrationen mit. Sie las ihr jeden Artikel vor, den sie für die Zeitung schrieb. Susanna arbeitete als Volontärin bei der hiesigen Tageszeitung. Geschrieben hatte sie schon immer. In der Schule schrieb sie die politischen Artikel für die Schulzeitschrift. Sie war Klassensprecher und Schriftführerin, und sie fertigte jede Woche eine Wandzeitung an.
Aber eigentlich wollte Susanna Ärztin werden und hatte auch schon zwei Semester Medizin studiert. Doch ihre immerwährenden Querelen, politischen Reden, die sie vor den Studenten hielt, ihre Aufforderungen zu Sitzstreiks und Demonstrationen, die sie anzettelte, hatten ihrer Karriere ein vorzeitiges Ende bereitet. Man exmatrikulierte sie kurzerhand. Da stand sie nun, ihres Jugendtraumes beraubt und kämpferischer denn je.
Dann erinnerte sie sich ihrer Schreiberqualitäten, bewarb sich bei der Zeitung und wurde angenommen. Jetzt war sie in ihrem Element. Und sie war glücklich.
Ohne Susanna hätte Elinor das Studium niemals begonnen. Susanna hatte sie aus ihrem Alptraum gerissen. Dieses grauenhafte Jahr, in dem sie alles verloren hatte, sollte ein Neuanfang werden. Susanna hatte sie bei der Hand genommen und war mit ihr zum Talente-Wettbewerb gefahren, bei dem sie das Studium gewann. Und wieder war es Susanna gewesen, die sie zur Kunsthochschule zerrte. Denn sie hatte sich gesträubt. Sie war der Meinung, ihr Talent reiche nicht aus. Doch dann war sie froh, auf ihre Freundin gehört zu haben. Das Lernen machte ihr Spaß. In einigen Fächern besonders.
Denn da war Sören. Er war vierunddreißig, ihr Geschichtslehrer und verheiratet. Aber das hatte sie nicht gestört. Auch nicht seine drei Kinder. Seine Frau war klein und ziemlich mollig. Sie hatte gegen Elinor keine Chance. So jedenfalls hatte es ihr Sören geschworen, jedesmal wenn er in ihrem Bett lag, in ihrer Mansarde. Und sie war seit langer Zeit wieder glücklich. Bis sie schwanger wurde. Es war ihr klar, er würde seine Frau verlassen und sie heiraten.
Susanna hatte sie für verrückt erklärt. Ständig lag sie ihr in den Ohren und warnte sie: „Lass es dir wegmachen, du machst dein Leben kaputt. Und was wird aus deinem Studium?“
Elinor wurde unsicher. Aber sie wartete bis zum vierten Monat. Dann konnte sie es nicht mehr abtreiben lassen. Sören hatte keine andere Wahl, er würde sie heiraten müssen.
Er tat es nicht. Und er war böse mit ihr. Er schrie sie an. „Wie konntest du die Affäre nur so ernst nehmen. Dir hätte klar sein müssen, dass ich meine drei Kinder nicht verlassen würde. Ich bin kein Großverdiener. Was glaubst du, was ich an Unterhalt für meine Frau und die Kinder zahlen müsste. Da bliebe mir zum Leben nichts mehr übrig.“
Nun hatte sie die Bescherung. Sie war im vierten Monat schwanger, hatte keinen Vater für das Kind, konnte es auch nicht mehr abtreiben lassen, war mitten im Studium und wusste nicht, wovon sie sich und ihr Kind durchbringen sollte.
Sie steckte sich das Sofakissen hinter den Rücken und lehnte ihren Kopf an den golddurchwirkten Gobelin, auf dem Jagdszenen abgebildet waren. Ihre Beine legte sie auf einen der beiden hochlehnigen Stühle mit ehemals brokatenen Kissen, von gleicher Machart wie der Diwan, die links und rechts vom Tisch standen. Von Tisch und Stühlen hatte sie die Beine kürzer gesägt und sie so dem Diwan angepasst.
Vier Stühle, die ebenfalls dazugehört hatten, aber nicht in die kleine Wohnung passten, hatte Elinor Susanna verkauft.
Immer wenn sie es sich so richtig bequem machte, überkam sie ein Gefühl, als hätte ihr Leben noch gar nicht richtig begonnen. Irgend etwas fehlte, aber sie wusste beim besten Willen nicht, was es war. Ein sonderbares Prickeln ging durch ihren Körper, wenn sie sich auch nur einen der für die heutige Zeit seltsamen Möbelstücke betrachtete. Sie blickte in den dunkelbraunen verzierten Wohnzimmerschrank, dessen Türen mit Intarsien aus Elfenbein und Perlmutt ausgelegt waren und durch dessen Scheiben Sammeltassen aus filigranem Porzellan, Kristallkaraffen, Goldpokale, langstielige Wein- und Sektgläser und alle möglichen Nippesfiguren blinkten. Auch den Schrank hatte sie samt Inhalt aus der elterlichen Wohnung herüber gerettet, genauso wie den Tisch, die Stühle und den Gobelin. Viel mehr an Möbeln passte in den kleinen Raum mit der schrägen Wand nicht. Unter der Schräge stand noch der kleine Fernsehapparat, den sie aber nur einschaltete, wenn Berichte über ferne Länder liefen.
Sie beugte sich wieder über den ovalen, ebenfalls mit filigranen Intarsien bestückten Tisch und vertiefte sich in ihr GEO. Die Zeitschrift GEO Spezial hatte sie vor einiger Zeit abonniert. Mit großen Interesse laß sie Reportagen über exotische Gebiete der Erde, die bisher kaum erforscht waren. Verschneite Landschaften im hohen Norden, Urwaldsafaris, die eisigen Gebiete der Antarktis, winzige Inseln im Pazifik, fremde Völker und unbekannte Tierarten faszinierten Sie immer wieder aufs Neue. In dieser Ausgabe stand ein Artikel über Transsilvanien. Bilder der wilden Karpaten mit undurchdringlichen Wäldern und reißenden Gebirgsbächen regten Ihre Phantasie zum Träumen an.
Darunter befand sich das Preisrätsel. Das Lösungswort sollte eine „Verwunschene Stadt in Siebenbürgen mit neun Buchstaben“ ergeben. Sie begann das Rätsel auszufüllen, doch einige Fragen konnte sie beim besten Willen nicht beantworten. Einige Buchstaben des Lösungswortes hatte sie bereits gefunden. Erster ein A, dritter ein g, neunter ein k. Sie holte ihren Weltatlas aus dem Schrank und schlug die Seite von Rumänien auf. Siebenbürgen - Südkarpaten – transsilvanische Alpen. Aber keine Stadt, die in dieses Raster passte. Ratlos schob sie das Ende ihres Bleistiftes in den Mund und zermalmte ihn. Im Laufe etlicher Kreuzworträtsel hatte er schon die Hälfte seiner roten Farbe eingebüßt und eine reliefartige Oberfläche angenommen.
Die nächsten zwei Worte brachten ihr ein t und ein a ein. Aber das war es auch schon. A-g-t-a-k - keine Ahnung! Eine solche Stadt gab es auf keiner Landkarte. Und ausgerechnet diese Buchstaben fehlten ihr beim Lösungswort. Der Preis von 15000.- Euro rückte in weite Ferne. Und sie hätte das Geld mehr als nötig.
Ja, das Leben kostete Geld. Und 15000.- Euro waren eine Menge Geld für Elinor. Und irgendwann musste sie ihre Schulden schließlich an Susanna zurückbezahlen. Auch wenn diese nichts davon hören wollte.
Sie beugte sich wieder über den Tisch und vertiefte sich in ihr Rätsel. Doch ihre Gedanken schweiften abermals ab. Ihr Blick wanderte über die roten Samtgardinen, die fast bis zum Fußboden reichten und einen Teil der Dachschräge verdeckten. Durch das Fenster erblickte sie einen Ausschnitt des trüben, wolkenverhangenen Himmels. Obwohl erst Anfang September, war es ein ekliger grauer Herbsttag. Die Bäume begannen bereits ihr Laub abzuwerfen, bräunliche Blätter wirbelten über die Fensterscheibe und verfingen sich in der Laufschiene des Rollladens.
Unversehens begann sie zu frösteln. Von der Straße hörte sie das gleichmäßige Surren des Großstadtverkehrs. Eine Straßenbahn quietschte um die Kurve, irgendwo machte sich jemand mit einer Schlagbohrmaschine zu schaffen. Der junge Mann in der Wohnung unter ihr hatte seine Stereoanlage wieder einmal auf voller Leistung laufen, dumpf dröhnten die Bässe, Technomusik schlug wie ein Hammerwerk gegen die Wände.
Irgendwie müsste doch diese verdammte Stadt heraus zu bekommen sein! Vielleicht gab es ja in der Bücherei spezielle Karten über diesen Teil der Welt?
Sie erhob sich und ging zum Kleiderschrank in ihr winziges Schlafzimmer.
Flink schob sie einige Röcke und Kleider zur Seite, dann hatte sie gefunden, was sie suchte. Ein figurbetontes himmelblaues Etuikleid mit rundem, farblich abgesetzten Dekolleté, dazu hochhackige Pumps und die Windjacke, fertig war sie. Nun noch etwas Rouge auf die Lippen, den Haargummi gelöst und die Haare gebürstet – perfekt. Ihr Bäuchlein war fast noch nicht zu sehen.
Sie fuhr mit dem Bus in die Stadt und ließ sich von der Bibliothekarin alles über Siebenbürgen und Transsilvanien zeigen. Auf den Landkarten war keine Spur von dieser Stadt zu entdecken. Verschiedene Bücher behandelten die blutrünstige Vergangenheit des Grafen Dracula, aber auch hier gab es keinen Ort mit diesem Namen. Wo konnte sie noch suchen?
„Versuchen Sie es doch mal im Antiquariat“, schlug ihr die freundliche Frau mit der dicken Hornbrille vor.
Elinor bedankte sich und fuhr zum Stadtarchiv, in dem auch das Antiquariat untergebracht war. Ein greiser Herr im fadenscheinigen Anzug saß hinter einem altmodischen Tresen und blätterte in einem dicken Wälzer. Als Elinor ihr Anliegen vortrug, schaute er sie geheimnisvoll blinzelnd an und nickte dann ein paar Mal.
„Ja, ich glaube, ich kann Ihnen da weiter helfen.“
Umständlich erhob er sich und schlurfte in dicken Pantoffeln durch eine Tür. „Kommen Sie, kommen Sie. Es ist ein bisschen düster hier zwischen all den hohen Regalreihen, stoßen Sie sich nicht.“
Er lief vor ihr her in vornübergebeugter Haltung und schwenkte seine langen dünnen Arme. Plötzlich blieb er stehen und griff in ein Fach. Dort zog er ein sehr altes, ziemlich verstaubtes Buch heraus und überreichte es Elinor strahlend.
Sagen und Mythen aus Siebenbürgen und Transsylvanien stand in alten Lettern auf dem Einband. Elinor schlug das Buch irgendwo in der Mitte auf und fand wieder nur Sagen über Graf Dracula.
„Nein, nein. Sie müssen hinten im Inhaltsverzeichnis nachsehen. Da gab es noch andere Legenden. Vor vielen Jahren, als ich dieses Buch ankaufte, habe ich es gelesen. Ich kann mich erinnern, dass da von einer verwunschenen Stadt die Rede war, auf der bis heute ein schrecklicher Fluch lastet.“ Er nahm ihr das Buch aus der Hand und fuhr mit dem Finger das Verzeichnis hinab. „Hier, auf Seite 84.“
Er schlug die Seite auf. Da war eine wunderschöne Landschaft mit einem uralten Schloss abgebildet, welches von Feldern und Wiesen umgeben war. Zwischen all dem Gelb und Grün dieser weiten Flure lag ein kleiner Marktflecken von etwa vierzig bis fünfzig Häusern und winzigen Höfen daran. In der Mitte konnte man den Marktplatz gut erkennen. Bauern bestellten ihre Felder mit Ochsengespannen. Um all die Idylle herum zog sich eine hohe Mauer, die nur von einem einzigen geschlossen Tor unterbrochen war.
Als Untertitel stand: Angstmark 1564
„Hier haben Sie Ihren Ort. Ich wusste doch, dass ich ihn hier finden würde.“
Elinor bedankte sich begeistert. „Kann ich mir das Buch ausleihen? Ich würde die Geschichte dieses Ortes gern nachlesen.“
„Das ist nicht nötig. Sie ist nicht so lang. Warum lesen Sie die Sage nicht gleich hier? Sie können sich dort an den Tisch setzen.“
Elinor blätterte die Seite mit dem Bild um und sah, dass diese Geschichte wirklich nur aus einigen Zeilen bestand. Sie machte es sich in dem altmodischen Ohrensessel bequem, der an einem kleinen runden Tisch neben einem Monster von Feuerlöscher stand.
Kapitel Zwei
Angstmark 1564
Ferdinand der Erste, seit 1531 Römischer König, gründete nach seiner Wahl zum König von Böhmen und Ungarn die habsburger Donaumonarchie. Sein ungarisches Königtum hatte er ständig gegen äußerliche Anfeindungen zu behaupten. Schon seit 1432 waren die Türken immer wieder in das Land eingedrungen. Nach dem Sieg der Türken 1526 bei Mohacs unterstützten die Osmanen Johann I. Zapolya. Gegen diesen konnte sich Ferdinand nicht durchsetzen.
Das dazugehörige gebeutelte Fürstentum Siebenbürgen war nun Untertan des Osmanischen Reiches. Es folgten Jahre der Tributpflicht. Eine kleine Schar Abtrünniger, welche sich nicht länger der Türkenherrschaft unterwerfen wollte, machte sich auf in das Siebenbürger Hochland mit seinen unberührten dichten Wäldern, tief eingeschnittenen weiten Tälern und wilden Flüssen.
Ihrem Anführer Baldwin erschien eines nachts eine Fee. Sie befahl ihm, sein Lager, welches er in einem wunderschönen Talkessel aufgeschlagen hatte, nicht wieder abzubrechen, sondern genau an dieser Stelle eine Ortschaft zu gründen. Sie versprach ihm, sie und ihr Feenvolk hielten von nun an ihre schützende Hand über die Menschen und niemand würde sie in ihrer neuen Heimat angreifen können, weder die Osmanen, noch irgend ein anderer Eroberer.
Die Fee verbrachte die Nacht mit Baldwin und als er am nächsten Tag erwachte, lag neben ihm in seinem Zelt ein neugeborenes Kind, ein wunderschöner Knabe mit blauen Augen und blondgelockten Haaren. Baldwin nahm das Kind der Fee als seines an und errichtete in dem Tal sein eigenes kleines Reich. Er baute mit seinen Männern Hütten und legte Felder an.
Eines nachts erschien ihm wieder die Fee. Sie betrachtete ihren Sohn wohlgefällig, der sich inzwischen zu einem süßen Knaben von zwei Jahren entwickelt hatte. Da sprach sie zu Baldwin: „Ich sehe, du bist ein guter Vater und ein guter Patron über deine Untertanen. Du sollst über dein Reich herrschen dein Leben lang und deine Nachkommen ebenfalls.“
Und als Baldwin am nächsten Morgen erwachte, ward ihm ein wunderschönes Schloss gebaut, welches sich majestätisch über die Häuser seiner Stadt erhob. Es hatte Zinnen und Türmchen und alles, was zu einem Schloss gehört. Eine große Freitreppe führte zu dem schmiedeeisernen Portal und ein liebevoll angelegter Schlossgarten umgab das Gemäuer. Den ganzen Talkessel jedoch, mit all seinen Häusern, Feldern und Wäldern umgrenzte eine hohe Stadtmauer mit einem Stadttor, welches sich zu dem Waldweg öffnete, auf welchem die Menschen vor zwei Jahren gekommen waren.
An seinem Finger aber steckte ein breiter goldener Siegelring. Auf diesem war das Schloss abgebildet, mit der Stadtmauer um den Ort und über allem eine schützende Hand.
Baldwin feierte mit seinem Volk ein großes Fest und rief sich selbst zum König über seine Untertanen aus. Die Fee blieb seit jenem Tage unsichtbar, hielt aber wie versprochen ihre schützende Hand über das kleine Königreich.
Fünfundzwanzig Jahre lebten alle in Frieden und Wohlstand. Das kleine Königreich war weitab von allen großen Städten und wurde von den Türken kaum wahrgenommen. Es war einfach zu klein und uninteressant. Im Laufe der Zeit entwickelten sich jedoch Handelsbeziehungen zu einigen Ortschaften des Fürstentums Siebenbürgen. Der Waldweg wurde zu einer breiten Handelsstraße ausgebaut, auf der ein reger Verkehr mit Ochsenfuhrwerken herrschte. Den Menschen ging es von Jahr zu Jahr besser und König Baldwin war sehr beliebt bei seinem Volke.
Solodur, das Feenkind, wuchs zu einem hübschen jungen Mann heran. Er war lebenslustig und intelligent und trieb allerlei Späße mit seinen Freunden, denn er hatte schon früh gemerkt, dass er etwas besonderes war. Er besaß einiges an Magie und die setzte er zur allgemeinen Belustigung ein. So konnte er zum Beispiel Gegenstände verrücken oder durch die Luft fliegen lassen. Mit einem scharfen Blick brachte er das Wasser im Krug zum Kochen. Ebenso konnte er Blitze aus seinen Fingern schießen und so das Feuer im Kamin entzünden.
In seinem 25. Lebensjahr ehelichte er die schöne Elinor, eine Cousine väterlicherseits. Noch im gleichen Jahr wurde König Baldwin krank und konnte seine Staatsgeschäfte nicht mehr ausüben. Auf dem Sterbebett krönte er seinen Sohn.
Der junge König Solodur und seine wunderschöne Frau Elinor erwarteten ihr erstes Kind. Das Volk, welches in der Nähe des Schlosses in der kleinen Ortschaft wohnte, welche man Neumarkt genannt hatte, bestand vornehmlich aus Bauern und Handwerkern. Die Leute liebten ihren neuen König und ihre Königin sehr und freuten sich mit ihnen auf die Geburt des Stammhalters. Doch eines Tages geschah das Ungeheuerliche.
Die Königin lief mit ihrer Zofe die breite Schlosstreppe hinab, um im Schlosspark spazieren zu gehen. Da wurden sie von einem schwarz bemäntelten Reiter überfallen. Mit einem Knüppel schlug er der Zofe auf den Kopf. Als sie von den Schlosswachen in ihrem Blute gefunden wurde, war die Königin verschwunden.
Sofort ließ König Solodur das Stadttor schließen und den Räuber suchen. Aber es fand sich keine Spur von ihm. Nun wurden alle Leute verhört, aber – entweder wussten sie nichts, - oder sie sagten ihm nicht die Wahrheit. Keiner hatte den fremden Reiter gesehen.
In seiner höchsten Verzweiflung stieß der König einen wilden Fluch aus:
„Die Zeit soll still stehen für alle Menschen in meinem Reiche!.
Niemand darf die Stadtmauern verlassen!
Händler, die in die Stadt Einlass verlangen, sollen hereingelassen werden, aber niemals wieder hinaus!
All meinen Untertanen sollen für ihre Lügen Haare im Munde wachsen!
Keine Familie soll ein Kind gebären, bis ich meine Elinor wiederhabe und mein Stammhalter geboren wurde!“
So sprach der König laut zu seinem Volke und alles, was er gesagt hatte, wurde wahr.
Die Menschen lebten von einem Tag zum anderen und gingen ihrer Arbeit nach, aber niemand wurde älter. Keine Familie bekam seither ein Kind, aber allen Menschen, ob groß, ob klein, ob jung, ob alt, wuchsen lange Haare aus dem Mund und sie schämten sich sehr.
Nur die Natur richtete sich nicht nach dem Willen des Königs. Das Korn auf den Feldern wuchs und konnte geerntet werden. Die Kühe und Schweine in den Ställen bekamen Junge und so herrschte keine Hungersnot. Anfangs kamen noch viele Händler in die Stadt und boten ihre Waren feil, aber da keiner von ihnen zu ihren Familien zurückkehren konnte, wurden es mit der Zeit immer weniger und bald traute sich niemand mehr in die Nähe der verfluchten Stadt. Und weil allen Menschen die Angst tief ins Mark gefahren war, wurde aus Neumarkt ANGSTMARK. Die Straße dahin verfiel und wurde von Wald überwuchert. Ein letzter Zufahrtsweg fiel einem Erdbeben im Jahre 1789 zum Opfer und so geriet die Stadt in Vergessenheit und niemand weiß heute mehr so richtig, wo sie sich eigentlich befindet.
Noch immer wartet König Solodur auf die Rückkehr seiner geliebten Elinor und die Geburt seines Stammhalters. Und seine Untertanen sehnen sich nach der Erlösung von dem Fluche, aber keiner weiß eine Antwort auf die Frage nach dem Verbleib der Königin.
Kapitel Drei
Elinor bedankte sich beim Antiquar und beeilte sich nach Hause, um ihre Rätselauflösung rechtzeitig abzusenden.
Ein paar Tage später ging das Herbstsemester los. So gern Elinor die Schule besuchte, so schwer fiel es ihr jetzt, am Unterricht teilzunehmen. Ihre Schwangerschaft konnte sie nun nicht mehr verheimlichen und die Kommilitonen fragten ihr Löcher in den Bauch, wer denn der Vater sei und wann sie vorhabe, zu heiraten.
Erst versuchte sie, die ganze Sache ins Lächerliche zu ziehen: „Ihr wisst doch, wie eine Jungfrau zum Kinde kommt.“
Doch so leicht ließen sich die Mitschüler nicht abspeisen.
„Willst du uns um den Polterabend bringen? Los, raus mit der Sprache – wie heißt der große Unbekannte?“
Besonders Fabian aus der Bildhauerfakultät stichelte. Er konnte es immer noch nicht verwinden, dass er bei Elinor abgeblitzt war.
Und dann war da auch noch der Geschichtsunterricht bei Sören. Elinor wusste nicht, wohin sie schauen sollte.
Sören hielt seinen Unterricht ab, als wäre Elinor ihm unbekannt. Er lachte und scherzte, machte den Mädchen Komplimente und würdigte Elinor keines Blickes.
Elinor kochte. Womit hatte sie das verdient? Erst große Liebesschwüre und dann weniger als Luft! Am liebsten hätte sie ihr Studium hingeschmissen.
Am Abend kam sie fix und fertig nach Hause. Sie schmiss die Tasche in die Ecke und ließ sich tränenüberströmt auf den Diwan fallen. Nach einer Weile nahm sie ihr Handy und wählte Susannas Nummer.
Eine halbe Stunde später klingelte es an der Wohnungstür. Susanna stand mit Severin davor. Schweigend ließ Elinor die beiden ein. Dann fiel sie ihrer Freundin schluchzend in die Arme.
Susanna war relativ klein, einsvierundsechzig, sehr zierlich gebaut und hatte ihre kurz abgestuften Haare feuerrot gefärbt. Das gab ihr fast das Aussehen eines Knaben, und genau das beabsichtigte Susanna auch, weil sie, wie Elinor sie manchmal aufzog, ein gestörtes Verhältnis zum männlichen Geschlecht hätte. Aber das hinderte die beiden nicht daran, seit ihrer Kindheit die dicksten Freundinnen zu sein.
Susanna klopfte Elinor auf den Rücken.
„Komm, erzähle, was ist passiert?“
Sie setzten sich miteinander auf den Diwan und Severin machte sich am Kühlschrank zu schaffen. Er füllte drei Gläser mit Apfelsaft und setzte sich zu den beiden Mädchen.
Severin war schon lange in Elinor verliebt, traute sich aber nichts zu sagen, weil Elinor in ihm nie mehr als einen guten Kumpel gesehen hatte. Severin war im Gegensatz zu seiner zwei Jahre jüngeren Schwester ein Riese, einsfünfundachzig, breitschultrig, muskulös. Seine blonden gewellten Haare reichten ihm bis zu den Schultern. Er war ein Schönling und er wusste das. Aber genau diese Tatsache hatte Elinor von jeher abgeschreckt, mit ihm etwas anzufangen. Sie hatte zu viele Mädchen weinen sehen, denen er das Herz gebrochen hatte. Aber als guten Freund würde sie auf ihn nicht verzichten wollen. Er hatte goldene Hände. Alles was er anpackte, gelang ihm. Als gelernter Tischler hatte er Elinors Möbel restauriert, sie für die Mansarde passend gemacht, ihre Wohnung tapeziert, Teppichboden verlegt und wenn irgend etwas an der Elektrik zu reparieren war, konnte sie sich auf ihn verlassen.
Elinor wischte mit dem Ärmel die Tränen von den Augen und hauchte: „Er ist ein Schwein.“
Susanna sah sie groß an: „Wer?“
„Sören! Er tut so, als wäre nichts passiert. Ich könnte ihn umbringen. Glaubst du, er hätte mich auch nur ein einziges Mal angesehen? Er macht seinen Unterricht, als wäre ich überhaupt nicht anwesend. Es scheint ihm noch Spaß zu machen, mit den Weibern zu flirten.“
Elinor ballte ihre Fäuste und schlug sie gegeneinander.
Susanna legte die Hand auf Elinors Schulter und sagte nur: „Männer!“
Elinor zischte: „Männer sind Schweine!“
Severin klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. „Na na na. Schmeißt nicht alle in einen Topf. Es gibt auch anständige Kerle. Schaut mich an. Ich würde dir so etwas nie antun!“
Elinor zog eine Augenbraue nach oben. „Ich weiß, Severin, du bist in Ordnung.“
„Ich meine es ernst, Elinor. Du weißt, ich bin jeder Zeit für dich da. Verschwende doch deine Nerven nicht an diesen Idioten. Er ist das doch nicht wert.“
„Na, das meine ich aber auch“, hakte Susanna ein. „Du bist nicht alleine, wir sind beide für dich da, immer wenn du uns brauchst!“
Elinor breitete ihre Arme aus und umarmte ihre Freunde.
„Ich bin so froh, euch zu haben. Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne euch anfangen würde.“
Und sie nahm sich fest vor, den Rat der Freunde zu beherzigen und keinen Gedanken an Sören zu verschwenden, auch wenn es schwer fiel. Aber mit der Zeit gewöhnte sie sich tatsächlich an den Gedanken, dass ein Trauern um diesen Mann zwecklos ist. Sie ignorierte ihn ebenso, wie er sie ignorierte. Und als sie merkte, dass sich Sören über ihre kalte Schulter anfing zu ärgern, machte ihr dieses Spiel sogar noch Spaß.
Nach einigen Tagen fragte er sie doch tatsächlich, wie es ihr gehe und ob er etwas für sie tun könne.
Sie lachte ihn nur aus. „Vergiss es. Tu etwas für deine Frau und deine Kinder und lass mich künftig in Ruhe. Ich brauche dich nicht und mein Kind kriege ich auch ohne dich groß.“ Damit drehte sie ihm den Rücken zu und ließ ihn stehen. Und sie fühlte sich plötzlich viel besser.
Acht Wochen später erhielt sie die Nachricht, dass sie den Preis gewonnen hätte und zur Übergabe des Gewinnes in die Landeshauptstadt eingeladen wurde. In einer kleinen Festveranstaltung wurde ihr eine Urkunde und ein Scheck über fünfzehntausend Euro ausgehändigt und ein Bild von ihr mit dem Scheck in der Hand für die Zeitung geknipst. Am nächsten Tag, als sie gerade ihr Foto in der Zeitung bestaunte, klingelte es an ihrer Wohnungstür.
„Hey, Elinor. Wir haben dein Bild in der Zeitung gesehen. Gratuliere zum Gewinn. Was machst du mit dem Geld?“
Susanna und Severin standen vor der Tür.
„Kommt doch rein. Wollt ihr etwas trinken?“
Elinor brachte den beiden Orangensaft aus der Tüte und freute sich über den Besuch.
„Ich habe mir noch keine Gedanken darüber gemacht. Erst einmal bezahle ich meine Schulden an dich.“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage. Es gibt wichtigere Dinge in deinem Leben. Zum Beispiel dein Kind. Du solltest mal an dich denken.“ Susannas Stimme hörte sich beinahe empört an.
„Du hast Recht. Vielleicht mache ich Urlaub.“ Elinor streichelte sich über ihren gewölbten Bauch. „Ein bisschen Erholung wird uns beiden gut tun. Ich denke, ich breche dieses Studienjahr ab.“
Vielsagend blickten sich die Geschwister an.
„Wie bist du eigentlich auf das Lösungswort gekommen? Wir konnten die gesuchte verwunschene Stadt in keinem Atlas finden.“
Da erzählte Elinor von dem alten Buch im Antiquariat und der Legende von Angstmark.
„Und jetzt willst du dorthin fahren und die verwunschene Stadt suchen, weil du genauso heißt, wie die verschwundene Königin?“
Verblüfft schaute Elinor ihre Freunde an. Auf diesen Gedanken war sie noch gar nicht gekommen.
„Na, ihr habt vielleicht Ideen. Ich bin im sechsten Monat. Das ist absurd. Ich fahre lieber in den sonnigen Süden und lasse die Seele baumeln.“
„Vielleicht ist ja etwas Wahres dran an dieser Geschichte. Stell dir vor, die Königin hieß Elinor und war schwanger, genau wie du. Und ausgerechnet du warst die Einzige, die das Rätsel gelöst hat. Wenn das mal kein Wink mit dem Zaunpfahl ist.“ Susanna ließ nicht locker.
„Also ich weiß nicht. Das ist wirklich mysteriös. Meinst du wirklich, außer mir hat niemand das Rätsel gelöst?“
„Natürlich nicht. Stand doch groß in der Zeitung.“
„Naja, mag schon sein. Aber deswegen gleich hinfahren? Was soll ich dort? Soll ich vielleicht sagen: Hallo, ich bin Elinor und vierhundert Jahre alt. Und ich bin gekommen, euch zu erlösen. Führt mich zum König und ich werde ihm sein Kind schenken. Und dann sind alle glücklich bis ans Ende der Tage. Ein schönes Märchen!“
Severin musste lachen. „Eine Königskrone steht dir bestimmt gut. Ich könnte mir gut vorstellen, dass du eine verwunschene Prinzessin bist.“
Elinor musste an ihre Kindheit denken. So etwas ähnliches hatte ihre Mutter schon behauptet.
Susanna konnte über diesen Witz nicht lachen. Im Gegenteil. Sie war immer ernster geworden und dann sagte sie: „So in etwa! Was ist schon dabei, dort hin zu fahren und nachzusehen, was an dieser Geschichte dran ist. Vielleicht existiert ja dieser Ort tatsächlich. Und wenn nicht – auch nicht schlimm. Ein Urlaub in den Bergen ist doch auch nicht schlecht.“
Elinor sah ihre Freundin zweifelnd an. „Ihr meint es tatsächlich ernst. Aber allein...? Vielleicht, wenn ihr beiden mitkämet?“
Genau darauf hatten die Geschwister gewartet und willigten natürlich sofort ein. Für ein Abenteuer waren sie jederzeit zu haben. Und Susanna witterte ganz nebenbei natürlich eine Story für die Zeitung.
„Der Urlaub in den Bergen wird bestimmt auch so sehr schön. Vielleicht liegt ja sogar schon Schnee. Meinst du, wir sollten die Schier mitnehmen?“ Susanna platzte fast vor Eifer.
Elinor schüttelte den Kopf. „Also ich auf keinen Fall, das ist mir zu riskant. Ihr könnt sie ja mitschleppen. Aber dicke Wintersachen sollten wir auf alle Fälle einpacken.“
Die drei Flugtickets nach Bukarest waren schnell gebucht. Von dort sollte es dann mit dem Zug weitergehen. Was die drei aber dann erlebten, hätten sie sich in ihren wildesten Träumen nicht ausmalen können.
Kapitel Vier
Der Zug ratterte durch die bergige Landschaft Rumäniens. Dunkler Wald flog an den Waggons vorbei. Dann verringerte sich die Geschwindigkeit und die Lok schnaufte eine Steigung empor. Es wurde wieder einmal finster. Elinor hatte aufgehört, die Tunnel zu zählen. Susanna und Severin blinzelten verschlafen in die Dämmerung. Wie viele Stunden waren sie schon unterwegs? Keine Stadt, kein Dorf, kein Bahnhof war weit und breit zu erblicken, nur dichter Wald und Tunnel. Es wurde immer dunkler. Das gleichmäßige Pochen der Schienenstöße lullte die drei ein und sie fielen in einen tiefen Schlaf. Sie merkten nicht, dass sie die einzigen Fahrgäste in dem Zug waren.
Als sie aufwachten, stand der Zug. Verschlafen blickten sie hinaus. Auf einem uralten Schild, welches an einer verfallenen Hütte neben den Gleisen angebracht war, stand: Endstation.
Sie warfen die Rucksäcke über, hievten ihre Koffer aus dem Waggon und sahen sich um. Nichts als düsterer, dichter Wald. Kurz vor der Lok endeten die Schienen. Ein schmaler Weg schlängelte sich von dort an zwischen den Bäumen hindurch und verlor sich im Dickicht.
Elinor fasste sich als erste wieder.
„Irgend etwas stimmt hier nicht. Was bedeutet das: ‚Endstation‘. Hier ist doch gar nichts. Kommt, lasst uns wieder in den Zug einsteigen, wir fahren bis zum nächsten Ort zurück!“
Doch als sie sich umdrehten, war der Zug verschwunden und mit ihm auch die Schienen. Nur die alte Hütte stand noch da und aus einem kleinen Schornstein stieg ein dünner Rauchfaden empor. Kopfschüttelnd gingen die drei auf die Kate zu und klopften an die Tür.
Nach einiger Zeit vernahmen sie schlurfende Schritte. Ein uraltes Männlein öffnete die Tür einen Spalt und schnauzte: „Was wollt ihr?“
Elinor fasste sich ein Herz und ging auf den Alten zu.
„Guten Tag. Ich bin Elinor und das sind meine Freunde Susanna und Severin. Wir sind hier eben mit dem Zug angekommen und wollen nach Angstmark. Aber jetzt ist plötzlich kein Zug mehr da und auch keine Schienen und wir wissen überhaupt nicht, wo wir sind. Können Sie uns helfen?“
Der Alte blickte misstrauisch nach links und rechts, dann öffnete er die Tür ein Stück weiter und raunte: „Kommt schnell rein, schnell, schnell.“
Kaum hatten die drei ihre Füße über die Schwelle gesetzt, schlug er die Tür zu und verriegelte sie hektisch.
„So, so, ihr seid also mit dem Zug gekommen? Hihihi, hier fährt schon lange kein Zug mehr. Also, was wollt ihr wirklich? Ihr seid seit fünfzig Jahren die ersten Menschen, die hierher kommen. Hier gibt es nur wilde Tiere.“
„Aber das kann nicht sein!“ Susanna zog ein böses Gesicht. „Wie ist so etwas möglich? Wir sind doch erst vor ein paar Minuten hier aus dem Zug gestiegen. Sagen Sie uns doch bitte, wie wir nach Angstmark kommen!“
„Nach Angstmark wollt ihr also! Das lasst lieber bleiben. Kein Mensch ist jemals von dort zurückgekehrt. Vielleicht gibt es Angstmark gar nicht mehr!“ Er wackelte mißmutig mit seinem kahlen Schädel hin und her.
„Kennen Sie denn Angstmark? Waren Sie schon einmal dort? Erzählen Sie uns doch davon.“ Severin setzte sich unaufgefordert an den blanken Holztisch des Alten und packte seine Wurstschnitte aus.
Der Alte sah gierig auf das Brot. „Gib mir das Brot, dann will ich euch helfen.“
Zögernd hielt Severin dem Alten seine Schnitte hin. Mit unglaublicher Geschwindigkeit hatte dieser das Brot gepackt und es fast auf einmal in seinen zahnlosen Mund geschoben.
„Ah, das tut gut. Seit fünfzig Jahren habe ich kein Wurstbrot mehr gegessen!“ Er schmatzte und Speichel rann aus seinem Mundwinkel.
„Wovon leben Sie hier, wenn es außer Ihnen niemanden gibt.“ Susanna wurde neugierig.
„Von meinen Eseln.“
Die drei Freunde schauten sich verblüfft um. „Wo haben Sie denn Esel?“
„Das geht euch nichts an. Ihr müsst jetzt gehen. Ich habe keine Zeit mehr für euch.“ Der Alte wollte die Tür öffnen und die drei hinaus komplimentieren, aber sie rührten sich nicht von der Stelle.
„Sie wollten uns etwas über Angstmark erzählen. Wenn wir wissen, wie wir dort hin kommen, gehen wir sofort.“
„Also gut, also gut. Wenn ich euch damit los werde.“ Er verriegelte die Tür von neuem und setzte sich an den Tisch.
„Ihr müsst zu Fuß dort hin gehen. Der schmale Weg, der hinter meiner Hütte in den Wald hinein führt, endet genau vor dem Stadttor von Angstmark. Aber das ist seit vierhundert Jahren verschlossen. Ihr könnt da sowieso nicht hinein.“
„Lass das mal unsere Sorge sein, Opa. Wie weit ist es nach Angstmark?“
„Vier Stunden Fußmarsch müsst ihr schon rechnen, mit eueren schweren Koffern bestimmt noch mehr. Es geht steil bergan, teilweise ist der Weg durch ein Erdbeben verschüttet worden, da müsst ihr über viel Geröll klettern. Lasst es besser bleiben, ihr schafft das sowieso nicht. Und außerdem, was wollt ihr dort? Die Stadt ist verwunschen. Solange der Fluch auf ihr lastet, solltet ihr euch davon fern halten.“ Der Alte wackelte bedeutungsvoll mit dem Kopf.
„Wir sind moderne Menschen und glauben an solchen Unsinn nicht. Wir werden nach Angstmark gehen.“ Severins Stimme klang sehr entschlossen.
Elinor aber fragte: „Stimmt es, dass die schwangere Königin von einem unbekannten Reiter geraubt worden ist? Hieß sie wirklich Elinor? Die Legende sagt, die Menschen in Angstmark altern nicht, bis die Königin wieder kommt, dann wird der Fluch aufgehoben.“
„Was interessiert euch das. Das ist über vierhundert Jahre her. Keiner weiß, was genau passierte!“ Der Alte wurde ungeduldig.
„Ich heiße auch Elinor. Und ich habe als einzige das Rätsel gelöst. Ist das nicht seltsam? Genau deswegen will ich dort hin und schauen, was Wahres an der Geschichte ist.“
Der Alte wurde plötzlich hellhörig. Er schaute Elinor von oben bis unten abschätzend an, dann blieb sein Blick auf ihrem gewölbten Bauch hängen. „Du heißt Elinor und willst nach Angstmark? Warum hast du das nicht gleich gesagt? Seit über vierhundert Jahren wartet Angstmark auf deine Rückkehr. Komm, ich zeig dir was.“
Er erhob sich behende und eilte durch eine Hintertür. Die drei Freunde liefen hinter ihm her und betraten einen geräumigen Stall. In diesem standen fünf Esel. In Regalen an der Wand lagen große Käse und in Töpfen befand sich Milch. Davon also lebte der Alte seit fünfzig Jahren. Ein niedriger, aber unheimlich dicker Baum mit riesengroßen Blättern wuchs in der Ecke des Stalles. Von diesen Blättern ernährten sich die Esel.
Der Alte eilte auf eine weiße Eselin zu und tätschelte ihr den Hals. „Das ist Isolde. Ihr könnt ihr euere Koffer aufladen. Sie wird euch nach Angstmark bringen. Wenn ihr dort seid, braucht ihr nur zu ihr sagen: Isolde geh heim, und dann kommt sie allein zu mir zurück. Sie ist diesen Weg schon oft gegangen und versteht jedes Wort.“
Die drei bedankten sich bei dem Alten, banden die Koffer auf Isoldes Rücken und traten den langen beschwerlichen Weg nach Angstmark an.
Kapitel Fünf
Die erste Strecke kamen sie gut voran. Sie schritten kräftig aus und legten ohne große Schwierigkeiten mehrere Kilometer zurück. Severin führte Isolde an einem Strick vor seinen Begleitern her.
Susanna zog Elinor auf. „Kommt rasch nach Angstmark, Königin Elinor. Ihr habt gehört, was der Alte gesagt hat. Seit über vierhundert Jahren wartet man dort auf Euere Rückkehr. Gut, dass Ihr ihm gleich gesagt habt, wer Ihr seid, sonst hätte er uns den Weg nicht verraten.“
Severin verbeugte sich tief vor Elinor. „Meine Königin, darf ich Euch auf Händen in Euer Reich tragen? Auf dem Rücken des erhabenen Reittieres ist leider kein Platz mehr.“
Elinor musste lachen. „So baut mir eine Sänfte, Sklaven. Es schickt sich nicht für eine Königin, mit ihren erlauchten Füßen ordinäres Felsgestein zu berühren.“
Plötzlich blieb der Esel stehen. Der Weg vor ihnen endete abrupt. Undurchdringliches Dickicht machte jedes Vorwärtskommen unmöglich. Wo sollten sie sich hinwenden? Sie konnten versuchen, das Dickicht links oder rechts zu umgehen oder sie mussten umkehren und zurückgehen. Vielleicht hatten sie ja eine Abzweigung verpasst. Aber davon hatte ihnen der Alte nichts gesagt. Wer weiß, wie lange er hier schon nicht mehr war, möglicherweise existierte der Weg gar nicht mehr.
Die drei beratschlagten sich. Severin war dafür, nach links um das Dickicht herum zu gehen, Elinor wollte auf der rechten Seite einen Durchgang suchen und Susanna wollte am liebsten zurück marschieren und den Alten noch einmal fragen. Aber damit waren die beiden anderen überhaupt nicht einverstanden.
Ratlos sahen sie sich an. Plötzlich sagte Elinor aus einer Laune heraus: „Und Isolde, was meinst du, wo sollen wir lang gehen?“
Da nickte die Eselin mit dem Kopf, schrie drei mal i-ah und lief schnurstracks auf das Dickicht zu. Sie steckte den Kopf durch das Geäst und verschwand mit ihrem ganzen Körper darin. Schnell drängten sich die drei Freunde hinterher und wie durch ein Wunder teilten sich die stacheligen Zweige und sie konnten ungehindert hindurch gehen. Auf der anderen Seite setzte sich der schmale Weg fort, als wäre er nie unterbrochen worden.
„Hier gehen wirklich sehr seltsame Dinge vor“ sagte Severin. „Erst enden die Gleise an einer ‚Endstation‘, dann verschwindet der Zug samt seinen Schienen ganz und nun führt uns ein Zauberesel mitten durch ein undurchdringliches Gestrüpp. Was wird uns noch alles bevor stehen?“
Keiner hatte eine Antwort darauf, aber alle hatten ein ziemlich mulmiges Gefühl in der Magengegend. Schweigend marschierten sie weiter.
Nun stieg der Weg steil bergan. Mühsam mussten sie über große Geröllbrocken klettern. Glücklicherweise hatten sie auf die Schier verzichtet.
Die Landschaft wurde immer unwegsamer. Gut, dass sie den Esel hatten. Hier hätten sie niemals ihre Koffer hochschleppen können. Immer öfter waren sie gezwungen, sich fest zu halten oder sich auf allen Vieren nach oben zu ziehen. Mit stoischer Gelassenheit überwand Isolde alle Hindernisse, als ob sie gar nicht vorhanden wären.
Die Umgebung wurde immer felsiger, aus den Bäumen waren kleine krumme Latschenkiefern geworden und bald hörten diese ganz auf. Plötzlich traten die Felsen über den Köpfen der Wanderer zusammen, so dass ihnen war, als würden sie durch eine lange Röhre gehen. Diese wurde immer schmaler und niedriger. Bald kamen sie nicht mehr weiter. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Koffer vom Esel abzuladen, da er sonst stecken geblieben wäre. Ein kleines Stück schleppten sie ihre Koffer noch mit, aber dann entschieden sie sich, das Gepäck zurück zu lassen und nur die wichtigsten Utensilien in ihren Rucksäcken mitzunehmen. In tief gebückter Haltung quälten sie sich durch die schmale Felsröhre, in der es seltsamerweise nicht dunkel war, wie man hätte vermuten müssen. Die Wände der Röhre strahlten ein sanftes, bläuliches Licht aus, als würden sie selbst leuchten. Nach etwa einem halben Kilometer war der Fels zu Ende und sie traten ins Freie. Ein strahlend blauer Himmel wölbte sich über einem wunderschönen Hochplateau, welches mit funkelnden schwarzen Steinen nur so übersät war. Von hier aus konnte man weit über die schneebedeckten Berggipfel hinwegsehen. Das Trio trat an den Rand des Plateaus und schaute in die Tiefe.
Vor ihnen breitete sich ein fast kreisrunder Talkessel aus. Goldgelbe Felder und saftiggrüne Wiesen wechselten sich ab. Auf den Feldern liefen kleine Gestalten hin und her und schwenkten lange Sensen. Pferde und Rinder weideten auf den Wiesen. Aus allen Richtungen liefen braune Feldwege zur Mitte des Talkessels, aus der sich, von etlichen kleinen Häusern mit roten Dächern umgeben, majestätisch ein Schloss erhob. Dahinter breitete sich ein dichter dunkler Wald aus. Rings um die ganze Gemarkung lief eine hohe Mauer und schloss den Ort samt seinen Feldern, Wald und Wiesen ein.
Der Anblick überwältigte die drei über alle Maßen. Vor Entzücken klopften sie sich gegenseitig auf die Schultern und tanzten vor Freude.
„Wir haben es gefunden. Und es ist noch schöner, als auf dem Bild in dem alten Buch.“ Elinor konnte es fast nicht glauben, dass das, was sie sah, eine verwunschene Stadt sein sollte. Der Liebreiz des Anblicks hatte sie total verzaubert.
Severin schaute sich als erster genauer um.
„Aber wie kommen wir da hinunter?“ Er trat ganz nah an den Rand des Plateaus. Das Gelände fiel in einem steilen Abhang hinab zur Senke. An einen normalen Abstieg war da nicht zu denken. Sie würden sich anseilen und auf ihrem Hosenboden hinab rutschen müssen. Isolde wurde unruhig und schüttelte ihre großen Kopf.
„Du hast Recht Isolde. Da hinunter kannst du nicht mitkommen. Aber wir brauchen dich jetzt auch nicht mehr. Die Koffer mussten wir sowieso zurücklassen und das Ziel sehen wir jetzt vor Augen. Du kannst nach Hause gehen.“ Elinor gab der Eselin einen Klaps auf das Hinterteil, diese drehte sich um, schrie noch einmal i-ah und verschwand in der Richtung, aus der sie gekommen waren.
Die drei Freunde aber rutschten auf ihren Hosenböden der Abhang hinunter ins Tal und landeten genau vor dem Stadttor.
Kapitel Sechs
Schmutzig und zerknittert, Löcher in der Kleidung, Hände und Gesichter schwarz, konnte man sie für Landstreicher halten. Sie klopften sich den Staub aus den Hosen und mussten über ihr sonderbares Aussehen selber lachen. Würde man sie so in die Stadt einlassen? Sie traten an das hohe, eisenbeschlagene Tor und klopften zaghaft dagegen. Nichts rührte sich.
„Was machen wir, wenn sie uns nicht verstehen? Welche Sprache sprechen die hier eigentlich?“ Susanna sah Elinor fragend an. „Stand davon etwas in deinem Buch?“
„Nein, eigentlich nicht. Aber ich denke, dass wir mit deutsch weiterkommen. Mit dem Alten konnten wir uns zumindest verständigen. In Siebenbürgen sind doch die Siebenbürger Sachsen zu Hause. Ich hoffe jedenfalls!“
„Vielleicht haben sie es nicht gehört, wir müssen lauter klopfen!“ Severin hämmerte mit der Faust gegen das Tor. Da vernahmen sie ein Quietschen und Scharren. Ein mächtiger Riegel wurde umgelegt und das schwere Eichentor öffnete sich knarrend. Ein Soldat in einer altmodischen Rüstung, ein riesiges Schwert an der Seite, schaute die Ankömmlinge überrascht an.
„Was ist euer Begehr?“ Aus beiden Mundwinkeln hingen zu Zöpfen geflochtene Haare hinab auf seine Brust.
„Guten Tag. Wir möchten nach Angstmark. Sind wir hier richtig?“ Severins Stimme klang nicht mehr so forsch, wie eben noch sein Klopfen, aber dennoch atmete er auf. Der Soldat hatte deutsch gesprochen. Es war zwar ein seltsamer Dialekt, aber wenn man genau hinhörte, war es zu verstehen.
„Ihr seid keine Händler und keine Fahrensleute. Was wollt ihr hier. Seid ihr Bettler?“ Das faltige Gesicht des Soldaten schaute grimmig auf die jungen Leute.
„Nein, wir sind Urlauber und möchten Angstmark kennen lernen. Wir haben auch Geld.“ Elinor holte ein Bündel Geldscheine aus ihrer Tasche und hielt sie dem Torwächter vor die Nase. Dieser betrachtete unbeeindruckt das bunte Papier und schüttelte den Kopf.
„Was soll das sein. Wollt Ihr mich verhöhnen. Das ist Geld!“ Er zog eine silberne Münze aus seinem Brustbeutel und hielt sie hoch.
„Und was sind Urlauber? Seid Ihr krank?“
Elinor musste lachen. Flugs zog sie eine Euromünze aus ihrer Jackentasche und reichte sie dem Soldaten. Dieser sah das silberglänzende Geldstück mit dem goldenen Rand stirnrunzelnd an, nahm es vorsichtig zwischen die Zähne und biss darauf. Dann stieß er einen verwunderten Pfiff aus und trat beiseite. Die Münze ließ er dabei in seinen Brustbeutel gleiten. „Was sagtet Ihr nochmal, wer Ihr seid?“
„Wir sind Touristen. Man könnte auch sagen: Altertumsforscher“ brachte Severin jetzt halb belustigt heraus. Die Sache mit der Münze hatte alle ziemlich erheitert. Der Soldat verstand zwar immer noch nicht, was damit gemeint war, aber Leute mit so wertvollen Münzen waren sicher willkommen.
„Tretet ein. Diese Straße hinab, immer geradeaus, findet Ihr eine Herberge. Ihr erkennt sie an dem Humpen über der Tür.“
Das ließen sich die drei nicht zwei mal sagen. Sie drückten sich an dem Wächter vorbei und liefen über das holprige Kopfsteinpflaster in Richtung Ort.
Als Erstes fiel ihnen auf, wie warm es hier auf diesem Fleckchen Erde war. In der Heimat war es ja bereits Mitte November, aber hier schien der Herbst gerade erst begonnen zu haben. Kraftvoll schien die Sonne von einem tiefblauen Himmel. Kein einziges Wölkchen war zu sehen. Sie zogen ihre dicken Jacken aus und stopften sie in die Rucksäcke. Nun spürten sie die leichte Brise, die vom Waldrand herüber wehte. Tatendurstig marschierten die drei los und kamen auch bald bei den ersten Häusern an.
So idyllisch der Ort von weitem ausgesehen hatte, so unterschied er sich doch von den Erwartungen, den die Besucher ihm entgegenbrachten. Als erstes fiel ihnen der beißende Geruch auf, ein Gestank nach Hühnern, Knoblauch und Exkrementen. Es gab keine Kanalisation. Das heißt, nicht unterirdisch. Die Abwässer liefen aus den Häusern direkt in den Rinnstein und vereinten sich zu einem Bach, der durch den ganzen Ort floss.
Drei abgehärmte Frauen mit Säuglingen auf der Hüfte und Kleinkindern unter ihren langen Röcken standen vor einem alten Schuppen. Sie unterbrachen ihr Gespräch und starrten die Neuankömmlinge nervös an. Elinor, Susanna und Severin grüßten freundlich, erhielten aber keine Antwort.
Ein extrem dreckiger Junge trieb mit einer langen Gerte ein paar Gänse vor sich her und blieb mit offenem Mund stehen, als er die Fremden sah.
Die Häuser wirkten alt und verfallen. Die Dächer hingen durch, die wenigsten Fenster waren verglast, vor den meisten hingen Tücher, vollkommen verdreckt und mit toten Insekten übersät.
Magere Hunde jagten und balgten sich. Hier und da hörte man eine Kuh brüllen und Hühner gackern. Ein Ochsenkarren mit einem riesigen Berg Rüben darauf rollte an den dreien vorbei. Auf dem Kutschbock saß ein Alter, der ab und zu eine leichte Gerte auf das Hinterteil des Ochsen sausen ließ. Auch der Alte schaute verwundert mit offenem Mund, aus dem zwischen strähnigen Haaren ein einziger brauner Zahn ragte.
Die Herberge war leicht zu finden. Das Gebäude hob sich von den erbärmlichen Hütten durch seine verputzte Mauer und blinkende Fensterscheiben ab. Durch eine grüne, reich verzierte Holztür, über welcher ein schmiedeeiserner Humpen schaukelte, betraten sie einen geräumigen Schankraum. An langen Holztischen saßen einige uralte Männer auf schmalen Bänken, jeder einen tönernen Humpen mit Bier vor sich. Sie starrten die Ankömmlinge verwundert an. Jedem von ihnen wuchsen lange Haare aus dem Mund, welche ihnen, teils gebunden, teils geflochten, bis auf die Brust reichten. Ein dicker Wirt mit glänzender Glatze kam herbeigeeilt. Er hatte seine Mundzöpfe um den Kopf herum nach hinten gebunden, sodass ihm das Ende seiner sonderbaren Haartracht über den Rücken fiel.
Der Wirt machte mehrere Verbeugungen vor seiner so unnatürlich ausschauenden Kundschaft, wischte mit einem riesigen Tuch eine Seite des Tisches und der Bank sauber und bat sie, Platz zu nehmen.
Die drei Freunde kamen sich vor, wie im falschen Film. Wie konnten diese Leute nur mit Haaren im Mund leben. Schon beim Anblick stieß es ihnen säuerlich auf. Elinor flüsterte Susanna und Severin zu, dass es Teil des Fluches war, der den Menschen die Haare aus dem Mund wachsen ließ. Also stimmte die Legende scheinbar doch.
Unaufgefordert stellte der Wirt drei Humpen mit Bier auf den Tisch und fragte, ob die Herrschaften zu speisen wünschen.
„Was gibt es denn?“ wollte Susanna wissen. Der Wirt schaute noch um einen Deut verwunderter.
„Na, Eier mit Speck und Fladenbrot. Was sollte es denn sonst geben?“
Severin verspürte den größten Hunger, da er ja sein Wurstbrot an den Alten an der Endstation abgetreten hatte. Und das war auch schon Stunden her. Er sagte auf gut Glück: „Ich hätte Appetit auf ein großes Schnitzel mit Pommes und Salat.“
„Haben Sie nicht eine Speisekarte?“ wollte Susanna zaghaft wissen.
„Von welchem Stern seid Ihr denn gefallen? Schnitzel? Pommes? Speisekarte? Ihr seid hier nicht bei Hofe und wie feine Leute seht Ihr auch nicht gerade aus. Habt Ihr überhaupt Geld?“ Der dicke Wirt hatte drohend seine feisten Arme in die Hüften gestemmt und stand breitbeinig wippend vor den unverschämten Gästen.
Elinor wühlte in ihrer Jackentasche. Dass sie mit ihrem Papiergeld nicht weit kommen würde, wusste sie ja nun.
„Habt ihr noch ein paar Münzen, ich habe nur Scheine?“ raunte sie ihren Freunden zu. Severin und Susanna kramten in ihren Taschen und brachten ein paar Centmünzen zum Vorschein. Dann fand Severin noch ein Zwei-Euro-Stück. Verwundert schaute sich der Wirt das fremde Geld an, biss darauf und steckte es befriedigt in seinen Beutel.
„Wollt Ihr nun Eier mit Speck und Brot, oder nicht?“
Die drei nickten. Besser als gar nichts.
Beim Essen stellten sie sich vor, wie sich die Eier mit dem Speck im Mund mit den Haaren vermischten und dann zusammen mit diesen in der Speiseröhre landeten. Angewidert würgten sie ihr Essen hinunter und hatten alle Mühe, sich ihren Ekel nicht anmerken zu lassen. Das Bier war lauwarm und schmeckte abscheulich. Alle drei hatten ein schrecklich saures Gefühl im Hals und waren froh, als der Wirt die Holzteller abräumte.
„Kann man hier übernachten?“ Elinor hatte allen Mut zusammen genommen, obwohl sie wusste, dass sie keine Münze mehr in ihrer Tasche hatte.
„Sicher, wenn Ihr zahlen könnt“ war natürlich sofort die Antwort. Noch einmal krempelten die drei ihre Taschen von innen nach aussen, aber keine Münze fand sich mehr.
„Wir haben nur noch Geldscheine“ Severin versuchte es doch noch einmal, aber der Wirt hatte bereits Susannas silberne Halskette mit dem Kreuz im Visier.
„Das reicht für eine Nacht“ Er zeigte mit seinem dicken Zeigefinger auf Susannas Hals.
„Oh, nein, das ist viel zu kostbar, das reicht mindestens für fünf Nächte!“ Severin war jetzt schon wagemutiger geworden. Leise setzte er für seine Begleiter hinzu: „In den Südländern muss man immer handeln, sonst hauen sie einen übers Ohr.“
Susanna schaute ihren Bruder böse an. „Du kannst doch nicht einfach meine Kette verscherbeln.“
„Hast du vielleicht eine bessere Idee? Vielleicht bietest du dem Dicken ja deine persönlichen Dienste an, damit er uns hier schlafen lässt. Wie es aussieht, ist das hier die einzige Herberge und wir haben keine andere Wahl.“
Beleidigt drehte Susanna ihrem Bruder den Rücken zu. Tränen standen in ihren Augen. Aber dann machte sie ihre Kette ab und überreichte sie dem Wirt. Dieser ließ die feinen Kettenglieder durch seine fleischigen Finger gleiten und betrachtete verzückt das filigrane Kreuz. So ein herrliches Kunstwerk hatte er noch nie gesehen.
„Also gut, drei Nächte!“ Er ließ die Kette in seinen Beutel gleiten, drehte sich auf dem Absatz um und stapfte zur Tür.
Die drei liefen hinterher und gelangten über eine schmale, knarrende Holztreppe zu einen Speicher. Dieser war auf der einen Seite mit Holz und Kienäpfeln gefüllt. Auf der anderen Seite befanden sich einige Säcke mit Stroh. Der Boden war übersät mit Staub, vermischt mit Spreu, Holzspänen und Mäusekot. Bei jedem Schritt wirbelte der Dreck hoch, setzte sich auf Kleidung und Schuhen ab und verursachte Hustenreiz.
„Es hat schon lange niemand mehr hier geschlafen, Ihr seid die ersten Gäste seit vielen hundert Jahren!“
Aus einer Truhe an der Wand holte der Wirt ein paar fadenscheinige Decken hervor und warf sie auf die Strohsäcke. Dann drehte er sich wortlos um und polterte die Treppe wieder hinunter. Verwirrt blickten die drei sich an. Dafür hatte Susanna ihr wertvolles Silberkreuz hergegeben? Der Wirt war ein Spitzbube, darüber waren sie sich einig.
„Wo kann man sich denn hier waschen? Sieht hier einer von euch ein Waschbecken und überhaupt, wie soll das hier funktionieren? In der Nacht wird es sicher hundekalt hier oben.“ Susanna rieb sich fröstelnd die Arme. „Holz ist ja genug da, machen wir eben ein Feuer!“ Severin holte aus seiner Hosentasche ein Feuerzeug und schwenkte es triumphierend herum. „Bist du verrückt? Willst du das ganze Haus abfackeln? Hier ist alles aus Holz! Oder seht ihr hier irgendwo einen Ofen?“ Elinor blickte sich um. Durch einige kleine Spalten im Gebälk kam trübes Dämmerlicht herein.
„Bald werden wir hier auch nichts mehr sehen. Wir müssen irgendwie Licht machen. Und eine Toilette scheint es hier auch nicht zu geben. Wir müssen nochmal runter und den Wirt danach fragen.“
Sie ließen ihre Rucksäcke neben den Strohlagern fallen, liefen die Treppe wieder hinunter und schauten sich im Schankraum um. Der Wirt war nicht zu sehen. Auch die alten Männer waren verschwunden.
In einer Ecke des Raumes brannte ein kleines Licht. Ein uralter Mann mit einem langen weißen Rauschebart saß hinter einem dicken Buch und schrieb etwas. Die drei näherten sich dem Alten und starrten ihn an. Der Greis hob seinen Kopf und sie sahen, dass sich seine Mundhaare so mit dem langen Bart vermischten, dass man überhaupt keinen Mund mehr erkennen konnte. Sein weißes Haupthaar fiel ihm in langen Wellen über den Rücken und so war der Mann rundum von seiner Haarpracht eingehüllt. Seine hellblauen Augen schauten freundlich auf die drei jungen Leute.
„Setzt Euch doch hin. Es ist schon sonderbar, dass nach so langer Zeit wieder jemand in unsere Stadt gefunden hat. Seit vierhundert Jahren kommen nun schon keine Reisenden mehr zu uns.“
Die drei nahmen Platz und schauten neugierig auf das große Buch.
„Was schreiben Sie denn da?“ Severin konnte die Schrift nicht lesen.
„Das ist die Stadtchronik von Angstmark. Ich bin Pratt, der Stadtschreiber. Seit jenem schrecklichen Tage führe ich Buch über jeden Tag, der vergangen ist. Sonst wüssten wir nicht, seit wieviel hundert Jahren die Zeit draußen in der Welt weitergeht, denn hier bei uns steht die Zeit still.“
„Ist das wirklich so? Es ist doch inzwischen Abend geworden, die Sonne ist untergegangen. Wie kann da die Zeit still stehen?“ Susanna konnte es einfach nicht glauben.
„Wir haben zwar Tag und Nacht und auch die Jahreszeiten, aber die Menschen werden nicht älter. Alle sind so geblieben, wie sie an jenem verfluchten Tage waren. Die Babys blieben Babys, die Kinder blieben Kinder, die jungen Leute jung und die alten Leute alt. Auch die schwangeren Frauen blieben schwanger und das seit über vierhundert Jahren!“
„Aber das ist ja entsetzlich. Es wird kein Mensch geboren und keiner stirbt? Seit über vierhundert Jahren leben die Menschen so und haben sich nicht weiterentwickelt?“ Susanna war fassungslos.
„Ja, sie gehen jeden Tag ihrer Arbeit nach, aber ein Tag ist wie der andere.“ Der alte Pratt hatte seine runzligen Hände gefaltet und drehte die Augen gottergeben nach oben.
Ungläubig schüttelten die drei ihren Kopf.
„Das müssen Sie uns erklären. Wie funktioniert denn das? Wovon leben die Menschen, wenn sich nichts entwickelt und nicht wächst?“
„So ist das nicht ganz richtig. Die Natur wächst und gedeiht. Sie ist von dem Fluche nicht betroffen. Nur die Menschen werden nicht älter. Das Korn auf den Feldern wächst und das Vieh bekommt Junge. Hunger müssen wir nicht leiden. Wir haben keine Not.“
„Aber wenn niemand hier in diese Stadt kommt, kann doch auch kein Handel getrieben werden. Man lebt doch nicht nur vom Essen. Man braucht auch Kleidung und Schuhe, Töpfe zum Kochen, Werkzeug, Spielsachen für die Kinder, Fahrzeuge und Feldgeräte. Wie verdienen die Menschen denn hier ihr Geld, wenn es keinen Handel gibt?“ Die Organisation der Wirtschaft gab den Freunden ein großes Rätsel auf.
Lächelnd sah der Alte von einem zum anderen.
„Ihr habt Recht. Am Anfang, als keine Händler mehr zu uns kamen, wussten wir auch nicht, wie es weitergehen sollte. Nach langen Überlegungen und vielen Diskussionen wurden wir uns endlich bewusst, dass wir nun alles selber organisieren mussten. Wir einigten uns, dass jede Familie eine Aufgabe erhält, auf die sie sich spezialisieren musste.
Außerdem waren wir gezwungen, die großen Arbeiten, wie zum Beispiel die Feldarbeit, zusätzlich zu erledigen. Vorher hatten ein paar von uns eigene kleine Felder und lebten vom Verkauf ihrer Früchte. Nun aber gehörte alles dem König und wir mussten einen hohen Tribut zahlen. Dies war nur in der Gemeinschaft zu bewältigen. Allen Familien blieb nichts anderes übrig, als gemeinsam im Frühjahr und Herbst zur Feldarbeit zu gehen.
Ansonsten ist auch noch alles nach dem jeweiligen Alter gestaffelt. Die alten Frauen gehen mit den kleineren Kindern in den Wald und sammeln Holz und Kienäpfel, auch Kräuter, Beeren und Pilze. Die größeren Kinder hüten die Schafe, Ziegen, Schweine und Rinder. Die Familienväter gehen im Wald Bäume schlagen, scheren die Schafe, schlachten Vieh, stellen Pflüge und Sensen her und andere Werkzeuge. Eine Familie hat sich auf das Spinnen der Wolle und das Weben spezialisiert, andere stellen Töpfe her. Es gibt Schuhmacher, Gerber, Sattler, Imker und Kerzenmacher, Müller, Bäcker, Metzger und Bierbrauer. So hat jeder seine Arbeit und kann seine Waren verkaufen. Und dabei verdient natürlich auch jeder sein Geld.“
Langsam fingen die drei an, zu verstehen. Aber eines wollte Severin trotzdem nicht in den Kopf.
„Es hört sich so an, als wäre alles himmlisch friedlich hier, alle arbeiten gemeinsam, jeder packt freiwillig mit an, wo er gerade gebraucht wird. Das will mir nicht in den Kopf. Was ist denn, wenn jemand keine Zeit oder keine Lust zum Beispiel auf Feldarbeit hat, weil er zu Hause etwas anderes fertig stellen muss, was er verkaufen will. Von wem wird denn die Feldarbeit bezahlt?“
„Das seht Ihr ganz richtig. So friedlich geht es wirklich nicht zu, denn, egal was passiert ist, wir sind doch trotzdem Menschen geblieben. Und Menschen denken zuerst an den eigenen Geldbeutel. Und wer nur ein paar Kupfermünzen im Sack hat, kann sich keine neue Kleidung oder neues Werkzeug leisten. Deswegen gibt es immer sehr viel Ärger, wenn die Leute ihre Arbeit verlassen müssen, um die Feldarbeit zu verrichten.
Aber die Felder gehören dem König. Und jedes Jahr im Frühjahr und im Herbst schickt der Burgvogt seine Garde aus, um die Leute aus ihren Häusern zur Feldarbeit zu holen. Glaubt ja nicht, die Leute gehen freiwillig mit, da sie diese Arbeit nicht bezahlt bekommen. Oft treiben die Soldaten die Menschen mit Peitschenhieben an. Und wer sich dann immer noch weigert, der wird so lange in den Kerker geworfen, bis er selber bettelt, dass er auf das Feld darf. Auch müssen die Leute ihre eigenen Ochsen zum Pflügen zur Verfügung stellen. Das Korn und die Rüben werden in großen Speichern im Schloss gelagert, genauso die Wolle der Schafe. Wer etwas braucht, muss es beim Burgvogt kaufen. Ausserdem müssen wir dem König als Tribut die Hälfte der geborenen Kälber, Ferkel und Lämmer entrichten.“
„Warum lassen sich die Menschen das alles gefallen? Wir hätten diesen König schon lange zum Teufel gejagt und die Felder unter der Bevölkerung aufgeteilt. Bei uns gibt es auch Bauernhöfe, und wenn der Bauer Erntehelfer braucht, so muss er sie bezahlen.“ Susanna hatte ihre kleine Faust geballt und war außer sich vor Zorn. „Das ist ja wie im Mittelalter, als es noch Leibeigenschaft gab.“
„Wir leben im Mittelalter, wie Ihr es nennt. In gewisser Hinsicht gibt es ja auch Leibeigenschaft bei uns. Aber das hängt alles mit dem Fluch zusammen. Wir können uns nicht gegen den König wehren. Ihr seht doch, was er uns schon einmal angetan hat.“ Er zeigte auf seine Haare im Mund. „In all den Jahren hat schon so mancher versucht, zu rebellieren. Dabei ist die Kerkerstrafe noch das kleinere Übel. Am schlimmsten ist es, wenn man direkt vor den König zitiert wird.“
Pratt machte eine kleine Pause und nahm einen großen Schluck aus seinem Humpen. Gespannt sahen ihn die drei Freunde an. Dann sprach er weiter.
„Folgende Geschichte ist vor vielen Jahren passiert. Dazu müsst Ihr wissen, dass der Burgvogt einige Soldaten alle zehn Jahre austauscht. Die schlimmsten Unruhestifter und Raufbolde, die seine Befehle ständig missachten und ihre Gardekameraden misshandeln, entlässt er wieder in ihre Familien. Diese können dann sehen, wie sie mit ihren missratenen Söhnen allein fertig werden.
Da haben sich nun ein paar junge Männer, die neu rekrutiert werden sollten, im Wald versteckt. Sie weigerten sich, der Garde des Königs beizutreten, weil sie ihre Familien nicht verlassen wollten. Nun ließ der Burgvogt die Flüchtigen mit seiner Garde suchen und festnehmen. Selbst machte er sich aber die Finger nicht dreckig an ihnen. Er tischte dem König phantastische Lügengeschichten über die Verbrechen der Burschen auf. Daraufhin sprach der König sein grausames Urteil: „Sie sollen an ihren Mundhaaren am Galgen auf dem Marktplatz aufgehängt werden, solange, bis die Raben ihnen die Augen ausgehackt haben.“
Bekümmert ließ Pratt seine Hand auf die Stadtchronik sinken und schüttelte den Kopf. Eine dicke Träne tropfte auf das Blatt, wo zwei Buchstaben ineinander liefen. Erschrocken griff der Stadtschreiber in seine Tasche und förderte eine kleine Dose zutage. Daraus schüttete er etwas weißes Pulver auf das Blatt und blies es dann fort. Löschpapier kannte er nicht.
Düster sprach er weiter. „Es hat keinen Zweck, gegen den König zu rebellieren. Er ist ein zu mächtiger Zauberer. Und wenn seine Elinor nicht zu ihm zurück kommt, wird es bis in alle Ewigkeit so weiter gehen.“
„Das ist ja grauenhaft.“ Die drei Freunde hatten eine Gänsehaut bekommen. „Wie kann man nur so leben? Am besten, wir machen uns hier schleunigst wieder aus dem Staub. Geld haben wir sowieso keines, um uns noch irgend etwas zu kaufen. Gleich morgen früh werden wir die Stadt verlassen. Unseren Urlaub haben wir uns ein bisschen anders vorgestellt.“
Traurig blickte der alte Schreiber sie an. „Das wird nicht möglich sein. Ein Teil des Fluches lautet, dass niemand jemals die Stadt wieder verlassen kann. Ihr werdet Euch hier eine Arbeit suchen müssen, um zu überleben.“
„Nein, das kann nicht sein! Wir haben doch mit dieser ganzen Sache überhaupt nichts zu tun. Wir sind doch nur Urlauber.“ Die drei waren aufgesprungen und schauten den Alten entsetzt an.
„Ich gebe Euch einen guten Rat, geht jetzt schlafen und überlegt Euch, was Ihr hier tun wollt. Ihr habt keine andere Wahl, denn Ihr könnt hier nie wieder weg.“ Der Alte hatte sich erhoben, sein dickes Buch unter den Arm geklemmt und verließ schlurfend die Herberge.
Kapitel Sieben
„Was sollen wir jetzt bloß tun?“ Verzweifelt packte Susanna ihren Bruder beim Arm. „Auf was haben wir uns da bloß eingelassen?“ Tränen rannen über ihre Wangen.
„Auf alle Fälle nicht verzweifeln. Der Alte hat recht. Gehen wir schlafen. Morgen früh sieht die Welt sicher freundlicher aus und uns fällt etwas ein. Vielleicht gilt ja der Fluch gar nicht für uns? Wir sind hier schließlich fremd. Und ausserdem sind seitdem über vierhundert Jahre vergangen. Wahrscheinlich hat er seine Wirkung längst verloren.“
Elinor packte Susanna und Severin bei den Armen und schob sie zur Tür hinaus. Hinter dem Haus entdeckten sie einen Brunnen, über dem an einem Strick ein Eimer hing. Severin ließ den Eimer hinab und förderte dann eine sandbraune Brühe zutage. Das Wasser war eiskalt. Nach einer Weile hatte sich der Sand auf dem Boden des Gefäßes abgesetzt und die drei wuschen notdürftig ihren Schmutz von den Leibern. Zitternd kletterten sie die schmale Treppe empor zum Speicher. Dort war es inzwischen stockdunkel. Severin klickte sein Feuerzeug an und ging voran. Die anderen tasteten sich hinter ihm her, bis sie an die Strohsäcke stießen. Sie holten aus ihren Rucksäcken die Handtücher und frottierten sich gegenseitig ab. Dann zogen sie Jogginganzüge über und wickelten sich in ihre Decken. Trotzdem froren sie nach einiger Zeit erbärmlich.
„Wir müssen uns gegenseitig wärmen, sonst sind wir morgen früh steif gefroren.“ Severin machte mit klappernden Zähnen diesen Vorschlag.
Noch einmal erhoben sie sich und schoben ihre Strohsäcke zusammen. Eng aneinander geschmiegt, konnten sie die drei Decken übereinander legen.
Endlich hatte Severin Elinor nah bei sich. Ihr Kopf lag auf seinem Arm. Er spürte ihren Atem an seinem Hals und drückte seine Nase tief in ihr Haar. Voller Liebe sog er tief ihren Duft in sich ein, streichelte ihr zärtlich über den Rücken und drückte sie sanft an seinen Körper. Er spürte ihr Zittern und stellte sich vor, dass es ihm galt, und nicht vor Kälte geschah. Zart ließ er seine Hand über ihren Busen gleiten.
„Severin, was tust du?“ hauchte sie.
„Ich wärme dich.“ Noch dichter drängte er seinen Körper an den ihren.
Ihr Herz klopfte ihm unbändig entgegen. Überwältigt presste er seine Lippen auf ihren Mund. In diesem Augenblick legten sich von hinten Susannas Arme um seinen Leib. Der Zauber war gebrochen. Er rollte sich auf den Rücken und hielt beide Mädchen in seinen Armen. So schliefen alle drei ein.
Der nächste Morgen begann mit einer Katastrophe. Das saure Aufstoßen hatte sich zu mächtigen Halsschmerzen ausgeweitet. Alle drei lagen zitternd auf ihren Säcken und waren sich sicher, dass diese Nacht ihnen eine furchtbare Erkältung eingebracht hatte. Sie fühlten sich matt, alle Knochen taten ihnen weh. Die Zunge fühlte sich wie eine pelzige Kugel an.
Mühsam erhoben sie sich und fassten sich an den Hals. Er war dick geschwollen. Elinor öffnete als erste ihren Mund, um ihre Begleiter zu fragen, ob es ihnen auch so schlecht ginge. Sie brachte keinen Ton hervor. Entsetzt schauten Severin und Susanna sie an. Aus ihrem Mund schob sich ein Büschel Haare. Elinors Augen weiteten sich vor Schrecken, als sie ihre Freunde betrachtete. Auch diese hatten einen wolligen Knaul Haare im Mund. Sie versuchten sie ausspucken, aber das gelang ihnen nicht. Wie von Sinnen versuchten sie, die Haare herauszureißen, aber die waren fest angewachsen und schoben sich langsam zu den Lippen hinaus. Verzweiflung machte sich breit. Der Fluch war nicht gebannt und sie waren nicht vor ihm gefeit. Der Alte hatte recht, sie würden diese Stadt nie mehr verlassen können!
Severin klickte sein Feuerzeug an und hielt sich die Flamme in den Mund. Beißender Qualm reizte ihn zu einem Hustenanfall. Die Flammen erfassten sein Mundhaar und schmorten sich bis auf den Gaumen durch. Es brannte fürchterlich, er schrie vor Schmerz. Susanna steckte ihm einen Zipfel der Zudecke in den Mund und erstickte die Glut. Wie irre schlug Severin um sich. Die beiden Mädchen hielten ihn an den Armen fest und drückten ihn zurück auf den Strohsack. Er schmiss sich hin und her und jammerte. Von seinen verbrannten Lippen hingen Hautfetzen herab, seine Zähne schlugen aufeinander. Wild rollte er mit den Augen.
„Kannst du ihn kurz halten? Ich hole etwas.“ Susanna rannte die Treppe hinunter in den Schankraum. Nach einer Minute kam sie mit einem Humpen Bier in der Hand wieder. Vorsichtig setzte sie ihn ihrem Bruder an die Lippen. Der Gerstensaft linderte etwas die Schmerzen. Kopfschüttelnd war der Wirt hinter Susanna die Treppe herauf geächzt. Jetzt kratzte er seinen kahlen Schädel und schaute die drei verblüfft an. „Jetzt seht Ihr auch aus wie Menschen. Dem Fluch des Königs entkommt keiner.“ Er holte aus seinem Beutel einen Becher mit einer schwarzen Salbe und strich sie Severin auf die verbrannten Lippen.
„Kommt mit, ich bringe Euch zur alten Fetta. Die kann dem jungen Mann einen Kräutertrunk bereiten, dann werden seine Schmerzen schnell vergehen. Was ist Ihm bloß eingefallen, Feuer in seinen Mund zu stecken. Das hilft überhaupt nicht. Die Haare kommen wieder, Ihr werdet es sehen.“
Kapitel Acht
Die alte Fetta wohnte drei Häuser weiter. Sie war ein altes Kräuterweib mit einem mächtigen Buckel auf dem Rücken. Die Wände ihres Zimmers hingen voll von getrockneten Kräutern aller Art. Nur sie konnte die graubraunen Stengel auseinander halten und wusste, welches Kraut gegen welches Übel half. Zielsicher angelte sie einige Zweige herunter und vermischte sie in einem Holzbecher. Mit einem Stößel zerstampfte sie die Blätter, dann goss sie heißes Wasser darüber. Ein aromatischer Duft verbreitete sich im Raum. Ununterbrochen rührte sie den Sud, bis er abgekühlt war. Dann flößte sie Severin die Mixtur löffelweise in seinen geschundenen Rachen. Er durfte sie nicht schlucken, sondern musste sie im Mund behalten und damit gurgeln und wieder ausspucken. Nach einer Weile fühlte er sich besser und er bedankte sich bei ihr.
Als der Wirt sich davon überzeugt hatte, dass die drei in guten Händen waren, verließ er eilig das Haus. „Ich muss mich um meine Gäste kümmern. Es ist bald Mittag und ich habe noch nichts vorbereitet.“
Susanna fragte die Alte: „Wie können wir Ihnen danken? Wir haben kein Geld, um Ihnen die Arznei zu bezahlen.“
Die Alte kicherte vor sich hin. „Ich wüsste schon, ich wüsste schon ... Was habt ihr denn jetzt vor, was könnt ihr?“
Ratlos schauten die drei sich an und zuckten mit den Schultern.
„Ich könnte eine Hilfe brauchen.“ Dabei schaute sie Susanna fragend an. „Es fällt mir seit langem sehr schwer, in den Wald zu gehen und die Kräuter zu sammeln. Meine Augen sind schlecht und oft kann ich kaum noch erkennen, wo ein Kräutlein wächst. Du wärst die Richtige für mich. Du bist jung und gesund. Ich könnte dich in den Geheimnissen der Heilkräuter unterrichten und du könntest mir zur Hand gehen bei der Bereitung von Salben und Mixturen.“
Susanna schaute ihren Bruder hilfesuchend an. Aber der hatte sich scheinbar mit dem Schicksal abgefunden. Wenn sie schon hierbleiben mussten, dann sollten sie auch jede Gelegenheit nutzen, die sich bot. Severin erwiderte an Susannas Stelle: „Das ist fabelhaft. Natürlich wird meine Schwester Ihnen helfen. Sie wollte schon immer Ärztin werden und hat auch schon ein Jahr studiert. Wir müssen uns schließlich alle eine Arbeit suchen.“
So war es abgemacht, ohne dass sich Susanna dazu geäußert hatte.
„Am Besten, du ziehst zu mir ins Haus, dann bist du immer zur Stelle, wenn ich dich brauche. Platz habe ich genug.“ Die Alte öffnete eine Tür und ein Schlafzimmer kam zum Vorschein, das irgendwie unbenutzt aussah.
„In diesem Zimmer hat meine Tochter gelebt, bevor sie ins Schloss geholt wurde. Das ist aber schon viele Jahre her. Sie wird nicht zurückkommen. Du kannst ihr Zimmer haben.“
„Was ist passiert, wieso ist sie ins Schloss geholt worden und warum kommt sie nicht wieder?“ Susanna schaute sich im Zimmer um, strich mit der Hand über das ordentlich gemachte Bett, die Schränke mit feinen Intarsien, einen kleinen runden Tisch mit gedrechselten Beinen, um den sich vier zierliche Stühle reihten und blieb vor einem großen Bild an der Wand stehen. Auf diesem war ein hübsches junges Mädchen abgebildet, keine fünfzehn Jahre alt, mit großen blauen Augen und langen Korkenzieherlocken.
„Das ist meine Ivetta. Der Burgvogt hat sie zu sich ins Schloss bringen lassen. Sie ist nicht das einzige Mädchen gewesen. Seine Garde hat eine richtige Jagd auf alle Jungfrauen veranstaltet. Angeblich sollten sie den König auf andere Gedanken bringen, damit er den Fluch aufhebt. Aber es hat nichts genützt. Er denkt nur an seine Elinor, keine andere interessiert ihn.“
„Und warum sind die Mädchen dann nicht zurück gebracht worden?“ wollte Susanna wissen.
„Nun, ich nehme an, der Burgvogt wird sie für sich und seine Soldaten als Gespielinnen behalten haben. Er ist ein böser, durchtriebener Mann, der das Gesetz in den Händen hält. Und er ist der Ratgeber des Königs. Wer weiß, vielleicht hätte der König ohne seinen skrupellosen Einfluss schon lange seine Meinung geändert und wir könnten in Frieden leben und sterben.“
Eine Träne hatte sich ins Auge der Alten geschlichen. Susanna fühlte auf einmal Mitleid. Sie legte den Arm um Fettas Schultern. „Ich werde es mir überlegen. Seien Sie bitte nicht böse, wenn ich nicht gleich hier bleibe, aber das kommt alles ein bisschen überraschend für mich. Ich sage Ihnen aber auf alle Fälle Bescheid.“
Susanna hatte es plötzlich sehr eilig. Sie umarmte die alte Fetta, dann fasste sie Freundin und Bruder unter den Armen und zog sie zur Tür hinaus. Schnell liefen sie zur Herberge zurück.
Susanna war furchtbar aufgewühlt. „Ich kann das nicht, nein, das ist zu verrückt. Ich kann doch nicht einfach zu einer fremden Frau ziehen. Arbeiten vielleicht. Aber gleich hinziehen? Und was wird aus euch? Wir wollten doch sehen, dass wir hier schnellstens wieder weg kommen.“
Sie blickte ihren Bruder flehend an. Severin aber schien seinen Entschluss gefasst zu haben.
„Es hilft doch alles nichts! Warum sträubst du dich jetzt so? Dir müsste doch inzwischen klar sein, dass wir hier nicht so einfach wegkommen. Und in der Herberge können wir nicht ewig bleiben. Wir haben schließlich kein Geld. Sei doch froh, dass sich dir so eine Gelegenheit geboten hat. Wir werden uns alle drei etwas suchen müssen. Wovon sollen wir sonst leben? Mit der Zeit wird uns schon etwas einfallen. Denkst du etwa, ich will hier ewig bleiben?“
In der Herberge angekommen setzten sie sich an einen Tisch.
„Kommt, lasst uns etwas essen. Es bringt doch nichts, jetzt hier zu streiten. Finden wir uns fürs Erste mit der Situation ab. Ich jedenfalls habe einen Bärenhunger.“ Severin winkte dem Wirt. „Einmal Essen bitte“ und zu den beiden Mädchen gewandt: „wollt ihr auch was?“
Sie nickten nur stumm.
„Also drei Mal“, berichtigte er sich. Der Wirt nickte und verschwand in der Küche.
Severin versuchte die Beiden aufzumuntern. Mit gespieltem Humor sagte er: „Betrachtet es als eine Art verspätetes Galgenfrühstück, bevor Susanna ihren neuen Job antritt.“
Der Wirt stellte die üblichen Eier mit Speck und Brot auf den Tisch. Susanna versprach dem Wirt, zu bezahlen, sobald sie ihren ersten Lohn von der alten Fetta erhalten hätte.
Nun mussten die drei lernen, mit Haaren im Mund zu essen. Es kostete einige Überwindung, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, wenn sie nicht verhungern wollten.
Susanna hatte plötzlich eine Idee. Sie lief in den Speicher und holte ihren Rucksack, in dem sich die Reiseapotheke befand. Schnell schnitt sie sechs kleine Steifen Pflaster zurecht. Damit klebten sie sich gegenseitig ihre Mundhaare links und rechts an die Wangen, sodass sie nicht beim Essen heruntergeschluckt werden konnten. Nun waren die Haare auch nicht mehr beim Kauen im Weg. Es sah zwar ulkig aus, aber zum Lachen war trotzdem niemandem zu Mute.
Nach dem Essen holte Susanna ihr Handy hervor.
„Wenn wir schon hier bleiben müssen, muss ich wenigstens in der Redaktion anrufen, dass mein Urlaub voraussichtlich etwas länger dauert.“
Sie drückte die Nummer ein und stutzte. „Kein Netz!“ Sie versuchte durch automatische Netzsuche einen rumänischen Umsetzer zu erreichen, aber es war zwecklos. Das Handy blieb tot.
„Wir befinden uns im Mittelalter. Da gab es noch kein Telefon.“ Severin versuchte witzig zu klingen, aber sie wussten, dass er recht hatte. Sie waren von der Welt abgeschnitten und auf sich allein gestellt.
Mit Tränen in den Augen verabschiedete sich Susanna von ihrer Freundin und ihrem Bruder. „Ihr kommt mich aber jeden Tag besuchen, versprecht mir das.“ Dann zog sie los.
Elinor und Severin blieben am Tisch sitzen und schauten sich betreten an. Was konnten sie tun? Auch sie mussten eine Arbeit finden. Aber sie kannten hier niemanden und soviel Glück wie Susanna durften sie nicht erwarten.
„Also, was machen wir? So schwer kann es doch nicht sein, eine Arbeit zu finden. Jeder macht hier das, was er am Besten kann. Vielleicht klappern wir ja die Häuser ab und fragen, ob jemand Hilfe braucht. Ich könnte zum Beispiel Bäume fällen und Möbel herstellen. Wozu habe ich Schreiner gelernt?“ Severin war in seinem Element. Aber Elinor schaute ihn nur bedrückt an.
„Ich fasse es nicht! Willst du wirklich, dass wir alle drei auseinander laufen? Es reicht doch schon, dass Susanna in einem fremden Haus wohnt. Willst du mich jetzt auch noch verlassen? Ich kann mich einfach nicht mit diesem Schicksal abfinden. Es muss doch eine Möglichkeit geben, diesem Spuk ein Ende zu bereiten und hier wieder raus zu kommen. Aber dazu dürfen wir uns nicht trennen. Severin, das kannst du mir nicht antun! Ich möchte mein Kind bekommen und nicht als unsterbliche Schwangere hunderte Jahre in diesem Nest dahin vegetieren. Severin, ich brauche dich!“
Elinor brach in Tränen aus. Severin war entsetzt. So weit hatte er noch gar nicht gedacht. Eine Woge von Zärtlichkeit übermannte ihn. Behutsam legte er seine Arme um Elinor und küsste ihr Haar. Sein Herz begann unbändig zu pochen. Elinor hatte recht. Er konnte sie nicht verlassen. Jetzt gingen alle seine Träume in Erfüllung. Endlich hatte er sie ganz für sich. Wie oft hatte er davon geträumt, sie so zu halten, ihr seine Liebe zu gestehen und immer mit ihr zusammen zu bleiben. Doch jetzt, in diesem Augenblick konnte er kein Glück empfinden. Das Unglück hatte sie in seine Arme getrieben. Keine gute Grundlage für eine Beziehung!
„Ich werde dich nicht verlassen. Du hast recht, wir dürfen uns nicht trennen. Vielleicht können wir uns ein Haus bauen und darin wohnen, so lange, bis uns eingefallen ist, wie wir Angstmark verlassen können. Und Susanna holen wir auch zu uns. Wir müssen zusammen bleiben, das ist unsere einzige Chance. Ich ....“
Er wollte sagen: ich liebe dich, aber er brachte es nicht fertig. Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt dafür. So schaute er ihr nur in die verweinten Augen, nahm ihr Gesicht in die Hände und wischte mit den Daumen die Tränen fort. Dann drückte er sie abermals an sich. „Wir finden eine Lösung. Komm, lass uns durch den Ort gehen und die Leute kennen lernen. Sicher werden wir ihre Hilfe brauchen. Und vielleicht finden wir ja auch ein schönes Plätzchen für unser Haus.“
Hand in Hand verließen sie die Herberge und liefen die Straße hinunter. An der Tür des ersten Hauses klopften sie. Ein alter Mann öffnete und schaute entgeistert in die Gesichter der jungen Leute.
„Guten Tag. Ich bin Severin und das ist meine Freundin Elinor. Wir sind neu in Angstmark und möchten uns gern vorstellen.“
Der Alte schaute noch um einen Deut misstrauischer. Noch nie hatte er Menschen in einer solchen Kleidung gesehen. Sicher hatte der Burgvogt diese Leute geschickt. Er fing an zu zetern: „Ihr habt uns schon unsere Töchter und Söhne genommen. Was wollt Ihr denn noch von uns. Wir haben nichts mehr. Dann tötet uns doch gleich.“
Elinor und Severin schauten sich bestürzt an.
„Aber nein, das ist ein Missverständnis. Wir wollen Ihnen nichts wegnehmen. Wir sind aus einem anderen Land hier her gekommen und nun können wir Angstmark anscheinend nicht mehr verlassen. Wie es aussieht, müssen wir uns hier ein Haus bauen und da wollten wir uns nur mit Ihnen bekannt machen. Wir kennen doch hier keinen Menschen und haben auch keine Arbeit. Vielleicht brauchen Sie ja Hilfe oder können uns sagen, an wen wir uns wenden können.“
Ungläubig hatte der Alte zugehört und mit dem Kopf gewackelt.
„Das ist ja unglaublich! Wilhelmina! Komm doch mal her! Hier sind junge Leute, die sich nach vierhundert Jahren wieder nach Angstmark verirrt haben. Und nun sind sie hier gefangen und müssen sich ein Haus bauen und Arbeit suchen.“
Dann aber fasste er sich, trat einen Schritt zur Seite und bat die Beiden in sein Haus. „Ich bin Diederich, kommt doch rein.
Eine alte Frau in einer durchscheinenden Kittelschürze kam hinter einem Vorhang hervor und machte runde Augen. Verwundert musterte sie die Beiden von oben bis unten. Doch dann besann sie sich und bot den Gästen einen Platz an.
„Esst einen Teller Suppe mit uns. Sie ist gerade fertig geworden. Etwas Besseres kann ich Euch leider nicht anbieten.“
„Oh, Suppe ist phantastisch. Aber wir wollen Ihnen wirklich nicht zur Last fallen. Wir haben gerade in der Herberge gegessen. Wir wollten nur guten Tag sagen. ...“
Die Alte fasste Elinor bei der Hand und zog sie zu einem Schemel am großen Tisch, auf dem schon fünf Teller standen. Sie stellte noch zwei hinzu und wuchtete dann einen mächtigen Topf vom Kochherd auf den Tisch. Es roch verlockend. Obwohl sie in der Herberge gerade erst Eier mit Speck gegessen hatte, verspürte Elinor plötzlich mächtigen Appetit. Sie fragte sich aber, für wen wohl die anderen Teller seien, denn sie sah nur das alte Ehepaar. Die Alte verschwand wieder hinter dem Vorhang.
„Was rattert hier eigentlich so?“ Elinor schaute sich um. Das Geräusch kam hinter dem Vorhang hervor, durch den die Alte gegangen war. Sie stand auf und lugte dahinter.
„Das ist unser Webstuhl.“ Die Alte zog den Vorhang zur Seite und Elinor sah ein etwa zehnjähriges Mädchen an einem Webrahmen arbeiten. Das Mädchen war in ständiger Bewegung. Füße und Hände arbeiteten gleichmäßig und flink, das Knallen des Webschützen beherrschte den Raum. Susanna blickte fasziniert auf das Kind. Mit seinen Füßen bediente es die Pedalen, welche die Schäfte hoben und senkten.
„Wie funktioniert das eigentlich? Es sieht kompliziert aus.“
Die Alte begann zu erklären. „Durch das Heben und Senken der Schäfte werden die Kettfäden in zwei Fächer geteilt. Seht Ihr, sie werden von dem Kettbaum über diese Streichwalze, die zwei Teilstäbe, diese zwei Schäfte mit Litzen und Litzenaugen, hier den Webkamm und den Brustbaum zum Warenbaum geführt.“ Bei jedem ihrer Worte zeigte sie auf das entsprechenden Teil.
Mit einem Picker schlug das Kind gegen den Webschützen und der Schussfaden sauste durch das Fach. Mit dem Webkamm drückte es dann den Schußfaden an das schon fertige Gewebe. Ein Tritt auf die Pedale wechselte die Stellung der Webschäfte, der Schussfaden wurde durch die Kreuzung der Kettfäden in das Gewebe eingebunden. Das fertige Gewebe wickelte sich auf den Warenbaum auf. Das alles ging in rasantem Tempo vor sich, Elinor kam aus dem Staunen nicht heraus.
Neben dem Webstuhl saßen noch zwei kleinere Mädchen von acht und sechs Jahren an Spinnrädern und arbeiteten der jungen Weberin zu. Ein großer Haufen Schurwolle lag neben den Kindern auf dem Boden. Mit ihren kleinen Fingern zwirbelten sie die Fäden, welche sich dann gleichmäßig auf die Spindel aufwickelten.
Severin war hinter Elinor getreten und beobachtete, wie sie gebannt die Arbeit der Kinder verfolgte.
„Wäre das nicht etwas für dich. Du könntest dir deine eigenen Stoffe weben und daraus Kleider schneidern. Es dürfte für mich nicht allzu schwierig sein, dir auch so einen Webstuhl zu bauen.“
„Ich denke, das wäre eine Überlegung wert, vielleicht machen wir das. Aber erstmal müssen wir ein Haus haben.“
Die Alte rief die Kinder, die ihre Arbeit aus den Händen fallen ließen und eilig zum Tisch liefen. Ehrfurchtsvoll starrten sie die Fremden an, sagten aber keinen Ton.
„Starrt die Leute nicht so an, esst!“ Diederich hieb seine Faust auf den Tisch und die Kinder zogen ihre Köpfe ein. Schweigend löffelten alle ihre Suppe.
Severin brannte eine Frage auf dem Herzen. Nachdem er seinen Teller gelehrt hatte, brach es aus ihm heraus: „Sie sagten, Ihnen wären Ihre Töchter und Söhne genommen worden. Von wem denn?“
„Von wem wohl?“ Diederichs Stimme klang verbittert. „Vom Burgvogt natürlich. Hannah und Sarah sind erst fünfzehn und dreizehn. Viel zu jung, um Gespielinnen dieser Sippschaft zu sein. Johannes und Constantin sind neunzehn und siebzehn, Abraham ist zweiundzwanzig. Sie sind jetzt bei der Garde. Und unser Ältester, Poldur ist fünfundzwanzig. Ihn hat es am schlimmsten getroffen. Er wurde vom Burgvogt gezwungen, Henker zu werden. Und dabei war er das sanfteste von allen Kindern. Keiner Fliege konnte er etwas zu Leide tun. Und jetzt muss er die Gefangenen foltern.“
„Das ist ja schrecklich, wie kann man nur so grausam sein?“ Elinor war außer sich.
„So ist das eben. Daran müsst Ihr Euch gewöhnen. Wenn Ihr längere Zeit hier in Angstmark lebt, werdet Ihr noch viel schlimmere Dinge erleben. Wartet es ab und versucht, nicht aufzufallen, damit Ihr nicht in die Hände dieser Banditen geratet.“
Severin und Elinor bedankten sich bei Diederich und Wilhelmina. „Wir lassen uns sicher nichts zuschulden kommen. Wir möchten Sie nun nicht länger stören. Die Suppe hat vorzüglich geschmeckt. Vielen Dank!
Komm, lass uns weiter gehen.“
Sie verließen das Haus und liefen die Straße weiter abwärts.
„Was meinst du, wie alt die beiden waren? Sie sahen aus, wie uralte Rentner. Aber sie haben noch kleine Kinder. Das kann doch nicht sein!“
Severin dachte einen Augenblick nach. „Ich denke, die harte Arbeit, diese jahrhundertelange Schufterei hat an ihnen gezehrt. Sie sind sicher nicht älter als fünfzig.“
„Severin – kannst du dir vorstellen, so viele Jahre mit mir zusammen zu sein? Ich meine, wenn wir nach vierhundert Jahren auch so aussehen, wie die Beiden? Dann willst du sicher nichts mehr mit mir zu tun haben.“
Severin blieb stehen und schaute Elinor verblüfft an. Noch nie hatte sie über eine gemeinsame Zukunft mit ihm gesprochen.
„Ich – ich würde tausend Jahre mit dir zusammen bleiben. Ich meine, wenn du mich dann immer noch willst?“
Elinor musste unwillkürlich lachen, wie er so hilflos vor ihr stand und stammelte. Er brachte es einfach nicht fertig, ihr seine Liebe zu gestehen. Sie hakte ihn unter und zog ihn weiter. „Ich hoffe nicht, dass ich tausend Jahre hier schwanger umher laufen muss.“
An diesem Tag besuchten sie noch die Imkerfamilie, den Schmied, den Schuhmacher und die Bäckersfrau. Diese bewirtete sie mit frisch gebackenem Brot.
Jede Familie hatte ihnen eine andere traurige Geschichte zu erzählen und schon bald sank ihnen aller Mut. Die Zukunft sah wirklich nicht rosig aus.
Gegen Abend kehrten sie in die Herberge zurück, setzten sich traurig auf eine der Bänke und ließen ihre Erlebnisse Revue passieren.
Ab und zu kamen ein paar alte Männer, setzten sich an die Tische und bestellten Bier.
Hand in Hand stiegen Elinor und Severin die Treppe zum Speicher empor. Auf ihren Schlafsäcken schmiegten sie sich eng aneinander.
„Halt mich fest, Severin. Lass mich niemals wieder los.“ Elinor hatte ihre Arme um seinen Leib geschlungen und ihr Gesicht an seine Schulter gedrückt. Severin streichelte über ihren Rücken und drückte ihr einen Kuss ins Haar. Dann legte er seine Hand auf ihren Bauch. „Ich spüre sein Herz klopfen. Und jetzt – was war das?“
Elinor musste lachen. „Er wollte dir die Hand geben. Manchmal boxt und tritt er mich, als wollte er sagen: Wann kann ich endlich hier raus? Und dann schläft er wieder stundenlang und ich spüre ihn überhaupt nicht.
Oh Severin, wenn ich ihn doch in meinen Armen halten könnte! Ich möchte ihn sehen, in seine Augen schauen, über sein Haar streicheln. Vielleicht ist es ja aber auch ein Mädchen und sie bekommt lange blonde Haare, wie ich. Dann schneidere ich ihr die schönsten Kleidchen und Röckchen.“
Severin spürte, wie Tränen seine Schulter benetzten. Er nahm Elinors Kopf in die Hände und schaute ihr fest in die Augen. „Ich versprechen dir, du wirst dein Kind in den Armen halten. Ich weiß es ganz genau. Es wird wunderschön, mit blauen Augen und blonden Locken. Es wird das schönste Kind auf der ganzen Welt.“
Fest drückte er Elinor an sich und so schliefen beide ein.
Kapitel Neun
In der Nacht hatte Elinor einen sonderbaren Traum. Sie saß auf ihrem Diwan und vor ihr, ganz in leuchtend blaue Seide gekleidet, stand ihre Mutter. Sie schaute Elinor mit glänzenden Augen an und sprach feierlich zu ihr: „Heute, mein Kind, ist dein großer Tag. Heute gehen all deine Wünsche in Erfüllung. Du wirst deinen rechtmäßigen Platz einnehmen, meine kleine Prinzessin. Sei deinem Volke eine gute Herrscherin und deinem königlichen Gemahl eine liebevolle Frau.“ Damit holte sie eine goldene Krone aus ihrem Gewande und setzte sie Elinor behutsam auf das Haar. Da tat sich hinter ihr die Tür auf und herein kam ein wunderschöner junger Mann, groß, mit breiten Schultern, sehnigen, muskulösen Armen, schmalen Hüften, in einen golddurchwirkten Wams gekleidet, mit schneeweißen Kniehosen und einem mit Diamanten besetzten Reif in seinen goldenen Haaren. Seine strahlend blauen Augen blickten sie zärtlich an. Ein Gesicht, in dem alles stimmte, die hohen Wangenknochen, die schmale, gerade Nase und der weiche Mund, der wie zu einer Liebeserklärung leicht geöffnet war. Er trat auf Elinor zu und nahm sie in den Arm. Dabei sprach er: „Endlich mein Schatz, habe ich dich wieder. Jetzt wird alles gut.“ Er küsste sie zärtlich und sie hauchte: „Solodur, wie habe ich auf diesen Tag gewartet.“
Am nächsten Morgen stiegen Elinor und Severin die Treppe hinunter und ließen sich vom Wirt ein Frühstück kommen. Diesmal verzichteten sie auf den Speck und aßen nur Eier und Brot.
Elinor schaute Severin verstört an und brachte keinen Bissen herunter. Severin bemerkte ihre Unsicherheit und fragte sie zärtlich: „Was hast du, geht es dir nicht gut?“
Eine Träne schlich sich aus Elinors Augen. Sie fasste seine Hand und gestand ihm: „Es klingt jetzt vielleicht ein bisschen blöd, aber ich hatte einen so komischen Traum. Seit ewigen Zeiten habe ich das erste Mal wieder von meiner Mutter geträumt. Du weißt doch, dass sie mich immer als ihre kleine Prinzessin bezeichnet hat. Und diesmal gab sie mich doch tatsächlich einem Königssohn zur Frau. Sie sagte, jetzt sei mein großer Tag. Heute gehen all meine Wünsche in Erfüllung. Ich werde meinen rechtmäßigen Platz einnehmen, und soll meinem Volke eine gute Herrscherin und meinem königlichen Gemahl eine liebevolle Frau sein. Und dann krönte sie mich und der Königssohn kam herein, nahm mich in den Arm und sagte, ‚jetzt wird alles gut‘.“ Elinor musste bei dem Gedanken daran lächeln. Dabei blickte sie in Severins Augen, die sie sonderbar anblickten, beinahe so, als wäre er verletzt. Schnell fügte sie hinzu: „Es ist grotesk, so ein blöder Traum. Sei mir nicht böse. Träume sind Schäume.“
Aber Severin war das Lachen vergangen. Zu viel Sonderbares war in letzter Zeit passiert.
Nach und nach kamen auch die anderen Gäste. Die Gesichter waren immer die gleichen. Alte Männer, denen zur Arbeit die Kraft fehlte, mit tiefen Falten und Runzeln im Gesicht, die von jahrhundert langer Mühsal und Plackerei erzählten.
Wieder einmal wurde die Tür zum Schankraum geöffnet, doch diesmal erschienen keine hungrigen Gäste. Pratt kam mit seiner dicken Stadtchronik herein. Er setzte sich wieder an seinen Stammplatz in der hintersten Ecke, zündete seine Kerze an und begann zu schreiben. Nach einer Weile hob er seinen Kopf, schaute in Richtung der zwei und lächelte freundlich.
„Wo habt ihr denn euere Begleiterin gelassen?“
Da zeigten sie ihm ihre Mundhaare, erzählten ihm von dem Vorfall mit dem Feuerzeug und dass Susanna jetzt eine Arbeit bei der alten Fetta gefunden hatte.
„Das ist gut, sehr gut. Ich hatte schon Angst, sie wäre geholt worden.“
Erschrocken sahen ihn die beiden an. „Was soll das heißen, geholt worden?“
„Die Garde ist wieder auf Menschenjagd. Sie holen sich Konkubinen und Rekruten. Zehn Jahre sind um, der König braucht neue Soldaten. Die alten können nun wieder nach Hause, aber die neuen müssen noch ausgebildet werden.“
„Werden die Konkubinen auch ausgetauscht?“ Elinor war aufgesprungen. Sie dachte an Ivetta, die Tochter der alten Fetta. Vielleicht kam sie ja nun wieder und Susanna konnte nicht in dem Haus bleiben. Pratt winkte resigniert ab.
„Nein, bis heute ist noch keine einzige zurück gekommen. Aber der Burgvogt holt trotzdem immer wieder neue. Die anderen müssen dann niedere Arbeiten verrichten, zum Beispiel die Waffen der Soldaten reinigen, das Schloss sauber halten, die Wäsche waschen, Essen kochen oder in der Glasmanufaktur arbeiten.“
Elinor wurde weiß im Gesicht. Wenn man also einmal in die Hände des Burgvogts fiel, gab es kein Entrinnen mehr, zumindest nicht für die Frauen.
Pratt senkte seine Stimme und flüsterte: „Ihr solltet jetzt nicht auf die Straße gehen. Die Soldaten gehen mit ihren Opfern nicht zimperlich um.“
Er schaute die beiden mitleidig an, denn er ahnte, was unweigerlich kommen würde. Und es geschah auch fast im gleichen Augenblick.
Mit einem Fußtritt flog donnernd die Eingangstür auf. Fünf wild dreinblickende Soldaten stürmten in den Schankraum.
„Wirt, bring uns Bier!“ Sie ließen sich auf die Bank am vordersten Tisch fallen. Die alten Männer rückten furchtsam beiseite. Lautstark machten die Soldaten zotige Witze über Begebenheiten mit Schlossjungfern, die ihnen zu Gefallen sein mussten, wann immer den Kerlen danach war.
Dann fiel ihr Blick in den düsteren Winkel, in dem Pratt mit den beiden jungen Leuten saß.
„Wen haben wir denn da? Diese Gesichter sind mir doch gänzlich unbekannt. Sollten wir diese Beiden die ganzen Jahre übersehen haben?“
Ein vierschrötiger Kerl mit rotblonden Kraushaaren und sommersprossenübersätem Gesicht erhob sich und schritt gefährlich mit den Knien wippend auf die Dreiergruppe zu. Derb packte er Elinors Kinn und drehte ihren Kopf in seine Richtung. Severin fuhr hoch und schlug dem Draufgänger die Hand weg. Doch ehe er es sich versah, waren die anderen Gardisten über ihm und er lag gefesselt am Boden.
„Trag die Namen in deine Chronik ein, Stadtschreiber! Wir nehmen sie mit.“
Grob packten die Soldaten Elinor und Severin und stießen sie zur Tür hinaus. Auf ihr Bier hatten sie ganz vergessen. Sie schwangen sich auf die Pferde und Elinor und Severin wurden an Fesseln hinterher gezogen. Am Marktplatz angekommen, band man sie an Ösen fest, die am Brunnen zur Befestigung der Pferde angebracht waren. Vier weitere Mädchen und sechs Burschen wurden bereits von zwei Gardisten bewacht. Dann sprengten die Berittenen wieder davon, um neue Opfer zu suchen.
Sie kamen auch ins Haus der alten Fetta. Die bucklige Alte fuhr mit einem Reisigbesen zeternd zwischen die lärmende Horde. Aber es half ihr nichts, sie wurde zur Seite gestoßen und mit einem Fußtritt neben ihren Herd befördert.
In der anderen Ecke saß ein schmutziges altes Weib, die Haare fetttriefend, Gesicht und Hände schwarz von Ruß. Ein dreckiger, zerrissener Kittel bedeckte den hageren Körper. Angewidert musterten die Soldaten die abstoßende Erscheinung, warfen schimpfend noch ein paar Körbe mit frisch gesammelten Kienäpfeln um, die durch die ganze Küche rollten, lugten in die anderen leeren Räume und verließen dann lärmend das Haus.
Die beiden Frauen atmeten auf. Das war noch mal gut gegangen, die Maskerade hatte geklappt. Niemand hatte die junge hübsche Susanna erkannt. Die alte Fetta rieb sich die Seite. Ein großer blauer Fleck machte sich auf ihrer Hüfte breit. Sie stellte in einem Kessel Wasser auf den Ofen, holte einige Kräuter von den Wandhalterungen und mischte sie in einer Schüssel. Als das Wasser kochte, begoss sie das Kraut, rührte und stampfte es, bis es eine breiige Masse ergab. Diese verteilte sie auf der schmerzenden Hüfte und legte ein angefeuchtetes Tuch darüber.
Susanna hatte interessiert zugesehen, während sie Gesicht und Hände vom Ruß befreite. Dann blickte sie betreten auf die vielen verschiedenen Pflanzenteile, die fein säuberlich in kleinen Bündeln die Wand bedeckten. Von manchen Pflanzen gab es nur die Stiele mit Wurzeln, andere hatten noch ihre getrockneten Blätter, wieder andere besaßen ihre Blüten.
„Was sind das jetzt für Kräuter gewesen, die Sie da zusammen gemischt haben?“
„Das eine hier ist die Wurzel des Beinwellkrautes, das hier ist Arnika, dieses sind Kamillenblüten, das hier Ringelblumenblüten und das ist Eichenrinde. Aus diesen Zutaten ein Aufguß und die Umschläge helfen bei Blutergüssen.
Sieh hier, es gibt zum Beispiel Kräuter zur Beruhigung. Wenn man nicht Schlafen kann macht man sich einen Tee aus Baldrianwurzel oder Johanniskraut, Melissenblätter oder hier die Lavendelblüten. Wieder andere verwendet man für die Wundheilung. Die frischen Blätter des Huflattich zum Beispiel oder den Spitzwegerich.“ Die Alte hatte nochmal auf jedes Kraut an der Wand gezeigt. Für Susanna sah alles grau, trocken und irgendwie gleich aus.
„Ob ich das je begreifen werde? Getrocknet sehen die Pflanzen schon anders aus als frisch. Aber schon da kenne ich nicht mal ein viertel mit Namen. Geschweige denn ich weiß, was davon und wofür verwendet wird. Bei uns zu Hause geht man in die Apotheke und bekommt die fertigen Salben, Tropfen oder Pillen gegen jede Krankheit. Auf dem Beipackzettel steht genau, wie man die Medizin nehmen muss und was für Nebenwirkungen entstehen können. Und schon da ist es für einen Arzt manchmal schwierig, das richtige Medikament zu verschreiben. Bei einigen ausgefallenen Krankheiten muss mehreres ausprobiert werden. Und viele Bestandteile der Medikamente werden chemisch hergestellt. Da würde man mit Kräutern nicht weit kommen.“
Ernst hatte Fetta zugehört. Versonnen schüttelte sie ihren Kopf. „Ich weiß nicht, was chemisch ist. Aber eins kann ich dir versichern: Gegen jedes Leiden ist ein Kraut gewachsen. Man muss es nur kennen und wissen, wann und wo es wächst, was davon verwendet wird und wofür es hilft. Aber du wirst viel Zeit haben, alles bei mir zu lernen und du wirst sehen, dass nicht nur die Menschen die Geheimnisse der Kräuter kennen. Auch die Tiere wissen ganz genau, was sie zum Beispiel bei einer Magenverstimmung fressen müssen, oder welche Pflanzen und Beeren giftig sind.“
Die Tür wurde aufgestoßen. Erschrocken fuhren die beiden Frauen zusammen. Aber es war Fisko, der Schmied. Sein Hemd war blutdurchweicht. Er stammelte etwas, dann brach er zusammen. Die beiden Frauen legten ihn auf einen Strohsack und Fetta zog ihm das Hemd vom Leib. Eine stark blutende Fleischwunde zog sich über seinen Oberarm, mehrere Peitschenstriemen verunzierten seine Brust. Links unterhalb der Rippen blutete er aus einer Stichwunde.
„Schnell, bring mir heißes Wasser und sauberes Linnen. Ich muss die Wunden säubern und nähen, sonst hört es nie mehr auf zu bluten.“
Sie zog eine dünne Tiersehne durch das Loch einer Hornnadel und machte sich an die Arbeit. Der Schmied stöhnte und kam zu sich. Susanna hielt den Kopf des Mannes und strich ihm über die schweißnasse Stirn. Beruhigend redete sie auf ihn ein.
Als Fetta fertig war, legte sie ihm noch einen Verband mit frischen Huflattigblättern um den Leib und seinen Arm in eine Schlinge.
„Du musst jetzt ruhig bleiben. Bewege dich nicht und bleib noch ein paar Stunden liegen. Heute abend kannst du nach Hause gehen.“
„Was soll ich zu Hause, wenn ich meine Arbeit nicht fertigstellen kann. Der König hat fünfzig Schwerter bestellt. Wie soll ich sie alleine schmieden, das Feuer in Gang halten und den Blasebalg treten? Sie haben meinen Joshua mitgenommen, diese Hunde. Ich hatte keine Chance gegen sie. Fünf Gardisten prügelten und stachen auf mich ein. Und wenn ich die Schwerter nicht binnen zwei Tagen fertig habe, steckt mich der Burgvogt in den Kerker. Was soll ich nur tun?“
Fetta braute dem Kranken einen Beruhigungstrunk aus Baldrian und Susanna flößte ihn dem besorgten Schmied ein. Kopfschüttelnd sagte sie zu ihm: „Ich verstehe den König nicht. Wie kann man nur so etwas Unvernünftiges tun? Wenn er Sie an Ihrer Arbeit hindert, braucht er sich doch nicht zu wundern, wenn sie nicht fertig wird.“
„Ach, ich denke, der König weiß nicht wirklich, was hier draußen vorgeht. Es ist der Burgvogt, der die Anweisungen gibt. Und dem ist es ganz egal, was aus uns wird. Hauptsache, er und seine Leute haben ihren Spaß.“
Noch einmal ging die Tür auf. Emma, die Bäckersfrau kam weinend herein. Ihr Kittel war schmutzig und zerrissen, ihr rechtes Auge blau und geschwollen. Zitternd setzte sie sich auf einen Schemel.
„Was ist passiert?“ wollte Fetta wissen. Sie tränkte ein zusammengelegtes Tuch mit kaltem Sud und legte es auf Emmas Auge.
„Sie haben Myra mitgenommen. Aber nicht nur das. Sie haben sie gleich in der Backstube vergewaltigt. Gleich alle fünf sind sie über sie hergefallen! Ihre Schreie klingen jetzt noch in meinen Ohren. Und als ich auf diese Bestien einschlug, rang mich der Anführer, dieser rothaarige Bastard nieder und zwang mir ebenfalls die Beine auseinander. Mir ist ganz schlecht! Aber wie schlecht muss es erst meiner Myra gehen! Sie war noch Jungfrau und sie hat geblutet wie ein Stück Vieh auf der Schlachtbank. Jetzt ist sie fort und ich stehe alleine da und weiß nicht, wie ich meine Arbeit schaffen soll. Seit sie Jonas, meinem Mann, den rechten Arm abgeschlagen haben, kann er mir ja auch nicht mehr richtig helfen. Ich wollte, ich wäre tot.“ Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich.
Susanna gab auch Emma von dem Beruhigungstrunk und legte den Arm um sie. „Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen. Wir müssen etwas gegen diese Gewalttaten unternehmen. Wenn sich alle zusammentun, können wir gegen diese Bestien kämpfen. Haben denn die Leute hier keine Waffen? Wir müssen die Schwerter an das Volk verteilen und nicht dem König bringen.“
„Das ist nicht so einfach“ sagte der Schmied schwach. „Den Leuten ist es strengstens verboten, Waffen zu besitzen. Wenn einer damit erwischt wird, dann macht der Burgvogt kurzen Prozess mit ihm. Es sind schon mehrere mutige Männer spurlos verschwunden. Keiner weiß, was aus ihnen geworden ist.“
Zum dritten Mal ging die Tür auf. Herein kam Pratt, der Stadtschreiber. Er ließ sich auf einem Schemel nieder und sah ernst in die Runde. Dann blieb sein trauriger Blick an Susanna hängen.
„Sie haben sie mitgenommen, alle Beide.“
Susanna wurde weiß, ihre Knie wurden weich wie Pudding, ein Würgen stieg in ihre Kehle und noch ehe sie wusste, wie ihr geschah, übergab sie sich neben dem Herd. Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Keiner sagte noch ein Wort.
Kapitel zehn
Als Susanna erwachte, lag sie auf der Pritsche. Die Alte hatte sich über sie gebeugt und hielt ihr ein dampfendes Getränk unter die Nase.
„Trink das, es wird dir gut tun.“
Vorsichtig nahm Susanna einen kleinen Schluck des heißen Tees. „Was ist das? Es schmeckt sehr gut, etwas säuerlich.“
„Es ist Melisse. Sie ist sehr gut für die Nerven und auch für den Magen. Wenn es dir besser geht, musst du endlich mal was essen.“
Susanna schaute sich um und bemerkte, dass die Sonne hoch am Himmel stand. Dann blickte sie auf ihre Armbanduhr. Sie musste mindestens sechzehn Stunden geschlafen haben. Es war also schon der nächste Tag und dieser ging bereits auf Mittag zu. Wie lange würde die Batterie ihrer Uhr noch durchhalten? Und was geschah dann, wenn sie wirklich ihr Leben lang hier bleiben musste? Würde sie sich an diese primitive Lebensweise jemals gewöhnen können? Kein Arzt, kein Strom, kein Supermarkt oder gar ein Bäcker an der Ecke, bei dem man frische Brötchen kaufen konnte? Erst jetzt fiel ihr auf, welch Hunger sie hatte, ihr Magen knurrte laut. Sie sprang auf, aber Fetta hielt sie zurück. „Bleib ruhig, ich habe schon etwas vorbereitet.“
„Ich hoffe, es sind keine Eier mit Speck. Etwas anderes scheint es in der Herberge nicht zu geben.“ Susanna schüttelte sich. Sie hatte immer gern Eier gegessen, aber als einzige Speise waren sie ihr schnell über geworden.
„Nein, keine Angst. Weinor macht nichts anderes, weil es für ihn am bequemsten ist. Ich aber hole mir alles frisch aus dem Wald. Lass dich überraschen.“
Sie hatte inzwischen eine tönerne Schüssel mit einer dampfenden Suppe auf den Tisch gestellt und schöpfte für Susanna daraus etwas auf einen Teller. Dazu reichte sie ihr frisch gebackenes Maisbrot. „Lass es dir gut schmecken.“
Susanna rührte mit dem Holzlöffel in der Suppe und fischte verschiedenartige Stengel und Blätter heraus. Zögernd roch sie daran.
„Was ist das?“
„Es ist Schafgarbe darin, Sauerampfer, Vogelmire und Spitzwegerich, aber auch ein wenig gebratener Speck.“
Es schmeckte vorzüglich und Susanna ging es sofort besser. Als Nachspeise gab es eine Art Schwarzwurzeln. Aber es waren nicht wirklich welche, sondern es waren die Wurzeln vom Wiesen-Bockskraut, die fein mit Estragon gewürzt waren.
Als Susanna aufgegessen hatte, fühlte sie sich wie ein neuer Mensch. Sie glaubte, nie in ihrem Leben so gut und vor allem, so gesund gegessen zu haben. Sie hätte Bäume heraus reißen können.
Die alte Fetta schaute sie schmunzelnd an. „Du siehst schon viel besser aus. Nimm dir die Kiepe auf den Rücken. Wir gehen in den Wald. Jetzt lernst du, wo wir welche Kräuter finden.“
Susanna nahm die Kiepe und stellte sie gleich wieder ab. Plötzlich fühlte sie eine gähnende Leere in sich. All die Ereignisse des Vortages stürmten auf sie ein. Der lange Schlaf hatte ihr für einige Zeit die Last genommen, um so schwerer drückte sie jetzt auf ihr Herz.
Severin und Elinor – wo würden sie jetzt sein? Was haben die Soldaten mit ihnen gemacht? War Severin nun einer von ihnen? Schwer vorzustellen, dass er ebenso tollwütig und hartherzig über unschuldige Menschen herfallen würde, wie die Rotte, die ihn verschleppt hatte. Er war immer ein friedliebender Junge gewesen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er sich jemals an einer Prügelei beteiligt hatte. Schon in der Schule ging er jeder handgreiflichen Auseinandersetzung aus dem Weg. Immer versuchte er, alles im Guten zu regeln. Mit seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn ging er ihr sogar manchmal auf die Nerven. Aber seine Argumente hatten immer etwas für sich.
Und er hatte sich auf seine Art besonders bei den Mädchen beliebt gemacht. Er musste sich um keine Freundin schlagen. Wenn Andy, der Obermacho aus seiner Klasse, auf das gleiche Mädchen scharf war, wie er und ihm Prügel androhte, so antwortete er ganz undramatisch: „Bitte, versuch es, sie zu gewinnen. Ich zwinge sie nicht, meine Freundin zu sein. Wenn sie der Meinung ist, du bist der Bessere für sie, dann werde ich mich ihrer Entscheidung nicht in den Weg stellen. Ich werde nicht mit Fäusten um sie kämpfen. Aber du kannst mir nicht verbieten, mit ihr für den Unterricht zu lernen oder schwimmen zu gehen. Und wenn sie lieber mit mir ins Kino geht, dann hast du wahrscheinlich schlechte Karten bei ihr. Freundschaft kann man nicht erzwingen, man muss sie sich verdienen.“
Fetta berührte Susanna leicht an der Schulter. „Ich weiss, es ist schwer für dich zu begreifen, was geschehen ist. Aber du wirst dich damit abfinden müssen. Es war schon immer so und es gibt kein zurück. Du wirst deinen Bruder und deine Freundin nie wieder sehen. Und wenn eines Tages vielleicht doch, dann werden sie sich verändert haben und du wirst sie nicht erkennen. Nicht äußerlich, da bleiben sie gleich, aber in ihren Herzen werden sie zerbrochen sein. Ich habe schon viele junge Männer zurück kommen sehen von ihrem Gardedienst. Zehn Jahre in dieser Höllengemeinschaft haben aus den besten, stillsten, liebevollsten Söhnen harte, herzlose Monstren gemacht, die ihren Eltern nur noch Kummer bereiten. Die Arbeit ist ihnen zuwider, sie trinken und schlagen sich, fallen wehrlose Mädchen an und landen zum Schluss meist im Kerker.
Vielleicht hast du schon gemerkt, es gibt in den Familien fast keine jungen Mädchen und Burschen mehr. Im Laufe der vielen Jahre hat uns der Burgvogt alles genommen, was unser Leben lebenswert gemacht hat. Es gibt in Angstmark nur noch Alte, die sich kaputt arbeiten und Kinder, die nicht älter werden und ihre Familien unterstützen könnten bei all der Plackerei. Und es wird jedes Jahr schlimmer.“
Susanna war auf einen Schemel gesunken. Ihr Herz raste vor Empörung. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Wieso konnten die Menschen hier nichts dagegen unternehmen, dass sie ausgesaugt wurden, bis aufs Blut? Es musste ganz einfach eine Möglichkeit geben, sich zu wehren. Was machte der Burgvogt mit all den Mädchen, die für ihn arbeiten mussten und ihm und seinen Soldaten die Zeit vertrieben? Sie rechnete kurz nach. Bei durchschnittlich zehn bis zwölf Kindern pro Familie sind mindestens zwei Mädchen über vierzehn und somit für den Burgvogt interessant. Und das mal zirka fünfzig Familien! Es mussten inzwischen über hundert sein, die auf dem Schloss in Gefangenschaft lebten. Und Elinor war jetzt eine von ihnen. O Elinor! Was stellt man dort mit dir an? Du warst immer wählerisch, wenn es um Männer ging. Kaum einer war gut genug für dich, selbst Severin hast du abblitzen lassen und er ist seit Jahren in dich verliebt. Und seit dein Lehrer dich hat sitzen lassen, hast du keinen Mann mehr angeschaut. Und jetzt sollst du jedem Soldaten gehören wie eine billige Hure. Es kann nicht sein, es darf nicht sein!‘
„Wir müssen etwas tun. Fetta, das Maß ist voll! Wir müssen uns zusammen tun. Wenn wir nicht mit Waffen gegen sie kämpfen können, dann werden wir streiken. Die Schlossherren brauchen uns. Sie sind auf unsere Arbeit angewiesen. Wenn wir nichts mehr für sie tun, können wir sie zwingen, aufzugeben.“
Kapitel Elf
Im Schloss hatte sich indes einiges getan. Die neuen Rekruten mussten eingekleidet und auf die Quartiere verteilt werden. Das ging unter viel Fluchen und Peitschenhieben vonstatten, denn die jungen Männer wollten sich mit ihrem neues Los nicht abfinden. Sie widersetzten sich, wo sie nur konnten und teilten ihrerseits Fausthiebe aus. Doch es blieb ihnen keine Wahl. Die Gardesoldaten waren gut ausgebildet und ihnen zahlenmäßig weit überlegen.
Auch Severin hatte ein Lager erhalten, auf das er sich jetzt niederließ und sein zugeschwollenes Auge betastete. Aber es blieb ihm nicht lange Zeit zum Nachdenken. Schon wurde die Tür wieder aufgerissen, ein Feldwebel brüllte: „Antreten“ und er musste sich wohl oder übel auf dem Gang in Reih und Glied mit den anderen Soldaten aufstellen.
Dann ging es ab zum Barbier. Die Haare wurden kurz geschoren, Bärte abrasiert und Mundhaare gestutzt. Severins blonde Locken wanderten mit den Haaren der übrigen Rekruten in einen großen Behälter. Mit ihnen wurden Kissen gefüllt.
Jeder erhielt eine neue Uniform mit Knöpfen aus Leder und derbe Lederstiefel. Dann mussten sich alle nochmals auf dem Gang aufstellen.
Nach dem Befehl: „Rechts um, im Gleichschritt Marsch, links, zwo, drei vier...“ marschierten sie hinaus auf den Exerzierplatz.
Der Feldwebel brüllte: „Liegestütze! Runter – hoch – runter – hoch ...“
Die Rekruten mussten sich gemeinsam mit den Altgedienten, welche nicht entlassen worden waren, in den Schlamm werfen und Liegestütze machen, bis ihnen schwarz vor den Augen wurde. Die schöne neue Uniform schlotterte lehmverkrustet um die Körper. Danach scheuchte der Feldwebel sie über Gräben und Hindernisse, durch Erdröhren und einen Schlammweiher. Völlig verdreckt, durchnässt und ausser Atem, wurde danach ein Dauerlauf durchgeführt. Kam ein Kamerad ins Wanken, so war der Feldwebel zur Stelle und zog ihm seine Peitsche über den Rücken. Anschließend ließ er die Soldaten in Kolonne antreten und im Gleichschritt über den Exerzierplatz marschieren. Dabei mussten sie im Takt ihrer Schritte die Worte rufen: „Unser Leben für den König.“ Sie marschierten, bis es dunkel wurde.
Mehr tot als lebendig, mit riesigen Blasen an den Füßen, blutenden Knien und pfeifenden Lungen hinkten die Soldaten zurück zum Quartier. Doch zum Ausruhen war die Zeit noch nicht reif. Erst mussten die verdreckten Uniformen einigermaßen gesäubert und zusammengelegt werden. Dann wurden sie auf einen Karren geladen und zur Waschküche transportiert, in der die Wäscherinnen schon an riesigen, dampfenden Zubern standen und auf ihre Arbeit warteten.
Den Soldaten stand es frei, sich dort am heißen Wasser zu bedienen und ihre Körper zu reinigen. Das war eine der wenigen Freuden, die man ihnen ließ. Und diese genossen sie ungehemmt. Sie tauchten hinab in die Zuber und die Mädchen mussten ihnen den Rücken bürsten und noch so allerlei zur Reinlichkeit beitragen.
Die Rekruten bemerkten erstaunt, dass die Altgedienten so ihren Spaß mit den Mädchen hatten und diese bald in wildem Gekicher und Gespritze den Bottich mit den Burschen teilten. Es war ein Poussieren und Reiten im Gange, dass man denken musste, die Männer kämen von einem rauschenden Fest und müssten ihre überschüssigen Kräfte los werden. Von Müdigkeit war keine Spur mehr.
Auch Severin war in einen Zuber hinab getaucht und kratzte sich den Lehm von der Haut. Zwei kräftige Arme packten ihn plötzlich bei den Schultern und drückten ihn unter Wasser. Prustend kam er wieder hoch und blickte in zwei verschmitzt lachende blaue Augen in einem hübschen schmalen Gesicht, das von einer goldenen Lockenpracht umkränzt wurde. Auch die Mundhaare waren zu Korkenzieherlocken gedreht und fielen links und rechts aus den Mundwinkeln hinab bis auf die üppige Brust, die feucht glänzend aus dem Dekolleté gerutscht war und wie zwei süße Äpfel zum Anbeißen einluden.
„Sieh mal einer an, ein neues Gesicht, und noch dazu so ein hübsches.“
Sie lachte und spritzte ihm Seifenschaum ins Gesicht. „Hast du auch einen Namen?“
„Ich bin Severin“
„Und wo kommst du her? Ich habe dich noch nie in Angstmark gesehen. Eigentlich kenne ich jede Familie in der Stadt, denn meine Mutter ist die Heilerin und alle Leute kommen zu uns, wenn sie ein Leiden haben. Ich heiße Ivetta.“ Mit einer derben Wurzelbürste bearbeitete sie dabei Severins Rücken.
„Ich bin erst seit zwei Tagen in Angstmark. Eigentlich wollte ich mit meiner Schwester und ihrer Freundin hier Urlaub machen, aber dann kamen wir nicht mehr aus der Stadt heraus und wurden von den Soldaten gefangen genommen und hierher gebracht. Das heißt, meine Schwester nicht, sie hat eine Arbeit bekommen und wohnt bei einer Kräuterfrau. Sie heißt Fetta, kennst du sie?“
„Oja, dass ist meine Mutter. Hast du sie gesehen? Wie geht es ihr? Warst du auch in unserem Haus? Wie sieht es dort aus?“
„Deiner Mutter geht es gut und dein Zimmer hat jetzt Susanna erhalten. Deine Mutter hat gesagt, es ist noch genauso, wie du es verlassen hast und wartet auf deine Rückkehr. Aber sie glaubt nicht, dass du wiederkommst. Noch nie wäre ein Mädchen aus dem Schloss wiedergekommen. Wen der Burgvogt einmal in seiner Gewalt hat, den lässt er nicht mehr los.“
„Ja, das stimmt. Er ist ein grausamer Mann, der die Soldaten prügelt, die Mädchen nimmt, wie es ihm passt und den Leuten in der Stadt den letzten Blutstropfen aussaugt. Und dabei betrügt er den König und behält fast den ganzen Tribut für sich und seine verkommene Sippschaft.“
„Und was sagt der König dazu? Wieso lässt er den Burgvogt so schalten und walten?“
„Der König ist ein gebrochener Mann. Seit über vierhundert Jahren wartet er darauf, dass seine Elinor zu ihm zurückkehrt. Er sitzt in seiner Kemenate am Fenster und blickt in die Welt hinaus. Seine Augen sind vom vielen Weinen ganz rot und niemand kann ihn aufheitern. Ich habe es versucht, mit allen Tricks und Verführungskünsten, aber er hat keine Augen für eine andere.
Er ruft die Geister an, die dunklen Mächte der Finsternis, weil ihm seine Verwandten, die Lichtgestalten, Feen und Elfen immer wieder beteuern, Elinor wäre nicht bei Ihnen. Er solle Geduld haben, dann käme sie eines Tages zurück. Aber er hat wohl die Hoffnung aufgegeben und sucht sie nun im Schattenreich. Aber auch die Dämonen, Schimären und Kobolde können ihm nicht helfen, denn Elinor weilt auch nicht unter ihnen.
So brütet Solodur vor sich hin, und wenn kein Wunder geschieht, wird es bis in alle Ewigkeit so weiter gehen.“
Traurig blickte Ivetta Severin mit ihren großen blauen Augen an. Dann nahm sie ein Handtuch und hielt es ihm hin. „Komm, das Wasser wird langsam kalt. Ich muss neues nachschütten und die Uniform waschen, dass du morgen wieder etwas anzuziehen hast.“
Severin erhob sich und wickelte sich in das Handtuch. „Ich habe eine Bitte. Kannst du dich vielleicht mal unter den neuen Mädchen umschauen? Ich habe Elinor aus den Augen verloren. Pass bitte auf sie auf. Ich möchte nicht, dass ihr etwas geschieht. Sie ist schwanger. Vielleicht kannst du ihr etwas ausrichten, oder noch besser, einen Treffpunkt mit ihr ausmachen. Ich muss unbedingt mit ihr sprechen.“
„Sagtest du, Elinor? Ist das deine Freundin?“
„Naja, eigentlich ist sie die Freundin meiner Schwester.“
„Heißt sie wirklich Elinor? Und sie ist schwanger?“
„Ja sicher, aus diesem Grunde sind wir ja eigentlich hier. Sie war die einzige, die das Rätsel nach dem Namen von dieser Stadt hier gelöst hat. Und weil das so ein seltsamer Zufall ist, dass sie genauso heißt, wie die Königin von Angstmark, haben wir uns entschlossen, hier her zu fahren und nachzusehen, was an der Legende stimmt.“
Ivetta wurde immer aufgeregter. „Wie sieht sie aus? Beschreibe sie mir, bitte!“ Sie packte Severin am Arm und drückte vor Eifer fest zu.
Severin machte sich verblüfft los. „Sie ist groß, schlank, hat lange blonde Haare, blaue Augen und einen süßen roten Mund. Sie sieht bezaubernd aus, sie ist die schönste Frau, die ich kenne.“
„Oh, das ist phantastisch. Ich werde etwas arrangieren. Sprich mit ihr. Überzeuge sie davon, dass sie zum König geht. Vielleicht kriegt sie ihn dazu, seinen furchtbaren Fluch endlich aufzuheben.
Sollte es nach all den Jahren doch noch die Chance einer Rettung geben? Hat euch ein guter Engel zu uns gebracht?“
Ganz aus dem Häuschen eilte Ivetta davon. Severin trottete in seine Stube und fiel auf sein Lager. Mit dem Namen ‚Elinor‘ auf den Lippen schlief er lächelnd ein.
Kapitel Zwölf
Elinor wurde mit den anderen Mädchen durch ein Labyrinth aus Korridoren, langen Hallen und öden Räumen getrieben. Immer wieder öffneten sich große Flügeltüren, an denen Gardisten stramm Wache standen. Diese Gardisten waren altgedient und durften als Auszeichnung für ihre treue Pflichterfüllung im Schloss Wache stehen. Ihnen blieb es erspart, sich im Dreck des Exerzierplatzes zu wälzen. Das hatten sie längst hinter sich. So genossen sie einige Privilegien, die dem einfachen Fußvolk verwehrt blieben.
Sie rührten sich nicht in ihren silberbetressten Uniformen, die Säbel hingen akkurat an der Seite, sie verzogen keine Miene und doch spürten die Mädchen, wie sie aus den Augenwinkeln der Schlosswachen begutachtet wurden - wie frische Ware auf dem Markt!
Knallend schlossen sich die Tore hinter ihnen und weiter ging es, treppauf, treppab, bis ans äußere Ende eines Seitenflügels des Schlosses. Eine letzte Tür öffnete sich zu einem Salon, der ringsum mit Spiegeln ausgestattet, aber ansonsten leer war. Die Gefangenen wurden in den Raum gestoßen und die Tür hinter ihnen verschlossen. Da standen sie nun, geschunden und geprügelt, mit schmutzigen zerrissenen Kleidern und konnten ihr ganzes Elend in den Spiegeln betrachten.
Lange Zeit geschah gar nichts. Die Mädchen hatten aufgehört zu weinen. Einige setzten sich auf den Boden und hielten sich bei den Händen. Andere versuchten umständlich, ihre Kleider zu richten. Elinor stand abseits. In ihrer Umstandshose und dem weiten Pulli darüber bildete sie einen Kontrast zur übrigen Gesellschaft, wie er nicht größer sein konnte. Sie kam sich vor wie eine Ausgestoßene. Keines der anderen Mädchen blickte sie an.
Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihr langes Haar hing in wirren Strähnen herab, unter den Augen hatte sie dunkle Ringe und aus den Mundwinkeln ragten diese entsetzlichen Haarbüschel. Sie blickte an sich herunter. Ihr gewölbtes Bäuchlein war nun schon offensichtlich, sie war im sechsten Monat schwanger. Sie legte die Hände darauf und spürte den schnellen Herzschlag. Was sollte nun aus ihr werden und aus ihrem Kind? Würde es ewig ungeboren bleiben?
Sie durfte jetzt nicht verzweifeln. Es musste einen Weg geben, aus dieser Situation heraus zu kommen. Aber im Moment waren sie eingesperrt und konnten diesen kahlen verspiegelten Raum nicht verlassen.
Die Mädchen ahnten nicht, dass sie beobachtet wurden. In einer angrenzenden Kemenate saß der Burgvogt und sah von hinten durch die Spiegel in den Salon. Er konnte zufrieden sein mit der Ausbeute. Acht junge hübsche Mädchen, keine älter als fünfzehn. Ausser einer. Diese seltsame Erscheinung erregte in ihm einige Besorgnis. Die junge Frau war schwanger, höchst eigenartig gekleidet - und sie erinnerte ihn an jemanden, aber er kam nicht darauf, an wen. Er würde ein besonderes Auge auf sie werfen.
Auch sein Haushofmeister und zwei Leibgardisten blickten gespannt auf die neue Ware. Der Burgvogt zog an einer Glocke, die neben seinem Diwan hing. Zwei Zofen betraten diensteifrig den Raum. Er gab ihnen einige Anweisungen und sie eilten hinaus.
Nach einiger Zeit erschienen sie im Salon und forderten die Mädchen auf, ihnen zu folgen. Nochmals ging es durch mehrere Türen und dann erreichten sie ein Bad. Ein großes Becken aus edelstem Marmor war in den Boden eingelassen. An einer Seite führte eine Treppe in nach Rosenöl duftendes warmes Wasser. Am Beckenrand lagen Schalen mit wohlriechenden Pulvern und Ölen. Die Mädchen mussten sich entkleiden und nackt in das Becken steigen. Die Zofen sammelten die Kleider ein, steckten sie in Lumpensäcke und trugen sie hinaus.
Auch dieser Raum war mit Spiegeln eingefasst und bot dem heimlichen Betrachter entzückende Szenen. Die Mädchen, die sich unbeobachtet fühlten und einen solchen Prunk noch nie gesehen hatten, planschten inzwischen fröhlich herum.
Auch Elinor genoss das warme Bad. Das erste Mal, seit sie in Angstmark war, konnte sie ihrem Körper und ihren Haaren endlich die dringend vermisste Hygiene angedeihen lassen.
Dann kamen die Zofen mit Tüchern und seidenen Gewändern im Arm zurück. Die Mädchen wurden abfrottiert, ihre Körper mit duftenden Ölen eingerieben, sodass die Haut wie Schwarte glänzte. Danach wurden sie angekleidet. Die seidenen Gewänder bedeckten die Leiber nur spärlich, es gab keine Unterwäsche. Die Brustwarzen schimmerten durch den dünnen Stoff und auch die Schambehaarung hob sich deutlich von der hellen Haut unter dem Gespinst ab.
In einem Nebenraum warteten weitere Zofen auf die Neuankömmlinge, die nun frisiert und geschminkt wurden. Die langen Haare bekamen die Form von kompliziert verschlungenen Locken-Hochfrisuren. Mit goldenen Kämmen und Nadeln befestigten die Zofen diese monströsen Aufbauten. Die Mundhaare wurden in saubere Zöpfe geflochten und ebenfalls hinter den Ohren festgesteckt.
Mit glänzenden Stiften wurden die Augenbrauen, Wimpern und Lippen nachgezogen, Lidschatten und Puder aufgelegt und die Brustansätze mit Goldflitter bestäubt. Zufrieden betrachteten die Zofen ihr Werk. Die Mädchen sahen aus wie ägyptischen Statuen.
Danach brachte man die Mädchen wieder in den Spiegelsalon. Da die hauchzarten Gewänder ihre Blößen kaum verdeckten, drängten sich die Mädchen eng aneinander, als sie an den Türwachen vorbei gehen mussten. Sie schämten sich sehr, denn sie waren streng erzogen und die meisten von ihnen noch jungfräulich. Elinor kam sich mir ihrem dicken Bauch furchtbar fehl am Platze vor.
Nachdem die Mädchen wieder eine ganze Weile gewartet hatten, wurde die Tür geöffnet und herein trat ein großer breitschultriger Mann mit mehreren tiefen Narben im Gesicht und einem mächtigen Bauch. Seine einzige Behaarung fiel in langen fettigen Strähnen aus seinen Mundwinkeln. Zwei Leibgardisten folgten ihm. Mit seinem dicken Finger zeigte der Koloss auf Elinor und wies einen seiner Männer an, sie in einen Nebenraum zu bringen. Dann wandte er sich an den Rest der Mädchen.
„Ich bin Roderich, der Burgvogt und euer Herr. Ihr werdet mir zu Diensten sein, wann immer ich euch rufe. Ansonsten habt ihr alle Freiheiten und könnt euch im Schloss bewegen, wohin es euch gefällt. Nur eins lasst euch gesagt sein: sollte eine versuchen zu fliehen, wird sie die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen. Und das Gesetz bin ich!...
Jede von euch bekommt eine eigene Kammer. Für reichlich Kleidung ist gesorgt. Das Essen wird euch gebracht, sobald die Glocke ertönt. Dann habt ihr euch in euere Kammer zu begeben, die Mahlzeit einzunehmen und das Bett anzuwärmen. Ich werde jeder von euch einen Besuch abstatten, um euch eine gute Nacht zu wünschen. Auch meinen Leibgardisten, dem Medikus und dem Astrologen werdet ihr zu Diensten sein. Keinem werdet ihr euch versagen. Sollte ich Klagen über euch hören, wird das schlimme Folgen haben.“
Er blickte die Mädchen durchdringend an. Dann klatschte er in die Hände und mehrere Zofen betraten den Raum. Jede von ihnen nahm ein Mädchen beim Arm und geleitete sie in eine Kammer, in der sie auf die Mahlzeit warten sollten. Für heute durften sie die Kemenate nicht mehr verlassen.
Der Burgvogt aber begab sich in den Nebenraum, in dem Elinor auf einem Diwan saß und der Dinge harrte, die da kommen würden. Breitbeinig stellte er sich vor die junge Frau und musterte sie mit einem Blick, als wollte er im nächsten Moment über sie herfallen. Elinor war sich der Tatsache voll bewusst, dass er durch ihr Seidengewand einen freien Blick auf ihre Nacktheit hatte. Sie hätte ein Königreich für Unterwäsche gegeben. So blieb ihr nichts übrig, als ihre Arme vor der Brust zu verschränken und sich leicht nach vorn zu beugen. Mit Abscheu blickte sie auf den mächtigen Bauch, der ihr bedrohlich nahe kam. Noch immer sprach der Mann kein Wort und wippte in den Knien.
Wie sollte er anfangen? Von dieser Frau ging eine Gefahr aus, das ahnte er. Aber was konnte sie ihm schaden? Schließlich hatte er sie in seiner Gewalt. Er würde ihr keine Chance lassen, irgend etwas zu unternehmen, was er nicht kontrollieren konnte. Und er würde sie am Besten von den anderen Mädchen fern halten. Am Sichersten war, sie hatte überhaupt keinen Kontakt – zu niemandem!
„Wer bist du?“
„Ich heiße Elinor.“
Der Burgvogt wurde blass. Seine Lippen fingen an zu zittern und er schaute wie gebannt auf ihren Bauch. Abrupt drehte er sich um und verließ den Raum. Elinor hörte, wie von aussen ein Riegel vorgeschoben wurde. Verständnislos blickte sie sich um, dann deckte sie sich mit einem Fell zu, welches am Fußende des Diwans lag und überdachte ihre Lage.
Wieso war der Burgvogt so blass geworden? Wovor hatte er Angst? Er hatte sie angestarrt, als hätte er eine Begegnung mit der dritten Art. War ihre Gegenwart etwa eine Gefahr für ihn? Konnte sie einen Nutzen daraus ziehen? Sie würde eine der Zofen fragen.
Eine Glocke läutete. Der Riegel ihrer Tür wurde beiseite geschoben und ein Mädchen mit einem großen Tablett betrat die Kammer. Brot, Hühnchen, Ziegenkäse, verschiedenen Früchte und ein Krug mit Milch – endlich eine Mahlzeit, die sie mit Appetit genießen konnte. Sie blickte die Zofe dankbar an und lud sie ein, sich zu ihr auf den Diwan zu setzen. Ängstlich wich das Mädchen zurück, senkte ihren Blick, schüttelte unmerklich den Kopf und stürzte zur Tür hinaus. Betroffen starrte Elinor die verschlossene Tür an. Was war bloß los mit all diesen seltsamen Menschen? Konnte man denn mit niemandem vernünftig reden?
Kopfschüttelnd machte sie sich über ihr erstes Essen als Schlossdame her. Wieder dachte sie an die alten Geschichten, die sie als Kind mit der Mutter gesponnen hatte. So seltsam konnte einem das Leben mitspielen. Nur – dass sie nicht als bejubelte Prinzessin an der Seite ihres Gemahls an der Festtafel dinierte, sondern als Gefangene in einem verwunschenen Ort, den es auf keiner Landkarte gibt.
Das leere Tablett trug sie danach zur Tür und lehnte es gegen die Wand. Danach versuchte sie die Tür zu öffnen, doch diese war von außen verriegelt. Sie war gefangen, wie ein Sittich im goldenen Käfig. Es war zum verzweifeln, aber es half nichts. Sie musste sich vorerst damit abfinden.
Nun schaute sie sich ihr Zimmer etwas näher an. An den Fenstern hingen üppige Brokatvorhänge. Sie wurden durch kleine hölzerne Ringe gehalten, welche an der Decke über eine Stange liefen und zugezogen werden konnten. An den Wänden hingen wertvolle Gobelins mit Jagdszenen darauf. Genauso einer hing zu Hause über ihrem Diwan. Sie wunderte sich.
Gegenüber vom Fenster entdeckte sie hinter einem Vorhang einen Alkoven mit einem breiten Himmelbett. Das schwere Eichenholz war mit goldener Farbe belegt. Es stand auf kunstvoll gedrechselten Füßen und hatte einen hellblauen Seidenhimmel, in den Mond und Sterne eingestickt waren. Die Kissen und Decken waren mit kostbarem, schneeweißen Damast überzogen.
Sie bettete sich die Kissen zurecht, mummelte sich in die Decke und schloss die Augen. Ein Prickeln stieg in ihr auf. Fast körperlich spürte sie eine Hand auf ihrem Haar, Lavendelduft stieg ihr in die Nase. Eine sanfte Stimme sprach zu ihr: „Elinor: wo bist du? Ich vermisse dich so.“
Eine seltsame Leere machte sich in ihr breit und eine tiefe Traurigkeit. Wieder war ihr, als hätte ihr Leben noch gar nicht richtig begonnen. Irgend etwas fehlte, aber sie wusste beim besten Willen nicht, was es war.
Fast eingeschlafen, hörte sie einen Schrei. Sie fuhr hoch und saß wie erstarrt in ihrem Bett. Nun war ein klägliches Weinen und Bitten zu hören und eine Männerstimme, die barsch auf das Mädchen einredete. Dann wurde es still. Nach einer Weile klappte eine Tür. Sie hörte schwere Schritte auf dem Gang, eine weitere Tür wurde geöffnet und wieder vernahm sie ein Jammern und Stöhnen. So ging es an diesem Abend sieben Mal. Elinor sprang aus dem Bett. Sie holte das Silbertablett und umkrampfte das kleine Obstmesser. So bewaffnet kauerte sie sich hinter den Brokatvorhang am Fenster. Mit ihr würde der Burgvogt kein leichtes Spiel haben. Aber sie wartete vergebens. Scheinbar hatte dieser nur Interesse an Jungfrauen. Es dauerte lange, bis sie sich wieder ins Bett traute und einschlafen konnte.
Am nächsten Morgen brachte ihr die scheue Zofe das Frühstück. Auch diesmal sprach sie kein Wort, schaute Elinor nur ehrfürchtig unter gesenkten Augenlidern an und verschwand, kaum dass sie das Tablett abgesetzt hatte.
Elinor aß bedächtig und überlegte, was sie tun sollte. Dabei fiel ihr Blick auf eine große Truhe. Der mit Eisen beschlagene Deckel ließ sich schwer öffnen. Unter mehreren hauchzarten Gewändern fand sie einige zusammengelegte Stoffe aus Leinen. Sie nahm sie heraus und entfaltete sie. Wofür sie bestimmt waren, konnte sie nicht erraten, aber sie wusste sofort, was sie damit anfangen würde. Suchend blickte sie sich um.
Neben dem Alkoven stand eine Kommode mit einem runden Spiegel darüber. Sie öffnete den ersten Kasten und entdeckte Kämme, Bürsten, Haarnadeln und Bänder. Im zweiten Kasten fand sie eine Schere, Nadeln und verschiedenfarbiges Garn. Besser konnte es nicht kommen.
Sogleich machte sie sich an die Arbeit. Sie legte die Stoffe zurecht, steckte mit den Nadeln den Schnitt ab und heftete das Gewand. Dann schnitt sie mit der Schere die Form, zog das Kleid über und steckte es nochmals passend ab. Fein säuberlich nähte sie es dann mit feinen Stichen zusammen. Dann schnitt sie Ärmel und Kragen aus dem restlichen Stoff und nähte diese ans Kleid. Mangels Knöpfen befestigte sie einige Bänder am Rückenteil. Sie zog das fertige Kleid über und betrachtete sich zufrieden im Spiegel. Endlich hatte sie etwas anzuziehen, was ihren Körper bedeckte. Gleich kam sie sich nicht mehr nackt und wie Freiwild vor. Nur gut, dass sie schneidern konnte. Noch nie war Elinor ihr Beruf so wichtig erschienen.
Inzwischen war es Mittag geworden und das Mädchen brachte ihr wiederum das Essen.
Mit einem leisen Aufschrei und schreckgeweiteten Augen sah das Mädchen Elinor in dem fremdartigen Gewand stehen, das sie aus den Tüchern, die eigentlich für das Bett bestimmt waren, geschneidert hatte. Beinahe wäre ihr das Tablett aus den Händen gefallen. Elinor war schnell hinzu gesprungen und fing es im letzten Moment auf, ehe die Terrine mit der Suppe am Boden zerschellte. Doch konnte sie nicht verhindern, dass ein Teil davon auf den Boden schwappte.
Das Kind fiel zitternd vor ihr auf die Knie und begann zu weinen. Sie hielt die Hände über den Kopf und bettelte um Verzeihung: „Herrin, es tut mir so leid. Ich bin ein nichtsnutziges Ding. Bitte schlagt mich nicht. Ich werde es sofort sauber machen. Bitte sagt es nicht dem Burgvogt. Ich will nicht in den Kerker.“
Elinor hörte sich verblüfft die Jammertirade des Mädchens an. Dann ging sie zu ihr, fasste sie bei den Schultern und zog sie hoch. Beruhigend sprach sie auf das Kind ein: „Es ist doch nichts passiert, so beruhige dich doch. Den Fleck kann man doch auswaschen. Ich mache das schon. Warum soll ich dich denn schlagen? Dafür gibt es doch gar keinen Grund. Du brauchst keine Angst zu haben, ich sage niemandem etwas davon... Wovor hast du bloß solche Angst? Ich bin doch nicht deine Herrin. Ich bin genauso ein gefangenes Mädchen wie du. Und mit dem Burgvogt rede ich schon gar nicht. Der soll mir nur in die Quere kommen, da kann er sein blaues Wunder erleben!“
Ängstlich zitternd und überaus verwundert hörte das Mädchen auf zu weinen. Sie sah Elinor mit großen Augen an, schüttelte ihren Kopf, riss sich los und stürzte zur Tür hinaus. Entgeistert sah Elinor ihr nach. Dann machte sie sich über die Säuberung des Teppichs her. Aus der kleinen Kammer neben ihrer Kemenate, die als Waschgelegenheit und zur Notdurft diente, holte sie Wasser, Seife und Tücher. Schnell war der Fleck entfernt und Elinor genaß die Speisen, die mit einem verlockenden Duft den Raum ausfüllten.
Wäre sie nicht gefangen und von allen anderen Menschen isoliert gewesen, sie hätte sich hier wohl gefühlt, wie im Urlaub. Das Essen war vorzüglich, der Service pünktlich und die Aussicht in den Schlosspark romantisch. Sie legte die Hand auf den Bauch und fühlte die Bewegungen ihres Kindes. Sanft streichelte sie darüber und murmelte: „Warte mein Sonnenschein, du musst dich noch etwas gedulden. Ich bin sicher, wir finden bald hier heraus und dann kann ich dich in meinen Armen halten.“
Die nächsten Tage verliefen genauso ereignislos, wie der erste. Weder zur ständig verriegelten Tür, noch zum Fenster konnte sie hinaus, denn dieses war mindestens fünfzehn Meter über dem Erdboden. Es bot jedoch einen wunderschönen Blick auf die Freitreppe und in den Schlossgarten. Riesige alte Eichen und Buchen beschatteten saubere Waldwege, die zum Lustwandeln einluden. Auf diesen tummelten sich zu Dutzenden leicht bekleidete Mädchen. Sie lachten und scherzten und hatten ihr hartes Leben zu Hause scheinbar ganz vergessen. Nicht eine von ihnen schien traurig über ihr Schicksal als Konkubine oder Arbeitssklavin zu sein.
Nur Elinor war davon ausgeschlossen. Der Burgvogt hielt sie von allen Menschen fern. So begnügte sie sich auch weiterhin damit, Kleider aus den Betttüchern zu schneidern und als das Tuch aufgebraucht war, stickte sie Applikationen in diese. Es entstanden richtige kleine Kunstwerke, die ihr auf der Kunsthochschule voll zur Ehre gereicht hätten. So vergingen Tage und Wochen.
Kapitel dreizehn
Das Leben in Angstmark hatte sich geändert. Nichts war mehr so, wie es die Menschen hier seit hunderten von Jahren gewohnt waren. Susanna war von Haus zu Haus gezogen. Mit ihrer angeborenen Überzeugungskraft hatte sie die Menschen wachgerüttelt aus ihrem Dornröschenschlaf. Wie ein Prophet sammelte sie die zaudernden, ängstlichen Bewohner, welche über den langen Zeitraum ihre Liebsten, Kinder und Freunde verloren hatten, um sich. Als wären ihr die Worte vom Allmächtigen selbst eingegeben, appellierte sie an den Verstand und den Mut der Leute, sich endlich zur Wehr zu setzen.
Kein Körnchen Getreide, kein Stück Vieh und kein einziges Schwert waren seither an das Schloss geliefert worden. Dafür hatte sich das Volk bewaffnet. Die Speicher waren bis unter das Dach gefüllt mit Lebensmitteln. Und die ehemaligen Soldaten, die aus dem Militärdienst ausgeschieden waren, übten mit den Männern von Angstmark den Schwertkampf.
Jeder Junge, der groß genug war, um ein Schwert zu halten, und wenn er gerade das zehnte Lebensjahr vollendet hatte, war in das Camp gekommen, dass eigens dafür eingerichtet war. In einer Abteilung übte man mit dem Schwert, in der anderen mit Pfeil und Bogen, in einer mit Messer und Knüppeln und eine ganz besondere Abteilung hatte Susanna eingerichtet, um den restlichen Mädchen die Kunst der Selbstverteidigung beizubringen.
Die jungen Leute trainierten von früh bis spät und ihre Begeisterung wuchs mit jedem Erfolg. Die älteren Frauen brachten zwei mal am Tag Speisen und Getränke für die Kämpfer und wechselten deren durchgeschwitzte Wäsche. Kleinere Blessuren blieben nicht aus, und so hatte Fetta genügend zu tun, ihre Salben und Mixturen zu verabreichen. Erst wenn der Mond aufgegangen war, kehrten alle in ihre Häuser zurück, um sich von den Anstrengungen des Tages auszuruhen. Denn am nächsten Morgen mit dem ersten Hahnenschrei ging es wieder hinaus.
Susanna war in ihrem Element. Eine richtige kleine, gut ausgebildete Armee war entstanden. Und sie war die ungekrönte Herrscherin der Volksgarde.
Sie kam nicht zur Ruhe, denn an allen Ecken und Enden wurde sie gebraucht. Mit feurigen Reden spornte sie die Menge an, sich auf den großen, letzten Kampf gegen die Unterdrücker vorzubereiten.
„Der Burgvogt und seine Vasallen müssen vertrieben werden. Der König muss dazu gebracht werden, seinen unsinnigen Fluch zurück zu nehmen. Dann wird die Zeit nicht mehr still stehen, Angstmark wird sich der Welt öffnen, kann wieder Handel treiben, Kinder werden geboren und die Alten dürfen endlich ihre Augen zur letzten Ruhe schließen.
Die Zukunft mit all ihren wunderbaren Errungenschaften steht Angstmark dann offen. Ihr werdet mit dem Zug in die Welt fahren, oder mit dem Flugzeug ferne Länder besuchen. Es gibt dann auch hier elektrisches Licht, Fernsehen und Telefon, Autos und Traktoren und Computer. Die Familien werden wieder zusammen sein und glücklich und keiner hat das Recht, sie auseinander zu reißen.“
Susanna wurde nicht müde, die Erfindungen der letzten vierhundert Jahre aufzuzählen, und die Menschen hörten ihr mit offenen Mündern und heißen Herzen zu.
Kapitel Vierzehn
Im Schloss blieben die Aktivitäten im Ort natürlich nicht unbemerkt. Nicht nur, dass die Getreide- und Wollelieferungen ausblieben, vor allem der Nachschub an Waffen machte dem Burgvogt Sorgen. Seine Spitzel hatten ihm hinterbracht, dass eine rothaarige Frau wie ein Racheengel die Menschen aufrührte.
Etwas musste geschehen!
Er würde sich von allerhöchster Stelle die Erlaubnis holen, gegen die Meuterer vorzugehen. Er musste zum König!
Eilig lief er den Gang entlang zum Gemach des Astrologen. Ohne anzuklopfen, drang er ein.
„Deute mir die Sterne, Astrologe! Ich muss zum König. Es ist Gefahr im Verzug. Und beeile dich!“
Andur schaute durch sein Fernrohr, stellte einige Berechnungen an und zog die Stirn kraus. „Die Sterne stehen nicht günstig. Ich würde abraten, den König zu belästigen.“
„Papperlapapp, ich kann mir denken, dass die Sterne nicht günstig stehen. Sie stehen nie günstig, wenn ich dich frage. Dann wirst du mich zum König begleiten. Los, zieh deinen Zaubermantel an, ich muss mit ihm sprechen.“
Andur blickte verächtlich auf den nervösen Burgvogt. Was führte dieser nur wieder im Schilde? Jedesmal, wenn er zum König wollte, hatte er sich eine neue Gemeinheit ausgedacht.
Bedächtig holte Andur seinen Mantel und hüllte sich darin ein. Ohne diesen konnte er das Gemach des Königs nicht betreten. Er würde unweigerlich zu Asche verbrennen. Er ging voran und Roderich schimpfte und schnaubte, weil es ihm nicht schnell genug ging. Fünf Meter vor der Tür des Königs blieb der Burgvogt abwartend stehen. Die Prozedur kannte er nur zu gut. Soviel Geduld musste er haben.
Andur klopfte und öffnete die Tür. Im gleichen Moment fuhren mehrere Blitze auf den Astrologen ein. Sein Mantel erstrahlte wie eine Sonne und ebenso plötzlich, wie das Licht gekommen war, verschwand es im Boden. Er verbeugte sich tief, legte seine Hand auf die Brust und wartete.
„Ah, Andur, du bist es. Sei mir willkommen. Du hast mir heute bereits die Sterne gelesen, was begehrst du?“
„Majestät, es tut mir unendlich leid, Euch zu stören. Aber der Burgvogt wünscht Euch dringend zu sprechen. Es wäre Gefahr im Verzug.“
„Er soll eintreten.“
Andur winkte Roderich herein und verließ das Gemach. Seine Anwesenheit war nun nicht mehr erforderlich.
Roderich hatte sich auf den Boden geworfen und verharrte in dieser Stellung.
„Nun erhebe dich schon, Burgvogt. Was gibt es?“
„Majestät...“ Schwerfällig kam Roderich wieder auf seine Beine und zupfte seine Kleidung zurecht. „Es ist etwas unerhörtes im Gange. Das Volk zahlt keinen Tribut mehr und bewaffnet sich. Es wird angeführt von einer rothaarigen Hexe, welche uns aus dem Lande treiben will, um selbst die Herrschaft über Angstmark zu erlangen. Wir müssen schnellstens etwas unternehmen.“
Ungläubig schaute der König auf seinen obersten Minister.
„Eine rothaarige Hexe? Und sie will die Herrschaft über mein Reich?“
„Gewiss, Majestät. Sie hetzt das Volk gegen Euch auf, weil Ihr nach all den Jahren den Fluch nicht von den Menschen nehmt. Sie predigt, der König müsse gestürzt werden, alles Werkzeug, Getreide und Vieh müsse den Bürgern gehören, auch die Felder, der Wald und die Wolle. Und vor allem die Waffen. Sie hat die Bauern bewaffnet und übt mit ihnen die Fechtkunst. Die von mir für die Garde bestellten Schwerter hat sie an das Volk verteilt. Wenn wir uns nicht beeilen, werden sie das Schloss stürmen.“
„Genug, Burgvogt. Ich lasse dir freie Hand. Nimm die Garde und entwaffne die Meuterer. Und nimm die Hexe gefangen. Sie soll im Kerker schmachten, bis sie schwarz wird. Und kriege heraus, wo sie her kommt und wieviel Magie sie besitzt. Sollte sie wirklich eine Hexe sein und über magische Kräfte verfügen, werde ich mich höchst persönlich um sie kümmern.“
Mit einem Handzeichen bedeutete er dem Burgvogt, dass er entlassen sei.
Kapitel Fünfzehn
Wie jeden Morgen, stand König Solodur noch vor Sonnenaufgang auf. Nur mit einem langen weißen Hemd bekleidet, verließ er das Schloss und schritt durch die kühle Dämmerung. Seine Füße trugen ihn zum Stadttor. Er begrüßte den Torwächter, der ihn schon stramm salutierend erwartete. Auch heute hatte er keine positive Nachricht für den König. So setzte Solodur seinen Weg fort, immer an der Stadtmauer entlang. Er spähte nach Lücken darin, durch die ein Mensch sich zwängen konnte, nach geheimen Höhlen, die als Verstecke dienen konnten, nach irgendwelchen Anzeichen, die auf den Verbleib seiner Elinor deuten könnten.
Der kalte Nachtwind zerrte an seinem dünnen Hemd, Solodur schauerte. Aber er schritt unbeirrt weiter, der Kälte zum Trotz, die für ihn die Strafe dafür bedeutete, dass er seine Elinor nicht beschützt hatte.
Wie jeden Morgen fand er auch diesmal keinen Hinweis auf seine geliebte Frau. Nach drei Stunden kam er erschöpft auf der anderen Seite des Stadttores wieder an. Er nickte dem Torwächter traurig zu, der wiederum salutierte. Dann lief Solodur auf den Wald zu.
Mitten im tiefsten Wald, dort wo sich kein Mensch mehr hin wagte, befand sich eine Grotte. Solodur betrat die Grotte und schritt auf einen Brunnen zu, der mit einem flachen Stein abgedeckt war. Diesen Stein rückte er nun zur Seite und schaute in das trübe Wasser. Neben dem Brunnen befand sich ein hölzerner Schrein, der mit einer soliden Eichentür verschlossen war. Solodur drückte auf einen unsichtbaren Hebel und der Schrein öffnete sich. In ihm befanden sich Räucherwerk, Mixturen in Kristallfläschchen, eine Dose mit einem weißen Pulver und ein weißer Schleier. Es war der Brautschleier Elinors.
Diesen nahm er nun vorsichtig heraus und drückte ihn an Augen und Lippen, dann legte er ihn auf dem Brunnenrand ab. Um den Brunnen herum schichtete er das Räucherwerk und zündete es an. Ein beißender Qualm stieg empor, es roch nach Schwefel und Hölle.
Aus einem der Fläschchen nahm Solodur nun einen Schluck, dann begann er um den Brunnen zu tanzen, wobei er einen monotonen Singsang anstimmte. Er beschwor die Geister des Licht und des Schattenreiches, sie mögen ihm doch endlich einen Hinweis auf den Verbleib seiner geliebten Elinor geben. Sein Tanz wurde immer wilder, seine Bewegungen hektischer, seine Stimme lauter.
Noch einmal nahm er einen Schluck von dem Zaubertrank. Dann breitete er den Brautschleier über dem Wasser des Brunnens aus und streute aus der Dose das weiße Pulver darüber. Wieder umrundete er, nun schon vollkommen in Trance, den Brunnen. Er beugte sich darüber und starrte hinein.
Schleier mit Pulver und Wasser bildeten nun eine glatte silberne Fläche. Solodur sprach die Worte: „Yaspis und Madura, Melikom und Saturai, Kodalin und Basseral, hört mich, ihr Mächte der Finsternis! Kommt hervor aus euerem Schattenreich. Zeigt mir den Weg, den ich gehen muss, und sollte er durch Sümpfe und Feuer führen, ich werde ihn gehen. Führt mich zu Elinor, denn sie ist mein Leben. Und sollte sie tot sein, so will ich für immer bei ihr in der Finsternis verweilen.“
Eine Träne entfiel seinem Auge und benetzte die silberne Fläche des Brunnens. Diese schäumte hoch auf; wie mit eisigen Krallen umklammerte sie Solodurs Körper, hob ihn hoch und hielt ihn schwebend über dem Brunnenrand. Solodur blickte in einen Höllenschlund, Feuer und Schwefeldämpfe schlugen ihm entgegen. Aus diesem Moloch formte sich ein dämonisches Gesicht; Augen, in denen sich abgrundtiefer Hass spiegelte, starrten ihm entgegen. Eine hohle Stimme dröhnte aus dem spitzzähnigen Maul: „Solodur, du Feenkind. Du bist nicht für den Tod geschaffen. Niemals wird dir der Weg ins Schattenreich offen stehen. Und auch Elinor wirst du hier nicht finden. Gehe deinen irdischen Weg, auch dieser ist dornenreich. Denn auch in diesem, deinem irdischen Reich gibt es Bestien, die um keinen Deut besser sind, als wir, die Kreaturen der Nacht. Wir, die Mächte der Finsternis, können dir nicht helfen!“
Die Fratze versank im Feuer, noch einmal schlug Solodur beißender Qualm entgegen, dann schloss sich der Höllenschlund. Solodur schlug hart neben dem Brunnen auf die Erde und blieb eine Weile wie betäubt liegen.
Langsam erwachte er aus seiner Trance. Bleierne Leere hatte seine Seele ergriffen. Wieder war er seinem Ziel keinen Schritt näher gekommen.
Vorsichtig zog er den Schleier von der Wasseroberfläche, löschte das Räucherwerk und verstaute alles im hölzernen Schrein.
Verzweifelt machte er sich auf den Weg ins Schloss. Andur erwartete ihn bereits vor seiner Kemenate, um ihm die Sterne zu lesen.
Kapitel Sechzehn
In einer verborgenen Kammer hatte Roderich seit vierhundert Jahren eine Geheimwaffe verborgen. Die ganzen Jahre war es nicht nötig gewesen, diese einzusetzen oder seine Gardisten überhaupt daran auszubilden. Aber nun würde er darauf zurückgreifen müssen.
Er stieg die dunkle Treppe hinunter in das geheime Archiv, welches er seit dreihundertfünfzig Jahren nicht mehr betreten hatte. Hier lagen sie, fein säuberlich aufgereiht und in ölige Tücher eingewickelt: fünfzig Steinschlossflinten, die er kurz vor dem Ende allen Handels noch erworben hatte. Hundert große Pakete mit Munition und dreißig Fässer mit Pulver, alles trocken und gut erhalten, lagerten in langen Regalen und warteten auf den Einsatz gegen das meuternde Volk. Jetzt war die Zeit gekommen!
Erst musste er die Leibgardisten in den Gebrauch der Waffen einweisen, denn er war der Einzige, dem der Händler die Funktionsweise erklärt hatte. Danach hatte er diesem die Augen ausstechen und die Zunge herausreißen lassen.
Roderich hatte auf dem Exerzierplatz eine große Wand aufbauen lassen, vor der er mehrere Strohpuppen placierte. Die Garde musste vollzählig antreten.
Zärtlich strich er über die Waffe in seiner Hand. Sie glänzte wie neu. Er spannte den Hahn und betätigte den Abzug. Ein lautes Knacken und ein abspritzender Funke verriet ihm, dass die Waffe nur darauf wartete, mit Pulver und Blei geladen zu werden. Der Oberbefehlshaber der Garde stand zu seiner Rechten und beobachtete jeden seiner Handgriffe. Roderich füllte das Pulver auf die Pfanne, nachdem er die Kugel in den Lauf geschoben hatte und erklärte vor versammelter Mannschaft den Gebrauch der Waffe.
„Dieser Hahn wird durch eine Feder gespannt. An ihm befindet sich ein Feuerstein. Zieht man diesen Hahn nun durch, schlägt der Feuerstein hart gegen den Stahl. Dadurch entsteht ein Zündfunke. Dieser fällt auf die offene Pulverpfanne. Durch die Explosion wird die Kugel aus dem Lauf getrieben und abgefeuert. Natürlich muss man genau zielen, um den Feind ins Herz zu treffen.“
Während dieser erklärenden Worte führte der Burgvogt jede Handlung genau aus. Ein ohrenbetäubender Knall folgte und in der mit Lumpen bekleideten Strohpuppe prangte ein ausgefranstes Loch. Die Leibgardisten lagen allesamt auf ihren Bäuchen und hielten schützend ihre Arme über den Kopf. Langsam hoben sie zitternd ihre Blicke.
Severin war von seinem Nachbarn mitgerissen worden und zu Boden gestürzt. Geistesgegenwärtig hob er die Arme über den Kopf, obwohl er genau wusste, was ein Gewehr für eine Wirkung hat. Und das war sein Glück, denn so fiel er nicht auf.
„Antreten!“ schnauzte der Oberbefehlshaber.
Der Reihe nach bekamen sie die Steinschlossflinte in die Hand gedrückt, mussten sie laden und auf die Strohpuppe zielen. Den wenigsten gelang es, beim ersten Schuss das Ziel zu treffen. Severin zielte absichtlich daneben. Er hatte seinen Militärdienst bereits hinter sich und war für seine hervorragenden Schießkünste sogar mit einer Schützenschnur ausgezeichnet worden. Doch diesmal hing sein Leben von seiner gespielten Tolpatschigkeit ab.
Die Mauer hinter der Puppe war mit Löchern übersät. Der Burgvogt tobte.
„So werdet ihr keinen Krieg gewinnen. Ehe ihr die Flinten nachgeladen habt, seid ihr von feindlichen Pfeilen durchbohrt worden. Jeder Schuss muss treffen!“ Er verließ wütend den Platz und die Gardisten übten bis in die späten Abendstunden.
Roderich brauchte Abwechslung. Er musste sich vergnügen. Er durfte jetzt nicht den Kopf verlieren und nur an seine untalentierten Schützen denken. Wenn diese so weiter versagten, müsste er Kugeln nachgießen lassen, ehe der Kampf überhaupt begonnen hatte. Mit einem bitteren Gefühl im Magen stieg er die Treppe zu seinen Gemächern hoch.
Er wies seine Zofen an, auf die schnelle eine Feier auszurichten; zu Ehren der neuen Schönheiten, die er nun sein eigen nannte.
Der Festsaal wurde geschmückt, in der Schlossbäckerei herrschte Hochbetrieb. Eherne Fässer wurden herein gerollt. Silberne Tabletts mit kulinarischen Genüssen bedeckten die langen Tafeln, Musiker bauten ihre Instrumente auf.
Die neuen Mädchen wurden von den Zofen frisiert und geschminkt, mit goldenen Ketten, Ringen und Diademen geschmückt.
Der Saal füllte sich. Im Verein mit den länger dienenden Konkubinen betraten sie das Parkett. Auch Elinor war diesmal unter ihnen. Der Burgvogt hatte es versäumt, die Anweisung zu geben, Elinor auch diesmal auszuschließen. Und so hatte die junge Zofe Elinor ebenso festlich geschmückt, frisiert und sie wieder in eines der hauchzarten Gebilde gesteckt, welches einen freien Blick auf ihren nun schon sehr gewölbten Körper zuließ.
Die Mädchen hatten die große Ehre, nur mit einer Perlenschnur um den Hüften und einem Seidenschal bekleidet, zu den Klängen der Musik vor dem Burgvogt und seinen Vasallen zu tanzen. Gläser mit schwerem Wein wurden gereicht, der mit Drogen vermischt den Tänzerinnen alsbald zu Kopf stieg und sie hemmungslos in die Arme der lustgierigen Herrschaft trieb.
Die Stimmung wurde immer ausgelassener, schon waren die Diwane mit Paaren besetzt, die sich hemmungslos die Kleider vom Leibe rissen. Die letzten Hüllen fielen, trunkene, taumelnde Männer und Frauen vereinigten ihre rasenden Leiber, eine Orgie von Musik, Bewegungen, Schweiß gemischt mit Liebesduft, ein Klatschen von nackter Haut an nackte Haut und überschäumende Begierde tobte in dem Saal.
Der Burgvogt lag mit verklärten Augen auf einem Diwan. Seine Hände fingerten an Brüsten, seine Zunge leckte über nacktes Fleisch, ein Mädchen lag zwischen seinen Beinen und spielte schamlos mit seinem Gemächte. Berauscht und wie von Sinnen gab Roderich sich den Liebesdienerinnen hin. Die Wollust kannte keine Grenzen.
Elinor saß abseits von der sich windenden Meute und sah angewidert zu. Alle Annäherungsversuche hatte sie kategorisch abgewehrt und sich geweigert, sich auch nur einen Zentimeter von ihrem Sitz zu erheben. Einen dünnen Seidenschal, der einer der Tänzerinnen entglitten war, hatte sie sich geschickt um ihren gewölbten Leib gewunden. So fühlte sie sich einigermaßen sicher vor den lüsternen Blicken.
Der Astrologe kam auf sie zu, drückte ihr einen Pokal mit goldenem Wein in die Hand und forderte sie auf, mit ihm anzustoßen. Er blickte ihr versonnen in die Augen und Elinor hatte das unbestimmte Gefühl, diesen Mann zu kennen. Er hatte keine sinnlichen Hintergedanken ihr gegenüber. Im Gegenteil, aus seinem Blick sprach Verwunderung und Elinor verspürte ein eigentümliches Kribbeln durch ihren Körper ziehen.
In ihrem Hirn blitzte eine kurze Erinnerung auf. Sie lag auf einem Diwan. Ein überaus gutaussehender Mann mit langen blonden Locken hatte sich über sie gebeugt und betrachtete sie besorgt. Eine weitere Person stand hinter ihm in seinem Schatten und sprach eindringlich auf ihn ein. Sie konnte sich aber an seine Worte genauso wenig erinnern, wie an die ganze Szene. Es kam ihr alles fremd und trotzdem vertraut vor.
Verwirrt nippte sie an ihrem Wein und spürte ihn heiß durch die Kehle rinnen. Der Astrologe lächelte ihr zu. Wie unter Zwang trank sie noch einmal von dem köstlichen Getränk, dann schwanden ihr die Sinne.
Als sie erwachte, lag sie auf einer Bettstatt, zugedeckt mit wärmenden Decken. Ihr Kopf dröhnte, die Zähne klapperten aufeinander, sie fühlte sich elend und fror trotzt der vielen Decken auf dem Leib. Zitternd zog sie ihre eisige Hand darunter hervor und legte sie auf die heiße Stirn. Ein Stöhnen fuhr aus ihrem Mund. Sie versuchte, die Augen zu öffnen und blickte in ein verschwommenes Mädchengesicht. Das Mädchen nahm ihre Hand und streichelte sie sanft.
„Ganz ruhig. Keine Angst, Ihr seid hier in Sicherheit. Bleibt nur ruhig liegen und ruht Euch aus. Jetzt ist das Schlimmste vorüber. Eure Kopfweh sind nur die Nachwirkungen von dem Schlafmittel. Versucht, noch ein bisschen zu schlafen. In ein bis zwei Stunden geht es Euch wieder gut.“
Elinor schaute in das liebliche Gesicht mit den blauen Augen und den blonden Korkenzieherlocken.
„Was ist denn mit mir passiert? Wieso Schlafmittel? Mein Kind...?“
„Es ist alles in Ordnung. Eurem Kind geht es gut. Ich erkläre Euch alles, wenn es Euch besser geht.“ Sie erhob sich und löschte das Licht. Graue Dämmerung machte sich im Zimmer breit und Elinor beobachtete, wie sich das Mädchen auf dem Diwan unter dem Fenster hinstreckte, ein Fell über ihren Leib zog und die Augen schloss.
Elinor versuchte, wieder einzuschlafen, aber ihre wirren Gedanken hielten sie davon ab. Was war geschehen? Wie war sie hierher gekommen? Das letzte, woran sie sich erinnern konnte, war diese wilde Sexorgie am Abend, diverse Annäherungsversuche von betrunkenen Männern, die versuchten, ihr Wein einzuflößen und mit gierigen Händen nach ihren Brüsten grapschten und dann dieses Gesicht...
Die langen grauen Haare auf dem Rücken zu einem Pferdeschwanz gebunden; die spärliche Mundbehaarung fiel in dem dichten Vollbart fast nicht auf, die eisgrauen Augen, die in ihre Seele zu sehen schienen und der Wein, den er sie mit seinem Blick zu trinken zwang, obwohl sie das gar nicht wollte. Sie musste unter Hypnose gestanden haben.
Was hatte ihr dieser Mann angetan? Wieso konnte sie sich an nichts erinnern? Sie zermarterte sich den Kopf, aber sie konnte keine Erklärung finden. Dann wurden ihre Lider schwer und der Schlaf senkte sich mit aller Macht über sie.
Als sie wiederum die Augen aufschlug, stand die Sonne hoch am Himmel. Die Fensterflügel waren weit geöffnet und Vogelgezwitscher drang an ihr Ohr. Sie drehte den Kopf und entdeckte neben sich auf einem kleinen Tischchen ein silbernes Tablett mit Milch, Honig, frischem Brot und weißem Käse. Das unbekannte Mädchen hantierte in einer Ecke des Zimmers mit Decken, die sie zusammenlegte und in einer Truhe verstaute.
„Guten Morgen. Wer bist du?“ Elinor hatte sich auf die Unterarme gestützt und betrachtete die zierliche Gestalt, die nur von einer seidenen Tunika bedeckt wurde, welche die sinnliche Figur eines gerade erblühten elfenhaften Wesens erahnen ließ.
Das Kind fuhr herum und blickte sie strahlend an. „Geht es Euch wieder besser, Herrin?“ Es kam herüber und fing an, die Kissen und Decken aufzuschütteln.
„Wieso Herrin? Ich bin nicht deine Herrin, ich bin Elinor?“
„Ich weiß.“ Das Mädchen wurde rot, bückte sich schnell und stellte das Tablett auf Elinors Bett. Dann lief es rückwärts zu dem Diwan, ließ sich darauf nieder und blickte Elinor aus großen Augen an.
Elinor wurde es langsam unheimlich. Was hatte das alles zu bedeuten? Wieso nannte dieses Mädchen sie Herrin?
„Jetzt erzähl mir endlich, was passiert ist. Wie bin ich hierher gekommen? Das ist nicht mein Zimmer. Und was soll dieser Unsinn mit Herrin und so...?“
Das Mädchen senkte beschämt seinen Kopf. Dann fing es leise an zu sprechen und was es sagte, verwunderte Elinor immer mehr. Mechanisch biss sie in das Brot, trank von der Milch und merkte nicht einmal, dass sie etwas aß. Die Worte des Mädchens hielten sie gefangen: „Ich bin Ivetta, die Tochter der Fetta. Seit vielen Jahren lebe ich nun schon hier im Schloss und kenne jedes Gesicht, ob von den Mädchen, den Adligen oder auch den Soldaten. Vor einiger Zeit aber, es war an dem Tag, als die neuen Rekruten ihre erste Ausbildung beendet hatten, da war ein fremder Bursche, der seine Sachen zum Waschen brachte und sich an den lustigen Spielchen der anderen Soldaten mit den Wäscherinnen nicht beteiligte. Deshalb viel er mir auf und ich fragte ihn, wer er sei. Er sagte, er hieße Severin und er wäre noch nicht lange in Angstmark. Er wäre mit seiner Schwester hierher gekommen, die jetzt bei meiner Mutter lebt und bei ihr die Kunst der Krankenpflege erlernt. Und da wäre noch eine zweite Frau bei ihnen gewesen, die zusammen mit ihm gefangen genommen und aufs Schloss gebracht wurde. Sie hieße Elinor und wäre schwanger. Und ich solle sie für ihn finden, denn er müsste dringend mit ihr sprechen. Ich suchte lange unter den neuen Mädchen, aber ich konnte keine Elinor entdecken. Scheinbar war sie von den anderen getrennt worden. Das konnte nur eines bedeuten. Der Burgvogt hielt sie versteckt und den Grund dafür, so absurd er auch sein mochte, wagte ich kaum zu ahnen. Ich glaube, er hatte Angst, dass sie der König zu Gesicht bekommt.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Dann hörte ich von dem Fest, das der Burgvogt gab. Ich musste versuchen, dort etwas heraus zu bekommen. Ich ging zum Astrologen und bat ihm um seine Hilfe. Ich weiß seit langem, dass er mit den Machenschaften des Burgvogtes nicht einverstanden und in seinem Innern dem König zugetan ist. Aber der Burgvogt hat hier jeden in seiner Hand, den König eingeschlossen.
Gott sein Dank hat Roderich es versäumt, Euch von dem Fest fern zu halten. So gab es eine Möglichkeit, an Euch heran zu kommen. Der Astrologe gab Euch ein Schlafmittel in den Wein, teilte dem Burgvogt mit, es sei Euch schlecht geworden und er bringe Euch auf Euer Zimmer. Da Roderich selbst schon schwer unter Drogen stand, war es ihm nur Recht, dass Andur sich um Euch kümmerte. Und so kamt Ihr hierher. Als ich Euch sah, wusste ich, dass Ihr die Richtige seid und ich kann endlich mit Euch sprechen und auch Severin zu Euch bringen.“
Elinor hatte mit wachsender Verwunderung zugehört und wurde das Gefühl nicht los, dass mit ihr irgend etwas nicht stimmte. Bilder waren vor ihr aufgetaucht, die sie gar nicht kennen konnte. Wie schon in ihrem ersten Traum in der Herberge und dann unter der Hypnose des Astrologen, hatte sie wieder diesen Mann gesehen, groß und schön, mit breiten Schultern, sehnigen, muskulösen Armen, schmalen Hüften, in einen golddurchwirkten Wams gekleidet, mit schneeweißen Kniehosen und einem mit Diamanten besetzten Reif in seinen goldenen Haaren. Seine strahlend blauen Augen blickten sie zärtlich an. Ein Gesicht, in dem alles stimmte, die hohen Wangenknochen, die schmale, gerade Nase und der weiche Mund, mit dem er sie zart auf die Stirn küsste.
Elinor schüttelte zwinkernd ihren Kopf. Was war bloß mit ihr los? Wieso sah sie dauernd diesen fremden Mann vor sich? Wer war er und was hatte sie mit ihm zu tun? Sie konzentrierte sich wieder auf das Mädchen vor sich. Was hatte sie eben gesagt?
„Was ist Euch, Herrin? Geht es Euch gut?“ Das Mädchen war aufgesprungen, beugte sich über sie und sah sie besorgt an.
„Es ist gut. Mir geht es gut. Ich hatte nur so einen komischen Traum.“ Noch einmal schüttelte Elinor ihren Kopf. „Also, was soll das heißen: Ich wäre die Richtige? Und wo ist Severin?“
Das Mädchen wurde wieder rot und schaute zu Boden. Wie konnte sie der Herrin die Wahrheit sagen, da sie sich doch offensichtlich an nichts erinnerte? Sie kam sich zu klein und zu unwichtig für diese Aufgabe vor. Wenn sie nicht die richtigen Worte fand, wäre die ganze Mission gefährdet.
„Ich werde Severin zu Euch bringen. Heute Nacht. Er kann Euch alles erklären.“ Eilig drehte sie Elinor den Rücken zu und flüchtete aus dem Zimmer.
Elinor sank zurück in ihre Kissen. Was hatte das alles zu bedeuten? Wo war sie hier bloß hingeraten? Wieso kamen ihr manche Dinge so vertraut vor, als hätte sie alles schon einmal erlebt? Das konnte nicht sein. Ihre Nerven spielten ihr einen Streich. Sie musste sich zusammenreißen! Für alles gab es eine logische Erklärung.
Das Mädchen würde Severin zu ihr bringen – heute Nacht. Er würde ihr alles erklären können. Wieso? Was wusste er von all diesen Dingen? Er konnte nicht mehr wissen, als sie. Er war ihr Freund, solange sie denken konnte. Sie kannten sich von klein auf. Sie hatten miteinander Ball gespielt, waren zusammen mit Susanna ins Kino gegangen, er hatte ihre Schultasche getragen. Und er war verliebt in sie. Aber er hatte nie um sie gekämpft.
Es war für ihn natürlich, dass sich die Mädchen um ihn stritten. Er sah schließlich blendend aus. Aber er hatte sich nie für irgend eine entschieden. Er hatte sie genommen, wie sie kamen, er war zu jeder nett, er küsste alle und er fühlte sich wie der Hahn im Korb. Doch sobald es Probleme gab, ließ er die Finger von ihnen und so stieß er sie alle vor den Kopf.
Elinor konnte sich an Szenen erinnern, in denen sich sogar Mädchen um Severin geprügelt hatten. Sie schrien sich die unflätigsten Namen an den Kopf. Aber keine konnte ihn jemals ganz für sich gewinnen.
Elinor war eine Ausnahme. Sie war die beste Freundin seiner Schwester und sie stritt sich nie mit den anderen Mädchen um ihn. Sie behandelte ihn wie einen Kumpel, sie redete mit ihm, als sei er nur ein Anhängsel seiner Schwester, als würde sie seine Schönheit nicht bemerken, und auch nicht, dass ihn das wurmte. Es hatte ihn innerlich fast zerfressen, aber es lag nicht in seiner Natur, ihr das zu zeigen. Trotzdem genoss er ihre Gesellschaft. Sie waren füreinander da, wenn sie sich brauchten. Susanna sowieso. Sie war immer für Elinor da. Und Elinor brauchte Susanna oft. Und meistens war er dabei.
Ja, sie kannten sich ihr ganzes Leben. Also, was konnte er wissen, was sie nicht wusste?
Elinor erhob sich von ihrem Bett und wickelte sich in ein Laken. Die selbst geschneiderten Kleider waren in ihrem Zimmer und sie wusste nicht, wo sich dieses befand.
Was sollte sie den ganzen Tag über tun? Sie blickte sich in dem Zimmer um und entdeckte die Klingel. Vorsichtig zog sie daran und versteckte sich sofort hinter dem Vorhang. Wer würde zu ihr kommen? Würde es diese Ivetta sein?
Es war eine unbekannte Frau. Elinor machte einen Schritt auf sie zu und - erstarrte. Sie kannte sie. Aber das war unmöglich!
Die Frau verbeugte sich tief vor Elinor und fragte sie nach ihren Wünschen. Nun war es ihr schon fast egal, was man von ihr hielt. Irgendwie wurde sie hier von allen mit irgend jemandem verwechselt. Auch gut, es würde sich alles aufklären. Aber jetzt wollte sie erst einmal baden und dann zog es sie hinaus an die frische Luft. Trotz des offenen Fensters fühlte sie sich im Schloss eingesperrt. Wochenlang war sie nicht raus gekommen. Draußen war die Natur, die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, die Bäume im Park schienen ihr zuzurufen: Komm, komm zu uns, Herrin, wir haben dich so vermisst. Sie hörte das Rauschen der Wipfel, von weitem ein Kinderlachen und ein Zittern ging durch ihren Leib.
Die fremde Frau musterte sie eigenartig. Elinor hatte sich an einer Stuhllehne festhalten müssen, denn ein Schwindel hatte sie gepackt. Die Frau sprang hinzu und legte einen Arm um ihre Schultern.
„Kommt, ich bringe Euch ins Bad. Es wird alles gut.“
Sie führte Elinor hinaus und diese dachte angestrengt, was die Frau damit gemeint haben könnte: es wird alles gut!
Das Bad war nicht jenes, welches sie bereits vom ersten Tag her kannte. Es war kleiner, nicht mit Spiegeln ringsum ausgerüstet, aber dennoch wunderschön. Ein silbernes Becken war in den weißen Marmor eingelassen. Zwei Stufen führten hinab ins warme, duftende Wasser. Die Frau goß aus einer Flasche eine Essenz hinzu und nahm Elinor das Laken von den Schultern. Elinor tauchte hinab in das prickelnde Nass. Der Geruch der Essenz hatte eine beruhigende Wirkung. Sie fühlte sich plötzlich leicht und frei und spürte den Herzschlag des Kindes in sich, dass ihr zuzurufen schien: Entspanne dich, alles wird gut.
Als Elinor aus dem Becken stieg, stand die Frau mit weichen Tüchern bereit, trocknete ihren Körper und salbte sie mit duftenden Ölen. Dann sprach sie: „Herrin, noch könnt ihr Euch nicht erinnern und begreift die Zusammenhänge nicht. Aber ich will Euch helfen. Es gibt eine Möglichkeit, die Wahrheit zu erfahren. Aber es ist gefährlich und es ist Euere Entscheidung, ob Ihr das Risiko auf Euch nehmt.“
Elinor sah in die Augen der Frau. Es waren eisgraue Augen, es waren die Augen des Astrologen. Die gleiche Energie ging von ihnen aus wie an dem Abend, als er sie zwang, den Wein zu trinken und sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Die seltsamen Vorkommnisse, die sie den weiten Weg hier her begleitet hatten, konnten kein Zufall sein. Sie musste herausfinden, was sie mit der ganzen Geschichte zu tun hatte. Und wenn es ihr Leben kosten sollte. Denn was sie anderenfalls hier erwartete, machte ihr noch mehr Angst.
„Also gut. Was muss ich tun?“ Elinor schaute die Frau entschlossen an. Diese trat an die Wand des Bades heran und betätigte einen unsichtbaren Schalter. Eine Geheimtür öffnete sich. Einladend forderte die Frau Elinor auf, die Kammer zu betreten.
Elinor schaute sich um. Die Kammer war sehr klein, es waren nicht mehr als zwei mal zwei Meter. Als einziges Möbelstück befand sich in ihr eine Frisierkommode mit einem Schemel davor. Ein goldumrahmter ovaler Spiegel hing über der Kommode. Der Rahmen selbst war von meisterlicher Hand gearbeitet. Diamantene Beeren von goldblättrigem Weinlaub umkränzt und dazwischen immer wieder geheime Zeichen, die Hieroglyphen ähnelten, umgaben den eigentlichen Spiegel. Die Oberfläche des Spiegels jedoch war blind.
Die Frau war an der Tür stehen geblieben. Mit leicht abgewendetem Gesicht sprach sie nun weiter: „Es ist der Spiegel der Königin. Diesen Spiegel hat König Solodur seiner Elinor zur Hochzeit geschenkt, damit sie niemals vergessen solle. Unbefugten bringt es Unglück, hinein zu sehen. Ich werde Euch jetzt verlassen. Überlegt Euch gut, ob Ihr es tun wollt. Ich kann nichts weiter tun, als Euch zu warnen. Wenn Ihr Euch aber entschließt, hinein zu schauen, kann davon das Schicksal von uns allen abhängen.“ Die Frau verließ die Kammer und schloss die Tür hinter sich.
Elinor war allein mit dem Zauberspiegel. Heiß lief es ihr den Rücken herunter. Gleichzeitig bildete sich an ihren Armen eine Gänsehaut. Mit geschlossenen Augen tastete sie zitternd nach dem Schemel und setzte sich. Sie biss die Zähne fest aufeinander, wartete eine Minute, dann riss sie die Augen auf und starrte in den Spiegel.
Erst sah sie nur die matte Fläche vor sich. Unendlich langsam begann der Spiegel sich zu klären, als würde ein Nebel von ihm weichen. Sie sah in ihr eigenes Gesicht. Nach einer Weile verschwamm ihr Gesicht wieder. Eine grüne Wiese mit vielen bunten Blumen erschien, darauf spielende, lachende Kinder, tollende Hunde und weiße Pferde. Ein etwa dreizehnjähriges Mädchen in einem silbernen Reitanzug und gespornten Stiefeln fasste eins der Pferde am Zügel, zog sich daran hoch und setzte sich auf den Rücken des Schimmels. Lachend winkte es den anderen Kindern zum Abschied und ritt durch die Straßen der Stadt davon. Hübsche saubere Häuser begrenzten die Straßen, in gepflegten Vorgärten blühten Narzissen und Tulpen, die Sonne spiegelte sich in funkelnden Fensterscheiben. Lachend drückte das Kind seine Fersen in die Flanken des Pferdes und galoppierte auf ein goldenes Tor in einer Mauer zu. Wie von Geisterhand öffnete sich das Tor und das Mädchen ritt hindurch. Nun sah es das Schloss vor sich. Sie ritt durch den Schlossgarten, an kleinen goldenen Pavillons und Statuen vorbei, winkte den Gärtnern zu, die schmucke Blumenbeete jäteten und kam jauchzend vor dem Pferdestall zum Stehen.
Der Hofstallmeister trat hinzu und hob das Kind aus dem Sattel.
„Elinor, Ihr sollt doch nicht so wild reiten, dem Pferd steht der Schaum vor dem Maul. Wenn ihr herunterfallt, gibt es ein Unglück. Ihr wisst, wie Euer Herr Vater darüber denkt.“
Das Mädchen lachte aber nur und rannte auf das Eingangsportal zu. Es schlüpfte hindurch, rannte die breite Treppe empor, indem es immer zwei Stufen übersprang und prallte schwer keuchend auf dem oberen Treppenabsatz mit einem Jungen zusammen, der etwa zwei Jahre älter war als sie. Lachend hielt er sie in seinen Armen. „Halt Elinor, nicht so eilig. Du kommst noch rechtzeitig zu unserer Verlobung.“
Lachend machte sie sich frei. „Da kannst du lange drauf warten, Solodur.“ Wild wie ein Teufel sprang sie davon und achtete nicht auf die Kusshand, die der junge Mann ihr nachwarf.
Verwundert hatte Elinor die Szene verfolgt, als wäre ihr ein Videofilm vorgeführt worden. Nun wurde die Bildfläche wieder matt. Völlig verwirrt erhob sich Elinor von dem Schemel und öffnete die Kammertür. Im Bad wartete die Frau auf sie und schaute ihr gespannt entgegen.
„Nun, was hat Euch der Spiegel gezeigt?“
„Ich verstehe das alles nicht. Ich weiß nicht, was ich mit dem Ganzen anfangen soll. Der Spiegel hat mir spielende Kinder gezeigt, ein Mädchen, das auf einem weißen Pferd ins Schloss geritten ist und einen Jungen, den sie Solodur nannte und der von Verlobung gesprochen hat. Ich sah die Straßen von Angstmark, aber die Häuser waren neu und sauber, die Menschen hübsch gekleidet und gut genährt. Es war alles so – anders. Und – es kam mir alles so - bekannt und vertraut vor, als hätte ich es in einem Film schon einmal gesehen.“
Die Miene der Frau war sanft geworden. Feierlich nickte sie. „Ja, es ist wahr, alles ist wahr. Nun wird alles gut.“
„Aber was wird gut? Erklären Sie es mir doch bitte. Ich verstehe nichts von dem Ganzen. Wieso hat der Spiegel mir solche Sachen gezeigt? Und – was hätte denn passieren können? Sie sagten doch, es wäre gefährlich, in den Spiegel zu schauen.“ Elinor packte die zarte Frau an den Schultern, ließ aber sogleich erschreckt wieder von ihr ab. Die eisgrauen Augen der Frau blickten sie durchdringend an.
„Schaut ein Unbefugter in den Spiegel, so schießt daraus ein greller Lichtblitz hervor und blendet den Unwürdigen.“
„Das heißt, ich hätte blind werden können?“ Elinor wurde kreidebleich.
„Ja“ war die Antwort der Frau. „Ich habe Euch gewarnt. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass Euch nichts geschehen würde. Ihr seid die Richtige.“
Kapitel Siebzehn
Roderich hatte seine Garde um sich versammelt. Es war tiefe Nacht. Viel Zeit blieb ihnen nicht, die Vorräte an Getreide, Kälbern, Lämmern und Ferkeln, sowie die ganze Wolle und vor allem die Schwerter aus den Speichern zu holen und die Dissidenten zu verhaften. Alles musste schnell gehen. Es würde ein Überraschungsangriff werden, sodass es dem Pöbel nicht möglich war, sich zu formieren und zu den Waffen zu greifen. Die Nacht war die beste Zeit dafür. Die Garde würde den Ort im tiefen Schlaf überrumpeln.
Er hatte einen detaillierten Plan ausgearbeitet und mit seinem Oberkommandierenden Rotwulf bis in alle Einzelheiten besprochen.
„Die Scharfschützen umstellen das Speicherhaus, ein Teil der Schwertkämpfer dringt in das Gebäude ein, schafft die Waren heraus und lädt sie auf die Wagen. Währenddessen untersucht der Großteil der Garde die einzelnen Gehöfte nach Tieren und Waffen. Wer sich wehrt, wird sofort festgenommen. Vor allen Dingen, findet die rothaarige Frau! Sie ist der Kopf der Bande. Ich will sie lebend! Sie soll für ihre Schandtaten büßen, wie noch nie ein Mensch gebüßt hat! Und nun setzt euch in Bewegung!“
Die Scharfschützen waren gut ausgebildet. Sie hatten täglich zwölf bis vierzehn Stunden an den neuen Steinschlossflinten trainiert und inzwischen eine Treffsicherheit von mindestens achtzig Prozent erreicht. Der Burgvogt hatte für reichlich Munitionsnachschub gesorgt. Er hatte eigens dafür einen Teil des Schlosses zu einer Bleigießerei umfunktioniert. Tag und Nacht hatte man Kugeln gegossen. Und sein Alchimist stellte das erforderliche Schwarzpulver her. Es war alles bestens vorbereitet.
Die Gardisten hatten den Flüsterkampf trainiert. Voraussetzung für den Erfolg der Aktion war, dass sie sich so lautlos wie möglich bewegten, um das Volk nicht vorzuwarnen. Den Pferden wurden Tücher um die Hufe gebunden und um die Wagenräder Tierhäute. Alles war noch einmal geölt worden. Die einzelnen Kommandos wurden im Flüsterton weitergegeben. Lautlos verließ die Garde das Schloss in Richtung Ort. Fünfzig Scharfschützen mit Steinschlossflinten, Hundertfünfzig Schwertkämpfer, dreißig Bogenschützen. Die Nacht war tiefschwarz. Der Mond und die Sterne waren von Wolken verdeckt. Man sah kaum die Hand vor Augen.
Sie erreichten die ersten Häuser und teilten sich auf. Bei jedem Haus blieben drei Gardisten zurück. Der Angriff würde erst erfolgen, wenn der Speicher umstellt war.
Und dann kam das Signal. Ein einzelner Schuss. Die Gardisten drangen in die Häuser ein. Die Wagen standen aufgereiht vor dem Speicher, die Tür des Speichers wurde mit Axthieben aufgebrochen. Plötzlich läutete die Glocke der kleinen Kapelle wie rasend. Hunde fingen an zu bellen, aber aus den Häusern kam kein Laut.
Ratlos hatten die Soldaten die Hütten durchsucht. Kein Mensch und kein Tier befanden sich in diesen. Auch der Speicher war leer.
Und dann waren sie da. Sie kamen aus einer Richtung, in der sie niemand vermutet hatte, aus dem Wald. Mit Knüppeln und Messern bewaffnet, schlugen und stachen sie auf die Soldaten ein. Die Scharfschützen versuchten, ihre Gewehre einzusetzen; da sie aber so gut wie nichts sahen, war das unmöglich. Sie verzichteten auf das Schießen, um nicht die eigenen Leute zu gefährden und verteidigten sich mit den Gewehrkolben. Plötzlich erhellten Fackeln an mehreren Stellen das Schlachtfeld. Nun sahen die Soldaten auch, gegen wen sie da kämpften: Halbwüchsige, Frauen und Greise, aber auch einige ehemalige Gardisten, die ebenso gut ausgebildet waren wie sie. Gegen diese richtete sich nun die Hauptstreitmacht. Rotwulf brüllte seine Befehle. Es wurde ein blutiger Kampf. Die Soldaten in ihren Rüstungen waren beinahe unverwundbar und den Rebellen zahlen- und waffenmäßig weit überlegen. Es gab ein Gemetzel und Geschlachte, die Reihen der Angreifer lichteten sich, Verwundete wälzten sich in ihrem Blute, Frauen und Kinder schrien und Rotwulf schoss seine Flinte leer. Die Straßen zwischen den Häusern hatten sich rot gefärbt, doch von Susanna war weit und breit nichts zu entdecken. Wie vom Erdboden war sie verschwunden.
Nachdem Susanna erkannt hatte, dass der Kampf aussichtslos war und der Befehlshaber mehrmals auf seine Gardisten einbrüllte, sie sollten nach der roten Hexe suchen, war sie um ihr Leben gerannt. Sie stürzte über Verwundete, sprang über Zäune, raste in Richtung des Camps und versteckte sich keuchend in einer provisorischen Lagerhalle hinter Bergen von Getreide. Ihre Lunge brannte. Mit Tränen in den Augen riss sie verzweifelt an ihren Mundhaaren, die sie zu ersticken drohten. Ihr magerer Leib zitterte vor Erschöpfung, ihr Atem ging rasselnd, und dann hörte sie die wilde Horde doch nahen. Sie hatten den Standort des Lagers aus den Leuten herausgeprügelt und kamen nun, die Vorräte auf ihre Wagen zu laden.
Susanna verkroch sich in die hinterste Ecke der Scheune. Konnte der riesige Berg Weizen sie schützen?
Er konnte es nicht. Die Soldaten schaufelten das Getreide in Säcke und verluden es auf die Wagen.
Und dann standen sie vor ihr. Hässlich lachend griff der Anführer nach ihrem Haar. Er zerrte sie aus der Ecke und stieß sie auf das verstreute Stroh. Dann warf er sich unter dem Gejohle seiner Kumpane über sie. Mit Brachialgewalt riss er ihr die Kleider vom Leib. Seine schwielige Hand legte sich um ihren Hals und drückte ihr den Atem ab. Susanna begann zu röcheln. Doch er hatte kein Erbarmen. Mit seinen feisten Knien versetzte er ihr mehrere Tritte in den Bauch. Dann zwang er ihre Schenkel auseinander und vergewaltigte sie. Sie erlebte die schrecklichsten Minuten ihres Lebens.
Als der Morgen herauf dämmerte, waren die Gefangenen in Ketten gebunden, das Getreide und die Wolle auf die Wagen geladen und das Vieh daran fest gebunden. Das Camp und die Getreidelager waren in Flammen aufgegangen. Die Leichen der Erschossenen hingen mit Stricken um den Hals an Bäumen, die längs der Straße wuchsen. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Susanna stolperte an einer Kette hinter dem Pferd des Oberkommandierenden her. Rotwulf stand der Triumph in den Augen. Er hatte gesiegt und die rothaarige Hexe in seiner Gewalt.
Die Sonne schien, als er vor seinen Herrn trat.
Kapitel Achtzehn
Elinor hatte den halben Tag in Begleitung der Frau zugebracht, von der sie plötzlich wusste, dass sie Aira hieß. Es war wieder ein leichter Schwindel vorangegangen, dann eine Art Lichtblitz in ihrem Gehirn und sie konnte sich an Dinge erinnern, die sie nie erlebt hatte. Aira war die Schwester von Andur, dem Astrologen. Sie hatten die gleichen eisgrauen Augen. Ihr gewelltes, schwarzes Haar fiel über den Rücken bis zu den Hüften. Die Mundhaare waren in sauberen Zöpfen am Hinterkopf zusammengebunden.
Aira half ihr beim Ankleiden und Frisieren. Dann legte sie den Arm um ihre Schultern und führte sie in den Schloßgarten, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt.
Nach diesem äußerst merkwürdigen Gespräch, in dem Aira ihr mitteilte, sie sei die Richtige, hatten sie kein Wort mehr miteinander gesprochen, aber es bestand ein gegenseitiges Einvernehmen, als würden sie sich ein Leben lang kennen. Elinor zermarterte sich den Kopf, woher sie plötzlich dieses uneingeschränkte Vertrauen zu dieser Frau nahm. Eine innere Stimme sagte ihr: „Diese Frau ist dein Schutzengel. Solange du mit ihr zusammen bist, kann dir nichts passieren.“
Sie genoss die Wärme auf ihrer Haut, die Sonne, den leichten Wind, das leise Rauschen in den Wipfeln der Bäume, den Gesang der Vögel. Sie spazierten stundenlang durch den Park und beobachteten Eichhörnchen an den dicken Stämmen der Eichen und Buchen. Igel raschelten im Unterholz, ein riesiger Ameisenhaufen wimmelte nur so von Leben, eine Entenfamilie kam neugierig an den Teichrand geschwommen und bettelte um Futter.
Vom Kampflärm in der Nacht war kein Geräusch in den Schlossgarten gedrungen. Nichts, aber auch gar nichts hatte die idyllische Ruhe der Schlossbewohner gestört. Keiner der Frauen war aufgefallen, dass die gesamte Garde nachts zu einer Schlacht ausgerückt war und ihre Heimat in Blut und Asche versank.
Nie hatte sich Elinor so wohl gefühlt, so nah der Natur, die sie als Großstadtmensch selten beachtet hatte. Ihr früheres Leben kam ihr unrealistisch vor; Hochhäuser, Straßenbahnen, Busse, Supermärkte verschwammen zu unbedeutenden wolkenhaften Gebilden, als stammten sie aus einer anderen Welt, die hundert Lichtjahre entfernt lag.
Aira begleitete Elinor auf ihr Zimmer, legte die Hand auf ihren Kopf und schaute sie ernst an. Aus ihren eisgrauen Augen strahlte plötzlich eine Wärme, die Elinor tief ins Herz drang. Sie wollte sich in die Arme der Frau werfen und weinen, aber sie konnte sich nicht bewegen und den Blick nicht von ihr lösen.
Plötzlich war es vorbei. Aira gab ihr einen Kuss auf die Stirn, verbeugte sich vor ihr und verließ das Zimmer. Völlig verstört ließ Elinor sich auf dem Diwan nieder und schloss die Augen. Wenn sie doch nur wüsste, was hier mit ihr geschah. Was sollte sie nur tun? Irgend etwas musste sie doch unternehmen. Sie musste herausfinden, was ihr hier in diesem Schloss noch alles bekannt vorkam. Und vor allem, woher sie ihr Wissen bezog.
Entschlossen sprang sie auf und durchsuchte ihre Truhe nach Kleidungsstücken, mit denen sie ihren Leib verhüllen konnte. An diese durchsichtigen Gewänder würde sie sich nie gewöhnen, ständig hatte sie das Gefühl, nackt durch die Gegend zu laufen.
Als sie nichts Geeignetes fand, zog sie kurzerhand das Laken von ihrem Bett ab und wickelte es sich um den Körper. Die Enden verknotete sie über der linken Schulter, band eine Kordel um ihre Taille und zog und zupfte alles so zurecht, dass es in regelmäßigen Falten bis zu den Füßen fiel.
Sie betrachtete sich zufrieden im Spiegel. Dann verließ sie ihr Zimmer und lief durch die unendlichen Gänge und Räume des Schlosses, in denen ihre Schritte von den kahlen Wänden widerhallten.
Am Gebäude hatte der Zahn der Zeit kräftig genagt. Die Farbe war abgeblättert, Stuckornamente aus der Deckenverzierung heraus gebrochen, das Parkett zerkratzt und vom Holzwurm zerfressen.
Seltsamerweise begegnete sie keinem Menschen. In welchem Teil des Schlosses befand sie sich? Wo waren die anderen Mädchen untergebracht? Wo waren die Wachen?
Der Hall der Schritte wurde plötzlich von dicken Läufern verschluckt. Nun waren die Gänge nicht mehr leer. Antike Waffen zierten die Wände, dazwischen Jagdtrophäen, Ritterrüstungen, Gobelins mit Jagdmotiven. Die Decken waren mit unversehrten Gemälden und Stuckornamenten reich verziert. Die Räume und Gänge machten hier einen warmen, bewohnten Eindruck.
Elinor nahm ein Kribbeln auf ihrer Haut wahr, welches sich mit jedem Schritt verstärkte. Irgend etwas trieb sie an. Sie beschleunigte ihre Schritte, ihr Herz klopfte bis zum Halse, sie rannte fast.
Dann stand sie vor einer Tür, von der sie magisch angezogen wurde. Wellenförmige Stromstöße durchrasten ihren Leib, mit zitternden Fingern fasste sie nach der Klinke. Da legte sich von hinten eine Hand auf ihre Schulter und zwang sie zwei Schritte zurück. Sie schoss herum und blickte in die eisgrauen Augen des Astrologen.
„Nein, Herrin. Es ist noch nicht so weit. Noch könnt Ihr Euch nicht an alles erinnern. Erst müsst Ihr die ganze Wahrheit erkennen. Dann könnt Ihr dem Schicksal entgegentreten. Jetzt würde es Euch töten.“
Er legte seinen Arm um Elinors Schultern und geleitete sie den Weg zurück, den sie gekommen war. Elinor war einem Nervenzusammenbruch nahe. Ihr Herz raste, sie zitterte am ganzen Leib und ihre Knie waren weich wie Pudding. Fast trug Andur sie in ihr Zimmer. Er schob sie zu dem großen Bett, auf das sie sich willenlos fallen ließ. Dann deckte er sie zu und legte ihr die Hand auf den Kopf. Er blickte ihr sekundenlang hypnotisch in die Augen und sie beruhigte sich spürbar.
„Bald ist es soweit, bald werdet Ihr verstehen. Und dann könnt Ihr handeln!“ Mit diesen Worten verließ er ihr Zimmer.
Kapitel Neunzehn
Elinor war fast eingeschlafen, da klopfte es an ihrer Tür. Inzwischen war es beinahe dunkel im Raum. Ihr Herz begann wieder zu rasen. Sie sprang aus dem Bett und versteckte sich hinter der Gardine. Die Tür wurde behutsam geöffnet und ein Wispern drang an ihr Ohr. Dann vernahm sie Ivettas Stimme: „Herrin, seid Ihr hier? Ich bringe Severin zu Euch.“
Eine Kerze wurde entzündet und der Schein fiel auf das bleiche, verstörte Gesicht ihres Freundes. Elinor stürzte hinter der Gardine hervor und warf sich aufatmend in seine Arme. Eine Weile blieben die Beiden so stehen, glücklich, einander wohlbehalten gefunden zu haben. Dann endlich ließen sie voneinander ab und schauten betreten auf Ivetta, die sich scheu abgewendet hatte und die Kissen auf dem Diwan zurecht rückte. Alle drei nahmen Platz und Elinor fand als Erste ihre Stimme wieder.
„Severin – wie ist es dir ergangen? Du bist jetzt also bei der berüchtigten Garde. Musst du etwa gegen Menschen kämpfen oder gar töten? Du bist kein Kämpfer, ich weiß das. Wie verkraftest du das alles, ist alles in Ordnung bei dir?“ Sie hielt seine Hände fest umschlossen und blickte ihm besorgt in die Augen.
„Elinor!“ seine Stimme bebte. „Ich bin froh, dass es dir gut geht. Aber du musst jetzt ganz stark sein. Es ist etwas Schreckliches passiert.“
Elinor wurde bleich. Sie blickte von Severin auf Ivetta und wieder zurück auf den Bruder ihrer Freundin. Ein brennender saurer Schmerz fuhr ihr vom Magen aufwärts in die Kehle und trieb ihr Tränen in die Augen.
„Was...? Ist etwas mit Susanna?“ Ihre Fingernägel gruben sich tief in Severins Hände. Da riss er Elinors Kopf an seine Brust und hielt sie fest umfangen, während ihm ein krampfartiges Schluchzen aus der Kehle drang.
Ivetta sprang auf, beugte sich über beide, umfasste sie mit ihren Armen und wiegte sie wie eine Mutter ihre kleinen Kinder. Nach einer Weile beruhigte sich Severin etwas. Er löste sich aus der Umarmung und Ivetta nahm neben Elinor Platz. Dann ergriff sie das Wort: „Roderich hat den Ort überfallen. Er hat seine Gardisten auf die Leute gehetzt und ihnen alles genommen, das Getreide, das Vieh, die Waffen. Und er hat Gefangene gemacht. Es hat Tote und viele Verletzte gegeben. Der Kerker ist voll mit Männern, Frauen und Kindern. Und er hat Susanna. Er sagt, sie wäre die Anführerin der Rebellen. Sie hätte die Leute gegen ihn aufgehetzt, sodass sie ihren Tribut nicht mehr gezahlt und sich bewaffnet hätten. Und jetzt will er an Susanna ein Exempel statuieren.“
„Was heißt das, ein Exempel statuieren? Will er sie hinrichten?“ Elinors Stimme versagte. Sie schaute Severin flehend an, dass er die Befürchtung von ihr nehmen solle. Aber Severin blickte mit Tränen in den Augen zu Boden. Hoffnungslos erwiderte er: „Er wird sie hinrichten. Aber erst einmal foltert er sie. Sie ist im Kerker, aber nicht bei den anderen Gefangenen. Er hat dort eine richtige Folterkammer, mit Feuerzangen, Streckbank und so weiter. Du kannst dir nicht vorstellen, zu welchen Grausamkeiten dieser Roderich fähig ist.
Alle Gardisten mussten antreten und zusehen, was er mit Susanna macht. Ich auch. Und ich konnte ihr nicht helfen. Hätte ich mich als ihr Bruder zu erkennen gegeben, wäre es mir nicht besser ergangen.“
„Was hat er mit ihr gemacht?“ Elinor packte Severin am Hemd und schüttelte ihn. „So sprich doch!“
„Der Henker musste ihr mit glühenden Eisen Ringe durch die Brustwarzen ziehen und Ketten daran befestigen. Die hat er dann an einer Art Flaschenzug an der Decke befestigt. Ihre Füße steckte er in Eisenschuhe, die am Boden festgeschraubt sind. Die Hände hat er ihr auf den Rücken gebunden. So hing sie an ihren Brüsten und konnte sich nicht bewegen. Dann hat Roderich sie vor unser aller Augen vergewaltigt.“
Severin schluckte und die Stimme versagte ihm. Als er sich wieder etwas gefasst hatte, fuhr er fort.
„Dann musste jeder Gardist einzeln vortreten, auch ich. Jeder von uns hatte die Wahl, ihr entweder zehn Peitschenhiebe zu geben oder sie ebenfalls zu vergewaltigen. Du kannst dir denken, wozu sich die meisten entschlossen haben. Ich hatte keine Wahl. Ich musste meine eigene Schwester schlagen. Sie schrie mich an, ich solle sie töten. Aber das konnte ich nicht. Dann wurde sie ohnmächtig.
Roderich ließ sie abhängen, kettete sie mit Händen und Füßen an die Wand und ließ sie am blanken Steinfußboden liegen. Und dann sagte er zu uns: ‚Das werden wir jetzt jeden Tag wiederholen, solange, bis sie mir sagt, wer sie ist und was sie hier in Angstmark vorhat.‘
Denn dass sie nicht zu den Eingeborenen gehört, das hat er sehr schnell herausgefunden. Oh Elinor, du bist in großer Gefahr. Wenn er entdeckt, dass wir drei zusammen gehören, wird er uns alle töten.“
Weinend nahm er Elinor in die Arme. Wieviel Leid konnte ein Mensch ertragen? Wieviel Schreckliches stand ihnen noch bevor?
Ivetta verabschiedete sich. Obwohl Severin in sein Quartier zurück musste, wollte er sich noch nicht von Elinor trennen. Zu viel verband sie miteinander, und die Sorge um Susanna schweißte sie noch enger zusammen. Von jetzt ab wollten sie sich jede Nacht heimlich treffen. Nur gemeinsam konnten sie einen Ausweg finden. Aber nichts durfte auf eine Verbindung zwischen ihm und Elinor hindeuten, alles musste klammheimlich geschehen, denn beider Leben war in höchster Gefahr.
Eng umschlungen lagen die Beiden auf dem Bett, sein Kopf lag auf Elinors Bauch und er lauschte dem Herzschlag des ungeborenen Kindes. Liebevoll streichelte Elinor über Severins Haar. Wie unendlich könnte ihr Glück sein, wären die Umstände andere gewesen.
Ein leises Schnarchen verriet Elinor, dass Severin eingeschlafen war. Vorsichtig hob sie seinen Kopf von ihrem Bauch herunter und stand auf.
Sie überlegte fieberhaft, wie sie Susanna retten könne. Welche Rolle hatte ihr das Schicksal in diesem grausamen Spiel zugedacht? Wieviel Macht besaß sie, eine Katastrophe abzuwenden?
Sie legte sich eine Decke um die Schultern, verließ ihre Kammer und begab sich in das Bad mit dem geheimen Kabinett. An der Wand tastete sie suchend mit ihren Fingerspitzen entlang, dann fand sie den unsichtbaren Schalter. Als sie darauf drückte, öffnete sich die Geheimtür.
Wiederum verspürte sie einen eisigen Schauer, als sie sich dem Spiegel näherte. Diesmal verflüchtigte sich der Nebel auf ihrem Spiegelbild schneller und alsbald tauchte ein langer Saal mit einer riesigen Festtafel auf. Die junge Elinor, zu einer wunderschönen Frau erblüht, saß in einem weißen Hochzeitskleid am Ende der Tafel und neben ihr, ebenfalls ganz in weiß und Gold gekleidet, mit langen blonden Locken und strahlend blauen Augen, Prinz Solodur. Sein Gesicht strahlte in einem elfenhaften Glanz, als wäre er nicht von dieser Welt. Geblendet von so viel Schönheit, hielten die Hochzeitsgäste ihre Augen gesenkt, als sie an dem Brautpaar vorbei defilierten und ihre Glück- und Segenswünsche bekundeten.
Als letztes kam ein älterer Mann mit einer goldenen Krone auf das Paar zu und schloss erst Elinor und dann Solodur in seine Arme. Es war König Baldwin, der Vater des Feenkindes Solodur. Er zog einen breiten goldenen Ring von seinem Finger und steckte ihn seinem Sohn an die Hand. Auf dem Ring war das Siegel von Neumarkt abgebildet, das Schloss mit der Stadtmauer darum und einer schützenden Hand darüber.
„Dieser Ring, mein Sohn, ist mein Versprechen, dass du mein Nachfolger über das Königreich sein sollst, wenn ich nicht mehr bin. Du sollst ihn wahren und unserem Volke ein guter Herrscher sein. Diesen Ring sollst du deinem Sohne bei seiner Hochzeit übergeben und so soll es fort geschehen, bis in alle Ewigkeit.“
Der Spiegel wurde wieder matt und Elinor ging nun noch um Einiges unsicherer zurück in ihre Kammer. Warum zeigte ihr der Spiegel immer diese alten Geschichten? Was hatte das alles mit ihr zu tun? Ratlos legte sie sich neben Severin auf ihr Bett und zog an der Klingel. Severin erwachte und rieb sich verschlafen die Augen. Dann lächelte er Elinor an und drückte ihr einen Kuss ins Haar. „Oh Elinor, ich bin eingeschlafen. Wie spät mag es sein?“ Er erhob sich und strich seine Uniform glatt.
„Es ist tiefe Nacht. Warte, bevor du gehst. Ich muss dir was erzählen.“
In der Tür erschien Ivetta mit einem Becher heißer Milch.
„Trinkt das, Herrin. Das wird Euch gut schlafen lassen.“
Elinor nippte daran und erzählte dann Ivetta und Severin von dem Zauberspiegel und was dieser ihr gezeigt hatte. Aufmerksam hörten die Beiden zu. Severin schüttelte ratlos den Kopf. Ivetta überlegte eine Weile, dann sprach sie: „Wisst Ihr, Herrin, ich glaube, Ihr seid selbst Königin Elinor. Und das, was Euch der Spiegel zeigt, sind Euere eigenen Erinnerungen. Es gibt keine andere Erklärung.“
Elinor entfiel der Becher. Mit zitternden Händen hielt sie sich den Mund zu, um nicht zu schreien.
Severin wurde ganz nachdenklich. Die Worte hatte ihn tief aufgewühlt. Langsam schüttelte er den Kopf und murmelte: „Ich habe einen schrecklichen Verdacht. Wenn das stimmt, das wäre nicht auszudenken. Aber fast bin ich der Meinung, es kann gar nicht anders sein.“ Eine Träne trat aus seinen Augen, er umfasste Elinor fest und drückte sie an sich. Dabei sagte er immer wieder: „Bitte verlass mich nicht, o Elinor, verlass mich nicht!“
Kapitel Zwanzig
Andur hatte lange in den Himmel geblickt. Vor sich hatte er mehrere Sternkarten liegen, in denen er Verbindungslinien zwischen einzelnen markierten Punkten zog. Es entstanden Dreiecke und Quadrate und die Konstellation der Sterne ließ sein Herz höher schlagen. Es würde nicht mehr lange dauern. Er hatte es im Gefühl, bald, ja sehr bald würde die große Veränderung kommen. Der Macht der Sterne konnte sich Roderich nicht entziehen.
Andur rollte seine Karten zusammen und eilte zur Kemenate des Burgvogtes. Er klopfte gegen die Tür und trat ein, ohne die Aufforderung abzuwarten.
Roderich hatte sich nackt von zwei ebenfalls unbekleideten Leibsklavinnen ans Bett fesseln lassen und wurde von ihnen mit diversen „Spaßmachern“ bearbeitet. Ein schwerer Duft von Parfüm und Schweiß lag im Raum. Eine mächtige Kette beschwerte seine Brust und nahm ihm fast die Luft.
Ein Mädchen kniete über ihm und stopfte gerade ihren Busen in seinen Mund, während sie ihm mit den Zehen am hoch aufgerichteten Gemächte spielte. Die andere bearbeitete unterdessen mit einer Gerte seine Fußsohlen. Roderich stöhnte vor Lust und warf sich hin und her.
Andur trat ans Bett und räusperte sich. Roderich fuhr hoch und die beiden Mädchen flohen schreiend aus dem Zimmer. Dass Roderich immer noch festgebunden war, kam Andur gerade recht. Er warf ihm eine Decke über seine Blöße und entrollte eine Sternenkarte.
Roderich protestierte lautstark, konnte sich aber nicht selbst befreien und kam auch nicht an seinen Klingelzug heran. Der Astrologe ließ sich nicht beirren und begann mit seinem Vortrag. Er berichtete über die einzelnen Sternenkonstellationen, ihren Einfluss aufeinander und ihre Auswirkung auf das Schicksal der Menschen.
„Wie Ihr seht, stehen die Sterne schlecht für Eure Zukunft. Die Venus dominiert den Himmel. Saturn und Jupiter stehen ihr bei. Der Mars ist am Untergehen. Ihr werdet das Schicksal nicht abwenden können. Elinor ist zurückgekommen. Sie wird sich mit dem König wieder vereinigen und dann ist es vorbei mit Eurer Herrschaft über das Reich.“
Andur verbeugte sich vor Roderich und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie dieser vor Wut nach Luft schnappte.
„Ich werde Euch auspeitschen lassen. Das habt Ihr Euch ausgedacht. Ich glaube Euch kein Wort.“ Er zerrte an seinen Fesseln und die Hände liefen blau an.
„Ihr könnt den Lauf der Sterne nicht beeinflussen und Ihr könnt das Schicksal nicht abwenden. Elinor ist bereits im Schloss und Ihr wisst das genau. Ihr habt es verpasst, sie ein zweites Mal aus dem Wege räumen zu lassen. Und es wird Euch diesmal nicht gelingen.“ Die Worte aus Andurs Mund trafen ihn wie Peitschenhiebe.
Roderich bäumte sich vor Wut schäumend auf. Er entwickelte Bärenkräfte, spannte seine mächtigen Muskeln an und schleuderte seine Arme mit einem Ruck nach vorn, dass die Bettpfosten knackten und er mit den Händen freikam. Er befreite sich gänzlich, packte den Pfosten und sprang auf den Astrologen zu, um ihm das starke Eichenholz über den Schädel zu ziehen. Aber Andur war schneller. Er duckte sich unter ihm weg und Roderich stieß mit Wucht seinen Kopf gegen die Tischkante. Nun hatte er wirklich Sterne vor den Augen. Die Beine knickten ihm weg und er saß in einer ziemlich uneleganten Pose halb unter dem Tisch. Jetzt fing er an zu greinen.
„Aber das ist unmöglich. Elinor kann gar nicht zurück sein. Ich habe sie doch selbst in der tiefsten Wildnis ausgesetzt. Sie ist längst von wilden Bären und Wölfen zerrissen und ihr Balg mit ihr.“
„So war das also!“ Andur schaute verblüfft auf den bärenstarken Mann, der schniefend wie ein kleines Kind unter dem Tisch hockte. Das blanke Entsetzen war ihm ins Gesicht geschrieben.
„Angstmark hat also tatsächlich Euch allein die ganzen Jahre den Fluch des Königs zu verdanken.“ Er warf ihm einen letzten hasserfüllten Blick zu und verließ die Kammer des Burgvogtes.
Kapitel Einundzwanzig
„Wir müssen uns genau überlegen, was wir tun können.“ Ivetta hatte als erste ihre Fassung zurückgewonnen. „Hier im Ostflügel des Schlosses sind wir einigermaßen sicher. Erstens weiß der Burgvogt nicht genau, wohin Euch Andur gebracht hat.“ Sie streichelte Elinor beruhigend über ihre zitternde Hand. „Ausserdem kommt er sehr selten in diesen Teil des Schlosses. Hier fühlt er sich nur sicher, wenn er seine ganze Leibgarde um sich versammelt hat. Ausserdem fragt er stets vorher Andur, ob die Sterne für ihn günstig stehen. Nur dann wagt er sich, dem König unter die Augen zu treten und ihm seine neuesten Lügen aufzutischen.“
„Halt mal, sagtest du, der König ist hier in der Nähe?“ Elinor war aufgesprungen. „Wo, in welchem Raum ist er. Wir müssen ihn finden. Nur er kann diesem Alptraum ein Ende bereiten!“
Es klopfte an der Tür. Andur und Aira betraten mit feierlicher Miene den Raum. Elinor stürzte auf Aira zu und fiel ihr in die Arme. Und wieder ging ein wohlig warmes Prickeln durch ihren Leib. Ein süßer Schauer erfasste beide Frauen und sie hielten sich umfangen, als wären sie eins. Da ergriff Andur das Wort: „Elinor, hört mir genau zu. Ihr müsst mir eine Frage beantworten. Es ist äußerst wichtig, dass Ihr Euch genau erinnert. Wart Ihr früher schon einmal hier – im Schloss?“
Elinor blickte verstört von einem zum anderen und sank nachdenklich auf den Diwan. Sie schloss ihre Augen und Bilder stiegen in ihr hoch. Bilder wie aus einem anderen Leben.
Und wieder sah sie diesen wunderschönen goldhaarigen Mann mit den strahlend blauen Augen vor sich. Er beugte sich über seine schwangere Frau und küsste sie zärtlich. Und nun konnte sie auch erkennen, wer hinter ihm stand. Es war Andur, der Astrologe. Und er sprach eindringlich auf ihn ein. Und jetzt verstand sie auch, was er zu ihm sagte. Er warnte ihn, er sollte gut auf Elinor aufpassen und sie keine Minute aus den Augen lassen. Denn die Sterne hätten ihm ein furchtbares Vorzeichen gesandt. Er würde Elinor verlieren, wenn er sie nicht Tag und Nacht bewachen ließ. Und da gab der König ihr Aira zur Seite, die Schwester seines Herzensbruders Andur, denn beiden vertraute er bedingungslos. Und auch Elinor liebte Aira sehr.
Doch dann kam der schicksalsschwere Tag, an dem sie mit Aira im Schlosspark spazieren gehen wollte. Sie liefen die Schlosstreppe hinunter und da kam dieser schwarz verhüllte Reiter, schlug Aira über den Kopf, packte Elinor am Arm und riss sie auf sein Pferd. In höllischem Galopp raste er mit ihr davon, in den Wald, immer weiter und tiefer hinein in die Wildnis und immer höher hinauf in die Berge.
Die Königin hatte aufgehört zu schreien und hielt sich krampfhaft an der Mähne des Pferdes fest. Sie durchlitt Todesangst. Dann, nach mehreren Stunden, warf der Räuber sie einfach vom Pferd. Sie fiel auf einen Moos-teppich, umgeben von riesigen, uralten Bäumen mit dicken, knorrigen Stämmen. Im Unterholz raschelte es und verschiedene Tierstimmen kreischten, jaulten und wisperten um sie herum. Der schwarze Reiter gab seinem Pferd die Sporen und überließ sie ihrem Schicksal.
Nach stundenlangem Umherirren, fand sie einen kleinen Bach, an dessen Ufern Büsche mit Beeren wuchsen. Heißhungrig stopfte sie die Beeren in sich hinein, trank Wasser hinterher und dann schwanden ihr die Sinne. -
Elinor hatte stockend gesprochen. So wie ihr die Bilder in ihrem Unterbewusstsein erschienen waren hatte sie die Ereignisse geschildert, wie unter Hypnose. Verwundert hatten Andur, Aira, Ivetta und Severin ihr zugehört, dann redeten alle durcheinander.
„Woher weißt du das alles?“ Severin schrie sie an. „Von diesen Dingen kannst du doch nichts wissen. Das ist über vierhundert Jahre her!“
Elinor hatte die Hände vor ihre Augen geschlagen. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Was erzählte sie denn da? War sie jetzt total verrückt geworden?
„Ich weiß es nicht. Es ist wie ein Traum. Plötzlich steigen in mir Bilder auf, als hätte ich das alles selbst erlebt. Seit ich hier in diesem Schloss bin, geht das schon so. Ich glaube, ich werde wahnsinnig.“
Beruhigend legte Aira die Hand auf Elinors Schulter. „Ihr seid nicht verrückt. Was Ihr da geschildert habt, ist genau so abgelaufen. Jedenfalls bis zu dem Überfall auf der Schlosstreppe kann ich den Ereignissen mit gutem Gewissen zustimmen. Und was dann weiter geschah, kann nur jemand wissen, der dabei war. Ihr müsst Elinor sein, unsere Königin. Es gibt keine andere Erklärung.“
„Aber das ist unmöglich!“ Severin riss Elinor in seine Arme. „Ich kenne dich mein ganzes Leben. Du bist keine Königin aus dem Mittelalter. Du bist Elinor, die Freundin meiner Schwester. Du bist...“Tränen traten in seine Augen, „- meine Elinor, ich liebe dich. Ich gebe dich keinem König. Ich gebe dich überhaupt nicht mehr her!“ Ein herzzerreißendes Schluchzen überfiel ihn, er zitterte am ganzen Körper und hielt Elinor krampfhaft umfangen.
Elinor erstarrte. Jetzt, wo alles zu spät war, hatte Severin ihr seine Liebe gestanden. Noch vor Kurzem hätte sie alles dafür gegeben, ihn zum Manne zu haben. Aber sie hatte seine Verliebtheit zu lange nicht ernst genommen, sie wollte nicht mit ihren Gefühlen spielen lassen. Nicht nach dem schrecklichen Reinfall mit ihrem Lehrer. Und ehe ihr Kind einen Macho als Vater bekam, sollte es lieber ganz ohne diesen aufwachsen.
Aber jetzt hatte sich alles geändert. Nichts war mehr so, wie es den Anschein hatte. Sie hatte sich geändert. Und sie hatte eine Bestimmung. Es war kein Zufall gewesen, dass sie als einzige das Rätsel lösen konnte. Sie war vom Schicksal auserwählt, den Fluch von Angstmark zu nehmen. Und wenn es um den Preis war, die Frau eines Königs zu sein.
Wie in Trance löste sie sich aus Severins Armen und erhob sich.
„Wo ist der König?“ Mit feierlichen Schritten näherte sie sich Andur und Aira.
Kapitel Zweiundzwanzig
Wie von Sinnen hatte sich Roderich angekleidet und stürzte zum Kerker.
„Wo zum Teufel ist der Henker?“ Er brüllte dermaßen, dass die Gespräche unter den Gefangenen verstummten. Panischer Schrecken machte sich breit. Was hatte er vor? Wollte er alle hinrichten lassen? Die kleinen Kinder fingen an zu weinen. Mütter versuchten ihnen zitternd den Mund zuzuhalten und Väter stellten sich schützend vor ihre Angehörigen.
Roderich rannte an den Zellen vorbei und trat die Tür zur Folterkammer ein. Susanna kauerte zitternd in einer Ecke, Hand- und Fußgelenke blutig gerieben von den schweren Ketten. Der Henker hatte ihr aus Mitleid etwas Stroh und eine Decke gegeben, sonst hätte sie die eisige Nacht nicht überlebt. Jetzt kam er schlaftrunken aus seiner Kammer, welche er neben dem Kerker bewohnte und stülpte einen schwarzen Sack mit Augenschlitzen über seinen Kopf.
„Los, Henker, schür das Feuer. Wir setzen die peinliche Befragung fort. Diesmal wird sie antworten, oder sie wird sterben. Den glühenden Zangen wird sie nicht widerstehen.“ Hämisch grinsend blickte er auf Susanna. „Du rote Hexe, gleich wird es dir schön warm!“.
Mit einem Tritt beförderte er ihre Decke an die gegenüberliegende Wand der Kammer. Dann nahm er aus seinem Brustbeutel einen Schlüssel und öffnete die Schlösser an ihren Ketten. Mit roher Gewalt packte er Susanna beim Arm, drehte ihn auf ihren Rücken und stieß sie vor sich her zur Folterbank.
Ihre Schreie schallten durch den Kerker und die anderen Gefangenen hielten die Luft an. Sie konnten nichts sehen, aber dass es einer Leidensgefährtin an den Kragen ging, war nicht zu überhören. Zitternd drückten sie ihre Ohren an die Wand und versuchten zu verstehen, was dort vor sich ging.
Roderich packte Susanna und warf sie auf die Streckbank. Dann band er sie mit Lederriemen darauf fest.
Der Henker hatte inzwischen das Feuer in Gang gebracht und hielt ein Foltereisen hinein, das sich langsam rot färbte. Roderich trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen; das Eisen glühte ihm nicht schnell genug. Wütend packte er Susanna bei den Haaren und zerrte ihren Kopf über die Kante.
„Los, du Hexe, sprich endlich. Was hast du hier vor? Wieso wiegelst du das Volk gegen mich auf? Wo bist du auf einmal hergekommen? Seit hunderten von Jahren kenne ich jedes Lebewesen in Angstmark, aber du bist nie hiergewesen.“
Er schlug ihr brutal ins Gesicht. Aus der aufgeplatzten Lippe spritzte ihm Blut entgegen. „Was weißt du von der Königin? Hast du sie etwa hierher gebracht? Los rede!“
Noch einmal schlug er auf sie ein. Dann war der Henker soweit. Das Eisen glühte weiß. Er riss ihm die Zange aus der Hand und näherte sich Susannas Leib. Sein Gesicht verzog sich zu einem teuflischen Grinsen.
Susanna schrie verzweifelt. Sie sah das glühende Eisen auf sich zukommen und konnte schon die Hitze auf ihrer Haut spüren.
„Ich bin mit Elinor gekommen!“ Ihre schreckgeweiteten Augen starrten in die Teufelsfratze.
„Ah, schon besser. Hast du dich doch entschieden, zu reden. Wo hast du die Königin gefunden? Wer hat euch geholfen, nach Angstmark zu finden? Alle Wege hierher sind seit hunderten von Jahren vernichtet. Los. Rede!“
Susanna überlegte fieberhaft, was sie zu ihrem Schutz antworten konnte. Der Burgvogt würde kein Ausweichen akzeptieren. Doch dann sagte sie natürlich genau das Falsche: „Elinor ist keine Königin. Sie ist ein ganz einfaches Mädchen...meine Freundin. Sie hat das Rätsel in der Zeitung gelöst. Außer ihr hat niemand den Namen der Stadt Angstmark herausbekommen. Und dann wollten wir wissen, was es mit der verwunschenen Stadt auf sich hat und sind hierher gekommen, ich weiß nicht, wie. Erst mit dem Flugzeug, danach mit dem Zug und dann gelaufen. Ein alter Mann hat uns einen Zauberesel gegeben und der hat uns hierher geführt. Und plötzlich standen wir vor dem Stadttor und wurden eingelassen. Es war alles nur ein Zufall!“
„Lügnerin! Es führt kein Weg hierher, auch nicht durch Zufall!“
Roderich setzte den Stahl auf Susannas Brust. Es zischte gewaltig. Ein ohrenbetäubender Schrei aus Susannas Mund, vermischt mit dem Gestank von verbranntem Fleisch, zog durch die Gänge des Kerkers. Susanna war in Ohnmacht gefallen.
Roderich schmiss die Zange ins Feuer und lief wütend auf und ab. „Hält dieses Weib nicht einmal eine kleine peinliche Befragung aus? He, Henker. Hänge sie an den Brüsten auf und peitsche sie solange aus, bis sie die Wahrheit sagt.“
Fluchend verließ er die Folterkammer und rannte durch die Kerkergänge zurück zu seinem Gemach. In den Kerkerzellen war Tumult ausgebrochen. Die Schreie und der Gestank hatten die Gefangenen in panischen Schrecken versetzt. Sie schlugen an die Gitterstäbe, kreischten, heulten und brüllten dem Burgvogt die schlimmsten Flüche hinterher.
Kapitel Dreiundzwanzig
Andur und Aira hatten Elinor in ihre Mitte genommen und sprachen beruhigend auf sie ein.
„Wir dürfen jetzt keinen Fehler machen, sonst ist alles verloren. Ihr könnt nicht einfach zum König gehen und mit ihm sprechen.“ Sie hatten Elinor zu einer Kammer geleitet, welche mit schwarzen Vorhängen verhangen war. An den Wänden hingen große Karten mit Sternbildern. Durch das Fenster ragte ein dickes Fernrohr in den Himmel. Ivetta und Severin waren einfach hinterher gelaufen und staunten über die ungewohnte Ausstattung des Raumes. In der Mitte stand ein großer runder Tisch. Auf ihm lagen unzählige mit Berechnungen beschriebene Blätter Papier.
„Nehmt bitte Platz. Ich werde versuchen, Euch alles zu erklären.“
Andur sah alle der Reihe nach an und überlegte, wie er beginnen könnte. Da kam ihm Elinor zuvor: „Bitte Andur, sagen Sie mir, warum kann ich nicht einfach mit dem König sprechen? War es damals sein Gemach, vor dem ich stand und von dem Sie mich abgehalten haben, hinein zu gehen? Sie sagten damals, es würde mich töten. Wieso?“
Andur nahm eine Karte in die Hand und zeigte sie den Anwesenden. „Dies ist die Sternenkonstellation, welche damals geherrscht hat, als die Königin geraubt worden ist. Nur wenn die Sterne genau so zueinander stehen, wie es damals der Fall war, ist es möglich, das Gemach des Königs gefahrlos zu betreten. Denn dann hat er sein Herz geöffnet für die Rückkehr seiner geliebten Frau. An allen anderen Tagen hat er sich mit einer finsteren Magie umgeben. Sobald dann jemand seine Kammer betritt, schleudert er Blitze auf die Person, die sie unweigerlich zu einem Häuflein Asche verbrennen. Deshalb lässt sich auch der Burgvogt jedesmal von mir die Sterne deuten, bevor er den König besucht.“
„Aber, woher weiß denn der König, wie an jedem Tag die Sterne stehen? Kann er sie denn selbst deuten?“ Elinor blickte Andur skeptisch an.
„Nein, natürlich nicht. Ich deute ihm die Sterne jeden Tag.“
„Aber, dann müssen Sie jeden Tag seine Kammer betreten. Sind Sie denn vor seinen magischen Blitzen gefeit?“
„Ich schütze mich. Ich habe einen besonderen Mantel. Es ist ein Sternenmantel, den ich vor vielen hundert Jahren von einem alten Zauberer geschenkt bekam. Durch diesen können die Blitze nicht hindurch dringen.“ Andur entnahm einer Truhe einen langen schwarzen Mantel mit einer Kapuze und zog ihn an. Der seidige Stoff glänzte und bei jeder Bewegung erstrahlten tausende kleine goldene Punkte wie auf dem Sternenhimmel. Der Astrologe war vollkommen darin eingehüllt, auch sein Gesicht und die Hände waren bedeckt und der Mantel reichte bis auf den Boden. „Die Blitze gleiten an dem Mantel ab und verschwinden in der Erde.“
Severin war auf den Astrologen zugestürzt und betastete das Gewebe, welches sich wie feinstes Metall anfühlte. Mit zitternder Stimme sagte er, völlig verblüfft : „Er hat einen Faradayschen Käfig! Stellt Euch das vor, er hat 250 Jahre vor Faraday diese Entdeckung gemacht! Das ist unglaublich. Und das in einem Zeitalter, wo der elektrische Strom noch gar nicht erfunden war!“
Severin war wie vom Donner gerührt. Auch Elinors Herz schlug höher. „Es ist phantastisch. Das ist die Rettung. Gebt mir Eueren Mantel. Jetzt kann ich gefahrlos dem König gegenübertreten und ihn um Gnade bitten.“
„Nein, nein, so läuft das nicht. Ich werde zu ihm gehen. Ich muss ihn darauf vorbereiten. Er muss wissen, dass die Sterne günstig stehen und dass seine Elinor wieder da ist. Und Ihr müsst ebenfalls auf die Begegnung mit ihm vorbereitet werden. Wir dürfen nicht das geringste Risiko eingehen, sonst vernichtet er uns alle.
Bitte Elinor, ich muss genau wissen, was damals weiter geschah. Nur wenn wir ganz sicher sein können, dass Ihr die Richtige seid, kann Angstmark gerettet werden. Wie seid Ihr, nachdem Euch der Räuber im Wald zurückgelassen hat, da wieder heraus gekommen?“
Elinor überlegte eine Weile. „Ich habe nicht gesagt, dass ich das gewesen bin. Ich habe nur Bilder gesehen, die scheinbar der Königin widerfahren sind. Sie war nach dem Genuss der Beeren ohnmächtig geworden.“ Elinor legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Und wieder zogen Bilder vor ihr auf und wie in Trance berichtete sie weiter: „Als die Königin aufwachte, drehte sich alles in ihrem Kopf. Die Erde schwankte hin und her, auf und ab und sie musste sich erbrechen. Plötzlich wurde sie von zwei kräftigen Armen umfasst und vom Rücken des Pferdes gehoben, welches sie schaukelnd durch die Gegend getragen hatte. Sie blickte in zwei braune lustige Augen in einem runden bartlosen Gesicht. Der junge Mann hatte ein Jägerkappi keck in die Stirn geschoben, unter welchem krause braune Locken zum Vorschein kamen. Er lächelte sie an und stellte sie auf ihre Füße.
‚Na, schöne Frau, seid ihr endlich erwacht? Wie seid Ihr hier in den tiefen Wald geraten? Das ist keine Gegend für eine schwangere Frau. Und dann habt Ihr auch noch von den giftigen Beeren gegessen. Ihr habt Glück, dass Ihr noch am Leben seid.‘
Elinor blickte ihren Retter dankbar an. Dann erblickte sie den Köcher mit den Pfeilen und den Bogen über seiner Schulter. Das Pferd hatte sie sich mit einem erlegten Reh geteilt. Sie zog die Stirn kraus. Er fiel ihr ins Wort, bevor sie ihre Frage stellen konnte.
‚Ich weiß, es ist verboten, hier im Wald zu jagen. Aber was soll ich machen? Ich habe vier kleine Geschwister zu ernähren. Unsere Eltern sind tot und sie haben niemanden ausser mir. Ausserdem hatte es doch auch etwas Gutes. Ich habe Euch gefunden. Jetzt bringe ich Euch erst mal zu mir nach Hause. Dort könnt Ihr Euch ausruhen, etwas essen und dann sehen wir weiter, wie ich Euch helfen kann.‘ Damit hob er sie wieder aufs Pferd.“
Severin war zu Elinor getreten und wollte sie davon abhalten, weiterhin solchen Unsinn von sich zu geben. Andur legte Severin die Hand auf die Schulter, dann bat er Elinor mit ruhiger Stimme zu erzählen, was weiter geschah. Elinor schüttelte ihren Kopf.
„Ich weiß nicht genau. Ich glaube, sie hat durch die giftigen Beeren ihr Gedächtnis verloren und wusste nicht mehr, wer sie war und woher sie kam. Da blieb sie bei dem Wildschützen und kümmerte sich um das Haus und seine kleinen Geschwister. Als die Zeit gekommen war, gebar sie ein Mädchen. Joseph, der Wildschütz, nahm es an Kindes statt an, denn er hatte sich in Elinor, die er aber Maria nannte, verliebt. Er hat ihren richtigen Namen niemals erfahren.
Später, als seine Geschwister erwachsen waren und eigene Familien gegründet hatten, zog er mit Maria nach Hermannstadt. Er hatte schon oft von dieser herrlichen Stadt mit ihren Wällen, Türmen und Zinnen gehört und dass man dort Arbeit finden könnte. Sie zogen in ein kleines Haus und dann heirateten sie in der lutherischen Kirche von Hermannstadt und ließen ihr Kind auf den Namen Kassandra taufen. Kassandra wuchs zu einem wunderschönen Mädchen heran, mit goldenen Locken und strahlend blauen Augen. Sie war das Ebenbild ihrer Mutter.
Als sie heiratete, gebar sie ihrem Mann ebenfalls ein Mädchen, welches ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah. Und so ging es fort, über viele Generationen. Und immer wurde nur ein Mädchen geboren.“
Elinor blickte die anderen verstört an. Plötzlich schlug sie sich mit der flachen Hand an die Stirn.
„Wisst ihr, was mir gerade einfällt? Ich habe in der Hinterlassenschaft meiner Eltern eine Ahnentafel gefunden. Damals habe ich sie mir zwar angesehen, aber mir nichts weiter dabei gedacht. Jetzt erinnere ich mich, dass meine Großeltern nach dem zweiten Weltkrieg von Siebenbürgen nach Deutschland gekommen sind. Sie kamen mit einem größeren Trupp Heimatvertriebener nach Erfurt und wurden dann in verschiedene Städte verteilt. Und auch meine Großeltern hatten nur eine Tochter, nämlich meine Mutter. Und auch ich bin das einzige Kind. Die Ahnentafel ging über 20 Generationen. Kann es denn wirklich sein, dass ich die direkte Nachfahrin der legendären Elinor und König Solodur bin?“
Andur und Aira nickten wissend und legten ihre Arme um Elinor.
„Ihr seid die rechtmäßige Erbin der Krone. So schließt sich der Kreis.“
Severin schaute tief betrübt auf Elinor. „Ich glaube es einfach nicht. Wie kannst du das nur alles wissen? Es klingt wie ein Märchen. Du bist eine Königin?“
„Ja, sie ist die Königin, auf die Angstmark über vierhundert Jahre gewartet hat. Nur sie allein kann das Königreich von dem Fluch erlösen, indem sie sich mit König Solodur vereint und ihm seinen Stammhalter schenkt.“ Aira hatte feierlich ihre Hand auf Severins Schulter gelegt.
„Lieben heißt auch, verzichten.“ Sie blickte ihm ernst in die Augen und er wusste, dass er keine Chance hatte. Es gab keine andere Möglichkeit, wollte er jemals unbeschadet mit seiner Schwester wieder nach Hause gelangen. Elinor war für ihn verloren, sie würde hier bleiben und ihre Bestimmung erfüllen.
Kapitel Vierundzwanzig
Nachdem Roderich den Kerker verlassen hatte, war der Henker an die Folterbank heran getreten und betrachtete Susanna bekümmert. Sie war so zart. Ihr Gesicht war weiß und vor Schmerz verzerrt. Auf ihrer hellen Haut prangte eine hässliche Brandwunde und sie bebte am ganzen Körper. Ihre Zähne schlugen aufeinander und sie blickte ihm flehend durch seine Sehschlitze in die Augen.
Nein, er würde sie nicht an ihren Brüsten aufhängen und sie auspeitschen! Vorsichtig löste er ihre Riemen, hob sie auf und trug sie hinaus in seine Kammer. Dort legte er sie auf seine Bettstatt, befeuchtete ein leinenes Tuch und bedeckte damit ihre Wunde. Dann deckte er sie mit seiner Wolldecke zu und setzte sich zu ihr. Verwundert hatte Susanna alles über sich ergehen lassen und ihr Zittern ließ etwas nach. Dieser Mann wollte ihr nicht weh tun. Langsam nahm der Henker seine Kapuze vom Kopf und sie schaute in ein rundes bartloses Gesicht mit schwarzen Augen, einer schmalen Nase und vollen Lippen, aus denen links und rechts ein dünner Zopf hing. Schwarzes lockiges Haar umrahmte sein offenes Gesicht. Er blickte ihr traurig in die Augen und streichelte zärtlich über ihr zerzaustes rotes Haar.
„Es tut mir schrecklich Leid, was der Burgvogt dir angetan hat. Ich konnte es nicht verhindern.“
„Ich weiß. Es ist dein Job. Wie heißt du?“
„Poldur, und du?“
„Susanna. Und was geschieht jetzt mit mir? Wenn der Burgvogt merkt, dass du mir geholfen hast, wirst du schrecklichen Ärger bekommen.“
Poldur blickte sie lächelnd an. „Mach dir um mich keine Sorgen. Sag, stimmt es, dass die Königin wieder im Schloss ist? Wenn ja, dann wird uns Roderich nichts mehr antun können. Dann ist die Zeit seiner Tyrannei abgelaufen.“
„Ich weiß nicht, wieso Elinor alle für eine Königin halten. Sie ist meine Freundin, die ich mein ganzes Leben lang kenne. Wir sind aus Deutschland hierher gekommen, weil Elinor das Rätsel gelöst hat und Angstmark kennen lernen wollte. Wenn wir gewusst hätten, was hier auf uns zukommt, wären wir niemals hierher gefahren."
Poldurs Gesicht wurde noch um einen Deut trauriger. „Und ich hatte schon Hoffnung, dass jetzt alles ein Ende hat. Wieso ist Roderich bloß davon überzeugt, Elinor ist die Königin? Irgendeinen Grund muss er doch haben.“
„Schau Poldur, wir haben nicht genügend Zeit, darüber nachzudenken. Kannst du nicht dafür sorgen, dass die Gefangenen fliehen können. Du hast doch sicher Schlüssel zu den Zellen.“
„Nein, die habe ich leider nicht, die hat nur der Burgvogt. Aber ich kann dich zu Andur bringen. Das ist der Astrologe und er ist ein erbitterter Feind Roderichs. Seine Schwester Aira kann dich gesund pflegen. Ich werde inzwischen auf dem Friedhof einen Grabhügel schaufeln und Roderich sagen, du seist gestorben.“
Poldurs schwarze Augen blickten sie zärtlich an und Susanna wurde ganz warm ums Herz.
„Warum haben wir uns nicht unter besseren Umständen kennengelernt?“ Susanna legte ihre Arme um Poldur und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals. Sie spürte, wie sein Herz schneller schlug und seine Hände über ihren Rücken streichelten. Sie schob ihre Decke zur Seite und drückte ihren Körper gegen den seinen. Bebend hielten sie sich umfangen. Dann nahm er ihren Kopf zwischen seine Hände, schaute ihr tief in die Augen und gab ihr einen langen Kuss.
„Ich werde ihm niemals wieder als Henker dienen. Und wenn er mich dafür tötet. Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann einmal wieder, in einer besseren Zeit.“
Poldur erhob sich, gab Susanna ein langes Hemd von sich und führte sie heimlich aus dem Kerker hinaus, durch unzählige leere Gänge, treppauf, treppab, bis sie endlich an einer Kammer ankamen, an der er zwei mal kurz und zwei mal lang klopfte. Die Tür wurde geöffnet und ein blondgelocktes junges Mädchen zog die beiden schnell in den Raum.
„Poldur, was machst du hier und wen bringst du da?“
„Ivetta, du musst diesem Mädchen helfen. Sie heißt Susanna und Roderich will sie zu Tode quälen, weil er glaubt, sie hat die Königin ins Schloss gebracht. Er hat sie bereits gefoltert. Sage bitte Aira Bescheid, dass sie sich um die Wunde kümmert. Ich muss mich beeilen, ehe er ihr Verschwinden bemerkt. Er soll glauben, sie sei gestorben. Bitte kümmert euch um sie.“
Noch einmal nahm er Susanna in den Arm und gab ihr zum Abschied einen Kuss. Dann eilte er hinaus, um auf dem Friedhof alles vorzubereiten.
„Du bist also Susanna. Ich habe schon viel von dir gehört und ich bin froh, dass du da bist. Elinor und Severin haben sich schon große Sorgen um dich gemacht." Ivetta hatte ihren Arm um Susannas Schultern gelegt und sie zu einem Diwan geleitet.
„Leg dich hier her und ruh dich aus. Ich hole Aira, sie wird dir einen Verband anlegen.“ Mit diesen Worten wollte sie davoneilen, aber Susanna hielt sie zurück.
„Sind Elinor und Severin auch hier? Geht es ihnen gut? Bitte bring sie zu mir, ich muss sie vor dem Burgvogt warnen. Er glaubt, Elinor sei die Königin. Sie ist in Lebensgefahr!“
Ivetta legte beruhigend ihre Hand auf Susannas Arm.
„Ich weiß. Hab keine Angst, jetzt wird alles gut.“
Kapitel Fünfundzwanzig
Elinor betrachtete sich im Spiegel. Ihr Gewand war ungewohnt, unbequem und viel zu kostbar. Aira hatte sie eingekleidet wie eine richtige Königin. Unzählige Bahnen Stoff, mit Goldstickereien verziert und in Fältchen drapiert, umhüllten ihren Körper. Ihr Haar war zu einer hohen Lockenpracht aufgesteckt und wurde von einem breiten goldenen Reif gehalten. Das Make-up hatte allein eine Stunde gedauert und Elinor traute sich kaum, sich zu bewegen.
Heute nun sollte der große Tag sein. Die Entscheidung, ob Angstmark von seinem Fluche befreit würde, stand unmittelbar bevor. Sie durfte jetzt keinen Fehler machen. Andur war seit Stunden beim König, um ihm die Sterne zu deuten und auf das Ereignis, auf das er seit 439 Jahren wartete, vorzubereiten.
Dann betrat er ihr Gemach, schaute sie ernst an und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Der König ist bereit, seid Ihr es auch?“
Elinor erschauerte. Sie nickte und hielt sich mit zitternden Händen an Aira fest. „Bitte, lasst mich jetzt nicht allein. Ich habe Angst. Was wird geschehen, wenn ich ihm gegenübertrete?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich kann Euch nicht begleiten. Jetzt liegt unser aller Schicksal allein in Eurer Hand. Ich kann nur beten.“
Sie gab Elinor einen Kuss auf die Stirn und bedeutete ihr, sie solle Andur folgen. Mit klopfendem Herzen und weichen Knien schlich Elinor hinter dem Astrologen her. Jetzt hätte sie eine Welt dafür gegeben, niemals im Leben ein Rätsel gelöst zu haben.
Dann standen sie vor der Tür, die Elinor schon einmal so magisch angezogen hatte. Und wieder verspürte sie dieses Kribbeln auf der Haut und einen unbändigen Druck im Hals, der ihr fast die Luft nahm. Röchelnd hielt sie sich an Andur fest und fasste nach ihrem Hals. Ihre Zunge schien anzuschwellen und wurde zu einem riesigen Kloß. Sie riss den Mund auf, schnappte nach Luft, würgte und erbrach sich.
Andur hatte schnell reagiert und hielt ihr ein Gefäß vors Gesicht. Und wie staunte sie, als sie erkannte, dass all ihre Haare aus dem Mund in das Gefäß fielen. Andurs eisgraue Augen hatten einen warmen Goldton angenommen, als er seine Vermutung bestätigt sah. Ja, er hatte Recht. Elinor war die Königin. Es würde nichts schief gehen. Er klopfte ein vereinbartes Zeichen an die Tür und öffnete sie. Dann schob er Elinor hinein und schloss sie hinter ihr. Diesen Augenblick musste sie allein durchstehen.
Kapitel Sechsundzwanzig
Roderich lief zum dritten Mal den Kerkergang entlang und blickte in jede Zelle und in die leere Folterkammer. Er brüllte nach dem Henker, dass sich seine Stimme überschlug und erntete nur eisiges Schweigen. Die Gefangenen drückten sich eng aneinander und starrten ängstlich auf den Tyrannen. Dieser schäumte vor Wut und suchte sich bereits ein Opfer aus, als die Hintertür aufging und Poldur mit Lehm an Händen und Schuhen herein stapfte. Er klopfte seinen Wams aus und blickte dem kreischenden Burgvogt mutig entgegen.
„Wo treibst du dich herum und wo ist die rote Hexe?“
„Sie ist tot und ich habe sie begraben.“ Poldur tat unbeteiligt und Roderich gewahrte nicht das leise Zittern in seiner Stimme.
„Verdammt, verdammt, verdammt. Wieso ist sie tot? Hast du sie tot geprügelt? Hat sie noch etwas gesagt? Los rede!“
Er fuhr Poldur mit seiner Riesenfaust an den Kragen und rüttelte ihn. Der Henker zuckte mit den Schultern und schüttelte leicht seinen Kopf.
„Nichts, was Euch gefallen würde.“
„Was – rede! – was hat sie gesagt?“
„Sie...“ Poldur blickte mit rotem Kopf zu Boden. „Sie – hat Euch verflucht.“
Roderich wurde bleich. Die Hexe hatte ihn verflucht , ehe sie starb. Diesen Fluch konnte keiner zurücknehmen. Was würde jetzt geschehen? Gegen Flüche und Magie war selbst er nicht gefeit. Niemand konnte ihm mehr helfen. Er war verdammt bis in alle Ewigkeit!
Mit einem Mal war alle Energie aus ihm gewichen und eine eisige Faust umkrampfte sein Herz. Er taumelte zurück und hielt sich mit zitternden Händen an den Stäben einer Kerkerzelle fest. Die Beine knickten ihm weg und er rutschte mit dem Rücken an den Stäben entlang zu Boden.
Von dieser unerwarteten Wende ermutigt, riss sich einer der gefangenen Familienväter das Hemd vom Leib, legte es dem bebenden Burgvogt um den Hals und verknotete es fest mit dem Gitter. Roderich leistete keinen Widerstand. Poldur entwand ihm den Kerkerschlüssel und öffnete die Zellen. Unter Freudengeheul stürzten sich die Befreiten auf den Burgvogt und schlugen auf ihn ein, bis er keinen Atemzug mehr von sich gab. Seinen Leichnam trugen sie triumphierend durch das ganze Schloss und dann hinaus in den Schlossgarten. Dort suchten sie sich einen großen Baum und hängten den verhassten Tyrannen an den stärksten Ast. Niemals mehr würde er die Menschen quälen können.
Kapitel Siebenundzwanzig
Elinor blieb in dem großen Raum stehen, der mit diversen Möbeln, Gobelins und Bildern vollgestopft war. Mit klopfendem Herzen sah sie sich um.
An einer Wand stand ein dunkelbrauner verzierter Schrank, dessen Türen mit Intarsien aus Elfenbein und Perlmutt ausgelegt waren. Es war ihr Schrank, der zu Hause jedes Mal ein Kribbeln in ihr erzeugte, wenn sie hinein sah!
Um den ovalen Tisch, der ebenfalls mit filigranen Intarsien bestückt war, standen die sechs hochlehnigen Stühle mit brokatenen Kissen.
Der Tisch war für zwei Personen gedeckt, mit goldenen Tellern und Bestecks, Pokalen und Karaffen.
Mehrere Diwane in der gleichen Machart wie die Stühle, standen verteilt im Raum. Jetzt wusste sie, wie ihre Möbel im Original ausgesehen hatten. Zärtlich strich sie mit der Hand über die Bezüge.
Auf golddurchwirkten Gobelins an den Wänden waren Jagdszenen abgebildet. Mit langen Spießen wurden Bären und Wölfe zur Strecke gebracht, für Elinors Geschmack ziemlich grausige Szenen. An der Decke prangten bunte Fresken, abgelöst von Stuckornamenten und nackten, steinernen Engelchen. Die Fenster waren mit schweren Brokatvorhängen umrahmt. Elinor drehte sich zur anderen Seite und gewahrte einen riesigen Kamin, in dem ein lustiges Feuer prasselte. Neben dem Kamin war ein Alkoven mit einem Vorhang verdeckt. Sie trat darauf zu und zog ihn mit zittrigen Händen zur Seite.
Über einem breiten Bett mit silberglänzenden Kissen und Decken befand sich ein mannshohes Bild mit zwei Personen darauf. Wahrscheinlich das Königspaar. Sie trat näher und ... erstarrte.
Sie blickte in ihr eigenes Gesicht. Die Frau auf dem Bild war ohne Zweifel Königin Elinor. Sie hatte die gleiche hohe Lockenfrisur mit dem goldenen Reif im Haar und das gleiche Gewand an, in das Aira sie gekleidet hatte. Neben ihr stand ein Mann, groß und schön, mit breiten Schultern, sehnigen, muskulösen Armen, schmalen Hüften, in einen golddurchwirkten Wams gekleidet, mit schneeweißen Kniehosen und einem mit Diamanten besetzten Reif in den goldenen Haaren. Seine strahlend blauen Augen blickten sie zärtlich an. Ein Gesicht, in dem alles stimmte, die hohen Wangenknochen, die schmale, gerade Nase und der weiche Mund, der wie zu einer Liebeserklärung leicht geöffnet war. Es war der Mann aus ihrem Traum, König Solodur, den ihr auch der Spiegel gezeigt hatte.
Elinors Puls raste. Wenn sie alles erwartet hatte, das jedenfalls nicht. Wie konnte das sein? Wie konnte die Königin ihr genaues Ebenbild sein? Auch wenn sie zu ihren Vorfahren gehörte, immerhin waren zwanzig Generationen zwischen ihnen. Sie spürte ihre eiskalten Hände kaum noch, die Beine drohten ihr wegzuknicken. Da hörte sie leise Schritte hinter sich. Warme Hände legten sich auf ihre Schultern und drehten sie ganz langsam um.
Steif vor Entsetzen ließ sie es geschehen. Und dann blickte sie in das Gesicht, das sie eben noch auf dem Bild bewundert hatte. Zwei wunderschöne strahlendblaue Augen sahen sie ernst und zugleich mit so viel Liebe an, dass ein Stromstoß durch ihren ganzen Körper fegte. Dieser Mann war ihr Leben, keinem anderen hatte sie jemals gehört und würde sie jemals gehören. Er zog sie an sich, seine Lippen öffneten sich zu dem Kuss, den sie ihr Leben lang nie mehr vergessen würde. Sie sanken in die Kissen, er streichelte sie zärtlich und sie bebte ihm entgegen, wurde eins mit ihm und wurde von der höchsten Glückseligkeit übermannt. Niemals, niemals mehr würde sie sich von ihm trennen.
Eine kleine Ewigkeit verging. Ihr Kopf lag an seiner Schulter und er betrachtete sie versonnen. Seine warme Hand lag auf ihrem gewölbten Leib und streichelte ihr ungeborenes Kind. Und dieses regte sich, als wollte es sagen: „jetzt ist alles gut. Jetzt habe ich meine Familie gefunden.“
Es bedurfte keiner Worte zwischen ihnen. Es war, als hätte es nie eine Trennung gegeben, ihre Seelen waren eins, jeder wusste vom anderen genau, was er dachte und fühlte.
Und jetzt fühlte Elinor Hunger in sich aufsteigen. Lächelnd erhob sich Solodur und zog sie mit sich. Sein Arm löste sich keinen Augenblick von ihr, als hätte er Angst, sie jemals wieder gehen zu lassen. Eng umschlungen traten sie an den Tisch heran. Mit einem langen, heißen Kuss ließ er sie endlich auf einen Stuhl sinken und zog an einer Glocke.
Als hätten sie nur auf dieses Signal gewartet, betraten mehrere Köche, beladen mit silbernen Tabletts, den Raum. Gebratener Fasan mit Pilzen, mehrere Sorten Gemüse, weißes Brot mit Honig und noch so allerlei Köstlichkeiten wurden vor dem Königspaar aufgebaut. Aus einer kristallenen Karaffe schenkte Solodur seiner Elinor persönlich goldenen Wein ein und hielt ihr das Glas hin.
„Auf eine glückliche Zukunft, die uns niemals wieder trennen möge.“
Mit warmen Herzen und glänzendem Blick stieß Elinor mit ihm an. Ja, das war es, was sie wollte, worauf sie ihr ganzes Leben gewartet hatte. Ein Rätsel hatte ihr diesen Mann geschenkt, ein Rätsel, das nur sie lösen konnte, denn es war ihre Bestimmung, diesen Mann und damit ein Königreich zur retten.
„Solodur ...?“
„Ja, mein Herz?“
„Ich weiß, es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, aber ...“
„Was meinst du? Wir haben alle Zeit der Welt. Jeder Zeitpunkt mit dir ist genau der Richtige.“
„Mein König ... „ Elinor fasste seine Hand und drückte sie zart. „Ich kann nicht hier sitzen und in aller Ruhe essen, während da draußen ...“
„Was ist da draußen, Geliebte? Die Sonne scheint, die Vögel singen, es ist ein herrlicher Tag. Nach dem Mahl werden wir in den Garten gehen und die Natur genießen. Oder ... fühlst du dich nicht wohl?“ Besorgt legte er die Hand auf ihren Bauch.
„Nein, nein, das ist es nicht. Es ist ... der Fluch.“
Ein Schatten legte sich auf Solodurs Gesicht. „Ach das ... , was ist damit?“
„Bitte, hebe den Fluch auf. Lass die Menschen endlich wieder leben, lass die Kinder wachsen, die Erwachsenen alt werden, die Alten sterben und vor allem, die Schwangeren ihre Kinder gebären. Es ist so viel Leid in Angstmark.“
„Oh, Elinor! Du weißt nicht, wieviel Leid in mir ist. Das Liebste, was ich hatte, ist mir genommen worden. Ich konnte nicht leben und nicht sterben ohne dich und unser Kind. Wer auch immer dich von mir genommen hat, soll für ewig in der Hölle schmoren. Nur diesem Mann hat Angstmark den Fluch zu verdanken. Und solange ich nicht weiß, wer er ist, kann ich den Fluch nicht von den Menschen nehmen.“
„Ich werde dir sagen, wer er ist. Und glaube mir, es fällt mir nicht leicht, denn ich habe es heute selbst erst erfahren. Dass er ein hartherziger Tyrann ist, der das Volk ausblutet und die Gefangenen, die sich gegen ihn wehren, foltert, wusste ich, aber niemals hätte ich geglaubt, dass er zu dieser Schandtat fähig wäre.
Roderich hat sich die ganzen Jahre in dein Vertrauen geschlichen und in deinem Namen das Volk unterdrückt. Und er hat ein wunderbares Leben geführt, mit rauschenden Festen, Wein und Drogen. Er hat sich die jungen Mädchen aus deinem Reich geholt und sie zu seinen Kurtisanen gemacht. Sie mussten ihm und seinen Vasallen jederzeit zu Diensten sein und durften nie wieder zu ihren Familien zurückkehren. Er hat geschaltet und gewaltet, als wäre er der König, während du in deiner Kammer saßest und trauertest. Jetzt weißt du, wem du das alles zu verdanken hast. Und wären Andur, Aira und Ivetta nicht gewesen, die mich vor dem Burgvogt in Sicherheit brachten, so wäre es mir nicht besser ergangen, als all den anderen Mädchen.“
Solodur hatte sich bei ihren Worten erhoben und halb von ihr abgewendet. Sein Gesicht wirkte grau und eingefallen. Wieso hatte er Roderich all die Jahre vertraut, wieso hatte er ihm seine Lügen geglaubt und nicht auf Andur gehört, der ihn ständig vor dem Burgvogt gewarnt hatte? Er hätte sich selbst mehr um sein Reich kümmern müssen. Roderich hatte ihm die Fäden aus der Hand genommen und er war noch froh darüber, dass er sich ganz seiner Trauer widmen konnte. Roderich hatte ihn betrogen, er hatte ihm das Liebste genommen, um selbst an die Macht zu gelangen.
Und er, der König, war darauf hereingefallen und hatte diesen Satan noch mit sämtlichen Rechten ausgestattet. Nun, das würde er sofort ändern. Er würde Roderichs Kopf auf einen Spieß stecken lassen und auf der höchsten Zinne seines Schlosses aufpflanzen. Und dann würde er seinen ungerechten Fluch zurück nehmen, die Gefangenen frei lassen, dem Volk seine Kinder und seinen Besitz zurückgeben, welchen sie sich mit ihren Händen erarbeitet hatten. Und er würde zurückgezogen und bescheiden mit seiner Frau und seinem Kind glücklich bis ins hohe Alter leben.
„Du hast Recht, Liebes. Ich habe einem Teufel vertraut. Und ich habe großes Unrecht an den Menschen getan, die mir ergeben waren. Ich werde es wieder gut machen und ich werde als König abdanken. Mit dieser großen Schuld muss ich leben. Willst du trotzdem zu mir stehen und mir dabei helfen?“
Elinor warf sich glücklich in seine Arme. „Ja, das will ich.“
„Dann lass uns gehen und das Unrecht wieder gutmachen.“
Kapitel Achtundzwanzig
Solodur hatte seine ergebensten Untertanen zu sich gerufen und verkündete ihnen seine Entscheidung. Um die festlich gedeckte Tafel hatten sich Andur und Aira, Ivetta, Susanna, Severin und Poldur und natürlich seine geliebte Elinor versammelt. Diesen engsten Vertrauten wollte er als erstes seine Entscheidung kundtun. Feierlich hob er sein Glas, blickte jedem einzelnen wie um Entschuldigung bittend in die Augen und begann seine Rede.
„Ich bin euch all die Jahre kein guter König gewesen. Ich habe mein unschuldiges Volk mit einem Fluch belegt und in die Hände eines Tyrannen gegeben. Diese Schuld werde ich mein Leben lang tragen müssen und ich werde dafür sühnen. Keinem Menschen ist es erlaubt, Gott zu spielen und in das Schicksal der Menschheit einzugreifen. Ich habe egoistisch und verantwortungslos gehandelt und bin nicht würdig, euer König zu sein. Ich werde den Fluch vom Volke nehmen, es für all sein Leid entschädigen und mich mit Elinor, meiner geliebten Frau, die trotz alledem zu mir steht, in die Askese zurückziehen.
Aus dem Schloss soll eine Kirche werden, die jedem Manne, jeder Frau und jedem Kinde zugänglich ist und in der jeder Mensch Hoffnung und Friede findet. Ich will den Bedürftigen helfen, die Hungrigen speisen und die Kranken heilen. Niemals soll ein Mensch mehr unter Tyrannei und Ausbeutung zu leiden haben.“
Ein Gemurmel wurde unter den Zuhörern laut. Sie blickten sich ratlos an und dann kamen die ersten Einwände.
„Aber das Volk braucht einen König. Es muss geführt werden.“
„Ihr könnt Euch jetzt nicht aus Eurer Verantwortung zurückziehen.“
„Das Volk hat Euch immer geliebt. Es hatte unter Roderich zu leiden, nicht unter Euch. Ihr müsst das Werk Eures Vaters fortsetzen. Jetzt, wo Eure Elinor wieder da ist und Euer Stammhalter geboren wird. Er ist der rechtmäßige Erbe der Krone.“
Ein Schrei unterbrach die allgemeine Verwirrung. Elinor hatte sich an den Bauch gefasst und war kreidebleich geworden. Ein unsäglicher Stich war ihr durch den Leib gefahren. Aira sprang hinzu, umfasste Elinor und geleitete sie zu einem Diwan. Sie hatte sie noch nicht richtig darauf gebettet, schon wurde Elinor vom nächsten Krampf krummgezogen.
„Schnell, Ivetta, hol Tücher und heißes Wasser. Das Baby will dabei sein und den König an seine Pflichten erinnern.“
Ivetta stürzte hinaus und kam nach wenigen Minuten mit den befohlenen Dingen zurück. Die Abstände der Wehen waren inzwischen immer enger geworden und Aira bat die Männer, den Raum zu verlassen. Nur Solodur ließ sich nicht von ihr hinaus schicken. Er setzte sich zu Elinor auf den Diwan und bettete ihren Kopf auf seine Knie. Zärtlich strich er ihr das Haar aus dem Gesicht und wischte ihr mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Er wollte dabei sein, wenn das Wunder geschah. Elinor beruhigte sich und er gab ihr einen Kuss auf ihre trockenen Lippen. Dann kam die nächste Wehe und sie grub ihre Nägel in seine Hände. Etwas riss in ihr und sie fühlte die Feuchtigkeit zwischen den Beinen. Nun musste alles sehr schnell gehen. Ivetta drückte ihre Knie auseinander und Aira rieb kräftig massierend ihren Leib. Elinor erinnerte sich, irgendwann einmal etwas von Atemtechnik gehört zu haben und fing an, zu hecheln. Jetzt kamen die Wehen stoßweise. Aira kniete über ihr und drückte das Kind in den Geburtskanal. Ein unmenschlicher Schrei entfuhr Elinors Lippen, dann war der Kopf des Kindes frei. Aira packte mit geübten Griffen das Köpfchen und nach zwei weiteren Wehen hielt sie das kleine Menschlein in ihren Armen. Es gab einen kläglichen Laut von sich. Aira wischte ihm Mund und Nase frei und da begann es zu plärren. Lachend wusch sie den kleinen Körper sauber, durchtrennte die Nabelschnur und wickelte es in ein molliges Laken. Dann legte sie das Kind in Elinors Arm.
„Es ist ein Knabe. Und es ist alles dran, er ist gesund und ein strammer Bursche.“
Elinor schaute glücklich von ihrem Sohn zu Solodur und wieder zurück. „Es ist ein Sohn, ein Sohn ... seit zwanzig Generationen wurde in meiner Familie kein Sohn mehr geboren. Solodur, das ist ein gutes Zeichen.“
Kapitel Neunundzwanzig
Die befreiten Gefangenen lagerten im Schlossgarten vor der großen Freitreppe. Es waren über hundert Männer, Frauen und Kinder, die in Decken eingehüllt, die ausgeteilte Suppe genaßen.
Nachdem Poldur und Susanna ihnen mitgeteilt hatten, die Königin sei wieder im Schloss und habe sich mit Solodur vereint, waren sie nicht in ihre Hütten zurück gekehrt, sondern feierten den Tod des Tyrannen Roderich. Poldur war ihr ausgemachter Held, denn mit seiner Schlauheit hatte er den Burgvogt überrumpelt und dadurch ihre Befreiung ermöglicht. Das erste Mal in der Geschichte Angstmarks hatten sie gewagt, sich gegen ihren Herrn zu wehren und als sie nun noch von der Geburt des Stammhalters erfuhren, war ihre Freude grenzenlos. Denn es beendete die lange Zeit des Stillstands, der Ungewissheit und der Mutlosigkeit.
Susanna und Poldur hatten sich auf den Weg gemacht, um allen Einwohnern Angstmarks die frohe Botschaft zu verkünden und die Menschen ins Schloss zu einem großen Fest einzuladen, bei dem der König endgültig seinen Fluch aufheben wollte.
Severin hatte den Gardisten die Nachricht überbracht, dass sie von nun an freie Männer wären, die zu ihren Familien zurückkehren können. Daraufhin hatten sie ihre Uniformen abgelegt, zu einem großen Scheiterhaufen aufgeschichtet und ein Freudenfeuer angezündet, um das sie tanzten und sangen.
Ivetta hingegen war zu den Kurtisanen und Sklavinnen im Schloss geeilt und hatte auch hier mit ihrer Botschaft einen Freudentaumel ausgelöst. Die Mädchen, welche unter den Gardisten ihre Liebsten gefunden hatten, eilten zu diesen und sangen und tanzten gemeinsam bis in die frühen Morgenstunden. Die anderen aber waren zu den Hütten ihrer Familien geeilt, um diesen endlich wieder in die Arme zu fallen. Auch Ivetta war unter jenen und das Wiedersehen mit ihrer Mutter, der alten Fetta, war überwältigend. Sie konnten es kaum fassen, sich nach so vielen Jahren unbeschadet in den Armen zu halten.
Susanna verbrachte die Nacht mit Poldur in seinem Elternhaus. Hier war die Freude doppelt groß, denn nicht nur die verlorenen Söhne waren heimgekehrt; Susanna war die Heldin und Befreierin der ganzen Stadt, die als rote Hexe in die Ortschronik eingehen sollte. Und dass Poldur und Susanna sich ineinander verliebt hatten, war die Krönung des Ganzen.
Doch so groß die Freude auch war, ein Schatten lastete auf Susannas Seele. Wie sollte die Zukunft aussehen? Ihr war klar, dass sie so schnell wie möglich mit ihrem Bruder nach Hause wollte, wenn das hier alles vorbei war. Doch was würde aus ihrer Liebe zu Poldur? Würde sie ihn mitnehmen können?
Sie lag in seinen Armen und blickte versonnen zu ihm auf. Die Züge in seinem lieben Gesicht waren gelöst, die schönen schwarzen Augen, mit denen er ihre Gefühle zum Überschwappen gebracht hatte, waren geschlossen. Er atmete ruhig und gleichmäßig und auf seinen vollen Lippen deutete sich ein Lächeln an. Susanna fuhr ihm mit den Fingerspitzen durch das schwarze lockige Haar. Sie konnte sich nicht satt sehen an diesem wunderbaren Mann, der ihre erste große Liebe war. Seine Nähe und seine Wärme gaben ihr ein Gefühl von ewigem Glück und unabwendbarem Verlust.
Er war ein Mann aus dem 16. Jahrhundert und sie würde ihn ins 21. Jahrhundert mitnehmen. Würde er diesen Kulturschock verkraften? Konnte sie ihm das überhaupt antun? Aber sie selbst? War sie sich im Klaren, was es anderenfalls für sie bedeuten würde? Sie müsste hier bei ihm im Mittelalter bleiben und ein Leben ohne die gewohnten Errungenschaften der Menschheit verbringen, ohne Strom und Gas, ohne Autos und Handys, ohne eine heiße Dusche, ohne Computer und ihren geliebten Zeitungsjob, ja ohne die selbstverständlichsten Annehmlichkeiten ihrer Komfortgesellschaft. Würde ihre Liebe das auf Dauer verkraften? Sie musste sich entscheiden. Aber nicht jetzt, nicht in dieser Nacht. Dies eine Mal noch würde sie ihr Glück genießen.
Sie kuschelte sich eng an Poldur und dieser legte seine Arme um sie, hielt sie umfangen in seinem herrlichen Duft nach Männlichkeit und animalischer Sinnlichkeit. Wenn diese Nacht doch nie ein Ende hätte! Doch genau das durfte sie sich auf keinen Fall wünschen.
Denn das „Nie ein Ende haben“ durfte es in Angstmark niemals wieder geben.
Kapitel Dreißig
Am nächsten Morgen hatte sich das gesamte Volk von Angstmark vor der großen Schlosstreppe versammelt.
König Solodur stand mit seiner geliebten Frau Elinor auf der obersten Stufe und blickte feierlich auf die Anwesenden. Elinor hatte ihr Kind im Arm. An ihrer Seite standen Susanna mit Poldur und Severin.
Susanna hatte Poldur ihre Entscheidung mitgeteilt. Es war ihr nicht leichtgefallen, aber sie hatte ihm so schonend wie möglich beigebracht, dass es ihr unmöglich war, bei ihm zu bleiben. Und er hatte sogar ein gewisses Verständnis gezeigt, auch wenn es ihm unendlich schwer fiel, sich damit abzufinden.
So war Susanna noch einmal zur alten Fetta gegangen, hatte sich von ihr verabschiedet und ihr für alles gedankt. Dann hatte sie ihre Sachen in den Rucksack gepackt, war zu Weinor in die Herberge gelaufen und hatte sich das Gepäck von Severin und Elinor aushändigen lassen. Auch wenn Elinor sie nicht begleiten würde, so sollte sie doch wenigstens eine kleine Erinnerung an ihr früheres Leben behalten.
Andur und Aira, welche zur rechten Seite des Königs standen, hoben ihre Arme und das Volk verstummte. Erwartungsvoll blickten sie auf das Königspaar, welches ihnen freudestrahlend ihren Stammhalter präsentierte. Dann erhob der König seine Stimme.
„Viele hundert Jahre habt ihr, mein Volk, unter einem ungerechten Fluch gelitten. Den wahren Schuldigen, der mir meine geliebte Elinor genommen hatte, habt ihr selbst gerichtet. Durch ein großes Wunder ist meine Elinor nicht ums Leben gekommen, als Roderich sie entführte und den wilden Tieren zum Fraß vorwarf. Es war der Burgvogt, dem ich all die Jahre vertraute und der mir das Herz gebrochen, mich verraten und damit euch, mein geliebtes Volk, in Elend und Verzweiflung gestürzt hat.
Doch die Schuld trifft nicht nur ihn. Denn der Fluch kam aus meinem Munde. Ich habe euch für die Schandtaten des Verräters büßen lassen. Und das werde ich mir niemals verzeihen.
Als König habe ich die Pflicht, mein Volk zu schützen und zu nähren, es in seiner Entwicklung zu fördern und ihm Sicherheit zu geben. Als König habe ich versagt. Durch den Verlust Elinors hatte ich nur noch mein eigenes Leid vor Augen und sah nicht das Elend, in das ich mein Volk gestürzt habe. Wenn ich könnte, würde ich die Zeit zurückdrehen und das Geschehene ungeschehen machen. Aber das kann ich leider nicht.
Doch eines kann ich, euch um Verzeihung bitten. Und euch all eueren Besitz, den ihr mit euerer Hände Arbeit geschaffen habt, zurück geben. Geht in eure Häuser zurück und seid ein freies Volk. Der Name Angstmark soll niemals wieder ausgesprochen werden. Ihr seid freie Bürger von Neumarkt. Arbeitet für eueren eigenen Wohlstand, liebt euch und bekommt Kinder. Und wenn ihr Hilfe braucht, werde ich jederzeit für euch da sein. Denn einen König braucht ihr nicht. Aber ich will euer Lehrer sein, euer Arzt, euer Helfer in der Not, euer Freund. Mein Schloss soll eine Kirche werden, in der ihr Hoffnung und Frieden findet. Der Fluch sei von euch genommen.“
Der Bann war gebrochen. Elinor sah, wie das Volk anfing zu jubeln, sich dann an die Hälse griff und hustete und spuckte und wie alle Haare aus den Mündern verschwanden, zu Boden fielen und einen dicken Teppich bildeten, der sich augenblicklich in einen blumenübersäten Rasen verwandelte. Überglücklich fiel sich das Volk in die Arme, Tränen des Glücks
wurden vergossen und dann hörte man die ersten Schreie der hochschwangeren Frauen, die endlich ihre Kinder gebaren. Die Musik ertönte, das Volk tanzte und sang. Elinor und Solodur sahen sich glücklich an.
Susanna und Poldur hielten sich in den Armen und gaben sich einen langen Kuss. Niemals im Leben würden sie sich vergessen.
Andur und Aira traten auf Severin zu und nahmen ihn in die Arme. Der Abschied war gekommen. Severin musste nun mit seiner Schwester Neumarkt verlassen und in seine Heimat zurückkehren. Schweren Herzens schritt Severin auf Elinor zu, um sich von ihr zu verabschieden. Und auch Elinor fiel der Abschied nicht leicht. Solodur spürte, dass er diesen schmerzlichen Augenblick nicht stören durfte und trat einen Schritt zur Seite.
Severin fasste Elinor bei den Händen und sah sie liebevoll an.
„Ich wünsche dir alles Glück auf Erden. Du hast es verdient, eine Königin zu sein. Niemals werde ich dich vergessen, denn in meinem Herzen werde ich immer bei dir sein.“
Severin drückte seine Lippen auf Elinors Hand und verbeugte sich dann vor Solodur, der mit Tränen in den Augen dem Abschied zugesehen hatte.
Da lief ein Zittern über den Boden, alles schwankte um sie herum, die Luft verdichtete sich und fing an zu wirbeln. Erst langsam, dann schneller und immer schneller. Wie in einem viel zu schnell abgespulten Film kreisten Bilder um sie herum. Einzelne von ihnen konnte Elinor erkennen.
Sie lief mit Solodur durch die Straßen der Stadt und die Häuser sahen sauber und ordentlich aus. Sie waren frisch gestrichen, die Dächer neu gedeckt und überall glänzten Fensterscheiben, in denen sich die Sonne spiegelte. Kinder spielten in den Gassen und winkten ihnen lachend zu.
Dann saß Solodur am Bett eines Kranken und hielt dessen Hand. Er sprach ihm Mut zu, legte ihm die Hand auf die Stirn und seine glasigen Augen wurden wieder klar, sein Gesicht bekam Farbe und er erhob sich geheilt.
Elinor fand sich in einem ganz neuen Gebäude wieder. Es war eine Schule mit hohen Fenstern, einer großen schwarzen Tafel und Bankreihen, auf denen die Kinder Neumarkts hockten und zu ihr nach vorn blickten. Sie gab ihnen Unterricht in künstlerischen Dingen, wie Schneidern und Zeichnen und sie wechselte sich mit Pratt ab, der den Kindern Schreiben, Lesen, Geschichte und Mathematik beibrachte.
Sie sah ihren Sohn, den sie Severin genannt hatte, zu einem kräftigen jungen Mann heranwachsen, der beliebt war bei allen Menschen, mit den Jungen seines Alters Fußball spielte, auf die Felder zum Pflügen ging und den Mädchen den Kopf verdrehte.
Sie sah sich auf der Hochzeit ihres Sohnes tanzen. Die Braut war ein junges hübsches Mädchen mit langem blonden Haar. Es war Maria, die Tochter von Ivetta. Solodur hatte seinem Sohn den Siegelring von Neumarkt an den Finger gesteckt und ihm den Auftrag gegeben, sein Leben für das Wohl des Volkes einzusetzen.
Maria gebar ihrem Mann eine Tochter. Sie nannte sie Kassandra.
Elinor sah sich alt werden und auf einer Bettstatt liegen. Mit zittrigen Fingern griff sie nach einer Hand und dann sah sie, dass es Solodur war, der bei ihr stand. Sie lächelte ihn an, denn sie war glücklich. Sie hatte ihr Leben gelebt, an der Seite des Mannes, der ihre große Liebe war und sie niemals enttäuschte.
Solodur, der Feenmann war um kein Jahr gealtert; genauso groß und schön wie am ersten Tage, als sie vor ihm stand, mit blonden Locken und blauen Augen, die sich jetzt mit Tränen füllten. Er beugte sich zu ihr, strich mit seiner Hand liebevoll über ihr Haar und sie schloss zum letzten Mal ihre Augen. Dann trug er sie zu Grabe.
Immer schneller und schneller blitzten die Bilder vor ihr auf. Sie sah kriegerische Kämpfe, Reiter auf ihren Pferden, die tödlich verwundet ins Gras stürzten und von Müttern und Ehefrauen beweint wurden.
Eine Hungersnot wechselte die nächste ab.
Tausende Pestkranke wurden auf hohen Wagen weggefahren.
Und wieder war Krieg, doch diesmal waren es Panzer und Flugzeuge, die ihre tödliche Last abwarfen.
Die Häuser wurden größer, die Straßen breiter, mit Straßenlaternen, großen Schaufenstern, in denen modische Waren ausgestellt wurden. Die Straßen voll mit Autos, Motorrädern, Straßenbahnen und Bussen, die hupten und blauen, beißenden Rauch ausstießen.
Menschen mit ernsten, gestreßten Gesichtern hasteten zur Arbeit, Kinder mit Ranzen auf den Rücken rannten johlend zum Unterricht.
Das Drehen und Schwanken wurde schwächer.
Eine Turmuhr schlug elf mal.
Die Luft hatte sich geklärt, das Bild war stehen geblieben. Der Schwindel in Elinors Kopf ließ nach und sie blickte sich um.
Sie stand auf der obersten Treppe einer großen Kirche. Ihr Baby im Arm hatte leise angefangen zu wimmern und sie schaukelte es liebevoll. Dann spürte sie den Arm um ihre Schulter und drehte ihren Kopf nach rechts. Und sie blickte in Severins strahlende blaue Augen. Seine blonden Locken wurden von einem leichten Wind gezaust und seine vollen Lippen öffneten sich zu einem befreiten Lachen. Da erkannte sie, wie sehr er doch Solodur ähnelte und sie begriff, dass ihr Glück eben erst anfing.
„Severin ...“ Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. „Im Fotoalbum meiner Eltern klebt ein Bild meiner Großeltern. Als sie heirateten, standen sie genau vor dieser Kirche, auf der gleichen Treppe, auf der wir hier stehen. Sie haben in Neumarkt geheiratet. Genau das steht unter dem Bild. Neumarkt (Tirgu Mures).“
Elinor blickte an sich herunter und erschauerte. Sie trug ein bodenlanges weißes Kleid. Auch Severin war festlich gekleidet. Ein breiter goldener Ring blitzte am Finger seiner linken Hand, den sein Vater ihm vor nicht mal einer halben Stunde angesteckt hatte. Es war der Siegelring von Neumarkt. An der Rechten trug er den schmalen goldenen Ehering, der dem ihren glich und den sie sich gegenseitig bei der Trauung angesteckt hatten, bei der sie sich ewige Treue gelobten.
Elinor nahm Severins linke Hand und betrachtete versonnen den Siegelring. „Woher hat dein Vater nur diesen Ring? Frag doch mal deine Eltern, ob ihre Ahnen nicht zufällig auch aus Siebenbürgen stammen.“
„Ja, Schatz, genau das wollte ich dir eigentlich schon sagen, als du von der Ahnentafel gesprochen hast. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Und dann ergab sich keine Gelegenheit mehr, mit dir allein zu sprechen. Aber von da an ahnte ich in meinem Herzen, dass alles gut ausgehen würde. Wir waren füreinander bestimmt, in diesem Leben wie in allen vorherigen und allen folgenden.“
Und er umfasste Elinor zärtlich, zog sie an sich heran und gab ihr einen langen Kuss.
Ein leises Räuspern unterbrach ihre innige Umarmung. Sie wendeten sich um und erkannten Susanna, die ihnen mit einem großen Strauß Blumen im Arm die Hand entgegenstreckte.
„Herzlichen Glückwunsch zu euerer Vermählung. Ich wünsche euch ein langes glückliches Leben.“
Eine lange Prozession von Menschen hatte hinter Susanna die Kirche verlassen, und jeder einzelne kam nun auf das Brautpaar zu, um beiden eine glückliche gemeinsame Zukunft zu wünschen. Susanna strahlte jeden Gratulanten an, als wäre es ihre eigene Hochzeit. Fast zum Schluss trat eine Familie aus dem Kirchenportal, zwei alte Leutchen mit ihrem erwachsenen Sohn. Sie kamen auf das Brautpaar zu und umarmten es stürmisch. Tränen liefen über die runzeligen Wangen der Frau und ihr Mann reichte ihr ein großes weißes Taschentuch. Ihr Sohn aber stand vor Susanna und erstarrte. Seine schwarzen Locken fielen ihm bis auf die Schultern und seine glänzend schwarzen Augen durchbohrten ihre Seele bis auf den Grund. Susanna schnappte nach Luft, schwankte und hielt sich am geöffneten Kirchentor fest. Dann hauchte sie: „Poldur?“
Texte: © 2006 erschienen im Renaissance-Verlag Wetzlar
ISBN 3-939-442-04-6
Tag der Veröffentlichung: 26.04.2009
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