Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“ Mirjam wurde von ihrer Mutti mit einem dicken Kuß geweckt. Sie sprang aus dem Bett und lief erwartungsvoll ins Wohnzimmer. Dort war der Tisch schon schön gedeckt, die Mutti hatte einen feinen Schokoladenkuchen gebacken, auf dem sechs Kerzen steckten und der Kakao duftete aus den Tassen. Der Papa und der kleine Bruder Sven saßen auf ihren Stühlen und sangen: „Hoch soll sie leben, hoch soll sie leben, drei mal hoch.“
Mirjam sprang auf den Schoß von ihrem Papa und drückte ihn ganz fest.
„Du bist jetzt schon sechs Jahre alt, ein großes Mädchen“, sagte der Papa zu ihr. „ Wenn du die Kerzen ausgepustet hast, darfst du dir etwas wünschen“.
Mirjam holte tief Luft und pustete und pustete. Ihre Bäckchen wurden dabei ganz rot. Dann hatte sie es geschafft.
„Und, was wünscht du dir jetzt?“
Mirjam überlegte eine Weile, dann sagte sie ganz bestimmt: „Ich möchte heute mit euch einen großen Spaziergang in den Wald machen!“
„Du willst in den Wald gehen?“ fragte die Mutti
erstaunt. „Du hattest doch immer so furchtbare
Angst im Wald.“
„Ja, aber jetzt nicht mehr. Jetzt bin ich ein großes
Mädchen.“
Dabei schaute sie ihren kleinen Bruder mit strah-
lenden Augen an.
„Du brauchst auch keine Angst zu haben. Du bist
zwar erst drei, aber ich nehme dich ganz fest an der Hand, dann kann dir nichts passieren.“
Als alle gefrühstückt hatten, zeigte die Mutti auf ein großes Paket, welches mit einer breiten roten Schleife zugebunden war.
„Komm Mirjam, pack dein Geschenk aus!“
Mirjam sprang vom Stuhl und zog die Schleife auf. Vorsichtig hob sie eine Seite des Deckels an und lugte hinein. Mit einem Freudenschrei zog sie den Deckel ab und holte einen wunderschönen großen, braunen Teddybär heraus. Sie drückte ihn fest an sich und drehte sich mit ihm im Kreis.„Oh, Mutti, Papa, danke, danke. So einen habe ich mir schon immer ge-wünscht. Und er hat sogar ein Halsband mit einer kleinen Glocke um den Hals!“
Singend hopste Mirjam mit ihrem Teddy um den Tisch und das kleine Glöckchen klingelte leise dazu.
„Du gehst auch mit im Wald spazieren! Mutti, er darf doch mitgehen?“
„Natürlich, Mirjam, er gehört doch dir“
„Aber er muss etwas anziehen, sonst friert er.“
Die Mutti überlegte kurz. Dann ging sie in die Kammer und holte eine große Tüte heraus.
„Hier sind noch ein paar Sachen, die Sven nicht mehr passen. Suche etwas für deinen Teddy heraus.“
Mirjam wühlte in der Tüte und dann fand sie eine kleine Spielhose, eine Regenjacke und eine Mütze. Sie zog ihren Teddy an und sagte: „So, jetzt brauchen wir uns bloß noch anziehen, dann können wir los gehen“.
Als alle angezogen waren, gingen sie Hand in Hand aus dem Haus. Der Papa hatte die Mutti an der Hand, die Mutti hatte den Sven an der Hand, der Sven hatte die Mirjam an der Hand und mit der anderen Hand hielt Mirjam ihren Teddy ganz fest an sich gedrückt.
Sie kamen in den Wald und die Bäume rauschten ganz laut. Ängstlich sah Mirjam ihren Papa an. Der lächelte zurück und sagte: „Schau mal, Mutti, die Mirjam ist wirklich schon ein ganz großes Mädchen, sie hat überhaupt keine Angst.“
Mirjam fasste ihren kleinen Bruder fester bei der Hand und sagte: „Sven, du brauchst keine Angst zu haben, ich halte dich ganz fest!“
Sie gingen weiter in den Wald hinein und es wurde immer finsterer, weil die Bäume immer höher wurden und die Sonne nicht mehr bis auf den Weg scheinen konnte. Wieder schaute sich Mirjam ängstlich um.
Jetzt sagte die Mutti zu ihr: „Mirjam, hältst du Sven auch richtig fest? Ich glaube, er bekommt Angst.“
Mirjam drückte ihrem kleinen Bruder einen Kuss auf die Backe: „Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin ja bei dir.“
Sie gingen immer weiter und Mirjam konnte den Waldrand nicht mehr sehen. Hinter ihr war dichter Wald, vor ihr war dichter Wald und auf beiden Seiten neben ihr auch. Plötzlich fing ein Käuzchen laut an
zu schreien.
„Uhuhuhuhuuu, Uhuhuhuhuuu“
Mirjam erschrak so sehr, dass sie anfing zu weinen.
Da nahm der Papa sie auf die Arme, lachte und
sagte: „Aber Mirjam, das ist doch nur ein Käuzchen. Wahrscheinlich hat es geschlafen und wir haben es geweckt und dabei ist es so erschrocken, dass es laut geschrien hat. Es hat bestimmt viel mehr Angst als du, denn du bist doch ein großes Mädchen.“
Mirjam wischte sich ihre Tränen ab und schämte sich.
„Ich werde jetzt keine Angst mehr haben, das verspreche ich!“
Sie nahm ihren kleinen Bruder wieder bei der Hand und alle gingen weiter in den Wald hinein.
Am Wegesrand wuchsen jetzt große Hecken mit dicken schwarzen Brombeeren daran.
„Schaut mal Kinder, so viele Brombeeren!“ Der Papa hatte schon zwei Beeren abgepflückt und steckte jedem Kind eine in den Mund. Hmmm, waren die süß!
„Dürfen wir auch welche pflücken?“ fragte Sven und machte seine Hand von Mirjam los.
„Natürlich,“ sagte die Mutti, „aber passt auf, die Zweige haben große Stacheln und wenn man darin hängen bleibt, lassen sie einen nicht wieder los.“
Ganz vorsichtig pflückten die Kinder und auch Mutti und Papa die Beeren und hatten bald alle einen ganz roten Mund davon.
„Mutti, ich muss mal!“ Mirjam hüpfte mit gekreuzten Beinen herum und wusste nicht, wo sie hingehen sollte.
„Kauer dich doch an den Wegrand“, sagte der Papa.
„Aber ich bin doch schon groß. Ich kann mich doch nicht vor Sven hinkauern!“ antwortete Mirjam.
„Ja, dann musst du warten, bis wir zu Hause sind“ sagte der Papa.
„Das schaffe ich nicht. Ich gehe da hinten, hinter den großen Busch.“ Mirjam zeigte auf einen riesigen Busch.
„Ja, hast du denn keine Angst?“ fragte die Mama.
„Ich habe doch gesagt, ich bin groß. Außerdem nehme ich Teddy mit, der kann auf mich aufpassen.“ Mirjam rannte mit ihrem Teddy im Arm los und die Eltern schauten ihr lächelnd hinterher.
Der Busch war wirklich sehr groß und Mirjam musste lange suchen, bis sie eine Stelle gefunden hatte, durch die sie schlüpfen konnte. Sie zwängte sich durch die Zweige und die Stacheln kratzten sie am Gesicht und an den Ar-men und wollten sie festhalten. Sie packte mit der einen Hand die Zweige und zog sie vorsichtig aus ihrem Ärmel. Mit der anderen Hand hielt sie ihren Teddy ganz fest. Mühevoll arbeitete sie sich durch das Geäst und der Busch wollte kein Ende nehmen. Endlich hatte sie es geschafft und sie schaute sich um. Den Weg auf der anderen Seite des Busches konnte sie nicht mehr sehen. Sie legte den Teddy neben sich und kauerte sich hin. Hier konnte ihr niemand dabei zuschauen.
Als sie fertig war, suchte sie die Stelle, durch die sie gekommen war. Aber die Zweige des Busches hatten sich fest hinter ihr geschlossen und es gab keinen Durchgang mehr. Mirjam nahm ihren Teddy und ging mit klopfendem Herzen ein Stück im Busch entlang. Überall dasselbe dichte Blätterwerk, keine Lücke, kein Weg. Mirjam kehrte um und ging in die anderen Richtung. Aber auch hier gab es kein Durchkommen. Plötzlich stand sie vor einer kleinen Mauer.
‚Vielleicht ist ja dahinter der Weg‘ überlegte Mirjam. Die Mauer war nicht sehr hoch und Mirjam wusste,
dass sie darüber klettern konnte. Als erstes warf sie ihren Teddy darüber und dann zog sie sich an der Mauer hoch, schwang ihre Beine darüber und sprang auf den anderen Seite hinab.
„Autsch“, sie war mit einem Fuß umgeknickt und konnte nicht mehr auftreten.
Sie zog ihren Schuh aus und rieb sich ihren schmerzenden Knöchel. Tränen liefen über ihre Wangen und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Weinend nahm sie ihren Teddy in den Arm und rief laut nach ihrer Mutti. Aber niemand antwortete ihr. Niemand hörte sie.
Plötzlich hörte sie noch jemand weinen. Staunend drehte sie sich um und suchte, woher die Stimme kam. Es raschelte in den Zweigen und heraus trat ein kleines weißes Pony und schluchzte herzerweichend.
„Warum weinst du denn?“ fragte Mirjam das Pony. Hast du dich auch verlaufen und suchst deine Mutti?“
Das Pony schüttelte die Mähne und bleckte die Zähne. Da sah Mirjam, dass ihm ein Zahn abgebrochen war.
„Das tut so schrecklich weh“ jammerte das Pony. „Und jetzt kann ich gar nichts mehr fressen. Und ich habe doch solchen Hunger. Kannst du mir nicht helfen?“
„Aber wie denn?“ Mirjam tat das Pony sehr leid und sie vergaß beinahe ihre eigenen Schmerzen.
„Kannst du mir nicht Gras und ein paar Blätter abrupfen und ganz klein reißen, dass ich sie nur noch runterschlucken brauche?“
Natürlich. Das konnte Mirjam tun.
Sie rutschte auf ihren Knien durch das Gras, riss die Hälmchen ab und steckte sie dem Pony in ganz kleinen Stückchen ins Maul. Dann pflückte sie noch ein paar Blätter vom Strauch, zerriss auch diese in ganz kleine Stückchen und gab sie dem Pony. Das Pony schluckte alles hinunter und bedankte sich. „Jetzt hast du einen Wunsch frei.“
Mirjam brauchte nicht lange zu überlegen. „Ich suche meine Eltern und meinen kleinen Bruder. Aber ich habe mir meinen Fuß verstaucht und kann nicht weiterlaufen. Kannst du mir nicht helfen?“
„Natürlich, setz dich auf meinen Rücken, ich werde dich tragen.“
Mirjam kletterte auf den Rücken des Ponys, setzte ihren Teddy vor sich und sie trabten los.
Sie liefen kreuz und quer durch den Wald und Mirjam rief nach ihren Eltern. Aber niemand hörte sie. Sie kamen an ein Bächlein und das Pony trank daraus. Da merkte Mirjam, dass auch sie Durst und Hunger hatte. Sie rutschte vom Rücken des Ponys und trank auch ein paar Schlucke aus dem Bächlein. Das Wasser schmeckte ganz süß und sie wunderte sich darüber. Hätte sie nicht gewusst, dass das ein Bächlein im Wald ist, dann würde sie glauben, es wäre Limonade.
Sie setzten ihren Weg fort und langsam wurde es dunkel. Mirjam rief nach ihren Eltern und weinte, aber niemand hörte sie.
Da sagte das Pony: „Lass uns zu mir nach Hause gehen. Du hast bestimmt Hunger und es wird schon finster. Meine Mami und mein Papi wissen sicher einen Rat.“
Mirjam war einverstanden und so lief das Pony schnell zu einer großen Höhle, in der es mit seinen Eltern wohnte.
Aber wie wunderte sich Mirjam, als sie die Höhle betraten. Da war ein richtiges Haus mit Schränken und einem Tisch, mit Stühlen und einem großen Sofa. Und die Eltern des Ponys waren auch keine Pferde, sondern kleine wunderliche Zwerge.
Der Vater Zwerg schaute auf die beiden Ankömmlinge und sagte: „Oh, Zek, du Herumtreiber, wo warst du so lange und wen hast du mitgebracht?“
„Das ist Mirjam und sie hat sich den Fuß verstaucht. Und weil sie ihre Eltern nicht finden kann, habe ich sie mitgebracht.“
„Aber Zek, du weißt, dass die Menschen gefährlich sind. Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst dich von ihnen fern halten.“
„Aber Papi, Mirjam ist nicht so. Sie hat mir geholfen.
Als ich mir einen Zahn abgebrochen habe, hat sie mich gefüttert, obwohl ihr Fuß weh tat. Deshalb wollte ich ihr auch helfen.“
Vater Zwerg wiegte nachdenklich seinen Kopf mit
der spitzen Mütze hin und her: „Du hast recht, mein
Sohn. Wenn einer einem Gutes tut, dann soll man
ihm auch helfen.“
Und zu Mirjam gewandt sagte er: „Wir Zwerge vergelten Gleiches mit Gleichem. Bis du gut zu uns, sind wir gut zu dir. Tust du uns etwas Böses an, dann rächen wir uns.“
Mirjam schaute staunend von einem zum anderen.
„Aber Zwerge gibt es doch nur im Märchen und sprechende Ponys habe ich auch noch nie gesehen!“
„Was glaubst du, wo du bist?“ fragte Vater Zwerg das schlaue Mädchen.
Mirjam schüttelte traurig den Kopf.
„Ich weiß es nicht. Ich bin mit meinen Eltern und meinem kleinen Bruder im Wald spazieren gegangen. Dann musste ich mal und bin durch einen großen Busch geklettert und danach über einer Mauer gestiegen. Und jetzt finde ich meine Eltern nicht mehr und die werden sich große Sorgen um mich machen und mich überall suchen.“
Vater Zwerg nickte wieder mit seiner spitzen Mütze und schaute Mirjam streng an. „So ist das also. Da kannst du gut recht haben, aber hier werden sie dich niemals finden. Du bist hier nämlich im Märchenwald und seit über hundert Jahren dürfen keine Erwachsenen mehr hier herein.“
„Aber warum denn nicht?“ Mirjams Stimme klang ganz verzweifelt.
„Aber, wie finde ich denn meine Eltern? Könnt ihr mir nicht helfen?“ fragte Mirjam.
„Doch, wir werden dir helfen. Aber jetzt setze dich erst einmal an den Tisch und iss mit uns. Mit Hunger im Bauch kann man nicht nachdenken.
Und du mein Sohn hörst jetzt endlich auf mit den Faxen.“
Verblüfft beobachtete Mirjam, wie aus dem Pony ein kleiner Zwergenjunge wurde.
„Was ist denn das? Du kannst ja zaubern!“ staunte Mirjam.
Vater Zwerg lächelte und legte den Arm um seinen Sohn. „Ja, Mirjam, das ist mein Sohn Zek. Und er hat die Begabung, Wünsche zu erfüllen. Weil du in großer Not warst, hat er das gespürt, und dann hat er sich in das verwandelt, was du dir am meisten gewünscht hast. Aber erst hat er dich auf die Probe gestellt. Wenn du ihm nicht geholfen hättest, wäre er wieder verschwunden und du würdest nie wieder aus dem Märchenwald heraus finden.“
Mirjam wurde sehr nachdenklich. Da hatte sie ja ganz viel Glück gehabt, dass sie sich nicht vor dem sprechenden Pony gefürchtet hatte. Sie konnte sehr stolz auf sich sein, denn sie war tatsächlich ein großes Mädchen.
Alle setzten sich nun um den großen Tisch und fingen an zu essen. Wie von Zauberhand stand ein Teller und ein Becher vor Mirjam. Aber auf dem Teller lag ein runder Stein, ein kleiner Ast mit Blättern daran, ein Stückchen Moos und ein Häuflein Erde. Ihr Becher war mit Wasser gefüllt. Was sollte sie denn davon halten? Sie konnte doch keinen Stein, keinen Ast, Moos oder Erde essen. Also nahm sie erst einmal den Becher und trank einen großen Schluck von dem Wasser. Und wieder schmeckte es wie Limonade und sie wunderte sich sehr.
Lächelnd schaute der Vater Zwerg sie an. Dann wackelte er mit seiner spitzen Mütze und fragte: „Warum isst du nicht?“
Mirjam lief eine dicke Träne die Backe herunter.
„Aber so etwas kann ich doch nicht essen.“
„Natürlich kannst du das essen. Du hast doch das Wasser auch getrunken und es hat dir geschmeckt.“
„Ja, aber es hat wie Limonade geschmeckt.“
„Natürlich hat es wie Limonade geschmeckt. Aber nur, weil du dir das gewünscht hast. Und genauso ist es mit dem Essen. Wünsche dir, was du essen möchtest und es wird dir genauso gut schmecken.“
Etwas ungläubig nahm Mirjam den Stein in die Hand. Er war schwer und hart. Dann schloss sie ihre Augen und wünschte sich ganz fest, dass sie ein weiches Brötchen in ihrer Hand hätte. Langsam führte sie den Stein zu ihrem Mund und biss hinein. Und siehe da, es war ein frisch gebackenes knuspriges Brötchen, noch ganz warm und duftete vorzüglich. Vor Freude wurde Mirjam ganz fröhlich und sie schaute Vater Zwerg dankbar an. Dieser wackelte mit seiner spitzen Mütze und biss genüsslich in einen Ast.
Wie von Zauberhand wurden aus dem Stückchen Moos ein Stückchen Butter und aus dem Häuflein Erde ein Stückchen Käse. Mirjam ließ es sich gut schmecken. Dann überlegte sie, auf was sie noch Appetit hätte und so wurde aus dem Ast eine Zuckerstange.
Als alle aufgegessen hatten, sprach Vater Zwerg: „So, mein Kind, jetzt ist es an der Zeit, dass du dich schlafen legst. Denn heute Nacht ist es zu dunkel, um aus dem Märchenwald herauszufinden.
Morgen früh, ganz zeitig, machst du dich mit Zek auf den Weg. Er wird dir helfen. Du weißt ja, er kann deine Wünsche lesen. Aber bedenke Eines, lasse ihn niemals im Stich. Wenn du ihn verlierst, findest du ihn nicht wieder.
Außerdem musst du, um aus dem Märchenwald
herauszukommen, drei gute Taten vollbringen.“
Mirjam wurde ganz unsicher.
„Das musst du mir erklären. Wieso kann ich Zek verlieren? Und was sind das für gute Taten?“
„Das wirst du alles erfahren, wenn es soweit ist. Aber nun geh ins Bett. Es ist schneller Morgen, als du denkst.“
Nun merkte Mirjam auch, wie ihr vor Müdigkeit die Augen zufielen und sie legte sich in ein Bett, das plötzlich neben den anderen kleinen Bettchen der Zwerge stand, aber viel größer war, sodass sie hineinpasste. Augenblicklich schlief sie ein.
Sie träumte von ihrer Geburtstagsfeier und von ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder. Sie erlebte noch einmal, wie sie gemeinsam durch den Wald spazierten, wie sie Brombeeren aßen, und wie sie dann, weil sie musste und sich nicht vor ihrem kleinen Bruder hinkauern wollte, durch den Busch und über die kleine Mauer kletterte, hinter welcher der Märchenwald anfing. Auf dem Weg, bei den Brombeerbüschen aber standen ihre Eltern und ihr kleiner Bruder und warteten, dass sie wiederkäme. Und weil sie nicht wiederkam, machten sich alle große Sorgen und riefen nach ihr. Und weil sie nicht hörte, fingen sie an, sie zu suchen. Und sie suchten sie zwei Stunden lang, aber sie fanden sie nicht. Mutti und Papa waren ganz verzweifelt und der kleine Sven weinte laut. Aber es hatte alles keinen Zweck. Da gingen sie nach Hause und Papa rief bei der Polizei an. Die kamen mit vielen Leuten und auch mit Suchhunden und durchkämmten den ganzen Wald. Aber sie fanden Mirjam nicht. Als es Nacht wurde, brachen sie die Suche ab, weil sie nichts mehr sahen. Sie wollten am nächsten Morgen weitersuchen. Die Polizisten gingen mit ihren Hunden nach Hause und Mutti weinte ganz bitterlich. Auch Sven weinte und Papa hielt beide in den Armen und so schliefen sie zusammen auf dem Sofa ein.
Mirjam dachte, sie wäre gerade erst eingeschlafen, da wurde sie schon wieder geweckt. Ganz sachte zupfte Zek sie am Ärmel. Mirjam rieb sich die Augen und wusste nicht gleich, wo sie war. Aber dann sah sie den Teddy in ihren Armen , der von ihren Tränen einen ganz nassen Bauch hatte.
„Komm, steh auf“, sagte Zek, „Wir müssen los, wenn du heute noch deine Eltern finden willst.“
Mirjam sprang aus ihrem Bett und schaute sich um. Außer ihr und Zek schliefen alle noch ganz fest. Sie traten vor die Tür und da sah sie vor der Höhle ein kleines Bächlein fließen. Sie wusch sich das Gesicht und die Hände und das Wasser war klar und kühl und rein, wie richtiges Quellwasser. Sie trank davon und es schmeckte wie Kakao. So gestärkt, liefen beide los, Mirjam mit ihrem Teddy im Arm und an der anderen Hand Zek.
Sie gingen auf einem schnurgeraden Weg durch den Wald und als sich Mirjam umdrehte, war von der Höhle nichts mehr zu sehen. Sie schaute hin und her, aber um sie herum standen nur alte knorrige Eichen, die ihre Zweige bewegten und im Wind knarrende Geräusche von sich gaben. Auf einmal fing es an zu regnen, ganz fein und dicht und im Nu waren ihre Kleider völlig durchnässt und Mirjam zitterte.
„Hoffentlich haben wir uns nicht verlaufen!“
Mirjam fasste Zek ganz fest bei der Hand.
„Aber nein, ich kenne mich doch aus. Hast du
etwa Angst?“
Mirjam schüttelte schnell ihren Kopf.
„Ich habe keine Angst, ich bin doch schon groß!“
„Dann lass uns weiter gehen!“
Zek zog sie hinter sich her. Plötzlich hörten sie eine
Stimme rufen: „Burban! Burban! Wo bist du?“
Mirjam und Zek liefen in Richtung der Stimme und trafen auf eine große rote Katze.
„Wen rufst du denn da?“ fragten beide gleichzeitig.
„Ich suche meinen Sohn Burban“ sagte die Katze. Er ist ein ganz schlimmer Streuner. Immer reißt er aus und jetzt regnet es auch noch so stark. Wir Katzen sind doch so wasserscheu und bekommen, wenn wir nass werden, sehr schnell einen Schnupfen. Wenn ich ihn nicht bald finde, wird er sicher krank.“
„Wir werden dir suchen helfen.“
Mirjam lief mit Zek nach links in den Wald hinein, die Katze nach rechts. Und alle riefen ganz laut: „Burban! Burban! Wo bist du?“
Plötzlich hörte Mirjam ein leises Maunzen. Ganz hoch oben in einem Baum saß ein kleiner Kater und traute sich nicht mehr herunter.
„Warte Burban, wir helfen dir.“
Mirjam überlegte, wie sie auf den hohen Baum gelangen könnte.
„Fliegen müsste man können. Siehst du Zek, wenn du jetzt ein Vogel wärst, konntest du hinauf fliegen und ihn
herunter holen.“
Kaum hatte Mirjam diese Worte gesprochen, verwandelte sich Zek in einen Habicht und flogt in die Krone des Baumes. Mit seinen Krallen umfasste er den kleinen Kater und ließ sich langsam mit ihm zu Mirjam hinab.
Mirjam streckte ihm ihre Arme entgegen, fasste das zitternde Kätzchen, drückte es an ihre Brust und streichelte es zart. Der kleine Kater fing ganz laut an zu schnurren und rollte sich zu einer Kugel. Schnell liefen Mirjam und Zek zurück und riefen nach der Katzenmama. Diese kam hocherfreut und nahm ihren Sohn in ihre Samtpfötchen.
„Da bist du ja, du Ausreißer. Und wie nass du bist. Du bekommst sicher einen Schnupfen.“
Zu den Kindern sagte sie: „Es ist schon schwer, ein Katzenkind zu finden. Mit seinen weichen Pfötchen läuft es so leise, dass man es nicht hören kann.“
Da nahm Mirjam ihrem Teddy das Halsband mit dem Glöckchen ab und legte es dem kleinen Kater um den Hals. Außerdem schenkte es ihm noch die Regenjacke und die Mütze von ihrem Teddy.
„So, liebes Katerchen, jetzt kann deine Mami immer hören, wohin du läufst und außerdem wirst du nie wieder nass.“
„Hab vielen Dank, liebes Menschenkind. Du hast eine gute Tat vollbracht. Ich wünsche dir viel Glück und dass du deine Eltern auch bald findest.“
Mirjam wunderte sich, dass die Katzenmama von ihrer Suche wusste und sie wollte sie danach fragen, aber plötzlich war sie mit ihrem Sohn verschwunden.
Sie blickte den Habicht an und legte ihre Arme um ihn.
„Hab vielen Dank, Zek, ohne dich hätte ich das nicht geschafft.“
„So schnell kann man eine gute Tat vollbringen“ sagte Zek und schüttelte sein Gefieder. Er erhob sich in die Luft und flog vor Mirjam her. Mirjam steckte ihren fast nackten Teddy unter ihre Jacke und lief hinter ihrem Habicht her. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass es aufgehört hatte, zu regnen.
Nach einer Stunde bekam Mirjam schrecklichen Hunger. Sie schaute sich um, fand aber keine Sträucher mit Beeren daran.
‚Vielleicht kann ich ja aus einem Stein ein Brötchen werden lassen‘ dachte sie und sah sich suchend um. Aber es lag weit und breit kein Stein auf der Erde.
‚Vielleicht kann ich ja aus einem Ast eine Zuckerstange werden lassen‘ dachte sie, aber die uralten Eichen waren viel zu hoch und sie reichte nicht an die Äste heran.
‚Was mache ich bloß. Ich habe so großen Hunger.‘ Sie schaute auf ihren Habicht und wünschte sich nichts sehnlicher, als etwas zu essen. Plötzlich fiel der Habicht vor ihr auf den Weg und verwandelte sich in einen Apfel, eine Birne und eine Banane.
„Oh Zek, wenn ich dich nicht hätte!“
Dankbar biss sie in den Apfel und aß ihn schnell auf. Sie hatte noch nicht genug und aß gleich die Birne hinterher. Doch bevor sie auch noch in die Banane biss, überlegte sie sich, dass es besser wäre, sich etwas Wegzehrung aufzuheben. Sie steckte die Banane in ihre Jackentasche und sah sich um.
Wo war Zek? Wie sollte sie ohne ihn den Weg finden? Klopfenden Herzens holte sie ihre Banane wieder aus ihrer Jackentasche, sah sie mit flehenden Augen an und fragte ganz leise: „Zek? Bist du da?“
Da verwandelte sich die Banane in den kleinen Zwergenjungen. Er stellte sich breitbeinig vor Mirjam hin und sagte: „Gut, dass du nicht alles aufgegessen hast. Sonst wäre ich jetzt weg und könnte dir nicht mehr helfen.“
Mirjam erinnerte sich an die Worte von Vater Zwerg und verstand auf einmal, was er gemeint hatte. Sie musste sehr gut auf Zek aufpassen, dass sie ihn nicht verlor.
Sie gingen weiter und beobachteten Vögel, die in den Bäumen spielten und dabei laut tschilpten. Plötzlich fiel ein Junges aus dem Nest. Es piepste ganz laut, aber seine Mutter konnte es nicht zurückholen.
„Kannst du es nicht zurück in sein Nest setzen, Zek? Ein Mensch darf ein Vogeljunges nicht anfassen, hat mein Papa gesagt. Sonst nimmt die Mutter es nicht mehr an. Du bist doch ein Zwergenjunge und kannst auf Bäume klettern. Bitte schaffe es zurück zu seiner Mama.“
Zek nahm das kleine Vögelchen und steckte es in seine Hosentasche. Dann kletterte er schnell wie ein Äffchen von Ast zu Ast, bis zum Nest und legte das klei
ne Vögelchen wieder zurück. Seine Mama bedankte sich bei Zek und legte schützend einen Flügel um ihr Junges, damit es nicht wieder hinunterfiel.
Zek dauerte es viel zu lange, wieder von Ast zu Ast nach unten zu klettern. Er umfasste den Stamm des Baumes und rutschte, eins, zwei, drei, nach unten.
„Oh. Du hast dir ja deine schöne Hose zerrissen. Da wird deine Mami aber schimpfen.“
Zek kratzte sich hinter dem Ohr. „Wäre ich bloß nicht auf den Baum geklettert. Das war keine gute Idee. Die Hose habe ich erst neu bekommen, das gibt ein Donnerwetter.“
Aber Mirjam hatte eine Idee.
„Komm Zek, zieh die kaputte Hose aus. Mein Teddy hat eine schöne Spielhose an. Er braucht sie ja nicht. Zieh sie an, vielleicht merkt es deine Mami ja nicht.“
Und so bekam Zek eine neue Hose und der Teddy war nun ganz nackt. Mirjam streichelte ihren Teddy und versprach ihm, dass er zu Hause gleich neue Anziehsachen bekäme.
Schnell gingen die beiden weiter und kamen an einen großen See.
„Oje, wo gehen wir jetzt lang, nach links oder nach rechts?“
Mirjam war stehengeblieben und schaute Zek fragend an.
„Der See ist viel zu groß, um darum herum zu laufen. Wir müssen mitten durch“ sagte Zek.
„Aber ich kann nicht schwimmen!“ Mirjam war ratlos. Was sollte sie jetzt tun? Zek zuckte mit den Schultern. Ihm fiel auch nichts ein.
„Ein Boot müsste man haben, dann könnten wir hinüber rudern.“ Kaum hatte Mirjam ihren Wunsch ausgesprochen, schon verwandelte sich Zek in ein kleines Boot. Es war genau so groß, dass Mirjam hineinpasste - und keinen Zentimeter größer. Außerdem hatte es ein Paddel. Mirjam sprang hinein und stieß sich mit dem Paddel vom Ufer ab. Sie paddelte und paddelte und war schon fast in der Mitte des Sees, da schäumte das Wasser und vor ihr stieg eine Fontäne auf. Plötzlich wurde aus der Fontäne eine Nixe, die zu Mirjam sprach: „Oh Mädchen, welch ein Glück, dass du gerade vorbei kommst. Du musst mir unbedingt helfen. Ein böses Seeungeheuer hat eine meiner Töchter geraubt. Ich muss sie jetzt suchen und sie aus den Händen des Ungeheuers befreien.“
„Und was soll ich dabei tun?“ fragte Mirjam ganz entsetzt.
„Du musst hinabsteigen zum Grund des Sees und auf
meine anderen Kinder aufpassen, damit sie sich nicht fürchten, wenn ich nicht da bin.“
„Aber ich kann doch nicht schwimmen und unter Wasser bekomme ich keine Luft.“ Mirjam schüttelte traurig ihren Kopf. „Ich kann dir nicht helfen!“
Aber die Nixe ließ nicht locker. „Doch, doch, du kannst es. Alles, was man wirklich will, kann man auch. Versuch es doch, du wirst schon sehen.“
Mirjam erinnerte sich an den Stein, der durch ihren Willen zu einem Brötchen geworden war und sie glaubte der Nixe.
„Also gut, ich werde es tun. Aber beeile dich bitte. Ich suche meine Eltern. Die machen sich auch Sorgen um mich.“
Mirjam sprang ins Wasser und ging sofort unter.
Nach einer Weile öffnete sie ihre Augen und ver-
suchte Luft zu holen. Es klappte ganz wunderbar.
Sie konnte atmen. Und was sie da unter dem Was-
ser zu sehen bekam, war so schön, dass sie sich
gar nicht daran satt sehen konnte. Zierliche bunte Fische schwammen zwischen sich wiegenden silbernen Pflanzen herum. Sie kam an einer Mauer aus herrlich schillernden Korallen vorbei und sie sank immer tiefer, bis auf den Grund des Sees. Dort erblickte sie einen Glaspalast.
Das musste das Haus der Nixe sein.
Sie öffnete die Tür und ging hindurch. An den Wänden hingen Teppiche von Schlingpflanzen, den Boden bedeckte weicher Sand. Sie öffnete die nächste Tür und plötzlich sah sie sich vor dem Maul eines riesigen Fisches, der sich aber nicht bewegte. Mirjam schwamm um den Fisch herum und hörte Kin-derstimmen in seinem Bauch. Als sie wieder vorn angekommen war, schaute sie in das Maul hinein und da sah sie fünf kleine Nixenkinder spielen. Nun kletterte Mirjam auch in den Fisch hinein und sagte: „Hallo, ich bin Mirjam. Ich soll solange bei euch bleiben, bis eure Mami wieder da ist.“
„Oh, das ist ja toll, wir haben eine neue Spielgefährtin. Komm, wir balancieren auf einer Seeschlange. Wer zuerst herunter fällt, scheidet aus.“
Es war gar nicht so einfach, sich auf der Seeschlange zu halten, denn diese blieb ja nicht gerade liegen. Sie schlängelte sich nach links und nach rechts und schwamm aufwärts und abwärts. Die Kinder hatte viel Spaß miteinander und merkten gar nicht, wie die Zeit verging.
Da ging die Tür auf und die Nixenmama kam mit einem weiteren Nixenkind herein. Laut jubelnd umringten die Kinder ihre Mutter und das gerettete Geschwisterchen.
„Vielen Dank, Mirjam, dass du so gut auf meine Kinder aufgepasst hast, obwohl du selbst auf der Suche nach deinen Eltern bist. Du hast eine gute Tat vollbracht und wenn du einmal in Not bist, werde ich dir helfen.“
Mirjam verabschiedete sich von ihren neuen Freunden und schwamm wieder zur Oberfläche des Sees zurück.
Sie schaute nach links und sie schaute nach rechts, nach vorn und nach hinten, aber sie konnte ihr Boot nirgends entdecken.
‚Oje, jetzt habe ich Zek verloren. Ich habe zwar meine zweite gute Tat vollbracht, aber dabei habe ich ganz vergessen, auf Zek aufzupassen. Jetzt finde ich nie mehr nach Hause.‘
Sie rief ganz laut nach Zek, aber er konnte sie nicht hören. Dann rief sie ganz laut nach ihrer Mama, aber das war noch viel sinnloser, denn diese konnte sie im Märchenwald erst recht nicht hören. Plötzlich schäumte das Wasser und die Nixe tauchte vor ihr auf.
„Es war meine Schuld. Ich habe nicht aufgepasst, dass du ein Boot hast. Es ist inzwischen zum Ufer getrieben und wartet dort auf dich. Komm, setzt dich auf meinen Rücken, ich bringe dich zu ihm.“
Erleichtert kletterte Mirjam auf den Rücken der Nixe und wie im Flug durchschnitten sie die Wellen. Am Ufer angekommen, sprang sie ins Gras und bedankte
sich herzlich bei der Nixe. Dann zog sie ihr Boot, in dem noch ihr Teddy und das Paddel lag, ans Ufer.
Sie holte ihren Teddy heraus und drückte ihn ganz fest an sich. Dann streichelte sie das Boot und sagte: „Verzeih mir bitte, Zek, dass ich nicht auf dich aufgepasst habe. Es tut mir ganz schrecklich leid. Sei mir bitte nicht mehr böse.“
Das Boot verwandelte sich zurück in den Zwergenjungen, der die Fäuste in die Hüften stemmte und ein böses Gesicht zog.
„Das war das letzte Mal, dass ich dir das verzeihe. Wenn du mich noch einmal verlierst, komme ich nicht zurück und dann kannst du sehen, wie du nach Hause findest.“
Beleidigt ging er vor Mirjam her und sprach kein Wort mehr mit ihr.
Mirjam trottete hinterher und wusste nicht, wie sie Zek wieder fröhlich stimmen konnte. Da fiel ihr ein lustiges Kinderlied ein. Sie sang leise vor sich hin und bemerkte, wie Zek lauschte. Da sang sie etwas lauter und Zek drehte sich um. „Das ist ein schönes Lied. Kann ich es auch lernen?“
„Natürlich.“ Mirjam sang die erste Strophe noch einmal und dann noch einmal, bis Zek sich die Worte merken konnte. Dann sangen sie gemeinsam und Zek war wieder guter Laune.
Plötzlich hörten sie ein lautes Wehklagen.
„O weh, o weh, o weh, mein armer Pätz. Es ist so furchtbar. Werde ich dich niemals wieder sehen?“
Sie gingen der Stimme nach und trafen eine Bärenmutter mit einem Jungen. Die Bärenmutter weinte laut und rief immer wieder nach ihrem armen Pätz.
„Was ist denn passiert?“ wollte Mirjam wissen.
„Ach, es ist so schrecklich. Meine beiden Jungen haben in den Bäumen fangen gespielt. Mein Pätz wollte zu einem anderen Ast springen und hat ihn verfehlt. Das wäre alles nicht so schlimm, wenn es nicht gerade der Grenzbaum gewesen wäre. Er stürzte hinab in die Menschenwelt und da kann niemand von uns hin und ihn zurückholen. Und er kann auch nicht zurück klettern, denn dort verwandelt er sich in einen Teddybär.“
„Oh, das ist aber traurig.“ Mirjam konnte den Schmerz der Bärenmutter nachfühlen. Sie hatte ja im Traum gesehen, wie sehr ihre Mutti weinte, als sie Mirjam verloren hatte. Kurz entschlossen drückte sie der Bärenmutter ihren Teddy in die Hand.
„Hier, hast du meinen Teddy. Dann hat dein Kind doch jemand zum spielen.“
„Oh, du bist ein gutes Kind.“ Ein dicker Tränentropfen fiel aus dem Bärenmutterauge auf den Teddy. Der blinzelte plötzlich und bewegte seine Arme. Dann
fing er an zu brummen und sprang von den Armen seiner neuen Mutter. Die beiden Bärenkinder tollten durch das Gras und schlugen Purzelbäume.
„Du hast eine gute Tat vollbracht.“ sagte die Bärenmutter. „Wenn du mich brauchst, rufe mich und ich helfe dir.“
„Das war deine dritte gute Tat“ sagte Zek und jetzt sind wir auch an der Grenze des Märchenwaldes. Du brauchst nur durch dieses Gebüsch zu klettern, das unter dem Grenzbaum steht und dann bist du wieder in der Menschenwelt. Mich brauchst du jetzt nicht mehr. Ich muss auch schnell nach Hause, sonst machen sich meine Eltern Sorgen.“
Mirjam umarmte Zek. „Ich werde dich nie vergessen und ich werde allen Menschen erzählen, dass es euch Märchenwesen wirklich gibt.“
Zek verwandelte sich wieder in einen Habicht, stieg in den Himmel, stieß zum Abschied einen schrillen Schrei aus und flog davon.
Nun stand Mirjam wieder vor der undurchdringlichen Hecke. Sie wusste genau, dass sie nicht nach links und nicht nach rechts gehen durfte, sondern unbedingt durch diese Hecke hindurch musste, um wieder in die Menschenwelt zu gelangen. Aber es gab keinen Durchgang durch das Gestrüpp.
‚Man müsste Bärenkräfte haben, um sich einen Weg hindurch zu bahnen‘, dachte Mirjam, aber die hatte sie nicht. Da erinnerte sie sich an die Bärenmutter, die ihr versprochen hatte, ihr zu helfen, wenn sie in Not war. Sie rief laut nach ihr und schon kam sie brummend aus dem Wald. Ihre beiden Kinder tollten hinter ihr her.
„Kannst du mir helfen, durch dieses Gebüsch zu kommen. Ich bin zu schwach, um die Hecke zu teilen.“
„Natürlich“ brummte die Bärenmutter und hieb mit ihrer mächtigen Pranke auf das Gebüsch ein, dass es nur so krachte. Es entstand ein schmaler Weg, durch
den sich Mirjam gerade so hindurch zwängen konnte.
„Danke, Bärenmutter.“ rief sie noch zurück, aber da hatte sich die Hecke schon hinter ihr geschlossen. Mirjam stand wieder auf dem Weg, den sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder entlang spaziert war. Und plötzlich war sie umringt von vielen Polizisten, die sich freuten, dass sie Mirjam gefunden hatten und Hunden, die bellend an ihr hoch sprangen und mit den Schwänzen wedelten. Und da kam auch ihre Mutti und ihr Papa angelaufen. Papa trug ihren kleinen Bruder Sven auf dem Arm und Mutti – einen Teddy. Er war das Kind der Bärenmutter, das in die Menschenwelt gefallen war und sich da zu einem Teddy verwandelt hatte.
„Mirjam, da bist du ja endlich wieder!“ Vor lauter Freude liefen ihrer Mutti ein paar dicke Tränen über die Wangen und tropften auf den Teddy. Dieser brummte leise, aber da hatte ihn Mirjam schon in ihre Arme geschlossen und flüsterte: „Psst. Du darfst jetzt nicht wieder lebendig werden, denn mein Teddy ist jetzt bei deiner Bärenmutti im Märchenwald und du bleibst bei mir.“
Und zu ihren Eltern sagte sie: „Ihr glaubt gar nicht, was mir passiert ist. Ich war nämlich im Märchenwald. Da gibt es sprechende Ponys und einen Bach, der wie Limonade schmeckt. Und Zwerge, die alle Wünsche erfüllen. Und ich soll euch davon erzählen, damit ihr wieder an die Märchen glaubt. Dann sterben die Märchenwesen auch nicht. Und alles, was man wirklich will, kann man auch schaffen, hat mir der Zwergenvater gesagt. Und das ist wirklich wahr.“
Texte: © 2009 Alle Rechte bei Leonore Enzmann. Nachdruck oder Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 18.04.2009
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Widmung:
für meine Enkel