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Gott beschloss, das jüngste Gericht abzuhalten.
Die Lage auf der Welt hatte sich so zugespitzt, dass er es einfach nicht mehr mit ansehen konnte.
Überall, wohin er schaute, herrschte Krieg, Gewalt, Mord, Hass, Vergewaltigung, Betrug, Diebstahl und alle Sünden, die Luzifer, Gottes ärgster Konkurrent, über die Menschheit ausgesät hatte.
Er rief eine große Himmelsversammlung ein, zu der er seine Erzengel, Engel und Hilfsengel bestellte, aber auch Luzifer mit seinen Untertanen.

Gott sprach: „Ich will den Menschen noch eine letzte Chance geben. Wenn sie sich bewähren, sollen sie fortan an meiner Seite sitzen und ein engelgleiches unschuldiges Leben mit Nektar und Ambrosia führen. Sollten sie jedoch versagen, dann seien sie Luzifer geweiht, um bis ans Ende aller Zeiten Höllenqualen zu erleiden.“

Luzifer erhob sich stolz in seinem feuerroten Gewande, das Jägerhütchen keck in die Stirn geschoben und sprach zu den himmlischen Heerscharen:

„Die Menschen haben seit vielen tausend Jahren bewiesen, dass sie kein Interesse daran haben, nichtstuend auf einer Wolke dahinzuschweben und unbeteiligt in die aufregende Welt zu starren.
Die Menschen wollen Action. Sie wollen sich begehren, streiten, prügeln und reich werden, um über andere zu herrschen..
Aber ich bin mit deinem Vorschlag einverstanden. Wir werden ja sehen, wer die Menschen besser kennt.“

Gott hatte auf seiner Stirn eine steile Falte bekommen. Ganz Unrecht konnte er Luzifer nicht geben. Alles, was dieser gesagt hatte, musste er schließlich jeden Tag mit ansehen. Aber er glaubte immer noch an das Gute im Menschen. Schließlich hatte er ihn nach seinem Ebenbilde geformt.

„So sei es“ sprach Gott und bekräftigte die Abmachung durch einen Handschlag mit Luzifer.

*




Nun hatte sich Gott überlegt, dass er ja nicht alle sechs Milliarden Menschen auf der Welt testen kann. Ziemlich schnell würde er die Übersicht verlieren. Er dachte angestrengt nach und erinnerte sich plötzlich an seine heilige Zahl. In sieben Tagen hatte er die Welt erschaffen. Also sollten es auch sieben Menschen sein, die er stellvertretend für alle dem Test unterziehen würde.
Er schickte seine Erzengel auf die Erde, um in den verschiedenen Ländern würdige Vertreter auszusuchen. Diesen wollte er dann eine gemeinsame Aufgabe stellen, die sie in gegenseitiger Rücksichtnahme, Harmonie und Nächstenliebe bewältigen sollten.
Nach und nach kehrten seine Erzengel zurück und stellten dem Herrscher der Welt ihre Probanden vor.

„Diesen schwarzen Mann habe ich in Afrika gefunden. Er ist der Häuptling des größten Eingeborenenstammes im Urwald, stark und stolz, mächtig und angesehen bei seinem Volke. Mit großem Scharfsinn verteidigt er seine Stammesbrüder gegen die Unbilden der Natur und gegen kriegerische Feinde. Er ist ein würdiger Vertreter seiner Rasse.“
Erzengel Michael verbeugte sich vor seinem Gott. Dieser ließ den Mann zu seinen Füßen Platz nehmen und gewährte ihm einen ersten Blick auf die himmlischen Freuden, die auf ihn warteten.

„Diese Frau habe ich in Korea gefunden. Sie stand in der riesigen Stadt Pjöngjang mitten auf einer viel befahrenen Straßenkreuzung und regelte den Verkehr. Sie ist zwar klein und zierlich, aber sehr resolut. Es gehören eine Menge Mut und starke Nerven dazu, sich in diesem Gewühl zurecht zu finden und für Ordnung zu sorgen. Sie ist eine würdige Vertreterin ihrer Rasse.“
Erzengel Raphael verbeugte sich vor seinem Gott. Dieser ließ die Frau zu seinen Füßen Platz nehmen und gewährte auch ihr einen ersten Blick auf die himmlischen Freuden, die auf sie warteten.

„Diesen Mann habe ich in den südamerikanischen Anden gefunden. Er kletterte allein und ohne Seil auf die höchsten Bergspitzen. Ich habe noch bei keinem Menschen so viel Kraft und Ausdauer gesehen. Als ich ihn fragte, ob er keine Angst hätte abzustürzen oder sich zu verirren, antwortete er mir, er vertraue auf Gott. Ein so gläubiger Mensch ist ein würdiger Vertreter seiner Rasse.“
Erzengel Gabriel verbeugte sich vor seinem Gott. Dieser ließ den Mann zu seinen Füßen Platz nehmen und gewährte auch diesem einen ersten Blick auf die himmlischen Freuden, die auf ihn warteten.

„Diese Frau fand ich in Deutschland. Sie arbeitet in einer Ausländerbehörde. Ständig ist sie bemüht, Menschen aus anderen Kulturkreisen das Einleben in ihrem Land zu erleichtern. Mit viel Verständnis hilft sie den Menschen, die in ihrer Heimat teilweise Schlimmes durchgemacht haben, bei der Eingliederung in der für sie fremden Welt. Bei ihrer Arbeit muss sie die eigenartigsten Hieroglyphen entziffern. Ihr Telefon steht nie still und sie bleibt immer freundlich. Sie organisiert Termine und hat für alle, die mit einem Anliegen zu ihr kommen, ein gutes Wort. Sie ist eine würdige Vertreterin ihrer Rasse.“
Erzengel Uriel verbeugte sich vor seinem Gott. Dieser ließ die Frau zu seinen Füßen Platz nehmen und ließ auch sie einen ersten Blick auf die himmlischen Freuden werfen.

Diesen Mann habe ich bei den Eskimos in Lappland gefunden. Weil sein Kind schwer erkrankte, machte er sich ganz allein mit seinem Hundeschlitten auf den Weg, um in der weit entfernten Stadt Medikamente zu holen. Er war drei Wochen unterwegs, in denen er die schlimmsten Strapazen durchmachte und sich nur von Wasser und gedörrtem Fisch ernährte. Er teilte sein karges Mahl gerecht mit seinen Hunden und verteidigte sie gegen Wölfe. Er verlor keinen einzigen von ihnen und sie brachten ihn rechtzeitig zu seinem Kinde zurück. Ein so aufopferungsvoller Mann ist ein würdiger Vertreter seiner Rasse.“
Erzengel Daniel verbeugte sich vor seinem Gott. Dieser ließ den Mann zu seinen Füßen Platz nehmen und auch er durfte die himmlischen Freuden begutachten.

Diesen Mann lernte ich in Australien kennen. Er lief mit mehreren Begleitern durch das Outback. Sie überquerten Hindernisse und gefährliche Flüsse. Seine Freunde kamen in Streit über die Richtung, die sie einschlagen mussten. Aber er schlichtete immer wieder und gab ihnen Mut. Er führte seine Gruppe tapfer durch alle Gefahren und teilte mit ihnen den letzten Schluck Wasser. Und er brachte alle sicher zum Ziel. Ein so umsichtiger Mann ist ein würdiger Vertreter seiner Rasse.“
Erzengel Samuel verbeugte sich vor seinem Gott. Dieser ließ den Mann zu seinen Füßen Platz nehmen und gewährte ihm ebenfalls einen ersten Blick auf die himmlischen Freuden, die auf ihn warteten.

Diesen Mann habe ich in einer englischen Hafenkneipe gefunden. Dort erzählte er allen Anwesenden von seinen Abenteuern, die er auf hoher See erlebt hat. Er hat mit seinem Segelschiff die schlimmsten Stürme überstanden. Er erlitt Schiffbruch und wurde von einem Hai angegriffen. In einem Kampf auf Leben und Tod hat er den Hai besiegt. Dann ist er zu einer einsamen Insel geschwommen und baute dort sieben Jahre lang ein neues Segelboot, mit dem er dann heimwärts segelte. Ein so mutiger Mann ist ein würdiger Vertreter seiner Rasse.“
Erzengel Immanuel verbeugte sich vor seinem Gott. Dieser ließ den Mann zu seinen Füßen Platz nehmen und ihn ebenfalls die himmlischen Freuden bewundern.

Nun waren alle Testpersonen eingetroffen und saßen zu Gottes Füßen. Sie sahen zu ihm auf und fragten ihn, was er von ihnen wolle. Sie hätten Wichtigeres zu tun, als auf einer Wolke zu sitzen und untätig auf die Welt hinab zu starren.

Da sprach Gott zu ihnen:
„Ich bin euer Herr! Wahrlich, ich sage euch, es ist die Zeit des jüngsten Gerichts gekommen. Die Welt ist schlecht. Die Menschen sind schlecht. Ihr seid durch den Einfluss Luzifers nicht so rein geblieben, wie ich euch erschaffen habe. Aber ich will euch noch eine Chance geben. Ihr seid die würdigsten Vertreter euerer Rasse und auserkoren, die Menschheit zu retten. Wenn ihr euch bewährt, so ist das ewige Leben euer. Doch versagt ihr, so werdet ihr Höllenqualen erleiden bis ans Ende aller Zeiten, und Luzifer sei künftig euer Herr.“

Die Menschen schauten sich verwirrt an. Dann redeten alle durcheinander.
„Warum ausgerechnet wir? Es gibt sechs Milliarden andere Menschen, die das viel besser könnten. Dass kann er doch nicht von uns verlangen. Wir haben keine Zeit für solche Scherze. Wir müssen zurück auf die Erde, unsere Familien warten auf uns. Wir wollen sofort zurück gebracht werden!“

Da stampfte Gott mit dem Fuß auf, dass es auf der Welt donnerte.
„Ihr werdet zurückgebracht auf die Erde. Aber ihr habt eine Aufgabe zu erfüllen. Es ist eine Aufgabe, die ihr schaffen könnt, denn vor euch hat es schon einer geschafft.
Als ich die Sintflut über das Land brachte, gab es nur einen Mann, der die Menschheit retten konnte, das war Noah. Ihr aber seid sieben. Und schafft ihr es nicht, so ist die Welt verloren.
Ihr werdet in die Wüste gehen und sie in 40 Tagen durchqueren, bis ihr das gelobte Land erreicht. Dort werdet ihr einen Ölbaumzweig brechen und ihn mir bringen. Ihr werden große Qualen erleiden und euch gegenseitig helfen. Nur so werdet ihr euer Ziel erreichen. Und jetzt geht!“

Doch die Menschen dachten gar nicht daran, zu gehen. Schließlich lebten sie nicht mehr im alten Testament.

Der Afrikaner sprach: „Ich bin ein Waldmensch. Mein Leben lang habe ich im Wald gelebt. Ich kenne jeden Baum und jedes wilde Tier. Du kannst mich nicht in die Wüste schicken. Dort würde ich sterben und keinem wäre damit gedient.“

Daraufhin sprach die Koreanerin: „Ich bin ein Stadtmensch. Mein Leben lang habe ich in der Großstadt gelebt. Ich finde mich im Gewühl der Straßen, Häuser, Autos und U-Bahnen zurecht. Aber in der Wüste würde ich mich heillos verirren. Du kannst mich nicht in die Wüste schicken. Dort würde ich sterben und keinem wäre damit gedient.“

Danach sprach der Südamerikaner: „Ich bin es gewöhnt, allein auf Berge zu steigen, steile Felsen zu erklimmen und über Gletscher zu wandern. Ich bin ein Einzelgänger und werde mich nicht anderen Menschen unterordnen. Laß mich allein in die Berge gehen und ich will die Welt retten. Du kannst mich nicht in die Wüste schicken. Dort würde ich sterben und keinem wäre damit gedient.“

Als nächstes meldete sich die Deutsche zu Wort: „Ich bin ein Büromensch, gewöhnt mit Computer und Telefon umzugehen. Aber ich sitze die meiste Zeit des Tages am Schreibtisch. Schon ein kleiner Spaziergang strengt mich an. Und da willst du mich 40 Tage in die Wüste schicken? Dort würde ich sterben und keinem wäre damit gedient.“

Auch der Eskimo hatte einen Einwand: „Ich lebe, seit ich denken kann, in Eis und Schnee. Temperaturen von 50 Grad unter Null machen mir nichts aus. Aber Hitze vertrage ich überhaupt nicht. Du kannst mich nicht in die Wüste schicken. Dort würde ich sterben und keinem wäre damit gedient.“

Der Engländer hatte sich eine Pfeife in den Mund gesteckt und paffte Gott seinen Rauch ins Gesicht: „Gib mir ein Schiff und ich segle für dich um die ganze Erde, bis ich das gelobte Land erreiche. Laufen werde ich keinen Schritt. Du kannst mich nicht in die Wüste schicken. Dort würde ich sterben und keinem wäre damit gedient.“

Nur der Australier verbeugte sich vor Gott, kreuzte seine Hände vor der Brust und sagte: „So sei es, Herr.“

*




Als Gott die Einwände seiner Untertanen vernommen hatte, wurde er sehr wütend. Er raufte sich seinen langen Bart und schaute seine Engel hilfesuchend an. Dann fiel sein Blick auf Luzifer, der ihm demonstrativ ins Gesicht lachte.

„Hast du vielleicht eine bessere Idee?“ fragte er seinen Widersacher.

„Hört, hört!“ entgegnete Luzifer, „der große Meister fragt mich um Rat. Es ist mir eine Ehre.
Was hast du davon, sie in die Wüste zu schicken? Die Menschen sind schwach, seit du sie aus dem Paradies vertrieben hast. Gib ihnen eine Aufgabe, der sie gewachsen sind. Schicke sie in das Milieu, aus dem sie kommen. Aber mache es ihnen nicht zu einfach. Sie sollen sich in dem Bereich bewähren, in dem sie sich angeblich so gut auskennen.“

Luzifer verbeugte sich mit feinem Lächeln vor Gott und beobachtete die Menschen aus den Augenwinkeln, die über seinen Vorschlag sichtlich erleichtert waren. Er sah dabei in ihr Inneres und wusste genau: waren die Menschen erst wieder in ihrem gewohnten Umfeld, würden sie ihre Aufgabe schnell vergessen und in ihre alten Sünden zurückfallen. Und somit hätte er gewonnen und die Menschheit wäre endgültig sein.

Gott aber erkannte die Falle, die Luzifer ihm stellen wollte. Trotzdem kam er ihm entgegen:

„So sei es“ sprach Gott. „Gehet zurück auf die Erde und eueren Geschäften nach. Aber nicht in eurer Heimat. Der Waldmensch soll in die Taiga gehen und dort 40 Tage überleben. Der Stadtmensch gehe nach Chicago, der Bergmensch in den Himalaja, der Büromensch in die Emirate, der Schneemensch in die Antarktis, der Wüstenmensch in die Sandwüste Dahna und der Meermensch soll den Indischen Ozean befahren. Und um euch allen die gleiche Chance zu geben, sollt ihr die jeweilige Landessprache sprechen. Als Abschiedsgeschenk gebe ich euch eine feine Tunika aus dem edelsten Linnen, in dem das Zeichen Gottes eingestickt ist, damit ihr eure Aufgabe nicht vergesset. Gehet hin in Frieden!“

Und ehe sie es sich versahen, fuhren die Menschen hinab zur Erde und kamen in ein fremdes Land. Die Tunika schützte ihr Leben, aber sie bewahrte sie nicht vor Hitze oder Kälte und am wenigsten vor den Versuchungen des Teufels.


*




Der Waldmensch



„Ist das so kalt hier.“ Der Afrikaner zog die dünne Tunika fest um seinen Leib und blickte sich um. Wohin er auch schaute, undurchdringliches Dickicht. Die Bäume waren so hoch, dass er die Sonne nicht sehen konnte. Es war nicht zu erkennen, wo sich Norden, Süden, Osten oder Westen befanden.
Seine Füße steckten in leichten Sandalen. Als er einen Schritt vorwärts tat, knackte es laut. Im gleichen Augenblick erhob sich vor ihm ein bis dahin für ihn unsichtbarer Vogel und strich mit rauschendem Flügelschlag über seinen Kopf. Der Afrikaner erschrak sehr. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse. Er mußte vorsichtig sein. Wie schnell konnte auf ihn ein wildes Tier herabspringen und ihn lautlos töten. Er blickte vorsichtig nach oben, aber nichts regte sich. Langsam schob er sich vorwärts, akribisch darauf achtend, dass er nicht wieder auf einen Zweig trat.
Die Kälte und die Dunkelheit machten ihm zu schaffen. Und nun bekam er auch noch Hunger. Er hatte weder eine Waffe zum Jagen bei sich, noch Stein und Zunder, um sich ein Feuer zu machen. Da er sein ganzes Leben im Wald verbracht hatte, wusste er, dass das sein Ende bedeuten konnte, noch ehe der Tag vergangen war. Er bedauerte seinen Ungehorsam gegen Gott und wünschte sich, er hätte den Vorschlag angenommen, mit ein paar Kameraden durch die Wüste zu wandern. Da wäre er wenigstens nicht allein gewesen.
Neben sich hörte er ein leises Fauchen. Das kannte er genau, denn mit den Stimmen des Waldes war er aufgewachsen. Langsam duckte er sich und machte sich bereit, den Sprung des Tieres abzufangen. Angestrengt horchte er in den Wald hinein. Da war es wieder, diesmal von hinten. Undeutlich erkannte er vor sich am Boden einen dicken Ast liegen. Diesen hob er langsam auf. In dem Moment spürte er, wie sich das Tier hinter ihm abdrückte und auf ihn zusprang. Mit dem Ast in den Hand wirbelte er herum und schlug ihm mit voller Wucht auf den Schädel. Tödlich getroffen krachte der Luchs vor seine Füße. Schwer atmend kauerte sich der Waldmensch vor seine Beute und untersuchte die Raubkatze. Es war ein ausgewachsenes Männchen mit scharfen Reißzähnen und mächtigen Krallen. Sein Fell war dick und weich und der Mann überlegte, wie er es ohne Messer abziehen könnte. Er musste dem Luchs die Reißzähne ausbrechen und sich daraus ein brauchbares Werkzeug herstellen. Mit dem Knüppel schlug er so lange auf den Kopf der Katze ein, bis ihr die langen spitzen Zähne abbrachen. Mit diesen öffnete er den Körper des Luchses, aus dem sofort das warme Blut quoll.
Gierig trank er den Lebenssaft, schnitt die Leber heraus und verzehrte diese roh. Jetzt ging es ihm besser. Er zog dem Tier das Fell ab und zerlegte es, wie er es schon als kleiner Junge bei seinem Stamm gelernt hatte. Dann grub er mit bloßen Händen eine Grube, legte das Fleisch hinein und bedeckte es wieder. Die Haut säuberte er mit Blättern und schabte sie mit Zweigen und Erde glatt. Das war Schwerstarbeit. Immer wieder musste er neue trockene Blätter, Steine und Erde suchen, um die Haut von allen Fleischresten zu befreien und sie glatt und geschmeidig zu walken.
Als er fertig wurde, war es tiefe Nacht. Er wickelte sich in das Luchsfell, lehnte sich mit dem Rücken an einen Baumstamm und schloss die Augen.
Im Morgengrauen erwachte er von entfernten Stimmen. Im Nu war er auf den Beinen, gefasst darauf, angegriffen zu werden. Er arbeitete sich lautlos durch den Busch, überwand mehrere umgestürzte Baumstämme und dann stieg ihm auch schon ein überwältigender Geruch in die Nase.
Durch die Zweige des Unterholzes gedeckt, gewahrte er zwei Männer mit langen Büchsen, die sich unweit von ihm niedergelassen hatten, auf kleinem Feuer Fleisch brieten und scheinbar etwas berieten. Er schlich sich an und hörte, wie sie sich über die Bärenjagd unterhielten. Nicht weit von ihnen entfernt sah er einen gehäuteten Braunbär liegen. Die Männer hatten angefangen, ihn zu teilen. Als sie an die Innereien kamen, steckten sie diese an Spieße, entzündeten ein Feuer und bereiteten sich ein üppiges Mahl.
Dem Afrikaner stieg ein unbändiges Verlangen in die Kehle. Er musste an das Fleisch gelangen und er musste seine erfrorenen Glieder am Feuer wärmen. Keine Macht der Welt konnte ihn von seinem Vorhaben abhalten. Was sollte er tun? Er konnte nicht einfach auf die Männer zugehen und sie um etwas zu essen bitten. Noch ehe er den Mund aufgetan hätte, würde ihm eine Kugel im Bauch stecken. Das Gesetz der Wildnis kannte er genau: fressen – oder gefressen werden. Egal, ob im afrikanischen Urwald oder in der Taiga, es war überall das Gleiche.
Leise schlich er sich an. Die Männer plauderten ungezwungen, verschlangen ein Stück nach dem anderen von den Köstlichkeiten, rülpsten und rekelten sich. Dann stand der eine auf, ging ein paar Schritte zur Seite, stellte sich mit dem Rücken zu seinem Kameraden an einen Baum und schlug sein Wasser ab.
Das war die Gelegenheit für den Waldmensch. Er sprang auf den Sitzenden zu, umklammerte seinen Kopf und brach ihm mit einem Ruck das Genick. Dann griff er sich dessen Gewehr und erschoss den anderen, der von alledem nichts mitbekommen hatte, von hinten. Heißhungrig stopfte er sich die Reste des knusprigen Fleisches in den Mund.
Plötzlich stand ein Mann vor ihm, in einem roten Gewande, das Jägerhütchen keck in die Stirn geschoben. Der Waldmensch ahnte nicht Gutes. Da reichte ihm Luzifer die Hand und sprach:
„Ich bin sehr zufrieden mit dir. Du hast mich nicht enttäuscht.“
Und ehe er noch wusste, wie ihm geschah, war keine Taiga mehr um ihn und er stand vor Gott. Der schaute ihn zürnend an. Dann zwang er ihn, sich vor ihn nieder zu knien. Er erhob seine Stimme und rief laut, dass es im ganzen Himmelreich zu hören war:
„Wehe dir, arme Seele. Du verstießest gegen mein Gebot: ‚Du sollst nicht töten‘. Du wirst bis ans Ende aller Zeiten Höllenqualen erleiden und mit dir dein ganzes Volk. Denn du bist nicht würdig, an meiner Rechten zu sitzen. Du seist verdammt in alle Ewigkeit. Und er setzte ihn zu seiner Linken.

*




Der Bergmensch



Der Bergmensch fand sich auf einer Klippe hoch über den Wolken wieder. Es herrschte ein heftiges Schneetreiben, er konnte keine drei Meter weit blicken. Er war zwar ein abgehärteter Bursche, in seiner dünnen Tunika fror er jedoch jämmerlich. Mit zittriger Hand tastete er sich an der Felswand entlang. Zentimeter für Zentimeter schob er sich vorwärts. Dann fühlte er, wie der Boden unter ihm weicher wurde. Der Schnee lag an dieser Stelle etwas höher. Noch zwei bis drei Meter weiter gewahrte er eine mächtige Wehe.
Er begann mit bloßen Händen zu graben. Der eisige Wind schnitt ihm in die Lungen, er aber arbeitete sich mit stoischer Gelassenheit immer weiter in die Wehe hinein. Nach einiger Zeit hatte er ein genügend großes Loch gegraben, in welches er mit seinem ganzen Körper hinein passte. Er spürte seine Hände kaum noch, aber er schichtete vor sich den Schnee wieder auf, um so vor dem Wind geschützt zu sein. In dieser Höhle würde er den Sturm abwarten. Durch seinen Atem wurde es in dem engen Bau bald warm und ihm fielen vor Erschöpfung die Augen zu.
Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er seine Augen öffnete, hatte sich der Sturm gelegt. Die vollkommene Ruhe um ihn herum machte ihn sicher. So grub er sich aus seiner Wehe und blinzelte in den tiefblauen Himmel, der von gleißendem Sonnenlicht überstrahlt wurde. Leuchtend weiße Schäfchenwolken zogen über ihn dahin, als hätte es nie einen Sturm gegeben.
Er blickte sich um und erkannte, dass etwa 3 Meter unter ihm ein schmaler Grat am Fels entlang führte. Mit geübten Griffen suchte er Halt in den winzigen Vorsprüngen und kletterte zum Grat hinab. Hier ließ es sich etwas besser laufen. Er balancierte um die Felswand herum und gelangte auf ein großes Gletscherfeld. Wie mit Silberpfeilen übersät funkelte ihm der frische Schnee entgegen.
Da dankte er Gott, der ihm sein festes Schuhwerk gelassen hatte. Kräftig schritt er aus, wohl darauf achtend, dass er in keine Gletscherspalte geriet, die sich unter der Neuschneedecke verborgen hatte. Nach etwa einer Stunde hatte er den Gletscher überwunden.
Ein schmaler Pfad führte ihn zwischen steilen Felswänden hindurch. Plötzlich hörte er einen unterdrückten Hilfeschrei. Er blickte sich suchend um und erkannte etwa zwanzig Meter über sich auf einem Felsvorsprung einen Mann, welcher ihm schwach mit einem Arm Zeichen gab.
„Was ist passiert?“ rief er hinauf.
Der Mann über ihm stöhnte leise. Dann antwortete er: „Helfen Sie mir. Ich bin vor zwei Tagen abgestürzt und habe mir ein Bein gebrochen.“
Der Bergmensch überlegte nicht lange. „Ich komme zu Ihnen, bleiben Sie ganz ruhig.“
Als geübter Freikletterer blickte er sich nach einem passenden Aufstieg um. Etwa dreißig Meter weiter gewahrte er einige Felsnasen, welche ihm guten Halt boten. Er begann die gefährliche Besteigung des vereisten Terrains. Zentimeter für Zentimeter zog er sich nach oben, dem Verunfallten näher. Nach einer Stunde hatte er es geschafft. Er saß schwer atmend neben dem Bergsteiger auf dem schmalen Vorsprung.
„Da haben Sie aber Glück gehabt. Ein halber Meter weiter vorn, und Sie wären hunderte Meter in die Tiefe gestürzt. Sind Sie denn ganz allein geklettert?“
Der Mann stöhnte, sein Atem ging pfeifend. Das Reden fiel ihm sichtlich schwer. „Nein, wir waren zu zweit. Mein Partner hatte nicht so viel Glück wie ich. Wir waren aneinander geseilt. Da er der erfahrenere Bergsteiger ist, kletterte er etwa fünf Meter über mir und befestigte die Haken. Wie aus dem Nichts erfasste ihn eine Bö. Er rutschte plötzlich ab und fiel in die Tiefe. Durch den Ruck verlor auch ich den Halt und wurde ein Stück mitgerissen. Ich schlug hier auf der Felsnase auf und rutschte dann auf der anderen Seite ein Stück nach unten. Dabei muss ich mir das Bein gebrochen haben. Mit letzter Kraft konnte ich mich auf diesen Vorsprung retten. Er hing am anderen Ende des Seils tief unter mir. Ich konnte ihn nicht nach oben ziehen. Und dann kam der Schneesturm. Er pendelte furchtbar
hin und her. Ein Haken rutschte aus der Wand und sauste an meinem Kopf vorbei. Fast hätte er mich mit in die Tiefe gerissen. Da hat mein Freund sich ausgeklinkt. Er wollte wenigstens mir eine Chance geben.“
Ungläubig schaute der Freikletterer ihn an. Dann erkannte er das lange Seil, welches immer noch auf der anderen Seite des Vorsprungs im Bodenlosen hing. Der Unglücksrabe hatte die Wahrheit gesprochen.
Der Bergmensch zog das Seil zu sich herauf. Dann fragte er sein Gegenüber, ob er in seinem Rucksack Werkzeug hätte, mit dem er ihm das Bein schienen könnte.
„Ich habe ein Bergzelt mit. Schauen Sie bitte selbst, ob etwas davon zu gebrauchen ist.“
Der Bergmensch packte alles aus und besah sich die Ausrüstung. Er fand Zeltstangen und band diese mit Lederriemen am Bein des Opfers fest. Daraufhin bot ihm dieser einige Kleider aus seinem Rucksack an. Wetterfest ausgestattet, band er sich den Verletzten auf den Rücken und begann den Abstieg. Nach fünf Stunden mühseliger Kletterei und Gewaltmarsch erreichten sie schon bei Dunkelheit eine Berghütte. Der Bergmensch bettete den fast ohnmächtigen Mann auf eine Pritsche und setzte über Funk einen Notruf ab. Eine halbe Stunde später landete der Hubschrauber und brachte beide ins Tal. Im Krankenhaus angekommen, war auch schon die Polizei zur Stelle, um ein Protokoll aufzunehmen. Als der Bergmensch jedoch seine Papiere vorweisen sollte, konnte er dies nicht. Daraufhin nahm ihn die Polizei fest.
In seiner argen Bedrängnis betete er zu Gott, dieser möge ihn nicht nach all den Strapazen, die er ihm auferlegt hatte, nun auch noch in die Hand der Staatspolizei geben, die ihm nicht, wie einem Lebensretter, sondern wie einem Schwerverbrecher Handschellen angelegt hatte.
Da hatte Gott Erbarmen und holte ihn zu sich.
Gott sprach: „Du hast dich bewährt und das Gebot der Nächstenliebe geachtet. Du sollst zu meiner Rechten sitzen und mit dir dein ganzes Volk.

*


Der Stadtmensch



Die Koreanerin fand sich in den Slums von Chicago wieder. Sie lief zwischen verwahrlosten baufälligen Hütten hindurch. Es stank nach Unrat, vermischt mit Urin und Essengerüchen. Ratten sprangen quiekend zur Seite und sie trat in einen Hundehaufen. Schwarze schmutzige Kinder mit dicken Bäuchen spielten im Morast. Ein paar Jugendliche rückten ihr gefährlich auf den Leib. Sie lief um ihr Leben. Da riefen sie ihr unflätige Ausdrücke hinterher. Völlig verängstigt erreichte sie eine Straße und legte sich vor das erstbeste Fahrzeug, welches mit einer Notbremsung zum Stehen kam. Der Fahrer des Pickup sprang aus seinem Fahrzeug, zog die Koreanerin an ihrer Tunika hoch und schimpfte wie ein Rohrspatz.
„Bist du ganz verrückt geworden, willst du dich umbringen?“
Dann schaute er auf die sonderbare Aufmachung der jungen Frau und schüttelte seinen Kopf.
„Von welchem Stern bist du denn gefallen? Ist dir was passiert, hast du dich verletzt?“
Sie schüttelte nur ihren Kopf.
„Na komm, setz dich ins Auto, ich nehme dich mit in die City.“
Dankbar ließ sie sich auf den Beifahrersitz fallen und brach dann in Tränen aus.
„Nun erzähl schon, was ist passiert?“
Aber sie schwieg. Die Wahrheit konnte sie ihm nun wirklich nicht sagen. Er aber ließ nicht locker. „Hast du irgendeine Adresse, wo ich dich hinbringen soll?“
Sie schüttelte nochmals den Kopf. „Nein, ich bin fremd hier“
„Na, so siehst du auch aus. Ich nehme dich mit nach Hause. Meine Frau kann dir was anständiges Anzuziehen geben. Hast du Hunger?“
Die junge Frau nickte dankbar. Sie hielten an einem Imbißstand. Der gutmütige Mann spendierte ihr Erbsen mit Speck, dazu eine Cola. Diese Speisen waren zwar sehr ungewohnt für sie, dennoch fühlte sie sich etwas besser.
Am Stadtrand von Chicago hielt er vor einem kleinen Haus.
„Aussteigen bitte, hier wohne ich.“
Seine Frau viel aus allen Wolken, als diese seltsame Gestalt nach ihrem Mann die Wohnung betrat. Er erklärte ihr, dass das Mädchen plötzlich wie vom Himmel gefallen, vor seinem Auto lag. Die Koreanerin musste bei diesen Vergleich grinsen; er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
Die Frau ließ ihr ein heißes Bad ein und bereitete im Gästezimmer ein Bett. Jetzt erst wurde der Koreanerin bewusst, wie durchgefroren sie war und sie nahm diese Geschenke dankbar an.
Am Abend wurde sie von der Frau des Hauses geweckt und zum Lunch eingeladen. Nun musste die Koreanerin aber erzählen, wie sie in diese Situation geraten war. Was sollte sie sagen? Die beste Horrorgeschichte kam an die Wirklichkeit nicht heran. So dachte sie sich eine eher glaubwürdige Story aus.
„Ich wurde auf offener Straße entführt. Sie haben mich in ein Auto gezerrt, mir alle Sachen, Ausweise und Geld gestohlen und dann haben mich die Verbrecher in ein Bordell verkauft. Zum Glück konnte ich von dort fliehen. Aber jetzt weiß ich nicht, wie ich nach Hause kommen soll. Zur Polizei kann ich schlecht gehen, ich kann mich ja nicht ausweisen.“
Die Familie hatte großes Mitleid mit der Frau. Man hielt Familienrat und beschloss dann, sie als Kindermädchen zu behalten. Sie war einverstanden.
Die beiden Töchter, drei und sieben Jahre alt, sollte sie am nächsten Tag kennen lernen.
Die Ältere, ein hübsches, intelligentes Kind, musste für die Schule fertig gemacht werden. Die Mutter der Kinder zeigte der Koreanerin, worauf sie achten musste, was die Kinder zum Frühstück bekamen, anziehen sollten, und was die Große mit in die Schule zu nehmen hatte.
Die Kleine war ungewöhnlich weit für ihr Alter. Um sie musste sich das Kindermädchen nun den ganzen Tag kümmern. Und sie wurde auf Trab gehalten. Das Kind zeigte ihr sämtliches Spielzeug, welches es aus Schränken, Truhen und Kästen auspackte und ihr vor die Füße legte. Zu jedem Teddy, Auto, Buch oder anderem Ding fiel der Kleinen eine Geschichte ein. Das Mädchen wusste noch ganz genau, wann und zu welchem Anlass sie alles bekommen hatte und der Koreanerin wurde ganz schwindelig von dem unaufhörlichen Geschnatter.
Mit Kindern hatte sie absolut keine Erfahrung. Ihr war unklar, wie sie das Chaos jemals wieder beseitigen sollte.
Dann musste sie dem Kind aus verschiedenen Büchern vorlesen. Jedoch kannte die Kleine scheinbar alle Bücher auswendig. Jeweils nach ein bis zwei Seiten wurde ihr die Geschichte langweilig. Sie erzählte ihrem Kindermädchen schnell den Ausgang und verlangte ein neues Buch.
Mitten in der fünften Erzählung fiel ihr plötzlich ein, dass sie riesigen Hunger hatte. Die Koreanerin war mit den Nerven am Ende. Das war keine Aufgabe für sie, keinen Tag länger hielt sie das aus. Sie musste hier fort, sie wollte nach Hause, aber ohne Geld?
Da beide Elternteile das Haus verlassen hatten und sie nicht wusste, was zum Mittagessen eingeplant war, wollte sie nicht in der Küche nach irgend etwas Essbarem suchen. Sie machte dem Kind den Vorschlag, in ein Café zu gehen. Natürlich war die Kleine hellauf begeistert. Nun gab es da bloß noch ein Problem. Sie hatte keinen Cent in der Tasche. Ratlos schaute sie das Kind an.
„Weißt du zufällig, ob deine Mama irgendwo Geld liegen hat?“
Natürlich wusste sie das. Zielstrebig ging das Kind an einen Schrank, öffnete diesen und ein Wandtresor kam zum Vorschein.
„Hier drin ist das Geld“
„Ja, das ist schön“ erwiderte das Kindermädchen entmutigt. „Aber da kann ich nicht hinein, ich weiß die Zahlen nicht.“
„Aber ich! Es ist mein Geburtstag, der 18.12.1998.“
Die Koreanerin traute ihren Ohren nicht. Das Kind wusste wirklich über alles Bescheid. Und die Nummer stimmte genau. Sie öffnete den Tresor. Da lagen neben diversen Wertpapieren hübsch aufgereiht, mehrere Stapel Geldscheine, mindestens 5000 Dollar. Scheinbar hatten die Eltern der Kinder kein Vertrauen zu den Banken. Nun, das sollte ihr Pech sein. Sie schickte das Mädchen in den Flur. Es sollte sich inzwischen ihr Mäntelchen anziehen. Flugs steckte sie sämtliches Bargeld in ihre Taschen und verschloss den Tresor.
Gemeinsam verließen sie das Haus. Das Kind kannte sich auch hier gut aus und führte die Koreanerin zu einer nahegelegenen Eisdiele. Sie setzten sich an einen kleinen runden Zweiertisch und bestellten Kuchen und Kakao. Die Bedienung kannte das Kind, da es mit seiner Mutter öfters dieses Lokal besuchte. Sie fragte es nach ihrer Mama und wer die Koreanerin sei. Das Mädchen erzählte ihr dann auch ganz aufgeschlossen, dass dies ihr neues Kindermädchen sei.
Nachdem beide ihren Kuchen verzehrt hatten, verlangte das Kind noch ein Eis. Das Kindermädchen bestellte es. Dann legte es einen Geldschein auf den Tisch und bat das Kind zu bezahlten, wenn die Serviererin käme. Sie müsse dringend zur Toilette. Stolz hielt das Kind das Geld in der Hand und rief: „Geh nur, ich mache das schon“.
Zum Glück waren die Toilettenfenster nicht vergittert und so gelangte die Koreanerin ohne Schwierigkeiten aus dem Haus und verschwand. Das Kind war ja in guten Händen, man kannte es und konnte zur Not die Eltern verständigen. Mit 5000 Dollar in der Tasche sollte es ihr doch gelingen, in ihre Heimat zurück zu kehren.
Doch sie hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Plötzlich stand Luzifer vor ihr: „Ich bin stolz auf dich. Wofür sollte man guten Menschen auch noch dankbar sein. Sie sind selbst daran schuld, wenn sie bestohlen werden. So viel Leichtfertigkeit muss bestraft werden. Und du warst mir eine große Hilfe dabei!“
Und schon standen beide vor Gott, welcher ein finsteres Gesicht zog:
„Du sollst nicht stehlen! Hast du nie von meinem Gebot gehört? Du hast Gutes mit Schlechtem vergolten. Du bist es nicht wert, zu meiner Rechten zu sitzen und mit dir dein ganzes Volk.“ Und er setzte sie zu seiner Linken.

*




Der Meermensch



Drei Tage nach dem verheerenden Orkan waren die Reparaturen an dem Dreimaster immer noch nicht abgeschlossen. Der Hauptmast war gebrochen. Einige Segel, die nicht mehr rechtzeitig eingeholt werden konnten, wehten zerrissen im Wind. Auch das Steuerruder hatte etwas abbekommen.
Der Sturm hatte die Besatzung nachts mitten im Schlaf überrascht. Ehe noch der Wachhabende die Glocke läuten konnte, war die See über ihnen. Das Schiff wurde wie eine Nussschale hin und her geworfen. Der Steuermann verlor die Kontrolle und im dichten Nebel auch noch die Orientierung. Weit vom Kurs abgekommen, dümpelte der Schoner nun manövrierunfähig in unbekanntem Gewässer.
Die Laune an Bord war miserabel. Zu allem Überfluss hatten die Wasserfässer an Bord undichte Stellen bekommen und das bittere Meerwasser hatte sich mit dem wertvollen Trinkwasser vermischt.
Die Matrosen fingen an zu meutern. Der Kapitän stand in seiner durchnässten Uniform am Bug und blickte durch das Fernglas aufs Meer hinaus. Der Funker hatte mehrere Notrufe abgesetzt, aber noch immer ließ sich kein Schiff zu Rettung blicken. Verdrossen ging er zur Messe, holte mehrere Flaschen Rum und verteilte sie an die Mannschaft. Vorerst waren die Männer etwas besänftigt.
Provisorisch hatte man den Mastkorb am Vormast befestigt. Von dort oben ertönte plötzlich die Stimme:
„Schiff in Sicht!“
Der Kapitän rannte wieder zum Bug und hielt das Fernglas vor die Augen. Nach einer ganzen Weile konnte er die Totenkopfflagge erkennen.
„Das ist ein Freibeuter! Und wir können ihm nicht entkommen. An die Waffen, Männer, unsere Seelen sind teuer!“
Alles rannte durcheinander. Schnell wurde das Piratenschiff größer, man konnte bereits einige Gestalten an der Reling erkennen. Dann ging es längsseits. Wehrlos mussten die Matrosen mit ansehen, wie die Enterhaken durch die Luft sirrten und sich einhakten. An Bord gab es keine Schusswaffen, denn der Schoner gehörte zur indischen Handelsflotte. Nur mit Messern bewaffnet, erwartete die Besatzung die Piraten. Es wurde ein kurzer, schmerzhafter Kampf, die meisten Matrosen ergaben sich schnell der Übermacht. Dann wurden die wertvollen Ballen Stoff, die das Segelschiff transportierte, in den Freibeuter umgeladen. Auch die Gefangenen brachte man an Bord des Piratenschiffes, um sie in einem Hafen als billige Sklaven zu verkaufen. Ihr Schiff wurde versenkt.
Der Kapitän hatte alles schweigend über sich ergehen lassen und saß nun mit seiner Mannschaft eingezwängt im Laderaum des Kaperschiffes. Hier unter Deck gab es kein Licht. Der spärliche Schimmer, der durch einige kleine Bullaugen hereindrang, konnte gerade so die Konturen der Männer erahnen lassen. Bald würde die Nacht hereinbrechen und dann konnte man die Hand nicht mehr vor Augen sehen. Stumpf starrten die Gefangenen vor sich hin. Ab und zu stöhnte einer von ihnen fast irrsinnig vor Durst und Hunger, laut auf. Dann hörte man einen Gewehrkolben gegen die Tür krachen.
„Ruhe auf den billigen Plätzen!“
Darauf folgte ein heiseres Lachen. Schlurfende Schritte entfernten sich. Etwas später hörte man Stimmen. Es war nicht genau auszumachen, ob es sich um Gesang oder um Streit handelte, offenbar feierte man den gelungenen Coup. Erst gegen Morgen trat Ruhe ein.
So ging es noch zwei Tage und Nächte. Dann brach der nächste Sturm los. Die völlig entkräfteten Männer konnten sich auf ihren Beinen nicht mehr halten. Wie umgestoßene Kegel rollten sie im Laderaum von einer Bordwand zur anderen. Aber auch von Deck waren Schreie zu hören.
„Mann über Bord! - Maschinen stop! - Volle Kraft zurück! - Ein Riff!“
Das Boot schlingerte wie wild, dann hörte man es gefährlich knirschen. Der Rumpf wurde seitlich aufgerissen. Mit einem Mal hörte das Schaukeln auf, das Schiff saß fest. Die plötzlich eintretende Ruhe war unheimlich. Die Maschinen standen still, nur der Sturm pfiff noch über das Deck und war als unheimliches Heulen im Laderaum zu hören. In dieses Geräusch hinein mischte sich ein Glucksen und Rauschen. Wassereinbruch!
Trotz der überstandenen Tortur wurde den Gefangenen unter Deck siedendheiß. Laut um Hilfe schreiend, trommelten sie an die Tür. Lange war nichts zu hören außer dem immer stärker werdenden Orgeln des Wassers, welches sich im Schiff ausbreitete. Schon stand es knöchelhoch im Laderaum und stieg mit beängstigender Geschwindigkeit.
Aber es sollte noch schlimmer kommen. Plötzlich neigte sich das Schiff gefährlich zur Seite. Die schweren Stoffballen kamen ins Rutschen und begruben drei Männer unter sich. Der Kapitän versuchte verzweifelt, seine Leute zur Ruhe und Umsicht zu mahnen und mit gemeinsamen Kräften den Eingeklemmten zu helfen. Doch seine Bemühungen waren zwecklos. Sie hatten keine Kraft mehr und rutschten weg. Kaum waren sie wieder auf den Beinen, neigte sich das Schiff noch mehr. Weitere Ballen stürzten auf die Gefangenen herab und begruben noch zwei unter sich. Das Wasser stand nun schon kniehoch. Die Verzweiflung hatte jetzt vollends von den Männern Besitz ergriffen. Ihre Schreie wurden matter und sie ergaben sich in das Unausweichliche.
Da riss jemand die Tür auf. Eine wilde Gestalt in einer völlig durchnässten Tunika stand vor den Gefangenen. „Los, raus mit euch.“
Die Piraten fassten die Männer und zogen sie aus dem überfluteten Laderaum. Der Mann in der Tunika schien der Kapitän der Freibeuter zu sein. Er setzte jedem Gefangenen eine Flasche Rum an den Hals und zwang alle, diese bis auf den Grund zu leeren. Der Alkohol gab den geschundenen Männern den Rest. Sie fielen in eine tiefe Ohnmacht.
Da machten sich die Piraten über sie her und tauschten ihre Kittel mit den Uniformen der Wehrlosen. Diese sahen nun aus, wie völlig betrunkene Piraten. Die richtigen Freibeuter jedoch begaben sich unter Deck. Dies alles war in Windeseile geschehen und das hatte auch seinen guten Grund. Von weitem hatte der Piratenkapitän ein indisches Militärschiff herannahen gesehen, welches ziemlich zur gleichen Zeit, als die Maskerade abgeschlossen war, am Freibeuter längsseits ging. Kaum hörten die Männer an Bord die Schritte der Soldaten, fingen sie ein heftiges Geschrei an. So wurden die vermeintlichen Gefangenen gerettet und die bewußtlosen „Trunkenbolde“ festgenommen. Nachdem die Geretteten dem Kapitän des Militärschiffes eine haarsträubende Geschichte aufgetischt hatten, wurde ein schnelles Kriegsgericht abgehalten. Die vermeintlichen Piraten wurden zum Tode verurteilt, standrechtlich erschossen und die Ladung übernommen. So gelangten die wirklichen Piraten an Bord des Kriegsschiffes, bekamen trockene Wäsche und reichlich zu essen und zu trinken.
In der Nacht jedoch überfielen die Freibeuter die schlafenden Soldaten und schnitten ihnen die Kehlen durch. Lautlos überwältigten sie die Wachen und erledigten diese ebenfalls. Danach eroberten sie den Maschinenraum und legten das Schiff lahm. Die Offiziere, der Steuermann und der Kapitän wurden gefangen genommen, in ein Beiboot gesetzt und aufs Meer hinab gelassen. Vom untergegangenen Piratenschiff zeugte nur noch ein großer Ölfleck, auf dem mehrere tote Fische mit den Bäuchen nach oben trieben.
Nun hatten die Piraten ein Schlachtschiff erster Klasse mit vier Kanonen an Bord. Sie hissten die Totenkopfflagge und feierten dann ausgelassen ihren Sieg. Mitten in den Siegestaumel hinein schnappte sich Luzifer den Kapitän und trug ihn zu Gott. Dieser schäumte vor Wut.
“Wie konnte das passieren. Ich hatte den Engländer zum Segelschiff gesandt. Wie kam er auf den Freibeuter?“
„Ein kleiner Kunstgriff“, erwiderte lächelnd Luzifer.
Gott schaute ihn vernichtend an, konnte dem Teufel aber keinen Schrecken einjagen.
Dann wandte sich Gott an den Meermenschen. „Du hast fast alle Gebote gebrochen, die ich jemals erlassen habe. Ich kann es nicht fassen, wie so viel Schlechtigkeit in einem Menschen wohnen kann.“ Und er setzte ihn zu seiner Linken.

*


Der Büromensch



Um sie herum herrschte ein leises Gemurmel. Sie öffnete ihre Augen und nahm mehrere verhüllte Frauen wahr, welche sie salbten, ihr goldenen Schmuck und feine Gewänder anlegten. Im Spiegel gegenüber konnte sie ihre Verwandlung verfolgen. Als Letztes brachte man ihr den Schleier an und führte sie aus dem Raum.
Wie im Traum durchquerte sie mehrere Gänge eines Palastes und gelangte in einen riesigen Saal. Durch eine wogende Menschenmenge hindurch wurde ihr ein Weg gebahnt. Dann stand sie vor dem mächtigen Emir, mit dem sie getraut werden sollte. Ihre Brautjungfern zogen sie an den Armen nach unten, sodass sie auf den Knien vor ihrem künftigen Gemahl lag. Dieser hob die Hand und es wurde still im Saal. Dann erhob sich eine sonore Stimme zu einem nicht enden wollenden Singsang.
Die junge Frau verstand nicht viel von den Suren, die der Vorbeter aus dem Koran wiedergab. Das einzige was sie verstand, war, dass jede Sure mit Allah begann und endete.
Eine Ewigkeit verging, dann wurde sie wieder nach oben gezogen. Irgendein unbekanntes Räucherwerk verströmte einen penetranten Geruch und verursachte in ihr einen akuten Brechreiz. Leicht schwankend wurde sie, von mehreren Händen gestützt, neben den Herrscher gestellt. Dieser erhob die Stimme, pries Allah, der ihm in seiner unendlichen Gnade seine vierte Frau zugeführt habe, reichte ihr die Hand und verließ mit ihr durch die Menschenmenge, die sich vor ihnen auf den Boden warfen, den Saal. Und wieder wurde sie, diesmal von ihrem Gatten, durch lange Gänge geführt und gelangte mit ihm in eine Kemenate mit einem wunderschönen, überdachten breiten Bett.
Der Mann hob mit beiden Händen ihren Schleier und blickte sie zärtlich an.
Da kam sie zu sich. Sie ging einen Schritt rückwärts und schlug die Hände vors Gesicht. Ihr Gatte deutete diese Geste jedoch falsch, nahm sie in seinen Arm und flüsterte leise an ihrem Ohr: „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Allah hat dich zu mir geführt und ich werde dich zur glücklichsten Frau machen im ganzen Reich. Danke Allah für seine Gnade.“
Die junge Deutsche jedoch hatte sich in seinen Armen versteift und wehrte sich gegen seine Annäherung.
„Ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin und wieso ich auf einmal heirate. Ich kenne Sie doch gar nicht. Und von Allah weiß ich nichts.“
Mit einem Kuss schloss ihr der Emir den Mund, hob sie auf seine Arme und legte sie auf das Bett.
„Du bist verwirrt, ich werde dir deine unbedachten Worte verzeihen und mich an deiner Schönheit erfreuen. Ziere dich nicht länger und sei gehorsam.“
Er zog ihr die Gewänder vom Leib und betrachtete wohlwollend ihren schlanken Körper. Sie konnte nicht glauben, was hier mit ihr geschah. Das konnte doch nur ein Irrtum sein. Ihre Blöße mit den Händen verdeckend, versuchte sie, sich vom Bett zu erheben. Der Mann jedoch hielt sie fest, drückte sie in die Kissen und schien Gefallen an ihrer Widerspenstigkeit zu finden.
„Du wirst mir nicht entkommen. Ich bin dein Herr und du wirst mir zu Gefallen sein. Wehre dich nur, um so gewaltiger wird mein Verlangen nach dir.“
Mit starken Händen umfasste er ihre Arme, seine Beine drückten ihre Knie auseinander. Sie sah ein, dass er stärker war als sie und ihr weh tun würde. Es hatte keinen Sinn, zu kämpfen. So gab sie nach und er drang heftig in sie ein. Mit kräftigen Stößen gab er ihr seine Macht zu verstehen. Im Höhepunkt dankte er lautstark Allah, ließ sich dann zur Seite fallen und war auch schon eingeschlafen.
Leise erhob sie sich, wischte sich mit dem Laken sauber und zog ihr Gewand an. Dann verließ sie die Kemenate, schaute sich um und durchlief den Gang in entgegengesetzter Richtung, in der sie den großen Saal wusste. Sie hörte Stimmen vor sich. Da sie niemandem begegnen wollte, näherte sie sich einer Tür, öffnete sie leise und schlüpfte hindurch.
Als sie sich umdrehte, sah sie sich in einem Bad. Mehrere Mädchen lagen in einem Bassin und bespritzten sich gegenseitig übermütig mit Wasser. Auf zwei Liegen wurden Frauen von Masseuren bearbeitet.
Unsicher blieb sie stehen, wurde aber von zwei Dienerinnen, die sie von der Zeremonie her wiedererkannte, schon in die Mitte genommen und zu einer Bank geleitet, an der man ihr das Gewand auszog und sie zum Bassin führte.
Das Wasser war wunderbar warm und doch erfrischend. Die Mädchen hatten ihr Platz gemacht und bewunderten ihren schlanken hellen Körper, der sich von ihren dunklen Leibern stark abhob.
Dann kamen sie näher und sprachen sie an. Sie waren kein bisschen schüchtern ihrer neuen Herrin gegenüber. Im Gegenteil! Scherzend fragten sie, ob der Emir sie auch recht glücklich gemacht hätte. Diese Fragen waren ihr sehr peinlich. Nach einigen weiteren Bemerkungen musste sie erkennen, dass die Mädchen doch so einiges über den Emir wussten.
Sie fragte sie, woher sie ihre Erfahrungen mit dem Emir hätten. Da fingen sie an zu kichern und sagten, sie wären Haremsdamen und der Herrscher würde sie besuchen, wann immer er Lust darauf hätte.
Die Deutsche schaute die hübschen Mädchen wie vom Schlag getroffen an. Dieser Mann schlief also ungeschützt mit Dutzenden von Frauen und hatte sie jetzt auch noch benutzt!
Wie von Sinnen begann sie sich zu waschen, als ob der Schmutz der ganzen Welt an ihr klebte. Kopfschüttelnd sahen ihr die Haremsdamen dabei zu. Dann verließ sie fluchtartig den Raum.
In dem Labyrinth der Gänge fand sie sich jedoch nicht zurecht und wurde alsbald von den Palastwachen aufgehalten und zu ihrem Gatten zurück gebracht.
Dieser stand vollkommen angekleidet in der Kemenate und schaute sie zürnend an.
„Ich kann solche Alleingänge meiner Frau nicht dulden. Du wirst jetzt in unsere Koranschule gebracht. Scheinbar hast du einiges nachzuholen. Und bedecke endlich dein Haupt, wenn du dieses Zimmer verlässt. Kein Mann außer mir soll dein Gesicht sehen.“
Eine junge Frau, von der sie annahm, dass sie so etwas wie eine Zofe darstellte, zog ihr die Schleier vors Gesicht, fasste sie am Arm und geleitete sie hinaus. Bestürzt ließ sie die Behandlung über sich ergehen, kam aber im Gang zu sich und riss sich los.
„Ich werde in keine Koranschule gehen. Ich will sofort den deutschen Botschafter sprechen!“
Zornig riß sie sich die Schleier vom Gesicht. Verängstigt wollte die Zofe sie wieder bedecken, wurde aber von ihr zur Seite gestoßen.
Schreiend rannte die Deutsche den Gang entlang und erreichte den Ausgang. Doch dort nahm ihre Flucht ein jähes Ende. Die Palastwachen vertraten ihr den Weg und nahmen sie gefangen. Mit derbem Griff brachte man sie vor den Emir. Dieser hatte genug von ihr und ließ sie ins Verlies sperren. Drei Tage und Nächte harrte sie dort bei Wasser und trockenem Brot aus. Dann wurde sie unter Bewachung in eine Kapelle gebracht. Dort sollte sie Allah um Gnade anflehen.
Sie jedoch entblößte wieder ihr Haupt, sank auf die Knie und betete zu Gott, er möge sie aus den Händen dieser Verrückten befreien. Als die Wachen dies vernahmen, brachten sie sie zurück in den Kerker und peitschten sie aus. Man nahm ihr alle Gewänder und sie musste nackt am Steinfußboden ausharren.
Die ganze Nacht kniete die junge Frau und flehte Gott um Hilfe an, der sie ja in diese Situation gebracht hatte. In der nächsten Nacht ließ der Emir sie zu sich kommen und forderte sein Recht als Ehemann. Und wieder musste sie sich in ihr Schicksal fügen und sich seinen widerwärtigen Zärtlichkeiten hingeben.
Als der Emir mitbekam, dass sie dabei unaufhörlich zu Gott betete, versuchte er sie noch ein letztes Mal im Guten davon zu überzeugen, dass Allah der einzig wahre Gott ist. Sie jedoch stritt dies kategorisch ab und erklärte ihm, sie habe Gott schließlich persönlich gesehen und sogar mit ihm gesprochen. Niemals würde sie an einen anderen Gott glauben.
Ohnmächtig vor Wut verstieß der Emir seine junge Frau. Für den nächsten Tag wurde ihre öffentliche Hinrichtung angekündigt.
Ganz früh am Morgen brachte man sie auf den Marktplatz vor dem Palast, wo sich schon eine riesige Menschenmenge versammelt hatte. Nackt und gebunden wurde sie als Ketzerin in die Mitte geführt. Noch einmal wurde sie laut vor dem ganzen Volke gefragt, ob sie ihre Meinung widerriefe. Sie jedoch sagte laut und deutlich:
„Niemals werde ich an Allah glauben. Und wenn ich heute sterbe, so ist es allemal besser, als hier im Palast als Gefangene eines Tyrannen zu leben!“
Kaum hatte sie ihre Worte gesprochen, flogen die ersten Steine und trafen sie am Körper und am Kopf. Ihre letzten Worte waren:
„O Gott, hilf mir“
Dann wurde sie ohnmächtig. Aber ein Engel kam und hob sie auf. Er trug sie zu Gott, der sie mit den feierlichen Worten empfing:
„Wahrlich, ich sage euch, diese Frau verehrt keine anderen Götter neben mir. Sie hat den Tod auf sich genommen und so das ewige Leben errungen.“
Und er setzte sie zu seiner Rechten.

*


Der Schneemensch



Die Forschungsstation schien verlassen zu sein. Er stieß die Tür auf und betrat den karg ausgestatteten Raum. Dieser stellte eine Art Küche dar, mit einem Schrank, einem großen Tisch, darum herum Bänke, welche mit Fellen bezogen waren, und in der Ecke stand ein kleiner Ölofen, auf dem eine Packung Zündhölzer lag. Der Eskimo brachte den Heizkörper in Gang und wärmte sich seine eisigen Finger daran. Danach durchsuchte er den Schrank nach Eßbarem. Er fand einige Dosen mit gesalzenem Dörrfleisch, mehrere Stangen Zwieback und eine große Büchse mit Teeblättern. In einem Kupferkessel holte er Schnee von draußen und stellte ihn auf den Ofen. Nach einer Weile gab das Wasser glucksende Geräusche von sich und bald verbreitete der Tee einen aromatischen Geruch im Zimmer. Innerlich erwärmt, erkundete er den Nebenraum des Gebäudes. Hier lagen auf mehreren Schlafstellen verschiedene Felle übereinander getürmt. In einem Schrank fand er Seile und Angelzeug, Streichhölzer und Messer.
Der Mann wickelte sich Felle um den Leib, betrat wiederum die Küche und machte sich ans Öffnen der Fleischdosen, deren Datum allerdings schon längere Zeit abgelaufen war. Aber das sollte ihn nicht stören. In der eisigen Kälte der Antarktis konnte das Fleisch nicht verderben.
So gesättigt und erwärmt , verließ der Eskimo das Haus und sah sich um. Er zog sich ein Fell über den Kopf und kniff die Augen vor dem schneidenden Wind zusammen. Sofort begannen seine Wimpern Reif anzusetzen. In einiger Entfernung waren im Eis Meßgeräte angebracht. Er betrachtete den Windmesser, der sich wie wild um seine Achse drehte. Auf dem Thermometer las er minus 35 Grad Celsius ab. Der antarktische Winter ging seinem Ende zu, es war Anfang Dezember. So konnte der Mann hoffen, keinen Temperaturen von 60 – 70 Grad unter Null ausgesetzt zu werden. Er hatte Glück.
Suchend schaute er sich um. Der eisverhangene Himmel machte den Tag grau und unansehnlich. In einiger Entfernung gewahrte er einen dunklen Fleck und ging darauf zu. Dann hörte er die Stimmen. Nachdem er ein paar Eisblocks umlaufen hatte, sah er sie. Eine riesige Kolonie Pinguine, welche sich schnatternd hin und her bewegten und ihn beäugten. Sie hatten keine Angst vor ihm, denn sie besaßen weder natürliche Feinde an Land, noch hatten sie schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht.
Der einzige Feind, den sie kannten, lauerte im Wasser auf sie, der Seeleopard. Diesem gefährlichen Raubtier fielen immer wieder alte und kranke, aber auch unvorsichtige Jungtiere zum Opfer. Gesunde, erwachsene Pinguine konnten sich jedoch normalerweise schnell an Land vor ihm in Sicherheit bringen.
Der Eskimo ging durch die Kolonie und stellte mit Freuden fest, dass die Tiere bereits angefangen hatten, Eier zu legen. Auch in dieser Hinsicht war sein Speiseplan abgesichert.
Er holte aus der Hütte Angelzeug und Köder und begab sich zu den Luftlöchern, die sich die Pinguine zum fischen ins Eis gehackt hatten. Dort steckte er seine Angel hindurch. Es war ein guter Tag und sein Eimer füllte sich zusehends mit zappelnden silbrigen Leibern. So ging der Tag dem Ende zu. Er bereitete sich ein Mahl aus Fisch, Zwieback und Tee und wickelte sich dann auf einer Bettstatt in die Felle.
Er konnte noch nicht lange geschlafen haben, da wurde er durch ein dröhnendes Heulen und Knattern geweckt. Er sprang aus dem Bett und rannte zur Tür. Als er sie einen Spalt geöffnet hatte, wurde sie ihm mit einer solchen Gewalt aus der Hand gerissen, dass er hinaus stürzte und der Länge nach im Schnee landete. Mühsam richtete er sich wieder auf und kroch gegen den Schneesturm zurück zur Hütte. Mit aller Kraft musste er sich an die Tür hängen, um sie wieder zu schließen. Schweißgebadet rutschte er im Zimmer an der Wand nach unten und blieb so eine ganze Weile sitzen, um Luft zu holen. Dann hörte er ein zweites Geräusch. Es war wie ein Schleifen und Krachen, ein Dröhnen und Rutschen. Dann war alles still.
Noch eine Weile lauschte er angestrengt hinaus in den Sturm, doch es war nichts mehr zu hören und so glaubte er, sich getäuscht zu haben . Er begab sich wieder zu seinem Lager und verbrachte den Rest der Nacht in unruhigem Schlaf.
Als der Morgen dämmerte, lief er hinaus. Der Sturm hatte sich gelegt und eine glatte weiße Schneedecke hinterlassen. Die Messgeräte konnte er nur noch erahnen und grub sie mit der Hand frei. Es war wärmer geworden, minus zwanzig Grad zeigte das Thermometer an. Der hohe Schnee machte das Vorwärtskommen fast unmöglich. Er sah sich in der Hütte noch einmal suchend um und fand dann unter den Betten einige Skier.
Er fuhr zum Meer und suchte die Pinguinkolonie. Totenstille, kein Geschnatter, nur eine weiße Schneedecke. Die Tiere mussten sich vor dem Sturm wo anders hin gerettet haben, seine Eierproduzenten hatten ihn verlassen.
Dann sah er das kleine Flugzeug. Es lag mit gebrochenem Flügel auf einem Tafeleisberg, den der Sturm ans Ufer getrieben hatte. Nichts regte sich. Schnell fuhr er darauf zu und rief dann:
„Hallo! Ist jemand an Bord? Wie geht es Ihnen, ist alles in Ordnung?“
Nach einer ganzen Weile wurde die Luke geöffnet und es erschien ein bleiches zerknittertes Gesicht.
„Ja, hallo, wir sind zehn Touristen hier an Bord, aber fast alle sind verletzt. Der Pilot ist ohne Besinnung. Können Sie uns helfen? Wie viele sind Sie?“
Der Mann hatte bei seinen Worten eine Leiter hinab gelassen, der Eskimo begann sich daran hoch zu ziehen.
„Ich bin allein. Sie wollen hier zur Station?“
Er kletterte in die Maschine und schaute sich um. An Bord sah es ziemlich wüst aus. Umgefallene und abgerissene Sitze, ein zusammengefaltetes Küchenzelt, elf Paar Skier, diverse Kerosinkanister für Flugzeug und Kochherd, Verpflegung für eine Woche, bündelweise daunengefütterte Schlafsäcke und ein halbes Dutzend kleine sturmfeste Zweimannzelte lagen überall verstreut herum. Zehn Leute in dicken Winterjacken teilten sich die nicht allzu große Kabine. Der Mann trug einen Verband um den Kopf und auch sein linker Arm hing in einer Schlinge.
Die zehn Touristen betraten die Hütte, in der sie den kleinen Ölofen umringten, um sich die Hände zu wärmen. Den Piloten legten sie auf eine Bettstatt und deckten ihn mit Fellen zu. Er war wieder zu sich gekommen und klagte über Kopfschmerzen, die wohl von einer Gehirnerschütterung herrührten. Der Eskimo bereitete Tee und brachte den durchgefrorenen Männern Felle, in die sie sich einhüllten. Sie setzten sich auf die Bänke um den Tisch und begutachteten ihre geschundenen Glieder. Zum Glück hatte niemand etwas gebrochen, nur Hautabschürfungen und blaue Flecke übersäten ihre Körper.
Dann erzählten sie dem Eskimo, dass sie nicht zu Forschungszwecken hier her kamen, sondern nichts als reine Neugier sie in diese fernen Gefilde trieb. Sie waren auf der Suche nach erhabenen Erlebnissen, dem klaren Licht, dem weißen Horizont, den majestätischen Eisbergen, der endlosen Weite und Einsamkeit.
Nun sind sie hier bruchgelandet, mitten in der Unendlichkeit, die sie sich so sehnlich herbei gewünscht hatten und welche jetzt mit Macht, schonungslos und unberechenbar über sie hereingebrochen war. Es blieb ihnen nichts übrig, als sich per Ski zurück zu machen, hundertzwanzig Kilometer bis zum Startpunkt ihres Flugzeuges, wo die Zodiacboote warteten, die sie zu ihrem Kreuzfahrtschiff zurückbringen sollten.
Die erste Nacht verbrachten alle gemeinsam in der Station. Am Morgen darauf verstauten sie ihre Zelte und Vorräte auf dem einzigen Schlitten, der in der verlassenen Station zu finden war und machten sich unter Führung des Eskimos auf den Rückweg.
Das Wetter war umgeschlagen, die Sonne schien freundlich vom strahlend blauen Himmel. Doch was so idyllisch aussah, erwies sich als erschreckend brutal. Die Lippen platzten auf und bluteten, die Nasen schwollen an und pellten sich, die Gesichter brannten feuerrot, die Augen tränten und hinterließen auf den Gesichtern eine Eiskruste. Schnellstens wurde die Reiseapotheke nach Sun blocker durchsucht. Obwohl kaum ein Lüftchen ging, vermummten sich die Menschen bis auf ein paar Sehschlitze und schützten ihre Augen mit tief dunklen Sonnenbrillen.
Dann ging es weiter, alle aneinander geseilt. Der Eskimo vornweg erkundete mit seinen Skistöcken den Untergrund, um Gletscherspalten zu ertasten. In diese hinein zu stürzen, hätte fatale Folgen; sich daraus zu befreien konnte unter Umständen unmöglich sein.
Sie wechselten sich beim Ziehen des Schlittens ab und legten eine Strecke von fünfzehn Kilometern zurück. Dann hielt der Eskimo plötzlich seine Nase in die Luft:
„Hier müssen wir schnellstens die Zelte aufbauen. Es kommt etwas heran!“
Die Touristen sahen sich um und konnten nichts entdecken. Aber er kannte sich aus mit diesen Wolken und bestand auf sofortiger Rast. Er sollte Recht behalten.
Schnellstens errichteten sie die Zelte. Mit einer kräftigen, großzackigen Stichsäge wurden dicke Quader aus dem festen Schnee geschnitten und als Schutzmauer vor dem Wind um die Zelte geschichtet.
Kaum waren die Arbeiten abgeschlossen, fegte ein Sturm, wie eine Kaltluftlawine von den Berghängen kommend, über den Gletscher hinweg und türmte Massen von Schnee auf die Zelte. Die Menschen versuchten sich verzweifelt mit Spaten und bloßen Händen frei zu graben. Sie wühlten sich wie die Maulwürfe nach draußen. Waagerecht peitschten ihnen die glasharten Schneekristalle ins Gesicht.
Das Wetter besserte sich auch die nächsten Tage nicht. Die Touristen wurden festgehalten an dieser Stelle und verkrochen sich in das geräumige Küchenzelt, in das sie alle gleichzeitig hinein passten und das durch die offenen Flammen des Kochherdes mollig warm gehalten wurde. In den ersten beiden Tagen brieten sie sich die mitgebrachten Steaks auf dem Holzkohlegrill, doch diese Schlemmerei hatte bald ein Ende und dann gab es nur noch mit Schnee angerührtes Dosenfutter.
Nach drei Tagen klarte es etwas auf und die Männer wollten weiter. Aber der Eskimo hielt sie davon ab, die Zelte einzupacken. Er spürte, dass der nächste Sturm nicht lange auf sich warten lassen würde.
So nutzte er die wenigen ruhigen Stunden, um einen Iglu zu bauen, doch keiner der Männer wollte sich zur Nachtruhe dahinein begeben. Mit viel Überredungskunst überzeugte er sie schließlich davon, dass es in dem Schneehaus wesentlich windgeschützter und wärmer ist, als in den Zelten.
Nach einer Woche schlug das Wetter wieder um. Es wurde fast windstill, nur ein paar hohe Wolken standen am klaren Himmel.
Der Proviant ging zur Neige. Sie mussten schnellstens weiter, um nicht zu verhungern. Und wieder verstauten sie ihre Zelte auf dem Schlitten und zogen mit knurrenden Magen los. Nur langsam kamen die völlig erschöpften Männer vorwärts.
Sie waren einen halben Tag unterwegs, da hörten sie von fern Motorengebrumm. Eine kleine, zweimotorige Propellermaschine näherte sich den winkenden Menschen. Sie wurden bereits gesucht, weil sie seit drei Tagen überfällig waren.
Da man zum havarierten Flugzeug keinen Kontakt mehr bekam, hatte das Kreuzfahrtschiff vom nächsten Stützpunkt ein Suchflugzeug geordert, welches die ausgehungerten, entkräfteten Männer nun an Bord nahm. Allerdings reichten die Plätze nur für die eingeplanten Passagiere. Schweren Herzens verabschiedeten sich die Touristen von dem Eskimo und bedankten sich für seine aufopferungsvolle Führung durch alle Gefahren. Freiwillig blieb der Eskimo zurück. Er versicherte den Männern, er hätte noch genügend Kondition, aus eigener Kraft den Rest der Strecke zurückzulegen.
Da wurde der Eskimo von einer mächtigen Hand aufgehoben und zu Gott getragen. Gott sprach:
„Du hast dich bewährt und das Gebot der Nächstenliebe geachtet. Unter Einsatz deines Lebens hast du deine Kameraden gerettet. Du sollst zu meiner Rechten sitzen und mit dir dein ganzes Volk.

*




Der Wüstenmensch



Nun saßen drei Menschen zu Gottes rechter und drei Menschen zu Gottes linker Seite und alle Hoffnung lag auf Nummer Sieben. Wie würde er sich bewähren?
Luzifer wollte es auf keinen Fall dem Zufall überlassen. Gott hatte in dieser Hinsicht arge Bedenken. Ihn befielen starke Zweifel, dass es richtig gewesen war, mit Luzifer diese Wette einzugehen. Dieser hatte ihn schlichtweg in Versuchung geführt. Gott ärgerte sich über sich selbst.
Sollte er kraft seines Amtes eingreifen und diesem teuflischen Plan ein Ende bereiten? Die Macht dazu hätte er. Aber sein Ansehen würde schweren Schaden nehmen. Er müsste sich auf das Niveau Satans begeben. Das konnte er sich nicht leisten, seine ganze Glaubwürdigkeit wäre dahin. Oder sollte er den Dingen ihren Lauf lassen, auf die Gefahr hin, sein Lebenswerk an den Teufel zu verlieren? Niemals! Das Leben ist ein ständiger Kampf. Auch seines! Er würde nicht untätig auf seiner Wolke dahin schweben und zusehen, wie alles den Bach runter ging.
Wo steckte eigentlich Luzifer? Gott fiel auf, dass er ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte. Er blickte sich suchend um. Seine himmlischen Heerscharen gingen ihren Tätigkeiten nach: Wolkenschafe über den Himmel treiben, Nektar und Ambrosia sammeln und die göttlichen Peilsender bedienen, um ständig auf dem Laufenden zu sein, was in der Welt passiert.
Gott befiel ein Verdacht. Schnell erhob er sich und betrat die Radiostation. Er richtete die Antenne auf die Arabische Wüste. Da! Er hatte sich nicht getäuscht. Nicht ein, sondern zwei Männer wanderten durch den Sand. Einer trug die göttliche Tunika und schritt kräftig aus, der andere trug ein Jägerhütchen und hinkte leicht hinter dem Ersten her. Der Pferdefuß hatte Luzifer schon immer etwas behindert. Dafür redete er um so energischer auf den Australier ein.
„Was soll dieser Blödsinn? Wieso willst du diese sinnlose Tortur auf dich nehmen und den Ölzweig holen? Wer hat etwas davon? Du hast keine Chance, lebend aus dieser Hölle heraus zu kommen.“
Der Mann drehte sich leicht um.
„Ausgerechnet du sprichst von der Hölle? Dir müsste es doch hier gefallen. Fühlst du dich nicht wie zu Hause? Also, was ist? Wenn du mitkommen willst, dann komm und halt den Mund. Aber halte mich nicht von meinem Vorhaben ab. Ich habe Gott gelobt, den Ölzweig zu holen und ich werde es tun. Mit oder ohne deine Hilfe!“
Er setzte seinen Marsch unbeirrt fort und der Teufel musste verdattert feststellen, dass er erkannt worden war. Aber so leicht würde er nicht aufgeben. Wenn er ihn nicht mit Worten überzeugen konnte, dann würde er ihm eben unüberwindliche Hindernisse in den Weg legen. Ankommen würde dieses Menschlein jedenfalls nicht!
Gott hatte das Gespräch mit angehört und war einerseits stolz auf den Menschen, an dem seine ganze Hoffnung hing. Andererseits keimte ein fürchterlicher Zorn gegen Luzifer in ihm auf. Er wusste, zu welch unlauteren Mitteln der Satan fähig war und dass ein normaler Sterblicher kaum eine Chance gegen ihn hatte.
Gegen den Teufel selbst konnte er nichts ausrichten, aber dem Menschen musste er irgendwie behilflich sein. Er würde ihn von nun an keine Sekunde aus den Augen verlieren.
Gott schob sich einen bequemen Sessel an seinen Empfänger und stellte sich auf eine lange schlaflose Zeit ein. Gebannt starrte er nach unten. Zur Not würde er eingreifen.

*



Die beiden Gestalten bewegten sich geradewegs gen Westen auf das heilige Land zu. Die Hitze war unerbittlich und dem Australier stand der Schweiß nicht nur auf der Stirn, sondern rann ihm in Strömen am Körper hinab. Luzifer beobachtete ihn von der Seite.
Wie lange würde der sture Mensch noch durchhalten? Der Teufel zog eine Feldflasche aus seinem Umhang und nahm einen großen Schluck daraus. Dann rülpste er laut hörbar und wischte sich den Mund genüsslich am Ärmel ab. Der Australier sah ihn wütend an. Ihm klebte die Zunge am Gaumen, aber den Teufel um etwas bitten, das wollte er auf keinen Fall. Irgendwann würde sicher eine Oase kommen. Verbissen stapfte er vorwärts. Der Teufel lachte in sich hinein.
Die Hitze flimmerte vor den Augen. Die Beine wurden weich. Immer öfter musste der Mann stehenbleiben und sich ausruhen. Warum hatte ihm Gott nicht wenigstens eine Kopfbedeckung mit gegeben? Die Sonne stach mörderisch auf den Kopf und in die Augen. Und der Sand brannte fürchterlich an den nackten Füßen, die nur in leichten Sandalen steckten. Wenn er sich doch nur einen Augenblick hinsetzen könnte! Aber das war unmöglich. Er kam kaum noch vorwärts und dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Als er aufwachte, war finstere Nacht. Er lag ausgestreckt im Sand und fror jämmerlich. Sein Körper war mit Blasen übersät, ein massiver Schüttelfrost hatte von ihm Besitz ergriffen.
Unweit von ihm saß der Teufel und beobachtete ihn aus halb geschlossenen Augen.
„Wenn du mir deine Seele verschreibst, bringe ich dich umgehend zur nächsten Oase.“
So elend sich der Australier auch fühlte, seine Seele wollte er dem Teufel nicht verschreiben. Niemals!
Er faltete seine Hände und betete zu Gott, er solle ihm eine Möglichkeit zeigen und ihm Kraft geben, das Unternehmen zu Ende zu bringen.
Luzifer verzog den Mund zu einer höhnischen Grimasse. Wann hatte Gott schon jemals auf Gebete reagiert? Aber er sollte sich täuschen.
Der Mann fiel in einen traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen fühlte er sich besser. Kräftig schritt er aus und nach etwa einer Stunde hatten sie tatsächlich eine Oase erreicht.
Der Teufel zog die Augenbrauen hoch. Wo kam diese Oase her? An dieser Stelle hatte es nie eine gegeben. Er blickte verstohlen zum Himmel und flüsterte: „He Chef, solche kleinen Kunstgriffe stammen eigentlich aus meiner Werkstatt!“
Aber er ließ sich nicht weiter davon beeindrucken. Es war noch weit bis ins heilige Land.
Der Australier hatte inzwischen im klaren Bach gebadet, getrunken und sich aus einer Kokosnuß eine Flasche gefertigt, die er mit Wasser füllte und sorgfältig mit einem Palmenblattstöpsel verschloss. In der Nähe wuchs eine große Aloe. Der Mann schlug ein Blatt davon ab und rieb seinen Körper mit dem heilenden Saft ein. Als nächstes flocht er aus Palmenblättern einen großen schattenspendenden Hut, sowie einen Tragebeutel, den er sich auf den Rücken hängen konnte. In diesen steckte er mehrere Ananas und Kokosnüsse als Proviant. So gut ausgestattet, setzte er seinen Weg fort.
Nach einigen Stunden erkannten sie von weitem einen schwarzen Punkt im ewigen Gelb des Wüstensandes. Sie marschierten darauf zu und entdeckten, dass da ausgestreckt ein Mensch lag; eine mit einem weißen Schleier verhüllte junge Frau. Der Australier beugte sich über die Bewußtlose, hob ihren Kopf an und führte ihr seine Kokosnußflasche an die Lippen. Das köstliche Nass bewirkte Wunder und das Mädchen schlug die Augen auf. Der Mann hielt sie in seinen Armen und war fasziniert von ihrer Schönheit.
„Wer bist du und wie kommst du hier her, ganz allein, ohne Begleiter und ohne Reittier?
„Mein Name ist Aischa. Ich bin von einem feindlichen Beduinenstamm geraubt worden. Es kam zum Kampf zwischen meinen Brüdern und den Räubern. Zwei meiner Brüder sind gefangen genommen worden, einer ist tot. Ich war schwer verwundet und meiner Sinne nicht mehr mächtig. Scheinbar glaubten die Feinde, ich sei tot und ließen mich hier zurück. Und nun habt Ihr mich errettet. Bitte bringt mich zu meinem Vater, er wird Euch dafür hoch belohnen.“
Der Australier sah, dass an ihrer Hüfte das Gewand blutverschmiert war und sie die Wahrheit gesprochen hatte.
„In welcher Richtung liegt deine Heimat, schönes Kind?“
Sie wies mit schwachem Finger in die Richtung, aus der ihre Retter gekommen waren.
„Vier Tagesritte von hier ist mein Vaterhaus.“
„O, das ist unmöglich. Ich habe kein Reittier und wäre sicher zwei Wochen dorthin unterwegs. Ich bin auf dem Weg ins gelobte Land und das liegt genau in entgegengesetzter Richtung.“
Die Augen des jungen Mädchens blickten ihn flehend an.
Luzifer trat hinzu und redete ihm ins Gewissen:
„Du kannst sie nicht mitnehmen. Sie ist viel zu schwach und würde es nicht überleben. Am besten ist, du lässt sie hier liegen. Vielleicht findet sie ja jemand anderes, der sie dann nach Hause bringt.“
Im Gesicht der jungen Frau machte sich Entsetzen breit. Mit zitternden Fingern fasste sie die Hand des Australiers.
„Lasst mich hier nicht allein, ich bitte Euch!“
Hin und her gerissen zwischen seiner Pflichterfüllung gegenüber Gott und Mitleid mit dem Mädchen wusste der Australier nicht, was er machen sollte. Luzifer lächelte in sich hinein.
„Du kannst sie ja auch zu ihrem Vater bringen, aber dann wirst du deine Aufgabe nicht erfüllen. Gott wird dir zürnen und dann gehörst du mir. Du musst selbst wissen, was dir wichtiger ist. Die Errettung dieses einen Mädchens oder die Errettung der ganzen Menschheit. Eins davon kannst du nur tun.“
Am ganzen Leibe zitternd hatte das Mädchen inzwischen ihre Arme um die Knie des Mannes geschlungen.
„Bitte, lasst mich nicht sterben. Ich gebe Euch alles, was ich besitze. Mein Vater ist sehr reich. Ihr könnt Euch wünschen, was Ihr wollt.“
Jetzt lachte der Teufel laut.
„Merkst du es nicht? Sie will dich verführen. Aber hilf ihr nur. Dann hättest du deine Seele gleich mir verschreiben können.“
Er fing an, sich im Kreise zu drehen, schnell, immer schneller begann er zu tanzen und schlug sich mit beiden Händen auf seine Schenkel.
„Juhu, die Menschheit gehört mir! Ich habe gewonnen! Siehst du es, Gott? Du schaust doch bestimmt zu. Er denkt gar nicht daran, seine Aufgabe zu erfüllen. Er lässt sich von den Reizen eines Mädchens verführen und hat dich längst vergessen!“
Der Australier fiel auf die Knie, schlug die Hände vors Gesicht und rief laut:
„Herr, o Herr. Hilf mir, was soll ich tun. Zeige mir den Weg. Wie soll ich wissen, was richtig ist. Du hast mich Nächstenliebe gelehrt, aber auch Gehorsam gegenüber deinen Befehlen.“
Weinend fiel er mit dem Gesicht in den Sand.
Da hatte Gott erbarmen mit ihm. Er schickte ihm eine Karawane zu Hilfe, die das Mädchen in ihre Heimat mitnahm. Den Australier aber holte er zu sich und ließ ihn niederknien.

*



Gespannt hatte sich das himmlische Volk um den Herrn versammelt und erwartete seine Entscheidung. Doch Luzifer baute sich vor Gott auf, stemmte seine Hände in die Hüften und sprach zornig:
„So ist das also? Wenn es dir zu heiß wird, brichst du das Spiel ab. Du kannst nicht verlieren! Es ist doch offensichtlich, dass der letzte Mensch versagt hat. Jetzt steht es vier zu drei für mich. Die Menschheit gehört mir!“
Doch Gott hob seine Hand und alle Gespräche verstummten.
„Luzifer hat mit unlauteren Mitteln gekämpft. Er hat den Menschen von Anfang an in Versuchung geführt. Aber dieser Mensch hat nicht versagt. Er konnte sich nur nicht entscheiden, ob die von mir gestellte Aufgabe wichtiger ist, als mein Gebot der Nächstenliebe. Und diese Wahl ist für einen schwachen Menschen zu schwer.“
„Ha, das wird ja immer besser!“ Luzifer war ausser sich. „Dann hättest du diesen Schwächlingen nicht das Schicksal der ganzen Menschheit in die Hände legen dürfen.“
„In dem Punkt muss ich dir ausnahmsweise Recht geben. Die Menschen sind einfach noch nicht reif für eine so große Verantwortung. Ich werde ihnen noch einmal 1000 Jahre Zeit dafür geben. Ich schicke diese sieben Menschen als meine Gesandten zur Erde zurück. Sie sollen mein Wort verkünden, wie es vor 2000 Jahren die Apostel meines Sohnes getan haben. Und diesmal werden sie ihre Aufgabe alle gut erfüllen, daran habe ich keinen Zweifel.“
Die Menschen zu beiden Seiten Gottes nickten ihm erleichtert zu. Sie wollten ihn nie wieder enttäuschen. Er segnete alle und entließ sie mit den Worten:
„So sei es. Gehet hin in Frieden.“
Luzifer aber fuhr mit seinen Untertanen hinab zur Hölle und schürt seitdem das Magma für die Vulkanausbrüche, öffnet die Schleusen für die Hochwasser, treibt die Orkane an und legt Waldbrände.
Doch die Menschen haben aus ihren Fehlern gelernt. Die sieben Apostel der Neuzeit verkünden, dass die Menschen nur gemeinsam stark genug sind, sich gegen die Unbilden der Natur – oder des Teufels! – wehren zu können.
Fortan kämpfen sie gegen Hass und Korruption, Mord und Diebstahl, Krieg und Ausbeutung. Das Gesetz der Wildnis gilt nicht für den Menschen. Fressen oder gefressen werden, der Große beherrscht den Kleinen, der Starke besiegt den Schwachen; dieses Gesetz sollte den Tieren vorbehalten sein.
Der Mensch aber sollte sich vom Tier unterscheiden durch seinen Geist. Er muss lernen, nicht gegeneinander und gegen die Natur zu kämpfen, sondern miteinander zu leben und die Natur zu schützen.
Menschen mit anderer Kultur und anderem Glauben lassen sich nicht vom Schreibtisch aus integrieren.
Aufeinander eingehen und einander verstehen lernen, das verkünden die sieben Menschen auf der Welt, in die sie Gott zurück gesandt hat.
Und noch eins hat er ihnen auf den Weg mitgegeben:
Egal, ob man ihn Herr oder Allah, Jahwe oder Wakantanka nennt, er ist ein Gott. Der Vater, der sie eines Tages zum jüngsten Gericht antreten lässt und von ihnen Rechenschaft fordert. Und dann werden sie sich für all ihre Taten verantworten müssen.


Impressum

Texte: © 2009 Alle Rechte bei Leonore Enzmann. Nachdruck oder Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2009

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