Der Perfektionist
Höhenflüge
Der Fanatiker
Die Hochzeit
Die positive Magie der Unschuld
Diego
Die Wandlung
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Hoffnung
Können diese Augen lügen?
Schatten der Vergangenheit
Geliebter Feind
Hexennacht
Jerry
Geistesgegenwart
Der Perfektionist
Henlein lebte ein ausgesprochen wohlgeordnetes Leben. Er lebte nach der Uhr. Jeden Morgen um die gleiche Zeit stand er auf, kam um die gleiche Zeit in sein Büro, aß um die gleiche Zeit zu Mittag und ging um die gleiche Zeit schlafen ...
Im Haus Nummer 22 in der Lindenstraße wohnten außer Henlein noch die Familie Boll, ein Ehepaar Mitte vierzig mit ihrem siebzehnjährigen Sohn Kai. Sie wohnten in der ersten Etage des Vierfamilienhauses am Rande der Großstadt. Der Junge lernte im ersten Lehrjahr Bankkaufmann. In seiner Freizeit fuhr er gern mit dem Boot den Fluss hinunter zu einer bestimmten Stelle außerhalb der Stadt, an der man wunderbar angeln konnte.
Neben den Bolls wohnte die Familie Palodowski, beide Ende dreißig, mit ihrer fünfzehnjährigen Tochter Madeleine, einem hübschen, sehr schüchternen Mädchen, welches ihren Eltern nie Ärger bereitete, nach der Schule niemals bummelte und im Haushalt tüchtig mit zupackte. Das musste sie auch, denn ihre Eltern waren geschäftlich viel unterwegs und hatten wenig Zeit, sich um Haushalt und Kind zu kümmern.
Im Erdgeschoss, neben Henlein, lebte seit Kurzem die siebenundzwanzigjährige Kathrin Wagner. Keiner wusste etwas von ihr, denn sie lebte sehr zurückgezogen, sagte außer: „Guten Tag“ kein Wort und verließ sehr selten das Haus. Sie bekam auch nie Besuch und so merkte keiner so richtig, dass Kathrin überhaupt existierte.
Aber das interessierte Henlein alles sowieso nicht. Er lebte sein eigenes Leben, und das minutiös.
Pünktlich um 7 Uhr klingelte sein Wecker. Sofort schwang er die Beine aus dem Bett und eine Minute nach 7 hörte man im ganzen Haus die Rollladen in Henleins Wohnung nach oben fahren. Fünf Minuten später stand er im Bad, stellte den Kurzzeitwecker auf vier Minuten und begann sich die Zähne zu putzen. Danach drehte er die Dusche auf; sie war präzise auf fünfunddreißig Grad eingestellt, und duschte zehn Minuten. Nachdem er seine Morgentoilette beendet hatte, erschien er genau 7,30 Uhr in der Küche und stellte das Radio an. Die Zeitansage bestätigte ihm, dass er exakt im Limit lag. Er verglich seine Armbanduhr und die große Küchenuhr. Perfekt, sie stimmten sekundengenau überein. Henlein lächelte.
Er ließ Wasser in einen Topf laufen, stellte ihn auf den Gasherd, pickte sein Frühstücksei an und tat es hinein. Dann stellte er den Kurzzeitwecker auf fünf Minuten, schaltete die Kaffeemaschine an und ging zurück ins Bad, um sich zu rasieren.
Kai Boll im Bad darüber, der sich wie immer viel zu spät aus dem Bett gequält hatte und nun verschlafen im Spiegel sein vertrieftes Gesicht betrachtete, hörte, wie pünktlich 7,35 Uhr der Rasierapparat von Henlein zu summen begann.
Genau fünf Minuten später saß Henlein am Frühstückstisch und biss genussvoll in sein Marmeladenbrot.
Pünktlich 8 Uhr verließ er das Haus, ging zur Bushaltestelle und fuhr mit Linie 60 um 8,07 Uhr in sein Büro. Dieses befand sich in einem Geschäftshaus mit sechs Etagen, in denen die Zentrale der Versicherungsgesellschaft residierte, für die er arbeitete.
Fünf Minuten vor halb neun betrat Henlein das Gebäude, grüßte den Pförtner, der ihm seinen Schlüssel überreichte, stieg die Treppe zur ersten Etage empor, in der sich sein Büro befand, und saß Punkt halb neun an seinem Schreibtisch.
So ging es seit zwanzig Jahren jeden Tag. Henlein konnte sich nicht entsinnen, dass es jemals anders gewesen sein sollte. In seinem Leben gab es keine Ausnahmen, keine Fehlzeiten, ja nicht einmal einen einzigen Tag, an dem er wegen Krankheit nicht zur Arbeit gehen konnte. Am liebsten hätte er auch auf seinen Urlaub verzichtet, denn in diesen vier Wochen fühlte er sich unnütz, die Zeit ging für nebensächliche Dinge verloren. Aber was half es? Er musste seinen Urlaub nehmen und so fuhr er in den vier Wochen zu seiner fünf Jahre jüngeren Schwester aufs Land. Diese hatte einen kleinen Lebensmittelladen und in diesem half er dann von morgens bis abends, in dem er kassierte, die Inventur durchführte und die Bilanzen und Steuerunterlagen für das Finanzamt fertig machte. Das war eine große Hilfe für seine Schwester, die sich im Laufe der Jahre an die kostenlose Dienstleistung ihres Bruders gewöhnt hatte und sich darauf verließ.
Henlein hatte als Kind eine militärisch strenge Erziehung genossen. Sein Vater, ein Oberstleutnant der Luftwaffe, war die Pünktlichkeit in Person und das verlangte er auch von seinen Kindern. Die Mutter war kurz nach der Geburt ihrer Tochter gestorben. So war es Henlein von frühester Kindheit an gewöhnt, vom Vater Befehle zu empfangen, in jeder Hinsicht perfekt zu sein und Befehle an seine kleine Schwester weiter zu geben.
Als diese dann jedoch zwei Jahre nach dem Tode des Vaters einen Mann vom Lande heiratete und die gemeinsame Wohnung verließ, zog Henlein sich in sein Schneckenhaus zurück und lebte nun für sich allein und mit seinen Uhren, die sich in jedem Raum seiner Wohnung befanden und von ihm täglich streng auf Genauigkeit kontrolliert wurden.
An einem Donnerstag im Juni verließ Henlein sein Büro pünktlich um 17.30 Uhr.
Der Pförtner in der Empfangshalle sagte: „Pünktlich wie immer, Herr Henlein.“
„Stimmt genau“, sagte Henlein. Doch er verließ das Gebäude nicht. Ihm war eingefallen, dass er seine Brille auf dem Schreibtisch vergessen hatte. Das war ihm noch nie passiert! Er kehrte um und der Pförtner wunderte sich. "Haben Sie etwas vergessen, Herr Henlein?"
„Ja, meine Brille. Ich glaube, ich werde alt.“
Henlein stieg die Treppe zu seinem Büro hinauf. Er schloss die Tür auf und schaute zu seinem Schreibtisch. Da fiel ihm der bläuliche Lichtschein auf.
„Was ist das?“
Der Bildschirm seines Computers leuchtete. Verwirrt schaute Henlein auf den Monitor und traute seinen Augen nicht. Das Gesicht des Busfahrers der Linie 60, mit der er jeden Abend nach Hause fuhr, blickte ihm entgegen.
„Willy Nickmann, was machen Sie denn in meinem Computer?“ fragte Henlein.
Der Busfahrer sah ihn entrüstet an und antwortete: „Sie haben den Bus verpasst, Herr Henlein. Warum haben Sie das getan? Sie sind es mir schuldig, mit meinem Bus zu fahren. Sie sind schuld an allem, was jetzt passiert.“
Henlein stand der Schweiß auf der Stirn. Was meinte der Busfahrer damit? Was sollte denn passieren und wieso sollte er schuld daran sein?
Plötzlich schloss sich die Tür des Busses und er konnte Willy Nickmann nicht mehr sehen. Der Bus fuhr los – ohne ihn!
Henlein erkannte die gewohnte Strecke, die der Bus jetzt ohne ihn zurücklegte. An den drei Haltestellen, die vor seiner kamen, stiegen die gleichen Leute aus, wie immer. Dann kam seine Haltestelle. Aber der Busfahrer hielt nicht an. Im Gegenteil. Er fuhr immer schneller. Er raste durch die Straßen, überholte die anderen Fahrzeuge, hielt auch nicht an der roten Ampel an.
Henlein hörte, wie die Fahrgäste im Bus schrien, aber der Busfahrer gab immer mehr Gas. Die Bäume und Häuser flogen nur so an ihm vorbei.
Jetzt erkannte Henlein endlich, wohin es der Busfahrer so eilig hatte. Er war durch die Goethestraße gerast, mit Karacho links in die Nord-Allee eingebogen und danach nochmals links in die Lindenstraße. Henlein erkannte sein Haus mit der Nummer 22. Der Bus fuhr genau darauf zu. Er überfuhr den Bürgersteig, raste durch den gepflegten Vorgarten und zermalmte dabei die Rosen. Bis zum Haus waren es noch genau drei Meter, aber der Busfahrer bremste nicht ab. Plötzlich erlosch der Bildschirm.
Henlein war auf seinen Stuhl gesunken. Hatte ihm sein Computer einen Streich gespielt? Hatte er alles nur geträumt? Oder war er gar verrückt geworden?
Wie in Trance erhob er sich, verließ sein Büro und stieg die Treppe nach unten. Im Haus war alles still. Der Pförtner war bereits nach Hause gegangen. Henlein klinkte an der Tür. Abgeschlossen!
Henlein war am Verzweifeln. Hatte der Pförtner ihn vergessen oder absichtlich eingesperrt? Er wusste doch, dass Henlein noch einmal in sein Büro gegangen war. Wie sollte er jetzt das Haus verlassen?
Henlein schaute auf seine Uhr. Schon eine halbe Stunde war er über der Zeit. Er kam mit seinem Tagesplan ganz durcheinander. Was konnte er tun?
Vorsichtig zog er an der Schranktür hinter der Pförtnertheke. Hier wurden die Schlüssel aufbewahrt. Die Tür ließ sich öffnen und er hängte seinen Büroschlüssel hinein. Dann untersuchte er die anderen Schlüssel, aber der Schlüssel zur Eingangstür war natürlich nicht da. Den hatte der Pförtner mitgenommen. Den Zweitschlüssel hatte Herr Doktor Lorenz, der Generaldirektor. Henlein überlegte. Er musste den Pförtner zu Hause anrufen, damit dieser zurückkam und ihn heraus ließ. Mit dem Zentraltelefon des Pförtners kannte er sich jedoch nicht aus.
Noch einmal nahm er seinen Büroschlüssel aus dem Schrank, stieg die Treppe empor und ging auf sein Büro zu. Da hörte er einen Hilfeschrei aus einem der anderen Büros. War es da einem Kollegen so ähnlich ergangen wie ihm?
Er lief auf die Tür zu, aber diese war verschlossen. Vorsichtig blickte er durch das Schlüsselloch. Es war finster im Raum, nichts bewegte sich.
„Ich muss mich getäuscht haben. Hier ist niemand mehr“, sagte Henlein zu sich selbst, drehte sich um und schaute wieder auf seine Uhr. Weitere zwanzig Minuten waren vergangen. Wo war die Zeit hin. Henlein hatte das Gefühl, die Uhrzeiger rasten nur so über das Zifferblatt. Er steckte den Schlüssel in das Schloss seiner Bürotür, da hörte er wiederum einen Hilfeschrei aus dem Nachbarbüro.
Vor Schreck ließ er seine Aktentasche fallen und hielt den Atem an. Dann besann er sich, dass vielleicht jemand seine Hilfe brauchte.
Er sprang die Treppen nach unten und holte den Schlüssel des Nachbarbüros aus dem Schrank. Dann eilte er nach oben und drückte vorsorglich sein Ohr an die Tür. Nichts war zu hören.
„Ich glaube, meine Nerven spielen mir einen Streich. Es ist ja auch kein Wunder. Ich bin schon eine Stunde länger im Haus. Ich muss jetzt endlich raus hier.“ Er wandte sich wieder seinem eigenen Büro zu, da ertönte zum dritten Mal der Hilfeschrei.
„Nein, nein, nein! Es ist doch nicht zu fassen. Will mich hier jemand foppen? Oder mich am Gehen hindern? Na, dem werde ich was erzählen!“
Entschieden schloss er die Tür des Nachbarbüros auf. Er trat einen Schritt hinein und – befand sich plötzlich am Ufer eines reißenden Flusses. Fast wäre er ins Wasser gestürzt. Erschreckt sprang er einen Schritt zurück und stand wieder vor der Tür des völlig dunklen Büros.
Jetzt schlotterten ihm richtig die Knie. „Was war denn das? Bin ich im falschen Film?“
Schon wollte er die Tür wieder schließen, da hörte er erneut den Hilfeschrei. Jetzt kam er ganz deutlich von links aus dem Raum.
Vorsichtig spähte Henlein um die Ecke, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen. Er tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn aber nicht. Wieder machte er einen Schritt durch die Tür und, wieder befand er sich am Ufer des Flusses. Links, etwa fünf Meter von ihm entfernt, klammerte sich ein junger Mann an den Kiel eines gekenterten Bootes, welches mit einem Strick an einem Baum am Ufer befestigt war. Der junge Mann war völlig erschöpft, er war nicht imstande, sich aus eigener Kraft an Land zu ziehen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er vor Schwäche den Halt verlor und vom Fluss verschluckt würde.
„Das ist doch Kai, der Junge von oben drüber! - Kai, Kai!“ rief Henlein. „Was ist passiert? Wie kommt das alles hier ins Büro?“
Henlein machte einen Schritt auf den Baum zu, um das Boot an dem Seil ans Ufer zu ziehen, da hupte es hinter ihm. Er fuhr herum. Da stand sein Bus, die Linie 60 und Willy Nickmann schaute heraus.
„Herr Henlein, nun steigen Sie schon ein. Verpassen Sie nicht noch einmal den Bus. Sonst passiert tatsächlich noch ein Unglück!“
Henlein sah auf seine Uhr, dann auf Willy Nickmann, machte einen Schritt auf ihn zu und blieb stehen. Nein, das konnte er nicht tun. Er konnte doch den Jungen nicht ertrinken lassen. Und die Zeit eilte ihm davon. Er kam ins Schwitzen.
Eigentlich ging ihn der fremde Junge ja nichts an. Henlein hatte sich noch nie um fremde Leute gekümmert. Das hatte ihm sogar schon mal das Leben gerettet. Wenn er nur daran dachte, wie er diesen schrecklichen Unfall auf der Landstraße miterleben musste. Dieses Auto hatte gebrannt und die junge Frau hinter dem Steuer schien eingeklemmt zu sein. Aber Henlein hatte keine Zeit zu Helfen. Er musste zu einem Termin und durfte sich nicht verspäten.
Am nächsten Tag las er dann in der Zeitung folgende Schlagzeile: „Junger Mann versuchte, Frau aus brennendem Auto zu retten. Dabei explodierte das Fahrzeug. Beide Personen tot“.
„Nun kommen Sie schon, ich habe nicht den ganzen Abend Zeit“, sagte Willy Nickmann.
„Hilfe, Hilfe“ schrie der Junge.
„Ich kann nicht mitfahren“ sagte Henlein, und drehte dem Bus den Rücken zu. Er rannte am Ufer entlang, hin zum Baum und zog an dem Seil. Dabei hörte er, wie sein Bus davonfuhr und Willy Nickmann rief: „Sie sind an allem Schuld, was passiert!“
Aber Henlein ließ sich nicht beirren und zog am Seil. Er zog und zog und plötzlich krachte es. Funken spritzten. Henlein war auf den Hintern gefallen. Wieder war es finster um ihn herum. Auf allen Vieren krabbelte er zur Wand und tastete nach oben. Dann hatte er endlich den Lichtschalter gefunden und drückte darauf. Er sah sich um. Das Seil, an dem er gezogen hatte, war das Kabel vom Computerbildschirm gewesen. Und was da so gekracht hatte, das war der Monitor. Er lag zerborsten neben dem Schreibtisch.
Henlein schüttelte sich. Ihm war schlecht. Das konnte doch alles nicht wahr sein.
„Ich glaube, ich muss mich übergeben.“ Henlein hielt die Hand vor seinen Mund und stürzte zur Toilette. Er riss die Tür auf und - stand plötzlich in einem Park. Es war schon dunkel, die Wege waren menschenleer. Hinter einem Busch hörte er jedoch ein ziemlich eindeutiges Geräusch. Heisere, keuchende Laute drangen an sein Ohr und dazwischen eine weinerliche Stimme.
Sein Brechreiz war wie weggeblasen. Vorsichtig schaute er hinter die Zweige und gewahrte ein Pärchen, welches in einer seltsamen Umarmung am Boden lag. Er wollte sich schon diskret zurückziehen, da hörte er, wie das Mädchen hervor presste: „Bitte nicht, tun Sie mir nichts, bitte lassen Sie mich gehen.“ Und der Mann keuchte: „Halts Maul und stell dich nicht so an.“
Die Stimme des Mädchens kam ihm bekannt vor. Er spähte noch einmal hinter das Gebüsch. Natürlich, das war doch die Madeleine! Was machte ein fünfzehnjähriges Mädchen hier zu abendlicher Stunde mit einem Mann im Park?
Henlein wurde bewusst, dass hier kein Liebespaar lag und er dem Mädchen helfen musste. Plötzlich spürte er, wie ihm von hinten auf die Schulter geklopft wurde. Er drehte sich um. Da stand der Hausmeister des Bürogebäudes mit einer Maske über den Augen und einem Koffer in der Hand. Er hielt Henlein den Koffer vor die Nase und sagte: „Wollen Sie Werkzeug kaufen? Brauchen Sie Nachschlüssel, Eisensägen, Schneidbrenner? Schauen Sie, mit diesem Universalschlüssel lässt sich jede Tür öffnen.“
Henlein überlegte. Das war die Gelegenheit, aus dem Bürogebäude heraus zu kommen. Er musste den Pförtner nun nicht mehr anrufen.
Schon hielt er die Hand auf, da vernahm er wieder die weinerliche Stimme des Mädchens. „Hören Sie auf. Sie tun mir weh. Bitte! Ich schreie um Hilfe.“
Und der Mann sagte: „Noch ein Ton und ich tu dir wirklich weh.“
Henlein schaute auf die Uhr. Es war halb neun. Um diese Zeit machte er sich normalerweise bereits bettfertig.
„Wollen Sie nun den Universalschlüssel?“ fragte die Stimme hinter der Maske. Ich habe nicht den ganzen Abend Zeit.“
„Hilfe, Hilfe“ rief das Mädchen.
„Tut mir leid“ sagte Henlein und wandte sich dem Gebüsch zu. Er packte den Kerl beim Kragen und zog ihn hoch.
„Blödmann“ sagte der Hausmeister, „selbst dran Schuld.“
Henlein war kein Schläger, aber er hatte als Junge ziemlich gut Fußball gespielt. Zutreten konnte er. Und er trat dem Kerl mehrmals in den Hintern. Es krachte und schepperte. Henlein hatte sich ziemlich wehgetan. Was hatte der Kerl doch für harte Knochen. Henlein war kurz schwarz vor Augen geworden, so schmerzte ihn sein Fuß. Als sein Blick wieder klar wurde, sah er das zerbrochene Toilettenbecken vor sich.
Jetzt musste er sich wirklich übergeben und er schaffte es gerade noch bis zum Waschbecken.
Völlig mit den Nerven am Ende humpelte er zu seinem Büro. Er wollte die Tür aufschließen, da zog sie sich plötzlich vor ihm zurück und er fasste ins Leere.
Henlein taumelte gegen die Wand und sank zu Boden. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so schlecht gefühlt. Er legte seine zitternden Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Nach diesen mysteriösen Vorfällen, in denen er doch nur zu helfen versucht hatte und dabei mehr Schaden als Nutzen anrichtete, konnte es nicht schlimmer kommen.
Was hatte er nur falsch gemacht? Wieso passierte ausgerechnet ihm das alles? Er war doch ein akkurater Mann, der mit beiden Beinen auf der Erde stand und mit offenen Augen und geschultem Geist durchs Leben ging. Wofür rächte sich das Schicksal so bitter an ihm? Er hatte sich doch nie etwas zu Schulden kommen lassen. Oder doch?
Ihm fiel die Frau in dem brennenden Auto ein. Hätte er sie vielleicht doch retten können? War das Fahrzeug vielleicht nur explodiert, weil der junge Helfer viel zu spät am Unfallort war? Hatte Henlein zwei Menschenleben auf dem Gewissen?
So ein Unsinn! Wie konnte er nur so etwas denken? Er griff in seine Hosentasche, zog sein Taschentuch hervor und wischte seine Tränen ab. Dabei fiel sein Blick auf das gestickte Monogramm in der Ecke des Tuches. Seine Schwester hatte ihm eine ganze Reihe dieser Taschentücher selbst gefertigt, und ihm zum bestandenen Examen geschenkt.
Warum war Sibylle nur so Hals über Kopf zu diesem Mann gezogen? Es hätte so schön sein können. Sie arbeitete als Verkäuferin im ALDI, hatte eine geregelte Arbeitszeit und konnte sich abends um den Haushalt kümmern. Wenn er vom Dienst nach Hause kam, war das Bett gemacht, die Wohnung geputzt und das Essen stand auf dem Tisch. Es war doch alles perfekt.
Er hätte ihr von Anfang an nicht gestatten dürfen, in diesen Jugendclub zu gehen, dann hätte sie Peter niemals kennen gelernt und die Welt wäre in Ordnung. Aber von da an kam es zwischen den Geschwistern zu Unstimmigkeiten. Plötzlich hatte sie keine Zeit mehr für ihren Bruder, missachtete seine Befehle und ging ihre eigenen Wege.
„Du bist ja bloß neidisch, weil ich glücklich bin“, hatte sie damals zu ihm gesagt. Heimlich hatten sich die beiden dann verlobt, Henlein hätte niemals seine Einwilligung dazu gegeben. Und als sie ihm eines Tages mitteilte, dass sie heiraten wollten, kam es zum größten Krach in Henleins bisherigem Leben. Gekränkt packte danach Sibylle ihre Sachen und verließ ihn. Zwei Jahre hatten sie keinen Kontakt miteinander. Bis ihr Brief kam, in dem sie ihn zur Taufe ihres ersten Sohnes einlud. Er konnte nicht „nein“ sagen. Und dann lernte er Peter endlich kennen. Er war ein ordentlicher, gutmütiger Mann, hatte von seinen Eltern auf dem Lande einen Lebensmittelladen übernommen und arbeitete mit Sibylle hart. Sie hatten sich ein Häuschen gekauft und lebten glücklich miteinander. Henlein konnte ihr nicht länger böse sein.
Vielleicht war er ja nicht ganz unschuldig daran, dass sie damals so Hals über Kopf das Haus verließ. Möglicherweise war er ja zu streng mit ihr. Hatte er sie vielleicht hinaus geekelt?
Wenn er sie heutzutage besuchte und das Gespräch darauf kam, deutete sie ihm manchmal so etwas an. Und dann bat sie ihn immer wieder, nicht zu streng zu ihren Kindern zu sein. Sie wären so ein straffes Regiment nicht gewöhnt. Wenn er es ehrlich zugab, war ihm auch schon aufgefallen, dass die Kinder ihn nach den vier Wochen viel herzlicher verabschiedeten, als sie ihn begrüßt hatten. Sie waren wohl jedes Mal froh, wenn er wieder weg fuhr.
War er denn wirklich so ein Ekel? Hatte er ein Herz aus Stein? Musste immer alles nach seinem Kopf gehen? Nahm er sich nie die Zeit, sich die großen und kleinen Sorgen seiner Mitmenschen anzuhören?
Wie war das mit den Kollegen? Was wusste er von ihnen? Eigentlich nichts!
Am Anfang hatten sie ihn noch zu geselligen Betriebsfeiern eingeladen. Er hatte immer dankend abgelehnt. Heute setzte sich nicht einmal während der Mittagspause jemand zu ihm an den Tisch in der Kantine. Wieso war ihm das nie aufgefallen?
Keiner wollte mehr etwas von ihm wissen, niemand sprach ihn an, wenn es nicht gerade geschäftlich notwendig war. Privat hatte er zu niemandem Kontakt. Er war ganz allein!
Henlein erhob sich und strich seinen Anzug glatt. Entschlossen trat er auf die Tür seines Büros zu. Wenn er wieder hier raus kam, sollte sich so einiges in seinem Leben ändern. Es konnte doch nicht so schwer sein, seinen Mitmenschen freundlich und hilfreich gegenüber zu treten. Und was ist schon dabei, wenn er mal irgendwo eine halbe Stunde länger verweilte? Davon ging die Welt nicht unter.
Fest drückte er auf die Türklinke und sperrte dabei das Schloss auf. Beherzt öffnete er die Tür und – betrat plötzlich die Wohnung seiner Nachbarin Kathrin Wagner. Er schaute sich um. Die Wohnung glich der seinen, nur die Zimmer waren genau seitenverkehrt angeordnet. Aus einem der Räume war ein leises Weinen zu hören. Er ging dem Geräusch nach und stieß die angelehnte Tür auf. Kathrin saß auf dem Sofa und hatte den Kopf in ihren Händen vergraben, genau wie Henlein vor einigen Minuten noch. Ein paar Sekunden wusste Henlein nicht, was er tun sollte. Schon wollte er sich diskret zurückziehen, da hob Kathrin plötzlich den Kopf und starrte ihn entgeistert an. „Wie kommen Sie hier herein?“
Henlein machte einen Schritt auf sie zu. „Entschuldigen Sie – die Tür war nur angelehnt, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“
Kathrins Erstarrung löste sich, sie lächelte schwach und schaute ihn traurig an. Dann sagte sie „Nehmen Sie doch Platz.“
Sie rückte etwas zur Seite und Henlein setzte sich neben sie auf die Kante des Sofas. Er saß ganz aufrecht und steif da und wusste nicht mit seinen Händen wohin. Dann faltete er sie und klemmte sie zwischen seine Knie. Er blickte Kathrin von der Seite an und betrachtete ihre hohe Stirn, die schmale gerade Nase und die vollen Lippen, die jetzt allerdings ziemlich blutleer schienen. Sie richtete ihre graugrünen Augen auf Henlein, runzelte die Stirn und fragte: „Wollen Sie etwas trinken?“
Henlein hatte die Worte zwar gehört, war aber nicht in der Lage, seinen Blick von ihrem Gesicht zu lösen, geschweige denn, zu antworten. Sie war wunderschön. Wieso war ihm das nie aufgefallen?
Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte: „Herr Henlein?“
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sie ihn etwas gefragt hatte. „Nein, danke, ich möchte nichts trinken. Aber wenn Sie mit jemandem reden möchten, ich bin für Sie da.“
Kathrin nickte und starrte die Tischplatte an. Eine Weile sagte sie gar nichts. Doch dann fing sie stockend an zu erzählen. Sie berichtete von ihren Eltern, die vor einem Jahr durch einen Autounfall ums Leben kamen. Dann kam sie auf ihren Freund zu sprechen, den sie immer nur Dienstags und Donnerstags in einem Hotel treffen konnte, weil er dann dienstlich hier in der Stadt zu tun hatte. Er besuchte sie nie in ihrer Wohnung und lud sie auch nie zu sich nach Hause ein. Am Anfang machte ihr diese Heimlichtuerei noch Spaß. Es war ein besonderes prickelndes Gefühl, wenn sie sich trafen. Er legte ihr den Himmel zu Füßen, aber nur Dienstags und Donnerstags. Dann wurde Kathrin schwanger und sagte es ihm. Sie war sich sicher, jetzt würde er sich offiziell zu ihr bekennen. Aber plötzlich blieb er auch an diesen beiden Tagen fern. Als sie nachforschte, wurde sie mit der Tatsache konfrontiert, dass er sie nur ausgenützt hatte. Er hatte ihr eine riesige Hotelrechnung hinterlassen. In Wirklichkeit hatte er auch einen anderen Namen, war verheiratet und hatte keinerlei Interesse an einer Verbindung mit ihr. Kathrin regte sich so auf, dass sie ihr Kind verlor. Jetzt saß sie auf einem Berg Schulden und wusste nicht mehr aus noch ein.
Als Kathrin geendet hatte, vergrub sie wieder ihr Gesicht in den Händen. Erneut schüttelte sie ein Weinkrampf.
Henlein brannte Empörung in seiner Seele. Wie konnte der Mistkerl diesem wunderschönen Wesen nur so etwas antun! Sie war so zart und zerbrechlich. Vorsichtig legte Henlein seinen Arm um die Schulter der jungen Frau und drückte sie leicht an sich. „Verlieren Sie nicht den Mut. Es gibt immer einen Ausweg. Der Kerl hat Sie gar nicht verdient. Vergessen Sie ihn. Es gibt andere Männer, die glücklich wären, eine Frau wie Sie zu haben.“
Erstaunt schaute sie Henlein von der Seite an. „Meinen Sie etwa sich damit?“
Henlein dachte eine Weile über seine Worte nach. Dann sagte er: „Warum denn nicht? Oder bin ich zu alt für Sie?“
Kathrin lächelte. „Wie alt sind sie denn?“
„Ich bin fünfundvierzig.“
Kathrin schüttelte ihren Kopf. „Dann sind Sie achtzehn Jahre älter als ich!“
Henlein schaute sie verdutzt an und rechnete kurz. Dann entgegnete er: „Es gibt weitaus größere Altersunterschiede. Was wäre daran verkehrt? Sie sind allein, ich bin allein, wir sollten es einfach versuchen. Mehr als schiefgehen kann es nicht. Aber eins verspreche ich Ihnen, ausnützen werde ich Sie ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil. Jetzt werde ich erstmal ihre Schulden bezahlen und dann machen wir Urlaub. Wir können alle beide einen Tapetenwechsel vertragen. Was halten Sie davon?“
Kathrin hatte ihre Tränen mit dem Blusenärmel abgewischt und schaute Henlein groß an. „Sie meinen es tatsächlich ernst. Aber ich kann kein so großes Geschenk von Ihnen annehmen. Doch wenn Sie mir das Geld borgen könnten, wäre ich Ihnen dankbar. Ich zahle auch gewiss alles zurück.“
„Na gut“, sagte Henlein, „wenn es Sie glücklich macht. Und der Urlaub? Fahren Sie mit mir an die Riviera? Ich würde mich riesig darüber freuen.“
Jetzt strahlte Kathrin ihn an und schlang ihre Arme um seinen Hals. „Ich mich auch.“
Plötzlich ging das Licht an. Der Pförtner stand hinter Henlein und wunderte sich, warum dieser auf seinem Stuhl saß und einen Aktenordner an seine Brust drückte.
„Herr Henlein! Entschuldigen Sie. Ich habe schon geschlafen, da bin ich plötzlich aus dem Traum hoch geschreckt und mir fiel ein, dass ich Sie im Gebäude eingeschlossen habe. Meine Frau schimpfte, weil ich sie nachts um drei Uhr geweckt habe, aber ich kann Sie doch nicht die ganze Nacht hier eingesperrt lassen. Kommen Sie. Es wird schon bald wieder hell. Sie brauchen doch ihren Schlaf, ich fahre Sie schnell nach Hause, damit Sie morgen wieder pünktlich hier erscheinen können.“
Henlein sah stirnrunzelnd auf den Aktenordner, legte diesen dann auf seinen Schreibtisch, schrieb einen Zettel und legte diesen daneben. Dann blickte er den Pförtner ernst an.
„Danke. Aber das ist nicht nötig. Ich brauche jetzt etwas frische Luft. Mir sind hier einige Dinge passiert, die ich erst einmal verdauen muss.“
Und dann stand er auf und zeigte dem Pförtner die Verwüstungen, die er angerichtet hatte.
Der Pförtner schüttelte bedenklich den Kopf und fragte: „Soll ich Sie vielleicht lieber in ein Krankenhaus bringen?“
Henlein schüttelte wieder den Kopf. „Ich verstehe Sie gut. Sie müssen denken, ich bin verrückt geworden. Aber sehen Sie, ich weiß genau, was passiert ist, ich weiß nur nicht, warum. Aber ich werde selbstverständlich die Konsequenzen tragen. Hier habe ich einen Scheck ausgefüllt für die Reparaturen. Und hier lege ich noch einen Urlaubsantrag daneben. Mir ist heute Nacht so manches klar geworden. Sagen Sie bitte morgen Bescheid, dass ich nicht kommen werde, ich habe einiges zu regeln. Und ich bin mir sicher, dass mir nach diesen Vorfällen vier Wochen Urlaub genehmigt werden.“
Henlein legte dem erstaunten Pförtner die Hand auf die Schulter und verließ dann nach diesem das Bürogebäude.
„Vielen Dank für Ihr Angebot, aber ich werde zu Fuß gehen. Ich habe noch über vieles nachzudenken.“
Henlein wanderte vier Stunden durch die Stadt. Er wanderte hinaus zum Fluss und sah Kais Boot friedlich vertäut an der Anlegestelle liegen. Er wanderte durch den Park und schaute hinter jedes Gebüsch. Alles war ruhig, kein Mensch rief um Hilfe. Die Anspannung fiel langsam von Henlein ab. Schon fast fröhlich kam er am Haus Nummer 22 in der Lindenstraße an.
Er schloss die Haustür auf und stieg die drei Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Da hörte er aus der Nachbarwohnung ein leises Weinen. Die Tür war nur angelehnt und er ging hinein. Da saß Kathrin Wagner auf ihrem Sofa, das Gesicht in den Händen vergraben.
„Entschuldigen Sie – die Tür war nur angelehnt, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“
Kathrin fuhr erschrocken auf, dann lächelte sie schwach und schaute ihn traurig an. Mit leiser Stimme sagte sie: „Nehmen Sie doch Platz.“
Höhenflüge
Tina Wulf kam am frühen Morgen beschwipst nach Hause und legte eine Rockplatte auf. Die Musik dröhnte durchs Haus. Winni fing an zu weinen. Tina ließ sich aufs Bett fallen und wippte mit den Beinen im Takt. Mit heiserer Stimme grölte sie den englischen Text und zündete dabei eine Zigarette an. Jetzt schrie Winni schon lauter. Tina sprang hoch und tanzte bis zum Schrank mit der Spiegeltür. Rhythmisch ließ sie ihr dunkelblondes, schulterlanges Haar mit dem tizianroten Schimmer kreisen und begann sich zu entkleiden. Jacke, Bluse und Rock landeten auf dem Boden, den BH schwenkte sie am Träger über den Kopf; in hohem Bogen flog er auf das Fensterbrett. Abwechselnd zog sie ihren Slip mit dem linken und rechten Daumen einige Zentimeter an ihrer schmalen Hüfte herunter und nach zwei Takten wieder hoch. Das ging so drei bis vier mal hin und her, dann zog sie mit einem Ruck den Slip vollends aus und warf ihn hinter sich. Er landete im Kinderbettchen neben Winnis Kopf. Winni war inzwischen puterrot angelaufen, aber Tina tanzte weiterhin nackt durch das Zimmer.
Da flog die Tür auf und ihr Vater stand im Raum. Empört betrachtete er kurz seine unbekleidete Tochter, stürzte dann zur Hifi-Anlage und riss den Stecker heraus.
„Ja bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“ Seine Stimme überschlug sich, er griff nach der Bettdecke und warf sie Tina über. Lachend fiel Tina auf ihr Bett und blickte ihren Vater herausfordernd an, ohne ihre Blö-ßen zu bedecken. Plötzlich stand Heiner in der Tür. Er warf einen verächtlichen Blick auf seine Frau, sagte kein Wort, ging zum Kinderbett, nahm die vier Wochen alte Winni heraus und trug sie nach unten in die Küche.
„Jetzt zieh dir endlich etwas an, du benimmst dich wie eine Hure.“ Mit zitternden Fingern zog ihr Vater den Inhalator aus seiner Schlosserjacke hervor. Er nahm zwei kräftige Züge, danach ließ sein pfeifender Atem etwas nach. Bei jeder Aufregung bekam er einen Asthmaanfall.
„Wann wirst du endlich erwachsen? Wie alt bist du? Vierundzwanzig? Benimmst dich wie zehn! Was hab ich nur falsch gemacht? Deine Mutter würde sich im Grab umdrehen. Alles hast du angefangen, Mannequin – Schauspielerin! Du hättest einen anständigen Beruf ler-nen sollen. Aber nein, die Autowerkstatt war dir ja nicht gut genug, musstest nach München und diesen „Möchtegernschauspieler“ heiraten, der dir die Flausen in den Kopf gesetzt hat. War doch von vornherein klar, dass das nicht lange gut geht.“
Erschöpft setzte er sich auf einen Stuhl und strich mit seiner schwieligen Hand über sein schütteres Haar. Tina hatte inzwischen ihre Bettdecke über sich gedeckt und schaute rauchend aus dem Fenster. Diese Predigt kannte sie schon auswendig. Er tat jedesmal dasselbe: erst schreien, dann lamentieren, zuletzt abwinken und resig-niert den Raum verlassen. Seit dem Tod ihrer Mutter vor zehn Jahren machte Tina, was sie wollte. Ihr Vater war in seiner Autowerkstatt täglich zwölf Stunden beschäftigt. Sie besaß mehr Freiheiten als ihre Altersgenossen und nützte diese gründlich aus. Nach dem Abschluss der zehnten Klasse verließ sie ihre Heimatstadt Bad Tölz und ging als Mannequin nach München, leider ohne viel Er-folg. Dort lernte sie Giovanni Santoni kennen, der ihr eine kleine stumme Rolle bei einem Film besorgte, in dem er selbst mitspielte. Sie heirateten, gingen beide fremd und trennten sich nach vier Monaten wieder. Sie ließ sich scheiden und kehrte ohne einen Pfennig in der Tasche nach Hause zurück.
„Als du zurückgekommen bist, dachte ich, du hättest dich besonnen. Ich war glücklich, als du Heiner geheiratet hast. Er hat dich schon seit Jahren geliebt. Nur wegen dir hat er die Automechanikerlehre bei mir gemacht. Er ist ein ordentlicher strebsamer Mann, der weiß, worauf es im Leben ankommt. Und jetzt, als Mechanikermeister, macht er seinen Kollegen etwas vor. Einen besseren Mann kann ich mir nicht wünschen – und du auch nicht!
Jetzt, wo ihr das Kind habt, solltest du endlich vernünftig werden und dich um die Familie kümmern, statt immer nur Tennis zu spielen, Discos zu besuchen und auf Partys herumzuhängen. Was bist du bloß für ein Mensch? Kannst du nicht einmal etwas Sinnvolles tun?“
Tina drückte ihre Zigarette aus und erhob sich. „Doch Vater, ich habe mich entschieden. Ich bewerbe mich bei ‚Deutschland sucht den Superstar’.“
Der Fanatiker
Oberstudienrat Luitpold Meierle strich liebevoll mit den schmalen Fingern über die leicht vergilbten Seiten seiner neuesten Errungenschaft – einer Bibel aus dem 12. Jahr-hundert. Dann holte er eine große Lupe und betrachtete die kunstvoll gestalteten Buchstaben.
„Mit welcher Präzision der Schreiber dieses Kunstwerkes vorgegangen ist! Jeder Buchstabe exakt in Größe und Form. Daran sollten sich meine Schüler ein Beispiel neh-men!“ Er nahm seine Lesebrille ab, legte sie sorgsam zusammen, steckte sie ins Etui und fuhr sich mit beiden Händen durch sein dunkles, schütteres Haar. Dabei fiel sein Blick auf die Schleierschwänze, die sich graziös zwischen den Wasserpflanzen im Aquarium hin und her bewegten.
Luitpold Meierle schmunzelte. Es war schon verrückt. Seit zwanzig Jahren lebte er jetzt hier in Berlin in dieser Singlewohnung, hatte außer seinen Lehrerkollegen am Gymnasium kaum Bekannte, rauchte und trank nicht, ging nie aus und bekam fast nie Besuch. Und heute die-ser Zufall. Er war aus der Schule gekommen, hatte sich seinen Nachmittagstee bereitet und die Arbeitsmappen seiner Schüler zur Korrektur der Physikklausur auf den monströsen Schreibtisch bereit gelegt. Da hatte es ge-klingelt. Etwas verstimmt war er zur Tür gegangen. Kurz überlegte er, ob er so tun sollte, als sei er nicht zu Hause, aber dann besann er sich, dass er seine Schuhe vor der Tür abgestellt hatte, ebenso wie seinen nassen, aufgespannten Regenschirm. Missmutig öffnete er.
Da stand diese Frau, groß, schlank, sehr hübsch, in ein Regencape gehüllt, mit einem Päckchen unter dem Arm. „Guten Tag, Herr Meierle, entschuldigen Sie die Störung. Ich bin Fräulein Hedrich aus dem Antiquariat. Einen schönen Gruß von meinem Chef, Herrn Drostal. Er schickt mich, ihnen diese Bibel zu überbringen.“
„Eine Bibel? Ich sammle naturwissenschaftliche Raritäten, das weiß er doch.“
„Ja, aber er sagt, diese Bibel wäre etwas ganz Besonderes. Er überlässt sie Ihnen ein paar Tage zur Ansicht.“
„Na, wenn das so ist – kommen Sie rein. Aber ziehen Sie vorher Ihr tropfendes Cape aus und Ihre Schuhe. Warten Sie, ich helfe Ihnen.“ Er nahm ihr das Päckchen aus der Hand und lief damit ins Wohnzimmer.
Fräulein Hedrich stand unschlüssig in Strümpfen mit dem Cape in der Hand auf dem Fußabtreter. Achselzuckend warf sie das Cape übers Treppengeländer und betrat die Wohnung.
Herr Meierle hatte das Päckchen bereits ausgepackt, das Papier fein säuberlich zusammengelegt, weiße Handschuhe übergestreift und das Buch neben einem Stoß Mappen auf seinem Schreibtisch aufgeschlagen. Vorsichtig blätterte er die Seiten um. Fräulein Hedrich beobachtete ihn von der Tür aus. Er hatte ihr keinen Platz angeboten, ja scheinbar ganz auf sie vergessen. Sie sah, wie er die Lupe nahm und verzückt hindurch sah. Dann murmelte er, dass sich seine Schüler ein Beispiel an der präzisen Schrift nehmen sollten. Er sagte „Beispiel“ und nicht „Beischpiel“. An seiner feinen Aussprache erkannte man nach zwanzig Jahren noch den gebürtigen Hamburger. Er nahm seine Brille ab, steckte sie umständlich ins Etui und starrte ins Aquarium.
Fräulein Hedrich räusperte sich. Er fuhr herum. „Wer sind Sie? Was machen Sie in meiner Wohnung?“
„Ich bin Fräulein Hedrich aus dem Antiquariat und habe Ihnen die Bibel gebracht.“
„Ach ja, natürlich.“ Er schlug sich an den Kopf. „Habe ich mit fünfzig schon Alzheimer? Entschuldigen Sie! Richten Sie Ihrem Chef aus, ich behalte die Bibel. Ich komme in den nächsten Tagen bei ihm vorbei und regle alles. Sie ist wirklich wunderbar.“
Verzückt setzte er abermals seine Brille auf, streichelte über den vergoldeten Einband und begann in der Bibel zu blättern.
Fräulein Hedrich wartete an der Tür, ob Herr Meierle sie vielleicht nach dem Preis fragen würde, der ihr Jahresge-halt bei weitem überstieg. Dabei fiel ihr Blick auf das Bücherregal mit hunderten von antiquarischen wissenschaftlichen Werken. Enttäuscht verließ sie die Wohnung. Dieser Mann hatte keine Geldsorgen – und keinen Blick für die Schönheit einer Frau!
Die Hochzeit
Ich sitze mit Egon, meinem Mann am Küchentisch und halte einen Brief in den Händen.
„Britta heiratet!“
Egon schaut mich stirnrunzelnd an. „Wen?“
„Björn Hansen. Er ist Jurist.“
Ich sehe, wie es hinter Egons Stirn arbeitet. Von einem Björn Hansen hat er noch nie gehört.
„Seit wann kennt sie ihn und wo hat sie ihn kennengelernt?“
„Im Urlaub, auf den Bahamas. Eigentlich schon im Flugzeug. Sie hatten nebeneinander liegende Plätze. Es muss wohl Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Jedenfalls nahmen sie sich dort gleich ein gemeinsames Hotelzimmer.“
Egon schüttelt einige Male seinen Kopf. „Das ging ja schnell.“
„Ja, und es kommt noch besser. Am Abend vor der Heimreise haben sie sich verlobt. Und dann hat sie ihn gleich mit zu sich nach Hause genommen und ihren Eltern vorgestellt.“
Mein Mann schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, dass der Kaffee aus seiner Tasse schwappt und einen braunen, hässlichen Fleck auf der hellblauen Tischdecke hinterlässt.
„Nein!“
„Doch. Erwin und Anna sind aus allen Wolken gefallen. Sie hatten ihr die Reise zum bestandenen Abitur geschenkt. Und dann ist sie so gut wie verheiratet zurück gekommen.“
Egon nimmt einen großen Schluck aus seiner Tasse. „Wie lange ist das jetzt her?“
Ich schaue auf den Brief in meiner Hand. „Acht Wochen.“
„Na, wenn das mal gut geht. Wie alt ist er?“
„Fünfundzwanzig.“
„Und er ist Jurist?“
„Ja, er arbeitet bei seinem Vater in der Kanzlei.“
Ich stehe auf und bringe die leeren Tassen zum Spülbecken. Egon kann es immer noch nicht fassen. Vor Kurzem hat er seine Enkelin noch auf den Knien geschaukelt.
„Na, der alte Herr wird sich gefreut haben. Eine achtzehnjährige Schwiegertochter ohne Beruf. Was macht sie eigentlich jetzt? Studiert sie?“
„Sie ist schwanger!“
Jetzt hält Egon nichts mehr am Tisch. Er springt hoch, sein Stuhl kippt nach hinten und fällt polternd zu Boden. „Ich werde verrückt. Und wie geht es jetzt weiter?“
„Sie heiraten.“
Egon fragt fassungslos: „Was sagen seine Eltern dazu?“
„Er bekommt zur Hochzeit den Bungalow.“
„Wie großzügig! Und wann findet die Hochzeit statt?“
„In zwei Wochen. Hier ist die Einladung.“ Ich halte Egon den Brief unter die Nase und er starrt entsetzt darauf, als hielte ich eine Bombe in der Hand.
„Schau mal, die haben den Bungalow ja toll eingerichtet. Alles neue Möbel und nur vom Feinsten. Die Küche, hochmodern, mit Ultraschallherd, Mikrowelle, Infrarotgrill. Die riesige Kühl- und Gefrierkombination, der Geschirrspüler, alles aus Edelstahl.“ Ich stehe mit Egon mitten im Raum und drehe mich wie ein Kreisel.
„Spürst du das auch? Es ist ganz warm an den Füßen.“
„Fußbodenheizung“
„Ich mag gar nicht in die anderen Räume schauen. Man könnte vor Neid erblassen. Schon der Teppich im Flur ist ein Vermögen wert.“
„Komm, lass uns raus gehen. Die Feier findet im Garten statt. Sie haben Glück mit dem Wetter.“
Wir verlassen den Bungalow, ohne uns weiter umzuse-hen.
„Ja, es ist ein herrlicher Tag. Für Anfang Oktober der reinste Hochsommer. He, schau dir das an. Haben die aufgetafelt! Hast du schon mal so lange Tische gesehen? Wer soll das alles essen?“
„Wart ab, wer alles kommt. Ich wette, die Meisten kennst du nicht einmal dem Namen nach. Es ist doch immer so bei solchen Festen. Man glaubt gar nicht, wie viele Ver-wandte man hat. Wer ist das dort zum Beispiel? Kennst du die Beiden, die da einher stolzieren, als wären sie das Brautpaar? Er sieht in dem Frack aus wie ein Pinguin und sie mit diesem riesigen Hut wie ein Pfau, der sein Rad an der falschen Stelle schlägt.“
Ein echt ulkiges Pärchen trippelt über den Rasen auf die Tische zu. Sie wirft den Anwesenden kokette Blicke zu.
„Ja, das sind Onkel Berthold und Tante Irene. Sie sind beide Statisten am Theater. Ich denke, sie werden wieder einmal den Fundus geplündert haben. Sie hatten noch nie zwei mal dasselbe zu einer Feier an. Voriges Jahr, zu Helmuts achtzigstem Geburtstag, du kannst dich doch sicher daran erinnern, da hatte sie diesen pompösen Reifrock an, mit dem sie nicht durch die Tischreihen ge-passt hat. Überall stieß sie an und wischte damit das Geschirr zu Boden. Aber sie musste sich unbedingt durch jede Lücke zwängen, damit sie auch jeder bewundern konnte.“
Egon lachte schelmisch vor sich hin.
„Ja stimmt. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Berthold hatte an dem Abend einen solchen Schwips, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Er fiel ihr in die Arme, hielt sich an ihrem Rock fest und dieser ging mit einem fürchterlichen Ratschen samt Berthold zu Boden. Irene stand in Tanga und Strapsen da, schrie fürchterlich und alle haben sich gebogen vor lachen.
Irene hat dann drei Wochen nicht mehr mit ihrem Mann gesprochen und sich bei niemandem von der Verwandtschaft blicken lassen. Aber ewig hält sie das nicht durch. Dazu ist sie viel zu sehr darauf versessen, im Mittelpunkt zu stehen.“
Ich drehe mich um und sehe ein paar Neuankömmlinge. „Wer sind die denn? Ich stoße Egon mit dem Ellbogen in die Seite und er folgt meinem Blick. „Ach, das ist Heinrich. Wie soll ich dir diese Verwandtschaft erklären? Er ist der Sohn von Urgroßvaters Neffen. Frag mich nicht, wie sich das nennt. Jedenfalls hat er seine Frau und die neugeborenen Zwillinge mitgebracht. Na das kann ja heiter werden.“
„Und die Beiden?“ Ich zeige verstohlen mit dem Finger auf zwei Männer, wie sie nicht unterschiedlicher sein können.
„Das sind der lange und der kurze Steffen, die unzertrennlichen Cousins. Und da kommt ja auch Luise mit ihrer Urgroßmutter. Schau mal, wer da am Gartentor steht und sich mit Brittas Schwester unterhält.“
„Wer ist denn das nun wieder?“ Ich sehe einen wirklich attraktiven jungen Mann, den Conny mit ihren Blicken fast verschlingt.
„Das ist Emanuel, ein Ururenkel von Luther.“
Ich schaue Egon zweifelnd an. „Wie kommt denn der in diese Familie?“
„Na, wie wohl? Irgendjemand seiner Vorfahren hat hier eingeheiratet. Schau mal, wie sie ihn anhimmelt. Vielleicht gibt es ja bald noch eine Hochzeit.“
„Dass du dir diese Namen alle merken kannst!“ Ich bin wirklich beeindruckt.
„Schau, lass uns zu den anderen gehen. Die Schlacht am kalten Buffet beginnt.“
Egon rennt schon los. „Ich hole mir erst mal ein Bier. Die haben da hinten ein riesiges Fass aufgebaut. Mein Schwager zapft sich auch gerade eins. Soll ich dir eins mitbringen?“
„Nein danke. Ich trinke lieber Wein!“
Mit einem vollen Glas Rotwein und einem kleinen Tablett, auf das ich mir verschiedene Köstlichkeiten gestapelt habe, zwinge ich mich an vornehmen Gewändern und Fracks vorbei, aus welchen tentakelartig Arme mit fetttriefenden Händen über der Festtafel rudern. Hühnerbeinchen, kaviargefüllte Eier, Lachsschnittchen, Käsecroissonts und Würstchen verschwinden in kauenden Gesichtern. Hier und da fällt ein anerkennendes Wort, dazwischen Schmatzen, Rülpsen, das Rascheln von Servietten und Klappern von Tellern. Egon balanciert einen riesigen Salatteller und zwei Gläser Sekt auf einem Tablett. „Hier Lotte, stoße erstmal mit dem Brautpaar an!“
Erst jetzt sehe ich, dass Britta und Björn hinter meinem Mann herlaufen, um sich bei mir überschwänglich für das Hochzeitsgeschenk zu bedanken. Ich hatte ihnen eine Erstausstattung fürs Baby überreicht. Wir stoßen auf eine lange, glückliche Zukunft an und leeren die Gläser auf einen Zug. Schon sind die Beiden wieder verschwunden.
„Schau mal, wie sich Else und Trude über die Torten hermachen.“
Meine Schwestern tragen schon eine gigantische Leibesfülle zur Schau, aber das hält sie nicht davon ab, sich noch mehrere Zentimeter Sahne auf ihren Kuchen zu häufen.
Tessa, die Tochter von Onkel Bertholds Cousine türmt auf ihren Teller einen riesigen Berg Eiscreme. Na, wenn der mal nicht schlecht wird!
Rudi, der Vater von Björn, macht mit einem Tablett die Runde, auf dem mindestens 30 Kognakgläser stehen. Zur Verdauung genau das Richtige.
Langsam aber sicher macht sich bei einigen Gästen eine wohlige Mattigkeit breit. Hosenknöpfe werden geöffnet. Das Fass Bier ist leer und man wendet sich hochprozen-tigen Getränken zu; die Damen dem Wein und dem Sekt, die Herren dem Kognak und dem Whisky. Brazilzigarren werden gereicht.
Ein mehrstimmiger Aufschrei. Tessa rennt durch die Rei-hen der Seidenblusen und langen Röcke und übergibt sich fontänenartig auf dieselben. Großer Tumult entsteht, mit Geschrei und Gezeter drängen die so beschmutzten Damen zur Toilette im Bungalow.
„Komm Egon, mir reicht’s. Fahren wir nach Hause.“
Nach drei Tagen lassen meine Kopf- und Magenschmerzen nach.
Ich sitze mit Egon, meinem Mann am Küchentisch und halte einen Brief in den Händen.
„Conny und Emanuel heiraten!“
Die positive Magie der Unschuld
Die zierliche Jane hatte lockiges braunes Haar, welches ihr bis zur Taille reichte. Ihre vollen geschwungenen Lippen öffnete sie gern zu einem spaltbreiten Lächeln, wobei sie eine Perlenreihe strahlend weißer Zähne entblößte. Dabei entfuhr ihrer Kehle ein samtiger glucksender Ton. Dieser unschuldige Ton wirkte auf die Anwesenden so erheiternd, dass sie sich von allen Zwängen befreit fühlten. In den verfahrensten Situationen kippte die Stimmung zum Positiven hin.
Jane machte das nicht aus Berechnung; sie merkte nicht einmal, welche Wirkung sie auf ihre Mitmenschen ausübte. In ihrer naiven Unschuld glaubte sie, alle Menschen seien freundlich und nett. Sie bewegte sich mit einer zielstrebigen Sicherheit durch alle Gefahrenzonen und ahnte nichts von den Abgründen, die sich neben dem schmalen Grat, auf dem sie wandelte, zu beiden Seiten auftaten.
Jane hatte jedoch ein Handicap. Im Laufe der Jahre war ihr Augenlicht immer schwächer geworden. Jetzt, mit dreiundzwanzig, sah sie nur noch 20 Prozent.. Deshalb war sie auf eine dicke Brille angewiesen, die ihrem Gesicht eine unheimlich kluge Note verlieh. Nicht, dass die Brille sie entstellte, aber Jane wirkte durch sie zehn Jahre älter. Das hielt so manchen Mann davon ab, mit ihr einen Flirt zu beginnen.
Dies wollte Schoki, Janes beste Freundin, nun endgültig ändern. Schoki hieß eigentlich Pauline. Sie war das Pro-dukt einer kurzen Liebesbeziehung zwischen ihrer deutschen Mutter und ihrem sudanesischen Vater, den sie allerdings nicht kannte. Dank ihrer hellbraunen Hautfarbe war ihr Spitzname entstanden.
Schoki hatte das Temperament eines Popcornautoma-ten; ständig sprudelte sie über. Zwei größere Gegensätze als Jane und Schoki kann man sich nicht vorstellen. Aber sie verstanden sich prächtig.
„Heute kommst du mit zur Disko, Jane – keine Widerrede!“
„Was soll ich da? Mit mir tanzt sowieso keiner.“
„So nicht, aber ohne deine Brille liegen dir die Männer zu Füßen.“
„ – denen ich dann auf dieselben trample, weil ich nicht sehe, wo sie hin wollen.“
„So ein Quatsch! Hab‘ keine Angst, ich passe schon auf dich auf. Also abgemacht. Halb sieben hole ich dich ab. Wir werden einen lustigen Abend haben.“
In der Disko war es stickig, überfüllt und ohrenbetäubend laut. Lille kämpfte sich mit finsterem Gesicht durch die Massen. Seine Narben und Pusteln schillerten in allen Farben, er schwitzte heftig. Nach etlichen Drinks stand er nicht mehr ganz sicher auf seinen Beinen. Aber er vertrug eine Menge. So schnell brachte ihn nichts aus dem Gleichgewicht. Nur seine innere Unruhe wuchs. Er hatte sich durch das Toilettenfenster Zugang zur Disko verschafft, der Einlassdienst hatte ihn wie üblich abgewiesen. Es war immer dasselbe. Durch seine Allergie war er hässlich entstellt, kein Mädchen würde mit ihm tanzen und die Burschen schauten ihm angeekelt hinterher.
Dass er von den Türstehern noch nicht entdeckt worden war verdankte er der Tatsache, dass er relativ klein war. Aber er war auch sehr kräftig. Er tauchte in der sich ständig bewegenden Menge unter und – er suchte. Von Minute zu Minute stieg seine Anspannung. Heute musste es wieder geschehen. Seine Hormone spielten verrückt. Er brauchte eine Frau. Er würde sich eine schnappen und ihr ganz unauffällig die Halsschlagader abdrücken. Mit zu einem Entsetzensschrei geöffneten Mund und riesigen Augen würde sie ihn anstarren, bevor ihre Sinne schwanden. Dann konnte er sie auf seine Arme heben und sie zur Toilette tragen, als wäre seiner Partnerin plötzlich schlecht geworden. Und in der Toilette hätte er sie dann ganz für sich allein. Er würde nicht lange brauchen. Nur wenn sie zwischendurch zu sich käme, würde es gefährlich. Zuweilen musste er sehr grob werden. Manche Frauen kämpften wie die Löwinnen um ihre handbreit Wolllusttempel. Das war auch der Grund für seine ständigen Wohnsitzwechsel. Es war zum verrückt werden. Er war schließlich kein schlechter Kerl. Er hatte doch nur die gleichen Bedürfnisse wie andere junge Männer seines Alters auch. Aber sein Äußeres nahm ihm jede Chance, ein normales Liebesleben zu führen.
Da sah er „SIE“. Sie saß mit einigen anderen Mädchen an einem Tisch ganz nahe der Tanzfläche. Er arbeitete sich mühsam in ihre Richtung. Durch die rhythmischen Klänge des Schlagers und das Stimmengewirr der tanzenden Pärchen hindurch nahm er ihr glucksendes Lachen wahr.
Sie drehte den Kopf in seine Richtung und sah ihn an. Keine drei Meter war er von ihr entfernt. Sie hatte das schönste Gesicht, das er jemals gesehen hatte – und sie lächelte ihn an. Ungläubig und mit angehaltenem Atem blieb er stehen. Hatte sie wirklich ihn angelächelt?
Abrupt endete die Musik. In die beißende Stille hinein schrie der Diskjockey: „Damenwahl!“
Die Mädchen am Tisch erhoben sich alle gleichzeitig und stoben auseinander. Nur sie blieb stehen und blickte in seine Richtung. Unsicher kam sie auf ihn zu.
„Darf ich bitten?“ Ganz dicht stand sie nun vor ihm und er roch deutlich ihr Parfüm. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und suchte mit der rechten nach seiner.
„Ich bin keine sehr gute Tänzerin. Sehen Sie mir bitte nach, wenn ich Ihnen auf die Füße trete.“
Und sie lächelte ihn unschuldig an. Er konnte nicht fassen, was ihm da geschah.
Zögernd nahm er sie in den Arm und drehte sich mit ihr zu den langsamen Klängen der „Sechziger-Jahre-Schnulze“.
„Ich heiße Jane.“ Ihre blauen Augen strahlten wie Saphi-re. Sekundenlang hielt er ihrem Blick stand, dann senkte er seine Augen.
„Ich bin Lille.“ Er sprach sehr leise, aber sie hatte ihn verstanden. Mit abnehmendem Augenlicht war ihr Gehör immer schärfer geworden.
„Lille.“ Sie ließ die Buchstaben auf ihren Lippen zergehen.
„Ist das Ihr richtiger Name?“
Er überlegte. Von Klein auf hatte man ihn nur Lille gerufen, als ironischen Hinweis auf seine „Liliputgestalt“. Dabei war er einszweiundsechzig groß. Jane war kleiner als er. Es gab nicht viele Mädchen, denen er auf den Scheitel schauen konnte.
„Ich heiße Klaus.“
„Klaus.“ Wieder strahlte sie ihn an. „Sie tanzen sehr gut. Sie sind wohl oft hier?“
„Nein, nicht sehr oft.“
„Ich bin heute das erste Mal hier. Schoki wollte unbedingt, dass ich mit komme.“
Suchend blickte sich Lille um. Jane war also nicht allein gekommen.
„Schoki, ist das die Halbafrikanerin, mit der Sie am Tisch saßen?“
„Ja. Ihr Vater ist Sudanese. Aber sie hat ihn nie kennen gelernt. Schokis Mutter hat ihn sehr geliebt, er studierte hier in Deutschland. Aber dann musste er zurück zu seinem Stamm. Er hat sich nicht einmal von ihr verabschiedet und er hat nie von seiner Tochter erfahren. Ist das nicht traurig? Schoki ist so ein hübsches Mädchen.“
„Sie sind aber auch sehr hübsch. Sicher haben sie einen Freund.“
Jane wurde rot. Über dieses Thema sprach sie nicht einmal gern mit Schoki und nun fragte sie dieser junge Mann mit der sympathischen Stimme danach. Langsam schüttelte sie ihren Kopf.
„Im Augenblick nicht.“
Lille atmete leicht auf. Da ihm nichts einfiel, was er sie noch fragen könnte, drückte er sie etwas fester an sich. Regelrecht sehnsüchtig erwartete er ihr Zurückweichen. Doch im Gegenteil, sie schmiegte sich an ihn und ließ sein Herz höher schlagen.
‚Wieso tut sie das? Hat sie mich in der Dunkelheit des Raumes nicht richtig angesehen?‘
Er fühlte ihren schlanken Körper in seinen Armen und strich ihr mit der Hand zart über den Rücken. Ein Schauer stieg in ihm empor.
‚Kann es sein, dass sie meine Hässlichkeit nicht bemerkt?’ Bei diesem Gedanken krallte er seine Finger in ihren Rücken. Sie sollte aufhören, ihn wie einen normalen Jungen zu behandeln, der an jedem Tanzabend ein anderes Mädchen abschleppen konnte. Was fand sie an ihm? Wieso machte sie es ihm so schwer, ihr weh zu tun? Aus diesem Grund war er doch hier. Er musste eine Frau zittern sehen. Erst wenn ihn das blanke Entsetzen aus ihren Augen anschrie, fand er Befriedigung.
Er presste sie an sich. Die misstrauischen Blicke der anderen Pärchen machten ihn rasend. Wieso gestanden sie ihm keine Partnerin zu? Sie sollten sich um ihren eigenen Dreck kümmern. Er wollte niemanden sehen. Wütend drückte er sein pusteliges Gesicht an ihren Hals. Und wieder kam sie ihm entgegen. Sie legte beide Arme um ihn und nun tanzten sie, als wären sie miteinander verschmolzen.
Dann war die Musik zu Ende. Aber sie lösten sich nicht voneinander.
„Möchtest du etwas trinken?“ In seiner Stimme ganz nah an ihrem Ohr schwang ein Vibrieren. Wenn er sich an ihr festhielt sah sie vielleicht nicht, wie seine Hände zitterten. Er hatte sie „geduzt“. Wie würde sie reagieren?
„Gern.“
Es war nur ein Wort, aber ihre Lippen hatten dabei sein Ohrläppchen berührt und da konnte er sich nicht mehr beherrschen. Er drückte seine verschorften Lippen auf ihren Mund.
Ein gellender Schrei brachte die Lawine ins rollen. Grob wurde er von dem Mädchen gerissen. Er erhielt einen Stoß vor die Brust und taumelte gegen einen Pfeiler. Vor ihm tauchte eine braune Fratze auf und im gleichen Augenblick wurde ihm eine Faust in die Magengrube gerammt.
„Du verdammtes Schwein, lass die Finger von meiner Freundin. Du hässliches Stück Scheiße, ich reiß dir die Eingeweide heraus, wenn du sie noch einmal anrührst.“ Und unbarmherzig trommelten Schokis Fäuste auf ihn ein.
Nach seiner ersten Verblüffung schlug er zurück. Er traf Schoki hart am Kinn und sie fiel um wie ein Brett. Aufschreiend stürzte sich die Menge auf ihn. Als letztes sah er Janes entsetzt aufgerissene Augen. Wie schön sie doch war in ihrer Angst. Aber dann fiel er unter den wuchtigen Faustschlägen und Fußtritten der vom Blutrausch enthemmten Meute ins Koma.
Lille wachte unter einem dicken Kopfverband auf. Er hatte von Jane geträumt. Sie lag in seinen Armen und er küsste sie. Zärtlich streichelte sie ihn über die Haare. Mit ihr war alles so vollkommen anders. Ihr brauchte er nicht weh zu tun, um ihr seine Macht über sie zu beweisen. In seinen Lenden regte es sich auch ohne das Entsetzen in ihren Augen. Er war so erfüllt von den zärtlichen Gedanken an Jane, dass er ihr Bild jetzt, wo er die Augen aufschlug, ganz dicht vor sich sah und ihre Hände auf seiner Brust spürte. Als sich die Nebel vor seinen Augen teilten, blickte er in zwei dicke Brillengläser. Vielleicht war es ja die Ärztin? Aber sie trug keinen weißen Kittel, sondern ein luftiges Sommerkleid. Und dann stieg ihm der bekannte Duft ihres Parfüms in die Nase. Es war Jane. Und jetzt wusste er auch, warum sie an jenem Abend nicht vor ihm zurückgeschreckt war. Sie hatte sein entstelltes Gesicht einfach nicht sehen können. Und so spielte sein Aussehen für sie überhaupt keine Rolle. Für sie zählte nur der Mensch, der sich um sie bemühte, der höflich und später zärtlich um sie warb.
Und auch jetzt, mit ihrer dicken Brille, konnte sie ihn nicht sehen, denn sein geschundenes Gesicht war mit einem dicken Verband bedeckt.
Jane setzte ihre Brille ab und lächelte glucksend.
„Erkennst du mich jetzt? Du schuldest mir noch einen Drink.“
Lille verzog schmerzhaft sein Gesicht zu einem Lächeln.
„Ich habe dich erkannt. Setze ruhig deine Brille wieder auf. Auch so bist du für mich das schönste Mädchen auf der Welt.“
Jane wurde rot. „Sag‘ sowas nicht. Bitte mach‘ dich nicht über mich lustig. Ich weiß, wie mich die Brille entstellt. Aber ohne sie bin ich fast blind.“
Lille hob zögernd seine Hand zu ihrem Gesicht und streichelte sie über die Wange. Da beugte sie sich zu ihm herab und gab ihm einen Kuss auf seine aufgeplatzten Lippen.
„Es kommt nicht auf die äußere Schönheit des Menschen an, sondern auf seinen Charakter.“
Lille hatte sich diese Phrase schon tausendmal selbst gesagt, aber als er diese Worte vor ihr aussprach, schämte er sich dafür.
„Du hast Recht. Es zählt nur, ob einer ein guter oder ein schlechter Mensch ist. Schoki hat mir gesagt, du seiest hässlich und hättest lauter Ausschlag im Gesicht. Aber ich kann nichts davon entdecken. Unter deinem Verband schauen nur blaue Flecken von den Faustschlägen hervor. Und die verschwinden schließlich wieder. Und auch, wenn du so hässlich wärest, wie Schoki behauptet, was soll’s, ich spüre, dass du ein guter Mensch bist, und nur das ist wichtig. Gegen Ausschlag kann man was tun. Oftmals ist er auch nur psychisch bedingt und verschwindet von selbst, wenn man sein seelisches Gleichgewicht gefunden hat. Ich denke, das kriegen wir hin.“
Und sie nahm Lille in ihre Arme und küsste ihn und sie besuchte ihn jeden Tag im Krankenhaus, bis zu seiner Entlassung. Und als ihm der Verband abgenommen wur-de, war von den Pusteln und Narben fast nichts mehr zu sehen.
Diego
Wir lagen auf der Wiese. Sein Kopf ruhte mit geschlossenen Augen auf meinem ausgestreckten Arm. Auf seinen vollen Lippen spielte ein Lächeln. Sein schwarzlockiges, wirres Haar hing ihm in die Stirn. Er war nicht schön, aber er sah rassig aus. Seine Wangenknochen standen etwas hervor, die Nase ein bisschen zu breit und die Augenbrauen buschig und in der Mitte fast zusammen gewachsen.
Ich fuhr mit meinem Finger die Linien seines Gesichtes nach. Seine Haut fühlte sich flauschig an, als ob tausend kleine, unsichtbare Härchen meine Fingerkuppe kitzelten.
Sein Lächeln verstärkte sich. Er drehte sich halb zu mir und blinzelte mich an. Dann küsste er meine Fingerspitzen. Ich schlang meine Arme um ihn und sog seinen würzigen Duft ein. Mein Herzschlag verdoppelte sich innerhalb zwei Sekunden. Mit geschlossenen Augen vergrub ich meine Nase in seinem Haaransatz und küsste ihn auf den Hals. Dann kaute ich an seinem Ohrläppchen und spürte, wie seine Hand durch mein Haar fuhr. Er nahm meinen Kopf zwischen seine Hände und blickte mich mit halb geschlossenen schwarzen Augen an. Dann drückte er, ganz langsam, seine Lippen auf meinen Mund. Seine Zunge fuhr zwischen meine Zähne und stieß mit meiner zusammen. Ich saugte mich an ihm fest. Mein ganzer Körper wogte ihm entgegen. Unsere Hände trafen sich auf meinem Bauch. Ich erzitterte heftig, als er mit einem kleinen Schwung auf mir lag. Und dann spürte ich ihn in mir, erst langsam, dann immer schneller und kraftvoller. Ein leiser Aufschrei von mir und ein befreiendes Aufatmen von ihm fielen fast zusammen und eine wohlige Glückseligkeit machte sich in mir breit.
Sein Kopf ruhte auf meinem Arm und er lächelte. Die Sonne schien golden auf uns herab und ein leichter Wind kühlte unsere erhitzten Körper. Jasminduft lag in der Luft, Vögel jubilierten. Jetzt nahm ich die Umgebung um mich herum wahr. Ich war nicht mehr so gefangen von diesem Mann, der noch vor einer Stunde einen heftigen Streit mit meiner Freundin hatte. Er war wütend und zerknirscht in den Garten hinaus gelaufen und ich hinter ihm her. Ich weiß nicht, warum, aber er tat mir auf einmal leid.
Sabine war meine beste Freundin. Wir kannten uns eine Ewigkeit, saßen schon in der ersten Klasse nebeneinander. Wir tauschten unsere Blusen und Röcke, ließen keine Disco aus und heulten uns gegenseitig die Ohren voll, wenn wir unglücklich waren.
Vor acht Monaten lernte Sabine Diego kennen. Sie war verknallt wie noch nie.
„Er ist Italiener und er ist so süß. Und tanzen kann er.“ Sie schaute mich verträumt an, als hätte sie ihre Umgebung vergessen.
„Und was kann er noch?“ Ich wollte sie ein bisschen foppen, aber sie merkte es nicht.
„Er ist einfach phantastisch!“
„Sag bloß, ihr habt schon miteinander.....?“
Sie schaute mich strahlend an, faltete die Hände vor der Brust und drehte sich wie ein kleines Mädchen hin und her.
„Er ist der Richtige. Er oder Keiner!“
„Du bist verrückt! Was weißt du von ihm? Was macht er? Wo kommt er her? Du kennst seine Familie nicht. Die Italiener haben ihre eigenen Ansichten vom Zusammenleben.“ Ich redete mich in Rage.
„Ach papperlapapp. Du gönnst ihn mir bloß nicht.“ Sie zog einen Schmollmund.
Ich nahm sie bei der Hand und zog sie zum Sofa.
„Komm, setz dich. Ich will dir was erzählen. Ich kenne da eine Frau, die ist auch mit einem Italiener verheiratet. Sie hat es schon hundert Mal bereut. Er behandelt sie, als wäre sie seine Leibeigene. Sie darf nicht alleine das Haus verlassen. Tut sie es doch, macht er ihr riesige Szenen, wenn sie wieder kommt. Er unterstellt ihr, sie würde fremdgehen. Dabei hat sie sich nur eine Putzstelle gesucht, weil ihr Mann fast seinen ganzen Lohn auf den Fußballplatz trägt. Inzwischen ist es so schlimm geworden, dass er seine Arbeit gekündigt hat, nur um sie auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Sie weiß nicht mehr, wovon sie sich und die zwei Kinder ernähren soll. Er will auch nicht, dass sie putzen geht. Und er schlägt sie.“
Sabine ließ sich nicht von mir beeindrucken.
„Ich fahre mit ihm in Urlaub. Nach Italien. Da lerne ich seine Familie kennen.“
Und sie fuhren im Mai und blieben vier Wochen dort. Als sie zurückkamen, waren sie verheiratet und Sabine war schwanger.
Und sie war eine andere. Ich erkannte sie nicht wieder. Vorbei war es mit Küsschen und Streicheln und Händchen halten. Kein zärtliches Wort. Sabine knurrte Diego nur noch an. Er konnte tun und lassen, was er wollte, sie behandelte ihn wie einen Leibeigenen.
An Sabines Geburtstag eskalierte dann die Situation.
Sie saß in ihrem Sessel und tat gar nichts, außer, ihn herum zu kommandieren. ‚Hol mir dieses, bring mir jenes …‘ Und er sprang, wenn sie pfiff und tat alles für sie. Er wollte doch nur etwas Liebe von ihr.
Er streichelte sie über den Kopf und wollte seine Hand auf ihren Bauch legen, um den Herzschlag seines Kindes zu fühlen. Aber sie schlug seine Hand weg.
„Fass mich nicht an!“ Da lief er mit Tränen in den Augen hinaus. Ich konnte nicht glauben, was ich sah.
„Wieso bist du so ekelhaft zu ihm? Er hat dir doch gar nichts getan!“
Sie schaute mich mit einem vernichtenden Blick an. „Er hat es nicht anders verdient. Geh ihn doch trösten!“ Und ich lief hinter ihm her.
„Diego!“ Ich rief ihn, weil ich ihn in dem großen Garten nicht gleich entdecken konnte. Er saß hinter einer Jasminhecke auf einer Holzbank und weinte. Ich legte meinen Arm um ihn und er ließ seinen Kopf auf meine Schulter sinken.
„Sei ihr nicht böse, sie ist schwanger, sie meint es nicht so.“ Ich trocknete seine Tränen und er umarmte mich mit einer Leidenschaft, die mich erschreckte.
„Sie liebt mich nicht mehr, ich komme nicht mehr an sie heran. Ich bin so unglücklich. Irgendjemand hat ihr eingeredet, alle Italiener seien Schweine, die ihre Frauen unterdrücken. Ich bin doch auch nur ein Mann, der ein bisschen Liebe braucht.“
Mir verschlug es den Atem. Ich war schuld. Ich hatte ihr diesen Unsinn eingeredet. Und Sabine hat einfach den Spieß umgedreht. Sie würde sich niemals unterdrücken lassen.
Und wieder tat ich genau das Falsche. Ich schlief mit ihm. Auf seinem Gesicht war ein glückliches Lächeln. Aber wem war damit geholfen?
Die Wandlung
Renate Hemmer ist eine Frau Mitte dreißig, stets schlecht gelaunt und äußerst unsympathisch. Meist zieht sie farblose, graue oder schwarze Kleidung an, und sieht dadurch noch dünner und älter aus. Ihr halblanges Haar wirkt ungepflegt und stumpf. Wie es ihr Mann Bernd mit ihr die ganzen Jahre aushält, ist allen Leuten im Häuserblock schleierhaft. Ich wohne im Appartement direkt unter ihr und höre sie oft kreischen. Dabei ist ihr Mann das ganze Gegenteil von ihr, ein großer, kräftiger, aber gutmütiger Teddy. Nichts kann ihn so schnell aus der Ruhe bringen. Er ist immer freundlich. Oft sehe ich ihn die Treppe putzen oder mit vollen Einkaufstaschen nach Hause kommen.
Vor Kurzem ist der kleine Christoph Küster aus dem Erdgeschoss mit seinem neuen Fahrrad schlimm gestürzt. Laut weinend kam er ins Haus gerannt, mit blutenden Knien und blutender Nase. Seine alleinstehende Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen und wollte ihn verarzten. Aber er schrie nur: „Mein Fahrrad, mein Fahrrad!“ Es hatte eine große Acht im Vorderrad und Frau Küster zuckte ratlos mit den Schultern. Frau Hemmer schrie nach unten: „Ruhe, du Balg!“ Herr Hemmer jedoch holte seinen Werkzeugkasten und reparierte das Rad. Er liebt Kinder sehr und er hilft, wo er kann.
Selbst haben die Hemmers keine Kinder. Woran das liegt, weiß niemand so recht. Und vielleicht ist Frau Hemmer ja auch deshalb so grantig. Andererseits könnte ich sie mir mit Kindern auch nicht vorstellen. Wie sollten die armen Kleinen ihre Launen aushalten? Sie ist bösartig und die Kinder aus der Umgebung gehen ihr alle aus dem Weg.
Wie jeden Freitag fahre ich nach der Arbeit in den Supermarkt und stehe dann ewig an der Kasse an. Heute ist besonders viel Betrieb. Die Schulferien sind zu Ende. In vielen Einkaufswagen türmen sich Süßigkeiten und kleine Geschenke für die Schultüten, aber auch Hefte, Zeichenblocks und alle möglichen anderen Utensilien für den Schulbeginn.
Vor mir in der Schlange steht Frau Hemmer. Beinahe hätte ich sie nicht erkannt. Sie trägt eine moderne Kurzhaarfrisur, einen hellgrünen Sommermantel über einer beigen Caprihose und weiße Turnschuhe. Ihr Einkaufswagen ist voll bis unter den Rand. Auch sie kauft Süßigkeiten und Schulmaterial. Und Windeln!
Als sie die Ware aufs Band legt, dreht sie sich um und grüßt mich freundlich!
Total perplex nicke ich nur und sie lächelt mich an. Und dann höre ich sie zur Kassiererin sagen: „Ja, ich kaufe viel mehr ein als sonst. Wir haben ja auch jetzt zwei Mäuler mehr zu füttern.“
Als ich zu Hause meine Körbe auspacke, kommt mein Mann von der Arbeit. Ich sage zu ihm: „Hast du schon gehört? Die Hemmers....“
Und er fällt mir ins Wort: „Das wollte ich dir auch gerade erzählen. Stell dir vor, die Beiden waren doch in Urlaub, in Afrika auf Safari. Und dort ist Frau Hemmer plötzlich krank geworden. Keiner wusste, was es war, denn sie hatten sich ja beide vorher hier impfen lassen. Es muss so schlimm gewesen sein, dass sie weder laufen, noch stehen oder sitzen konnte. Wie gelähmt lag sie zwei Wochen mitten im Urwald und wurde nur von einer Stammesgruppe der Massai gepflegt. Der Medizinmann behandelte sie mit irgendwelchen Pflanzen und seine Kinder kümmerten sich um sie. Sie gaben ihr zu essen und zu trinken. Die Kleinen mussten sie regelrecht füttern und ihr bei jedem Handgriff helfen, denn sie konnte sich weder allein anziehen, noch zur Toilette gehen. Herr Hemmer fuhr unterdessen mit dem Häuptlingssohn in einem uralten schrottreifen Jeep nach Nairobi, um eine Überführung in ein Krankenhaus zu organisieren. Frau Hemmer wurde mit einem Helikopter abgeholt und hat sich dann auch im Krankenhaus ziemlich schnell erholt. Man hat ihr gesagt, dass ihr die Kräuter vom Medizinmann das Leben gerettet hätten. Die Infektion hat sie sich wohl durch die Verletzung an einer giftigen Pflanze zugezogen.“
Längst standen meine Körbe unbeachtet auf dem Tisch. Ich hatte mich auf den Küchenstuhl gesetzt und fasziniert meinem Mann zugehört. „Woher weißt du das alles?“
„Der Bruder von Herrn Hemmer arbeitet bei uns in der Gütekontrolle. Und der hat die Geschichte überall herum erzählt. Aber pass auf! Die Sache geht noch weiter. Das Erlebnis muss bei Frau Hemmer irgend etwas Gravierendes bewirkt haben. Sie war plötzlich wie ausgewechselt. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, reisten sie noch einmal zu den Massai in den Urwald, um sich zu bedanken. Dort war inzwischen die Hölle ausgebrochen. Ein feindlicher Stamm hatte die kleine Gruppe überfallen, mehrere Männer getötet und Frauen entführt. Auch die beiden Kinder vom Medizinmann waren zu Waisen geworden. Da haben sich die Hemmers kurz entschlossen, die zwei Mädchen zu adoptieren und mit nach Deutschland zu nehmen. Nach drei Wochen Behördenkrieg bekamen sie dann die Genehmigung. Vorgestern erhielten sie die Nachricht, sie können die Kinder in Frankfurt vom Flughafen abholen. Sie wurden vom Roten Kreuz überführt. Und seit gestern sind die Hemmers nun Eltern von zwei Massai-Mädchen. Die Große ist acht und die Kleine zweieinhalb.“
Im Treppenhaus ging plötzlich ein ziemlicher Lärm los. Ich eilte an die Tür und spähte durch den Spion. Polternd stieg Familie Hemmer mit ihren zwei Kindern die Treppe hoch. Die Große redete in einer fremden Sprache auf Frau Hemmer ein, die das kleine weinende Mädchen auf dem Arm nach oben trug und ihr dabei die Tränen weg küsste. Herr Hemmer stapfte mit den vollen Einkaufstaschen hinterher. Er hatte ein Lächeln auf den Lippen, in seinen Augen strahlte Freude und Glück.
Entdeckt
Es kam mit der Morgenpost ein ganz normal aussehendes Paket in braunem Packpapier und verschnürt mit derber Doppelschnur. Es unterschied sich in nichts von den Tausenden anderer Pakete, wie sie die Postboten tagtäglich austragen. Mit diesem aber hatte es eine besondere Bewandtnis – eine ganz besondere.
Es war ohne Absender. Und das machte mich stutzig. Nicht nur, dass ich kein Paket erwartet hatte, ich hatte weder etwas bei einem Verlag oder Versandhaus bestellt, noch konnte ich mir überhaupt vorstellen, wer mir etwas schicken sollte.
Ich war neu in der Stadt. Und ich hatte mir einen anderen Namen zugelegt. Keiner kannte mich hier. Und für die, die mich kannten, war ich spurlos verschwunden. Wer also sollte mir etwas schicken?
Ich stellte das Paket zur Seite und starrte es an. Ich war mir nicht sicher, ob ich es öffnen sollte. Es konnte alles Mögliche darin sein. Vielleicht war es ja ein Irrtum und es gab noch einen anderen Hans-Joachim Conrad in dieser Straße. Die Adresse wurde mit Tinte direkt auf das Packpapier geschrieben. Die Hausnummer war leicht verwischt. Vielleicht sollte sie ursprünglich 4 heißen und nicht 9. Ich würde das überprüfen.
Es gab keinen Hans-Joachim Conrad in Hausnummer 4, und auch in keinem der anderen Häuser. Ich war die ganze Straße hoch und wieder runter gelaufen und hatte an jedes Klingelschild geschaut. Nicht einmal ein ähnlicher Name befand sich auf ihnen.
Das Paket stand auf dem Küchentisch und wartete. Ich holte mir aus dem Kühlschrank ein Bier und zündete mir eine Zigarette an. Tief atmete ich den Rauch ein und wurde etwas ruhiger. Tausend Dinge gingen mir durch den Kopf. Wer konnte wissen, dass ich hier wohne? Und wer konnte überhaupt von meinem neuen Namen wissen und wer ich wirklich bin?
Der Araber, der mir meinen gefälschten Pass überbracht hatte, lag mit dem Gesicht nach unten über Annegret. Ich hatte ihn in die gleiche Grube gelegt, wie sie. Verborgen unter der größten Müllhalde der Stadt, aus der ich stammte. Berge von Unrat, Schrott und Abfällen türmten sich über den Leibern, die in zwei Meter Tiefe ruhten. Der Araber konnte nichts dafür. Er war nur ein Zeuge, der mir gefährlich werden konnte. Ich musste ihn ganz einfach beseitigen. Er kannte meinen neuen Namen und er kannte mein Gesicht. Bei Annegret war das anders. Sie hatte mich betrogen und verraten. Und das nach all den Jahren.
Wir waren ein Team, und zwar ein ausgesprochen gutes. Und ich hatte immer gerecht mit ihr geteilt. Natürlich nicht halbe-halbe. Ich hatte schließlich die ganze Planung, führte die Beutezüge aus und trug das Risiko, falls etwas schief ging. Annegret musste nur die Augen offen halten und mich warnen und das Fluchtauto fahren. Und das klappte über fünf Jahre ausgezeichnet. Sie bekam zwanzig Prozent vom Gewinn und sie war damit zufrieden. Bis sie Bert kennenlernte. Plötzlich brauchte sie mehr Geld. Ich weiß nicht, wo sie diesen unbrauchbaren Hungerleider aufgegabelt hat. Eines Tages stand sie mit ihm vor meiner Tür und verlangte, dass er mitmachen dürfe. Ich war dagegen, denn ich erkannte auf Anhieb, dass er nichts taugte. Er war schwer von Begriff, träge und kraftlos in seinen Bewegungen, aber Annegret stand auf ihn. Wahrscheinlich war die Flasche gut im Bett. Und das ärgerte mich. Wie oft hatte ich Annegret versucht davon zu überzeugen, dass wir nicht nur beruflich, sondern auch privat hervorragend zusammen passen. Aber sie wollte nichts davon wissen. Sie war der Meinung, dienstliches und privates müsse man strengstens trennen, sonst klappe beides nicht. Und jetzt brachte sie diesen Versager an und stieß damit ihre eigenen Vorsätze über den Haufen.
Ich gab ihm eine Aufgabe und ich wusste von vornherein, dass er damit überfordert war. Und natürlich wurde er erwischt. Annegret gab mir die Schuld an seiner Verhaftung. Erst wollte sie die Geschäftsverbindung mit mir ganz abbrechen, aber dann überlegte sie es sich doch noch. Sie brauchte Geld für Berts Kaution.
Und wir landeten einen besonders großen Coup. Diesmal hatte es sich richtig gelohnt. Siebenhundertfünfzigtausend Euro warteten im Schließfach auf die Geldwäsche. Die nötige Connection hatte ich, Araber, Türken, Russen. Meine Verbindungen ins Ausland hatten sich über Jahre gefestigt, es war überhaupt kein Problem für mich, eine solche Summe in kleineren Beträgen Freunden mitzugeben und im Ausland auf verschiedene Geschäftskonten zu verteilen.
Annegret sah das anders. Als ich die ersten drei Verteiler zum Schließfach bestellte, war dieses leer. Erst konnte ich mir nicht erklären, wie sie an den Schlüssel gelangt war, aber dann fiel mir unsere kleine Party ein. Annegret hatte Geburtstag und lud ein paar Freunde ein, auch mich. Sie wusste, dass ich den Schlüssel immer am Mann trug. Wir tranken an diesem Abend ungewöhnlich viel, denn die Stimmung war ausgelassen und Annegret schien sich nun doch eines besseren besonnen zu haben und wurde für mich zugänglich. Wir tanzten zu ihrer neuesten Schmuserock-CD, sie drückte ihren herrlichen Körper in diesem erotisch ausgeschnittenen Kleid an mich und dann saugten sich ihre Lippen an meinem Hals fest. Siedendheiß stieg es in mir empor und ich tanzte mit ihr ins Schlafzimmer. Wie Besessene fielen wir übereinander her und ich könnte mich heute noch ohrfeigen, dass ich so auf ihren perfiden Plan hereingefallen bin.
Ich muss nach dem Orgasmus eingeschlafen sein. Als ich erwachte, war es früher Morgen, die Gäste waren weg, die Wohnung war aufgeräumt und auf dem Couchtisch im Wohnzimmer standen frisch gebrühter Kaffee und knusprige Brötchen. Auf einen Zettel stand in ihrer ungelenken Kinderschrift: „Vielen Dank für alles.“
Mein Kopf war alles andere als klar und so stellte ich mich erst mal unter die Dusche. Beim anziehen überprüfte ich gewohnheitsmäßig meine Taschen. Der Schließfachschlüssel war da. Ich frühstückte und fuhr dann in meine Wohnung.
Als sich Annegret den ganzen Tag nicht bei mir meldete, versuchte ich sie zu erreichen. Sie ging nicht ans Tele-fon. Nun wurde ich doch unruhig. Ich musste mich schnellstens um mein Geld kümmern. Von einer beängstigenden Vorahnung getrieben, bestellte ich meine Kontaktpersonen zum Bahnhof und dann stand ich vor dem leeren Schließfach. Annegret war schneller als ich.
Ich rief im Gefängnis an. Bert schmorte immer noch in seiner Zelle. Sie hatte keine Kaution für ihn hinterlegt.
Von einer Nachbarin erfuhr ich, dass Annegret vor einer halben Stunde mit einem Koffer in ein Taxi einsteigen wäre. Sie hörte noch, wie sie zum Fahrer sagte: „Zum Flughafen“.
Ich stürzte zu meinem Auto und fuhr ihr nach. Im Flughafengebäude stellte ich fest, dass der nächste Flieger erst in einer Stunde startete und sah mich um. Über einer Rückenlehne sah ich dann ihren Blondschopf herausragen. Ich trat von hinten an sie heran und flüsterte, sie solle aufstehen und mitkommen, ohne einen Ton von sich zu geben. Steif wie ein Stock erhob sie sich. Zu Tode erschrocken drehte sie sich um. Dann öffnete sich ihr Mund. Ich sah sie durchdringend an.
„Wenn du jetzt schreist, tu ich es gleich hier. Ich habe nichts zu verlieren. Komm mit.“
Sie lief wie in Trance neben mir her, ihren Koffer in der Hand. Sie trug schwer an ihm, es waren keine leichten Kleider darin. In ihm befand sich mein Geld. Ich sagte: „Warum, nach dieser Nacht?“
Sie antwortete: „Ich werde dich verlassen.“ Das war ihr Todesurteil.
Ich öffnete das Paket auf meinem Küchentisch. Fein säuberlich verpackt lagen darin zwei Paar Schuhe; die, welche Annegret an jenem Tage trug und die Schuhe des Arabers, der mir meinen Ausweis gebracht hatte.
Auf einem Zettel stand in Druckbuchstaben:
ICH WEIß WER DU BIST!
Hoffnung
Ich heiße Igor. So ruft mich jedenfalls immer mein Herrchen. Eigentlich bin ich ein bildhübscher Jagdhund, der zu einer Hundeausstellung soll. Mein Herrchen hat mich gebadet und gebürstet, meine Zähne geputzt und die Krallen geschnitten. Und dann sind wir ins Auto gestiegen und los gefahren.
Ich weiß nicht, warum mein Herrchen so aufgeregt ist. Weit und breit befindet sich außer uns kein Fahrzeug auf der Landstraße. Kahle Bäume und Sträucher rasen an uns vorbei. Draußen ist es kalt. Warum öffnet mein Herrchen denn jetzt auch noch das Fenster? Das ist mir gar nicht recht. Die Heizung hat so eine wohlige Wärme im Auto geschaffen, dass mir die Augen zugefallen sind und ich gerade einschlafen wollte. Auf meiner Decke auf der Rückbank habe ich es mir so richtig gemütlich gemacht, aber nun fährt mir der kalte Wind ins Fell.
Mein Herrchen hat einen dunklen Kopf bekommen und jetzt reißt er sich mit einer Hand den Hemdkragen auf. So habe ich ihn ja noch nie erlebt. Er schnappt nach Luft und jetzt beginnt das Auto hin und her zu schlingern. Wo fährt er denn hin? Peng. Wir halten vor einem Gebüsch. Das hat ganz schön geknallt! Ich bin zwischen die Sitze gerutscht und habe mir die rechte Schulter an der Rückenlehne geprellt. Das tut weh. Irgendwie muss ich da wieder hoch kommen.
Mein Herrchen liegt mit dem Kopf auf dem Lenkrad und sagt nichts.
Ich frage mich, warum er nicht weiterfährt. Wir haben es doch eilig zu meiner Ausstellung. Heute will ich wieder den ersten Preis gewinnen, wie schon im letzten Jahr.
Aber mein Herrchen rührt sich nicht. Ich springe neben ihn auf den Beifahrersitz, obwohl ich das eigentlich nicht darf. Aber das ist eine Ausnahme – versprochen!
Ich blicke in sein Gesicht und seine Augen sind offen, aber irgendwie schaut er mich trotzdem nicht an. Dann stupse ich ihn eben mit der Nase an und lecke ihn über die Wangen, obwohl er das sonst gar nicht mag. Aber er rührt sich immer noch nicht. Dann versuche ich es eben mit bellen. Wieso reagiert er bloß nicht?
Plötzlich hält neben uns auf der Straße ein Auto. Ein Mann und eine Frau springen heraus und schauen zu uns herein. Jetzt nimmt der Mann aus seiner Tasche einen kleinen schwarzen Kasten, ich glaube, die Menschen nennen so etwas „Handy“. Er drückt mit den Fingern darauf herum, hält es an sein Ohr und redet ganz aufgeregt. Die Frau zeigt auf die Tür und dann auf mich, der Mann schüttelt seinen Kopf. Ich glaube, sie haben Angst vor mir und machen nicht auf. Dabei kann ich keiner Fliege etwas zu Leide tun.
Nach einer Weile höre ich von weitem einen heulenden Ton, als wenn ein todtrauriger Hund weint. Ich muss ganz einfach mit einstimmen und jetzt sind plötzlich viele Menschen um uns herum. Ein paar Autos stehen auch da und nun wird doch noch unsere Tür geöffnet. Erleichtert springe ich hinaus. Jemand schreit, aber da renne ich schon übers Feld und verstecke mich im Wald. Von weitem beobachte ich, wie sie mein Herrchen aus dem Auto heben, auf eine Trage legen und ihn mit Nadeln pieken. Seltsame Leinen ragen aus seinem Gesicht und seinem Arm. Sie schieben ihn in ein großes Auto und dieses entfernt sich und jault zum Abschied. Und wieder muss ich in den traurigen Gesang einstimmen.
Als alle Menschen fort sind schleiche ich mich wieder zu unserem Auto. Ich umrunde es und schnuppere an den Rädern, den Lampen und an den Türen. Viele fremde Gerüche sind nun daran, aber sonst hat es sich nicht verändert. Die Beifahrertür steht weit offen und ich springe hinein und setze mich auf meine Decke am Rücksitz.
Jetzt könnten wir endlich weiterfahren. Ich muss doch zu meiner Ausstellung. Was ist bloß los? Und wo ist mein Herrchen? Egal, ich warte hier. Er kommt mich sicher gleich holen.
Können diese Augen lügen?
Es gibt Situationen, in denen man sich fragt, was das Leben eines Menschen Wert ist.
So ging es mir, als ich Ünal kennen lernte. Einem Häuflein Unglück gleich, saß er in meiner Praxis. Er hatte alles verloren. Alles, außer seinem Leben. Und das, schien ihm, wäre besser auch zu Ende gewesen.
Ich war beauftragt, ein psychologisches Gutachten zu erstellen. Dabei sollte ich herausfinden, ob er an dem schrecklichen Unglück, das seiner Familie widerfahren war, die Schuld trug.
Hatte er das Haus angezündet, in dem die Asylanten untergebracht waren? Wollte er der drohenden Abschiebung dadurch entkommen, dass er ein Exempel statuierte; dass er die Menschen wachrütteln und auf die Abschiebepraktiken der Behörden aufmerksam machen wollte? Hatte er wirklich vor, sich und seine Familie zu töten? Vielleicht war es ja ein Anschlag von ausländerfeindlichen Rassisten? Oder sollte es doch ein Unfall gewesen sein?
Bisher hatten die Untersuchungen kein Fremdeinwirken ergeben.
Ünal Arslan war selbst nur knapp dem Tode entronnen. Die Rettungsmannschaft der Feuerwehr konnte fünfzehn Personen aus dem brennenden Gebäude retten. Seine Frau und die beiden Kinder wurden nur noch tot geborgen. Er wehrte sich nach Leibeskräften und musste mit einer Spritze ruhig gestellt werden.
Als er zu mir ins Untersuchungszimmer gebracht wurde, befand er sich in einem Zustand geistiger Abwesenheit. Den Blick starr vor sich auf den Boden gerichtet, war sein Kopf auf die Brust gesunken und die Hände hingen schlaff herab. Kaum nahm er meine Worte wahr, auf die er ebenso wenig reagierte, wie auf die Übersetzung des Dolmetschers, der mir in solchen Fällen zur Seite stand.
Ich entschied, die Befragung auf den nächsten Tag zu verlegen. In meiner zehnjährigen Praxis als Gefängnispsychologin war mir schon so mancher Fall untergekommen. Doch diesmal hatte ich das Gefühl, es stecke mehr dahinter. Ich forschte nach und erfuhr, dass Ünal Arslan bei den Behörden kein Unbekannter war.
Am Abend brachte mir ein Bote eine umfangreiche Akte, aus der hervorging, dass Herr Arslan bereits zum vierten Mal um Asyl gebeten hatte. Dreimal war er allein in Deutschland eingereist und nach jeweils einigen Wochen abgeschoben worden, da er nicht nachweisen konnte, dass er in seiner Heimat als politisch Verfolgter mit Folter rechnen musste. Als Mitglied der kurdischen Arbeiterpartei PKK hatte er bereits mehrmals Haftstrafen in der Türkei verbüßt. Aber das schien als Grund für die Gewährung des Asyls in Deutschland nicht auszureichen.
Beim vierten Mal brachte er seine Familie mit und gab an, dass diese ebenfalls in Lebensgefahr schwebe. Auch diesmal stand als abschließende Bemerkung unter dem Asylantrag, dass es keine neuen Erkenntnisse gebe und somit der Antrag abzulehnen sei.
Ich wunderte mich über die Hartnäckigkeit dieses Menschen. Wie schaffte er es immer wieder, nach Deutschland zu kommen?
Lange konnte ich in dieser Nacht nicht einschlafen. Das Schicksal dieses Mannes wollte mir nicht aus dem Kopf gehen. Er hatte die Hoffnung nie aufgegeben, sich in Deutschland ein neues Leben aufzubauen, seiner Familie Sicherheit zu geben, endlich in Frieden zu leben.
Und nun war all seine Hoffnung, ja sein Leben, zerbrochen.
Ich konnte einfach nicht glauben, dass er das Liebste, was er hatte, getötet haben sollte. Er wäre sicherlich auch ein fünftes und sechstes Mal nach Deutschland eingereist. So leicht ließ sich dieser Mann nicht unter kriegen.
Am nächsten Tag wurde Herr Arslan wiederum in meine Praxis gebracht. Seine Miene war verschlossen, sein Blick düster auf einen Punkt an der Wand hinter mir gerichtet.
Ich sagte: „Nehmen Sie bitte Platz“ und er setzte sich, noch ehe der Dolmetscher ein Wort gesprochen hatte. Daraus schloss ich, dass er sehr genau verstand, was ich zu ihm sagte. Ich überlegte nicht lange und bat den Dolmetscher und den Vollzugsbeamten, mich mit meinem Patienten allein zu lassen. Der Beamte kannte mich zu gut, um einen Einwand hervor zu bringen. Ich wusste, dass er hinter der verschlossenen Tür akribisch jeden noch so harmlosen Ton im Untersuchungszimmer verfolgte und bei geringstem Verdacht mit gezogener Waffe herein stürmen würde.
Eine ganze Weile saß ich Herrn Arslan schweigend gegenüber und betrachtete ihn. Er war ein paar Jahre älter als ich, Anfang vierzig, hatte bereits schütteres Haar und einen gepflegten Bart. Seine bräunliche Hautfarbe war einem graufahlen Ton gewichen; die Lippen hatte er zusammen gekniffen.
Nach einiger Zeit hob er den Kopf und musterte mich mit seinen grünlich-braunen Augen. Sein Blick strahlte eine eisige Kälte aus, die mich frösteln ließ. Ich konnte diesem Blick nicht stand halten und obwohl mir als Psychologin bewusst war, welchen Fehler ich damit beging, senkte ich die Augen einen kurzen Moment.
Als ich erneut aufschaute, erwischte ich den Bruchteil eines zynischen Lächelns. Ich wusste, dass ich in seinen Augen verloren hatte und das ärgerte mich maßlos.
Hörbar schlug ich die offen vor mir liegende Akte zu und erhob mich.
„Ich glaube nicht, dass ich Ihnen helfen kann. Sicher werden Sie mir die Gründe, aus denen Sie Ihre Familie getötet haben, nicht nennen.“ Die Worte stieß ich hart, schnell und laut hervor. Die Provokation saß.
Er wurde unsicher. Zweimal setzte er zu einer Entgegnung an. Doch dann schwieg er. Sein Gesicht war noch um eine Nuance fahler geworden.
Einen kleinen Augenblick wartete ich, dann sagte ich ganz beiläufig: „Ich frage mich, wie ein Mensch so gewissenlos sein kann. Erst setzt er Himmel und Hölle in Bewegung, um seine Familie hierher nach Deutschland in Sicherheit zu bringen und dann bringt er sie kaltblütig um.“
Diesen Satz ließ ich so im Raum stehen und bewegte mich zur Tür, um die Sitzung zu schließen. Wie aus unendlicher Ferne klangen die Worte in meinem Rücken: „Ich habe meine Familie nicht getötet. Warum hat man mich nicht auch sterben lassen? Was soll ich noch auf dieser Welt?“
Ich drehte mich um und sah in das Gesicht eines Menschen mit zerbrochener Seele. Eine Träne hatte sich aus seinem Auge gelöst, die ungehindert über seine Wange rollte und im Bart hängen blieb.
„Sagen Sie mir, was sich abgespielt hat!“ Ich nahm hinter meinem Schreibtisch Platz.
Der Mann starrte auf seine vom Brand angesengten Hände und begann an einer Schwiele zu reiben. Sie brach auf und blutete leicht. Ich erhob mich, nahm ein Stück Zellstoff und drückte es auf seine Hand. Er nahm es und berührte dabei meinen Daumen. Ein Schauer stieg mir in die Kehle und ich beeilte mich, wieder hinter meinen sicheren Schreibtisch zu kommen.
Langsam fing er an zu erzählen: „Ich weiß nicht, was passiert ist. Es war alles voller Rauch. Und dann hörte ich auch schon die Schreie. Ich war wie gelähmt und bekam kaum Luft. Und plötzlich standen die Leute von der Feuerwehr vor mir und zogen mich aus dem Bett. Ich schrie nach meiner Frau, aber sie lag nicht neben mir. Ich wollte nach ihr suchen, aber sie ließen mich nicht. Sie schafften mich aus dem Haus. Immer wieder versuchte ich hinein zu kommen. Ich rief nach meinen Kindern, aber sie hielten mich fest. Und dann kamen ein paar andere Rettungshelfer und brachten meine Frau und die Kinder heraus. Sie versuchten, sie wieder zu beleben, aber sie waren bereits an der Rauchvergiftung erstickt.“
„Und wieso haben Ihre Frau und die Kinder nicht bei Ihnen geschlafen? Wo waren sie? Und wieso haben Sie von alledem nichts gemerkt?
„Ich hatte mich mit ein paar Bekannten in einem Café getroffen und bin erst spät nach Hause gekommen. Meine Frau hat mit den Kindern bei ihrer Freundin in der dritten Etage übernachtet, also genau über mir. Das hat sie manchmal gemacht. Ich hatte nichts dagegen.“
„Und die Freundin? Ist sie auch...?
„Ja, auch sie hat es nicht geschafft.“
Wir schwiegen beide. Ich sah in sein deprimiertes Gesicht, in dem sich die schrecklichen Ereignisse der Nacht widerspiegelten. Und wieder trafen sich unsere Blicke und diesmal lag weder Kälte noch zynische Verachtung in seinen Augen. Nur unendliches Leid.
„Ich will nicht wieder in die Türkei, nie mehr! Bitte!“ Seine Worte waren ein Hilferuf. Sie gingen mir unter die Haut und schnürten mir die Kehle zu.
„Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“ Ich trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er erzitterte leicht, dann erhob er sich.
„Ich danke Ihnen.“ Seine Worte klangen hoffnungslos. Ich geleitete ihn zur Tür.
Auch in dieser Nacht lag ich lange wach. Was war in dem Haus geschehen? Das Feuer war in der dritten Etage ausgebrochen, in der Wohnung der Freundin. Aber wodurch war der Brand entstanden?
Am späten Nachmittag hatte ich mit dem Staatsanwalt gesprochen. Er ermittelte wegen Brandstiftung, Körperverletzung und vorsätzlichem Mord in vier Fällen. Herr Arslan sollte angeblich aus Rache gehandelt haben, da ihn seine Frau verlassen wollte. Aus diesem Grunde hät-te sie mit den Kindern auch nicht in der gemeinsamen Wohnung übernachtet.
Der Mann der Freundin, Herr Ismail Gün, war zum Zeitpunkt des Unglücks bei Verwandten und kam erst am nächsten Tag zurück. Er belastete Herrn Arslan schwer. Es hätte in letzter Zeit in der Ehe von Ünal und Fatma gekriselt, besonders, nachdem er sie gezwungen hatte, die Heimat zu verlassen. Fatma wollte ihre alten Eltern in der Türkei nicht allein lassen. Bei einer Asylgewährung hätte sie ihre Familie niemals wieder gesehen.
Dilan Gün war im achten Monat schwanger, als sie starb. Ismail war sich sicher, dass Ünal Arslan seine Frau und Kinder, sowie Ismails Ehefrau getötet hatte.
Alle Indizien sprachen gegen ihn. Was konnte ich für ihn tun? Wo sollte ich beginnen? Tausend Fragen gingen mir durch den Kopf.
Drei Uhr nachts erhob ich mich und notierte mir die wichtigsten Dinge, die ich am nächsten Tag mit Ünal Arslan abklären wollte. Gegen fünf Uhr übermannte mich dann endlich der Schlaf, aus dem mich nach zwei Stunden der Wecker unsanft riss.
An diesem Tag legte ich mein Make-up besonders sorgfältig auf und wählte ein dezentes Eau de Cologne. Ich war mir nicht sicher, warum ich dies tat. Es war einfach ein Bedürfnis, einen vertrauensvollen Eindruck auf Ünal Arslan zu machen. Alles sollte er mir heute erzählen, von frühester Kindheit an, über seine Jugend, seine Eltern, die Verhältnisse, in denen er aufgewachsen war, bis hin zu seiner politischen Tätigkeit in der PKK. Auch über seine Erfahrungen mit dem türkischen Strafvollzug wollte ich etwas wissen. Und über die Folter, von der in den Medien so oft berichtet wird und die der Grund für die Flucht vieler politisch Verfolgter aus ihrer Heimat ist.
Ünal schaute kurz auf, als er meine Praxis betrat und ich registrierte ein leichtes Erstaunen in seinen Augen. Es war das erste Mal, dass ich ihm nicht im weißen Kittel gegenüber stand, sondern in einem schlichten Etui-Kleid.
Ich bat ihn, sich auf die Liege zu legen, die Augen zu schließen und sich zu konzentrieren. Verwirrt blieb er stehen und ich erklärte ihm, was ich vor hatte. Es war ihm sichtlich unangenehm, in solch wehrloser Lage vor mir zu posieren. Widerstrebend legte er sich nieder.
Dann begann ich mit meiner Befragung. Antworten über Kindheit und Jugend machten ihm am wenigsten Schwierigkeiten. Dann folgte sein Studium in Sprachwissenschaften und auf der Universität die ersten politischen Kontakte. Von da an engagierte er sich für die Rechte der Kurden, nahm an Versammlungen teil, organisierte Streiks, trat der PKK bei und wurde immer tiefer in den Strudel des Kampfes gegen die türkische Diktatur hineingezogen.
Mit dreiundzwanzig Jahren heiratete er die Frau, die ihm seine Eltern seit seiner Kindheit zugedacht hatten; die siebzehn Jahre alte Fatma.
Hier hakte ich ein und wollte etwas über deren Familie wissen. Dabei stellte sich heraus, dass Fatma noch fünf Geschwister hatte, die sich auch nach Fatmas Umzug nach Deutschland um die alten Eltern kümmerten.
Die Aussage von Ismail Gün, sie wollte ihre Eltern nicht allein lassen, war für mich nicht mehr nachvollziehbar.
Dann kam ich zum schwierigsten Teil meiner Befragung, seinen Inhaftierungen in der Türkei. Ich fragte: „Sind Sie gefoltert worden?“
Grübelnd schaute Ünal mich eine Weile an. Im Gegenlicht erschienen seine Augen schwarz. Und wieder schien eine unheimliche Magie von diesen Augen auszugehen, die mich innerlich erschauern ließ.
Zwei, drei Sekunden hielt ich diesem Blick stand, dann schaute ich auf meine Hände und wollte schon meine letzte Frage übergehen, als er sich plötzlich erhob und sein Hemd aufknöpfte.
„Wollen Sie es wirklich wissen? Schauen Sie! Wie viel können Sie ertragen?“
Gebannt schaute ich auf seine Brust. Kreisrunde Brandnarben zogen sich vom Halsansatz bis zum Bauch. Zigarettenfolter! Er ließ sein Hemd ganz herunter und drehte sich um. Der Rücken war mit Peitschenstriemen übersät.
Ein Brennen stieg in meine Kehle. Er hatte mich gefragt, wie viel ich ertragen könne. Was hatte er ertragen müssen?
Mich erfasste ein Schwindelgefühl. Meine Hand fasste ins Leere, als ich Halt suchte. Plötzlich wurde ich von zwei starken Armen gepackt und gehalten. Sein Gesicht war dicht vor mir, er schaute belustigt auf mich herab.
Im nächsten Augenblick wich ich zwei Schritte zurück und beendete damit die groteske Situation.
„Bitte ziehen Sie sich an und setzen sich wieder.“
Ich machte einige Notizen und beendete kurzerhand die Sitzung. Mit einem flauen Gefühl im Magen entließ ich Ünal. Noch einmal schaute er mich mit seinen merkwürdigen Augen an, die sich, je nach Situation und Lichteinfall chamäleonartig veränderten. Leise sagte er: „Ich habe meine Familie nicht getötet. Sie waren das Einzige auf der Welt, das ich hatte. Keine Folter kann so schlimm sein, wie das Liebste zu verlieren.“
In meinem Innern wusste ich, dass er mich von seiner Unschuld überzeugt hatte. Aber ebenso klar war mir, dass Gefühle täuschen konnten.
Dieser Mann entstammte einem Volk mit einer völlig anderen Mentalität. Er war unter Umständen aufgewachsen, die sich ein mitteleuropäischer Mensch nicht vorstellen kann. Eine Erziehung zwischen Patriarchat, unbedingtem Gehorsam und einer extremen Glaubenslehre, in der das Leben keinen besonders hohen Stellenwert ein-nimmt. Terror und Mord stehen auf der Tagesordnung. Fanatische Muslime bestimmen den Alltag.
Ich war mir sicher, dass ein Mensch, der unter solchen Bedingungen aufgewachsen war, in extremen Situationen auch morden würde.
Aber Ünal Arslan? Mein Innerstes sträubte sich gegen diesen Gedanken.
Ich schrieb mein Gutachten an das Gericht, in dem ich ihn als treu sorgenden Familienvater und pflichtbewussten Menschen einschätzte, der alles für seine Familie riskierte und dessen höchste Aufgabe es war, diese zu schützen und ihr niemals ein Leid anzutun.
Tags darauf war die Auswertung der Spurensuche abgeschlossen. Sie hatten endlich den Beweis gefunden, der für einen Unfall sprach. Dilan Gün, die während ihrer Schwangerschaft ständig fror, hatte sich mit einer defekten Heizdecke zugedeckt, welche während der Nacht in Brand geraten war.
Eine Haftentlassung Ünal Arslans war von einer Bürgschaft abhängig. Ich unterschrieb sie mit einigem Magendrücken. Bis zur endgültigen Klärung über den Termin der Abschiebung durfte er die Stadt nicht verlassen.
Drei Tage nach seiner Entlassung rief er mich an. Wir verabredeten uns in ein kurdisches Café. Als ich dort eintraf, erwartete er mich schon. Er machte auf mich einen viel ausgeglicheneren Eindruck, als die Tage zu vor. Wir bestellten uns Tee und er lächelte mich an.
„Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen. Sie sind der erste nette Mensch, den ich in Deutschland kennen gelernt habe.“
Ich wurde rot und rührte in meiner Tasse. Dann entgegnete ich: „So etwas dürfen Sie nicht sagen. Ich habe nur meine Pflicht getan. Und ich war von Ihrer Unschuld überzeugt. Ich bin froh, dass ich mich nicht geirrt habe...
Was wollen Sie tun, wenn man Sie nun doch abschiebt?“
Wieder hielt er meinen Blick mit seinen unergründlichen Augen gefangen. Siedende Hitze stieg in mir empor, als er sagte: „Sie haben viel mehr getan, als nur Ihre Pflicht. Sie haben mir gezeigt, dass es auf der Welt noch Menschen gibt, die ein Herz haben. Und dass es für mich vielleicht noch Hoffnung gibt. Ich werde wieder kommen. Werden Sie auf mich warten?“
Fast hätte ich mich verschluckt. Hatte er meine innersten Gefühle erraten? Empfand er genauso?
Sanft legte er seine Hand auf meine eisigen Finger. Ich sah in seine faszinierenden Augen und nickte.
Schatten der Vergangenheit
Vor rund sieben Jahren lernte ich meinen Mann kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Er war groß, kräftig, gutaussehend, hatte eine Menge Geld, und ich hatte eine kaputte Ehe und eine Abtreibung hinter mir. Mein Selbstwertgefühl lag am Boden und Günter hob die Scherben auf und kittete sie mit seiner Selbstsicherheit und seinem unverwüstlichen Humor. Nach vier Wochen heirateten wir.
Ich wusste nichts von ihm. Wir lebten in den Tag hinein, der scheinbar nur noch Sonnenstunden zu vergeben hatte. Ich flog im siebten Himmel von einer Wolke zur ande-ren und tanzte im riesigen Ozean auf den Wellen des Glücks. Was Günter beruflich machte, war für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Morgens sieben Uhr verließ er das Haus und kam um siebzehn Uhr zurück. Er war Vertreter und besaß einen schönen, brandneuen Mercedes, Luxusausführung. Was er zu vertreten hatte, darüber sprach er nie. Wir hatten keine Geldnot und so war es mir egal.
Häufig besuchten wir feine Restaurants, in denen er mich mit den erlesensten Leckerbissen verwöhnte. Er führte mich in die Oper, ins Ballett, und zwei Mal im Jahr fuhren wir in den sonnigen Süden. Besonders liebte er die Riviera. So lernte ich fremde Länder und herrliche Strände kennen und träumte mich durch die wunderbarsten Jahre meines Lebens. Man glaubt gar nicht, wie schnell sieben Jahre vergehen können und ich war immer noch genauso verliebt, wie am ersten Tag.
Dann kam unser siebenter Hochzeitstag und Günter lud mich zu einer deftigen Landpartie ein. Wir fuhren mit dem Kremser über Felder, durch kleine Bauerndörfer, tranken in einem Hof frisch gemolkene Milch und kehrten zu Mittag in einem reizenden Landgasthof ein. Günter hatte schon alles arrangiert; der Tisch war bestellt, ein köstliches Menü erwartete uns und der Champagner war kalt gestellt.
Am Nachmittag machten wir einen ausgedehnten Spaziergang durch den Wald. Der warme Sommerwind spielte in meinem Haar, Günter nahm mich in die Arme und sagte mir, wie schön ich sei. Er küsste mich stürmisch und dann liebten wir uns im weichen Moos. Fröhlich traten wir den Rückweg an, unser Wagen stand vor dem Landgasthof und bevor wir nach Hause fuhren, dinierten wir noch einmal kräftig. Gegen halb elf, es war nun schon richtig finster, machten wir uns auf den Heimweg. Wir waren in ausgelassener Stimmung und hatten eigentlich noch gar keine Lust, auf direktem Wege nach Hause zu fahren. So bog Günter von der Hauptstraße ab und befuhr eine unbekannte Nebenstraße. Die Gegend war dünn besiedelt, auf den letzten sieben Kilometern hatten wir nicht mehr als fünf, sechs Häuser gesehen und nirgends brannte Licht. Auf dem Land schienen die Leute alle mit den Hühnern ins Bett zu gehen.
Plötzlich starb der Motor ab. Günter versuchte mehrmals neu zu starten, aber vergeblich.
„Kann es sein, dass der Tank leer ist?“ fragte ich ganz unbedarft. „Im Leben nicht!“ antwortete Günter jetzt schon beinahe wütend. „Ich möchte bloß wissen, was plötzlich in die Scheißkiste gefahren ist... Mercedes!...Sieben Jahre alt... das gibt’s doch nicht!“
Er stieg aus, öffnete die Motorhaube und starrte in das undurchdringliche Dunkel. Ich angelte die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und kam ihm zu Hilfe. Er kontrollierte alle Steckverbindungen, die Kerzen und die Ölwanne und konnte keinen Fehler entdecken. „Es hat alles keinen Sinn, wir brauchen eine Werkstatt. Ich muss irgendwo ein Haus finden, in dem ich telefonieren kann.“ Er machte sich auf den Weg.
Wir hatten Glück. Etwa hundert Meter von der Stelle, an der er mich im Wagen zurückgelassen hatte, erkannte ich jetzt die Umrisse eines Hauses auf einem Hügel. Die Fenster waren auch hier dunkel, aber er klingelte trotzdem. Nach etwa einer Minute sah ich, wie in dem Haus das Licht anging und die Tür geöffnet wurde. Im Lichtkegel konnte ich die vertraute Gestalt meines Mannes gut erkennen. Er sprach mit jemandem und an seinen Gebärden konnte ich erkennen, dass er von der Panne berichtete.
Dann sah ich, wie er das Haus betrat, die Tür schloss sich hinter ihm. Ich wartete eine kleine Ewigkeit und fing schon an, mir Sorgen zu machen. Plötzlich öffnete sich die Tür und Günter stürzte heraus. Ich hörte seine Schritte im Dunkeln näher kommen. Dann war er da und stieg sofort zu mir in den Wagen. Er knallte die Tür zu. Im schwachen Licht des Armaturenbretts erkannte ich, dass er blass war und seine Hände zitterten.
„Was ist denn passiert?“ fragte ich ihn. Er schwieg, saß einfach mit blutleeren Lippen da und schüttelte den Kopf. „Nun sag doch endlich! Was hat sich da in dem Haus abgespielt? Du machst ja ein Gesicht, als hättest du einen Geist gesehen. Hast du die Werkstatt angerufen? Kommen sie? Nun red doch endlich!“ Ich schüttelte ihm am Ärmel, meine Stimme hatte um einige Phon zugelegt. Ich konnte mir sein Verhalten absolut nicht erklären und plötzlich beschlich mich eine unterschwellige Angst.
Langsam beruhigte er sich. Dann begann er zu sprechen und seine Stimme klang wie die eines alten, verzweifelten Greises. Bei seinen Worten wurde mir schlecht.
„Ursula, ich muss dir ein Geständnis machen. – Ich bin nicht der, für den du mich hältst. Aber ich habe dich immer geliebt, das musst du mir glauben. Ich habe in meinem Leben einmal eine große Dummheit gemacht. Heute weiß ich, dass es ein riesen Fehler war. Aber jetzt ist es zu spät. Irgendwann holt jeden die Vergangenheit ein.“ Seine Worte erstarben und ich saß mit rasendem Herzen neben ihm und bebte am ganzen Körper. Dann fasste ich mit meiner eiskalten Hand nach seiner und drückte sie.
„Was immer es auch war, ich liebe dich und ich stehe zu dir. Wir stehen das gemeinsam durch.“ Ich blickte in seine Augen, die mir so vertraut waren und in denen jetzt eine Schwermut lag, die ich niemals bei meinem lässigen, witzigen und weltgewandten Mann vermutet hätte. Sein Blick sagte, dass er sich aufgegeben hatte, dass alles vorbei sei, ohne jede Hoffnung. In mir schrie eine Stimme: ‚Das darf doch nicht wahr sein. Was soll er denn Schlimmes getan haben? Ich glaube ihm kein Wort.‘ Zitternd lehnte ich meinen Kopf an seine Schulter und fragte mit kraftloser Stimme: „Wer war in dem Haus. Bitte erzähle, was hast du getan.“
Und er sprach, langsam und heiser. „Es war kurz bevor wir uns kennen lernten. Wir waren drei Freunde, eigentlich keine Freunde, mehr ein Team. Und wir waren in ständiger Geldnot. Heinz arbeitete in einer Bank, Peter und ich stahlen den Kunden die Kreditkarten, nachdem wir am Bankomat die Geheimnummern ausgekundschaftet hatten. Dann räumten wir die Konten leer. Ein bis zwei Tage deckte uns Heinz, ehe er die vermissten Kreditkarten sperrte. Das ging eine Weile gut, aber Heinz wurde unser häufiges Erscheinen in seiner Zweigstelle zu heiß. Er wollte aussteigen. Doch ohne ihn machte alles keinen Sinn. Abends in unserer Stammkneipe hatten wir eine heftige Diskussion mit ihm und nachdem wir alle ein paar Promille zuviel im Blut hatten, beschlossen wir, einen letzten, großen Coup zu starten.
Peter und ich drangen vermummt in die Bank ein und nahmen Heinz und ein paar Kunden als Geiseln. Heinz musste uns sämtliches Bargeld auszahlen. An dem geplanten Tag befanden sich 1,2 Millionen Mark im Tresor. Was wir nicht ahnten, an jenem Tag hatte ein Praktikant in der Bank begonnen und dieser war im Augenblick unseres Überfalls auf der Toilette. Von dort aus muss er mit dem Handy die Polizei benachrichtigt haben. Als wir fast fertig waren, unsere Beute im mitgebrachten Sack lag vor Heinz auf dem Banktresen, da standen die Bullen vor der Tür. Ich verlor die Nerven, riss den Sack an mich und gab blindlings einige Schüsse ab. Im Hinausrennen hörte ich Schmerzensschreie. Ich brüllte noch zurück: „Peter, komm!“ Er tappte hinter mir her und brüllte: „Bring du die Beute in Sicherheit.“ Er kam nicht mit und so warf ich mich in den gestohlenen Wagen und raste davon. Am nächsten Tag las ich in der Zeitung:
Millionenraub. Bankbeamter schwer verletzt. Einer der Täter gefasst. Nimmt alle Schuld auf sich. Zweiter Täter flüchtig. Großfahndung läuft.
Ich hielt mich vier Wochen versteckt. Peter war für mich für viele Jahre ins Gefängnis gegangen und ob Heinz überleben würde, wusste niemand. Ich verkleidete mich, rasierte mir meinen Vollbart ab, den ich seit meinem siebzehnten Lebensjahr trug und ging für einige Wochen ins Ausland. Dort ließ ich mir falsche Papiere ausstellen, nahm eine neue Identität an und eröffnete ein Schweizer Nummernkonto.
Nach einem halben Jahr kehrte ich zurück nach Deutschland, mit einem vollkommen veränderten Aussehen, schwarz gefärbten kurzgeschnittenen Haaren, als gut bezahlter Vertreter einer Investmentfirma. Und dann lernte ich dich kennen. Ich vergaß Heinz, der für sein Leben behindert bleiben würde. Ich vergaß Peter, der im Knast gut aufgehoben war. Ich hatte meine Vergangenheit abgelegt und ein neues Leben begonnen.
Als mir vorhin in dem Haus die Frau die Tür öffnete, ahnte ich nichts Schlimmes. Doch als sie mich dann ins Wohnzimmer zu dem Telefon führte, saß da Peter auf dem Sofa und neben ihm in einem Rollstuhl Heinz. Beide starrten mich ungläubig an und dann sagte Heinz. „Das trifft sich gut. Peter ist gestern wegen guter Führung aus der Haft entlassen worden und nun kommst du pünktlich wie verabredet, um uns unseren Anteil auszuzahlen. Ich denke, ein kleines Schmerzensgeld wird wohl für mich extra drin sein. Wie man sieht, hast du es dir die letzten Jahre gut gehen lassen. Jetzt, wo wir alle wieder beisammen sind, kannst du für uns sorgen. Oder hast du die Million etwa durchgebracht?“
Mein Blick muss wohl Bände gesprochen haben, denn plötzlich stand Peter auf und griff nach dem Handy. Wie damals in der Bank bekam ich einen Panikanfall. Ich griff nach dem ersten Besten, was mir in die Hände fiel; es war ein langer Schürhaken aus der Kamingarnitur, und schlug zu. Ich glaube, ich habe alle drei getötet.“
Günters Kopf sank auf das Lenkrad.
Ich war schockiert, aber jetzt durfte ich mir nichts anmerken lassen. Ich wollte seine Hand nehmen, da sah ich den kleinen schwarzen Gegenstand, den er umkrampft hielt.
„Was ist das?“
„Ach, das Handy habe ich mitgenommen.“ Er drückte es mir in die Hand.
„Ich überlasse es dir, ob du den Abschleppdienst oder die Polizei anrufst.“
Ich überlegte nicht lange und wählte die Nummer vom ADAC.
Geliebter Feind
Dienstag war mein freier Tag. Ich hatte mich mit meiner Freundin Tina zum Mittagessen verabredet und sprang vorher noch kurz in die Kreissparkasse, um den monatlichen Scheck meines Vaters einzureichen. Der Bankangestellte begrüßte mich: „Guten Tag, Fräulein Conrad. Wie immer, Ihr Scheck?“ Er lächelte breit und sein Goldzahn blinkte mir entgegen. Ich überreichte ihm den Scheck und lächelte zurück. „Wie immer Herr Dittgen, heute ist wieder mal der Fünfzehnte.“
Dittgens Augen richteten sich starr auf einen Punkt hinter mir. Ich hörte ein Geräusch und dann eine Stimme: „Das ist ein Überfall. Alle auf den Boden!“
Mir wurde zugleich heiß und kalt. Ich drehte mich langsam um und erblickte eine schwarze Maske. Hellblaue Augen starrten mich unverwandt an. Die Mündung eines Revolvers war auf mich gerichtet. „Runter!“ Die Stimme überschlug sich. Langsam ließ ich mich zu Boden gleiten.
Der Bankräuber entfaltete eine große Plastiktüte und reichte sie Dittgen. „Nur Scheine, keine Münzen!“ Sein Dialekt wies ihn als Einheimischen aus, er sprach schnell und aufgeregt.
Dittgen fing an die Scheine einzusortieren. Der Bankräuber achtete mit einem Auge auf die am Boden liegenden Kunden, mit dem anderen schielte er auf Dittgen. Ich sah etwas, was er nicht sah. Am anderen Tresen bückte sich eine Bankangestellte unter den Tisch und drückte einen Knopf. Drei Minuten später jaulten die Sirenen.
Der Gangster riss Dittgen die Tüte aus der Hand, bückte sich und hielt mir die Waffe an den Kopf. „Du kommst mit!“
Wie in Trance erhob ich mich. Noch ehe die Polizei vor der Sparkasse eintraf, war der Gangster mit mir durch die Tür verschwunden. Er schubste mich zu einem Wagen, stieß mich hinter das Steuer, setzte sich selbst auf den Beifahrersitz und hielt mir wieder die Waffe an den Kopf. „Los fahr!“
Und ich fuhr, die Straße hinunter, immer gerade aus. „Wohin soll ich fahren?“
Er hatte die Tüte mit der rechten Hand umklammert und hielt mit der linken weiter die Waffe auf mich. „Aus der Stadt raus, schnell, gib Gas! Jetzt rechts – wieder rechts – hier vorn auf den Parkplatz.“ Von Weitem quäkte eine Sirene.
Ich steuerte den Wagen auf den „Kauflandparkplatz“ zwi-schen die anderen Wagen. Er sah sich kurz um, sprang aus dem Auto, zerrte mich hinter sich her, entdeckte einen Wagen, dessen Fenster ein kleines Stück nach unten gelassen war, angelte einen Draht aus seiner Tasche und öffnete damit gekonnt die Türverriegelung. Er stieß mich auf den Beifahrersitz und setzte sich hinter das Steuer. Hektisch riss er die Drähte heraus und schloss den Wagen kurz. Dann fuhr er los.
Als wir auf der Straße waren kam mir zum Bewusstsein, dass ich die kurze Zeit, in der er mit dem Knacken des Autos beschäftigt war, zur Flucht hätte nutzen können. Keine Sekunde hatte ich daran gedacht. Nun fuhr er aus der Stadt hinaus, bog auf die Landstraße ein, raste mehrere Kilometer auf ihr entlang und steuerte auf das Betriebsgelände der Müllverbrennungsanlage zu. Dort wechselte er auf dem Betriebsparkplatz wieder den Wagen. Auch diesmal floh ich nicht, wohl aus Angst, er würde mich erschießen.
Wir fuhren durch mehrere Dörfer. Im dritten Dorf bog er in einen Waldweg ein. Nach etwa einem halben Kilometer stand, von hohen Bäumen umgeben, neben einem kleinen Weiher, eine alte Villa. Er fuhr das Auto hinter das Haus, stieg aus und forderte mich auf, ihm zu folgen.
Im Erdgeschoss war eine Scheibe kaputt. Er half mir, hindurch zu klettern. Dann stiegen wir die Treppe zur ersten Etage empor und betraten einen Raum, der einstmals als Wohnzimmer gedient haben musste. Uralte verstaubte, mit Spinnweben verhangene Möbel, mottenzerfressene Gardinen und ein baufälliger Ofen bildeten die Einrichtung. Er ließ die Tüte mit dem Geld fallen, angelte aus seiner Jackentasche einen Strick und fesselte meine Hände auf den Rücken. Dann schob er mir einen Stuhl in die Kniekehlen. Ich setzte mich und er fesselte meine Knöchel an die Stuhlbeine. All dies geschah schnell, präzise und schweigend.
Als er damit fertig war, nahm er seine Maske vom Gesicht und schaute mich unschuldig an. Er hatte ein schmales Knabengesicht, kurze blonde Haare und einen Knick in der schmalen Nase, der auf einen alten Nasenbeinbruch schließen ließ. Seine blauen Augen blickten geradezu wie um Verzeihung bittend. Auf alle Fälle war es nicht das Gesicht eines kaltblütigen Gangsters. Unsicher lächelte er. „Es musste sein, sonst wäre alles umsonst gewesen. Ich hoffe, du verstehst das.“
Empört schüttelte ich meinen Kopf. „Ich verstehe es nicht. Warum hast du das getan? Du siehst gar nicht aus wie ein Krimineller.“
Verblüfft schaute er mich kurz an. Dann sagte er: „Wir werden eine Weile hier bleiben müssen. Ich gehe jetzt das Auto wegschaffen und hole uns was zu essen. Wirst du schreien, wenn ich fort bin?“
Ich funkelte ihn wütend an: „Worauf du dich verlassen kannst.“
Das hätte ich lieber nicht sagen sollen. Er zog unter seinem T-Shirt ein Halstuch hervor und band es mir vor den Mund. Dann sagte er: „Ich bin bald wieder da.“
In der Stunde, die er fort war, überdachte ich meine Lage und sah mich um. Eine Weile versuchte ich, mich zu befreien, aber es gelang mir nicht. Er hatte gute Arbeit geleistet.
Das Zimmer war zumindest trocken und warm. Es hätte schlimmer kommen können. Ein Telefon gab es allerdings nicht und ich bezweifelte, dass der Strom und das Wasser funktionierten. Schon aus hygienischen Gründen hoffte ich, nicht allzu lange hier aushalten zu müssen.
Mir fiel meine Freundin ein, mit der ich zum Mittagessen verabredet war. Sicher wird sie sich gewundert haben, dass ich nicht erschienen bin. Und die Polizei hatte mein Entführer ja auch erfolgreich abgehängt. Jetzt hoffte ich inständig, dass er wirklich wiederkommt.
Natürlich würde er wiederkommen, die Tüte mit dem Geld lag keine drei Meter von mir entfernt.
Als er kam, packte er zwei flache Kartons und zwei Flaschen Cola auf den Tisch, nahm das Halstuch von meinem Mund und fragte: „Wirst du friedlich sein?“
Ich nickte. Ein verführerischer Pizzageruch stieg mir in die Nase. Er schaute mich zweifelnd an und schüttelte dann seinen Kopf. „Ich werde dir die Fesseln lieber nicht abnehmen.“ Und dann begann er, mit einem Messer die Pizza in Stücke zu schneiden und mich zu füttern. Seine Hände waren feingliedrig mit langen Fingern und sauberen kurzen Nägeln. Keine Arbeiterhände.
Er öffnete eine Flasche und hielt sie mir an den Mund. Und ich schluckte und dann verschluckte ich mich. Ich hustete und japste nach Luft und er klopfte mir den Rücken. Als der Anfall vorbei war bedankte ich mich. Und dann fragte ich ihn ganz spontan: „Wie heißt du eigentlich?“
Eine Weile sagte er gar nichts, und dann: „Warum willst du das wissen?“
„Naja“ sagte ich, „damit ich dich ansprechen kann. ‚He du‘ klingt so blöd.“
Er zog die Stirn in Falten und einen Mundwinkel nach oben. Das sah komisch aus und ich musste mir das Lachen verkneifen.
„Michael. Und du?“
„Ich bin Rosemarie Conrad. – Hör zu! Ich werde nicht schreien und auch nicht weglaufen. Ich verspreche es. Aber mach bitte meine Fesseln ab. Sie schneiden mir so ins Fleisch, dass ich meine Hände kaum noch spüre.“
Er stopfte seine Pizza in sich hinein und reagierte nicht. Ich versuchte es noch einmal. „Bitte Michael, mach mich los. Ich werde ganz bestimmt nicht fliehen. Ehrenwort!“
Kauend schaute er mich an und nahm einen Schluck aus der Flasche. Dann sagte er: „Warum kann ich dir bloß nicht glauben? Ach ja, weil Frauen nie die Wahrheit sagen. Sie können nur eins: Männer verführen, ausnützen und dann wegwerfen.“
Irritiert sah ich ihn an. „Du hast wohl keine guten Erfahrungen mit Frauen gemacht?“
„Das kann man wohl sagen!“ Er erhob sich, faltete die leeren Pizzaschachteln zusammen und brachte sie in den Nebenraum. Eine Weile rumorte er herum und ich überlegte, was er wohl dort machte.
Ich rief: „Verdammt, mach mich endlich los. Wie lange willst du mich hier so gefesselt lassen? Bis ich abgestorben bin? Was machst du da drüben eigentlich? Was ist das für ein Raum?“
„Die Küche. Aber es gibt kein Wasser.“
„Na toll, und wahrscheinlich auch keinen Strom und keine Heizung. Was hast du denn erwartet? Dass das hier ein Hotel ist?“
Er kam wieder durch die Tür und hielt eine Gitarre in der Hand. „Schau mal, was ich gefunden habe.“ Er setzte sich mir gegenüber und klimperte auf den Saiten herum. Es klang schauderhaft.
„Ich kann spielen. Gib sie mir.“ Bittender konnte meine Stimme nicht klingen.
„Nein, du willst abhaun.“ Er klimperte weiter.
Jetzt wurde ich langsam sauer. „Verdammt, sei doch nicht so blöd. Du hast doch einen Revolver. Denkst du, ich will mich erschießen lassen?“
Er stand auf und angelte nach seiner Waffe, die er achtlos auf dem Tisch hatte liegen lassen. „Also gut. Aber wehe, du machst Mist!“ Er schnitt mit dem Messer meine Fessel durch und legte die Klampfe vor mich hin.
Ich rieb mir die Handgelenke, bis das Taubheitsgefühl verschwand. Dann nahm ich das Instrument und zupfte ein paar Akkorde. Sie war etwas verstimmt und ich spannte die Saiten nach Gehör. Jetzt klang sie besser und ich fing an zu spielen. Michael machte es sich auf dem Sofa bequem, hielt aber die Waffe im Anschlag. Nach einer Weile sagte er: „Du spielst gut. Wo hast du das gelernt?“
„Von meiner Mutter. Sie war Cellistin am Stadttheater, bevor ich geboren war. Ich hatte auch Klavier- und Violinenunterricht. Und ich spiele im Musikverein Orgel.“
„Und dein Vater? Was macht der?“
„Er ist Arzt, Unfallchirurg im Kreiskrankenhaus. Und ich studiere ebenfalls Medizin, falls es dich interessiert!“
„Du lebst also in einer richtig tollen Familie. Mama und Papa lesen dir jeden Wunsch von den Augen ab, du hast keine Geldsorgen und brauchst dir keine Gedanken um die Zukunft machen. So ein Leben muss man haben!“
Michael wirkte sauer. Scheinbar war er von einem normalen Leben weit entfernt. „Und was führst du für ein Leben, wenn man fragen darf?“
„Ein beschissenes. Ja genau – ganz beschissen!“
Ich legte die Klampfe zur Seite und sah ihn an. „Willst du darüber reden?“
Er spielte mit der Sicherung des Revolvers und ich hatte Angst, ein Schuss könnte sich lösen. Nach einer Weile knurrte er. „Was soll das bringen?“
Ich überlegte. „Meinst du, dieser Banküberfall kann dein Leben verbessern? War es das wert? Hast du Schulden? Schau doch wenigstens, ob das Geld dafür reicht.“
So weit hatte er scheinbar noch gar nicht gedacht. Er starrte auf die Tüte, stand auf, nahm sie und schüttete sie auf dem Tisch aus. Er nahm ein Bündel Scheine und fing umständlich an, sie zu zählen.
„Soll ich dir helfen?“
Er nickte leicht. Ich rutschte mit meinem Stuhl zum Tisch und wir zählten gemeinsam. Es waren genau zwölftausendreihunderfünfzig Euro.
„Scheiße. Der Kerl hat so langsam gemacht. Ich hoffte, es wären mindestens ...“
„Wie hoch sind denn deine Schulden?“
„Allein die Autos machen schon dreiundzwanzigtausend. Und dann noch die Frau und die Kinder.“
„Du hast Frau und Kinder? Willst du mir nicht doch erzählen, was passiert ist?“
Er schaute mich stirnrunzelnd an. „Vielleicht morgen. Es wird langsam finster. Ich schau mal, ob ich ´ne Decke finde.“ Er erhob sich und ging zur Tür. Dann drehte er sich zu mir um und feixte. „Ne ne, du kommst schön mit.“ Er griff wieder nach seinem Revolver und ich musste vor ihm her gehen.
In einem Zimmer stand ein Bett mit einer alten buckeligen Matratze darauf. Eine graue zerschlissene Steppdecke lag darüber.
„Hier, leg dich hin und schlaf!“ Michael zog sich einen Stuhl zum Fenster und stierte in die Finsternis, die jetzt ziemlich schnell hereingebrochen war. Ich blieb stehen und betrachtete angewidert meine Schlafstatt. „Und du?“, fragte ich überflüssigerweise. Er drehte seinen Kopf zu mir um, warf einen Blick auf das Bett und dann auf mich und verzog sein Gesicht zu einem leichten Grinsen. „Ich pass auf dich auf.“
„Wie du willst.“ In voller Montur legte ich mich auf das Bett und schloss die Augen. Nach zehn Minuten fror ich jämmerlich. Mir blieb nichts anderes übrig, als die schäbige Decke über mich zu ziehen. Michael beobachtete mich. Ich fragte ihn: „wie lange willst du das Spiel hier eigentlich durchziehen? Sie suchen nach uns und bald werden sie uns gefunden haben. Dann gehst du in den Knast und die ganze Aktion war umsonst. Und das alles für läppische zwölftausend!“
Eine Weile sagte er nichts. Dann fing er doch an, zu erzählen. „Knast ist allemal besser, als das Leben, das ich jetzt führe. Da kriege ich wenigsten regelmäßig was zu essen, und ein Bett habe ich auch.“
Ich fragte: „Kannst du denn nicht wieder zu deinen Eltern ziehen, wenn es mit deiner Ehe nicht klappt?“
Es vergingen mindestens fünf Minuten, ehe er antwortete. „Ich habe keine Eltern. Bin im Kinderheim aufgewachsen. Da war’s gar nicht so schlecht. Wir hatten schon Spaß dort. Dann lernte ich Maurer und bekam von der Jugendhilfe ein Zimmer zugewiesen. Aber als ich fertig war mit lernen, bekam ich keinen Job. Und weil ich noch nicht gearbeitet hatte, bekam ich auch kein Arbeitslosengeld, und Sozialhilfe auch nicht, weil angeblich meine Papiere nicht vollständig waren. Da habe ich mir einen Job gesucht in einem Hallenbad als Aufsicht. Ging aber nur vier Wochen. Wurde schlecht bezahlt. Dann verteilte ich ein viertel Jahr Flyer. Das Geld dafür habe ich bis heute nicht gesehen. Dann lernte ich in einer Kneipe meine Frau kennen. Sie nahm mich mit zu sich nach Hause. Das erste Mal ging‘s mir wieder richtig gut. Melanie wurde schwanger und wir heirateten. Ihr Vater arbeitet in einer Autowerkstatt. Ich habe da ein bisschen mit geholfen. Dort kaufte ich auf Raten den Passat. Als sie entbunden hat, bin ich ins Krankenhaus gefahren. Ich war so aufgeregt, weil sie Zwillinge bekam und da hatte ich dann diesen Unfall. Beim Überholen blieb ich an dem LKW hängen und wurde von ihm ein paar hundert Meter mitgerissen, ehe er merkte, dass ich mich bei ihm verhakt hatte. Mein Auto war Schrott. Mir ist nichts weiter passiert. Ich hab mir dann noch mal einen Passat gekauft, bei der gleichen Firma. Sie haben die Raten bloß aufgestockt. Dann habe ich mich freiwillig zur Bundeswehr gemeldet, wegen dem Geld. Ging ja auch ´ne Weile gut. Nur meine Frau machte Stress, weil ich so selten zu Hause war. Dann bekam ich Urlaub und fuhr heim. Von unterwegs rief ich meine Frau mit dem Handy an und sie machte wieder Theater. Und da habe ich mich so aufgeregt, dass ich mich verlenkte und eine Böschung runterstürzte. Das Auto war natürlich wieder Schott und ich kam leichtverletzt ins Krankenhaus. Ich bat Melanie, mir bei ihrem Vater noch mal ein Auto zu besorgen. Das tat sie dann auch. Er borgte uns sogar Geld, weil mein Sold nicht mehr ausreichte, die Schulden zu bezahlen. Naja, und dann hat die Bundeswehr Stellen abgebaut und ich saß mit meinen Schulden auf der Straße. Und meine Frau hatte nichts Besseres zu tun, als die Scheidung einzureichen. Nun muss ich Unterhalt für sie bezahlen, für die Zwillinge und die Raten für drei Autos. Und aus der Wohnung hat sie mich auch rausgeschmissen.“
Ich sah, dass er sein Gesicht in den Händen vergraben hatte. Seine Schultern zuckten. Ich stand auf und legte den Arm um ihm. Er war eiskalt.
„Willst du nicht ins Bett kommen?“ Er tat mir plötzlich leid. Seine Lebensgeschichte hatte mich tief beeindruckt. Er hatte sein ganzes Leben nur Pech gehabt.
Er schaute mich an und seine Stimme klang zweifelnd. „Ich kann doch nicht ...“
„Komm, du holst dir sonst den Tod.“ Ich packte ihn am Arm und zog ihn zum Bett. Ich wickelte uns in die Decke und spürte, wie er zitterte. Da schlang ich meine Arme um ihn und wollte ihn wärmen. Und er fasste das wohl als Aufforderung auf und küsste mich. Wir konnten es beide nicht verhindern, es erfasste uns wie eine Welle, wir segelten von der tiefsten Depression hinauf zum höchsten Glücksgefühl.
Der nächste Tag verging mit reden, lieben, essen und Zeitung lesen. Michael hatte uns noch einmal etwas Essbares von einem nahe gelegenen Kiosk geholt und gleich eine Zeitung mitgebracht. In großen Lettern auf der ersten Seite stand der Artikel über den Banküberfall und die Geiselnahme. Darunter war ein Aufruf meiner Eltern abgedruckt. Sie baten den Geiselnehmer, mir nichts zu tun und mich freizulassen. Sie wollten dann von einer Strafanzeige absehen.
Wir sprachen darüber und über seine Aussichten, einen fairen Prozess zu bekommen. Ich erzählte ihm, dass der beste Freund meines Vaters ein sehr guter Rechtsanwalt wäre. Ich würde ihn von Michaels Zwangslage überzeugen. Sicherlich würde er ihn herausboxen.
In der darauffolgenden Nacht konnte ich Michael endlich dazu bringen, sich am nächsten Morgen zu stellen. Ich wollte ihn zur Polizei begleiten und für ihn sprechen. Doch als wir am anderen Morgen erwachten, war das Haus umstellt. Der Verkäufer im Kiosk hatte, wie ich später erfuhr, Verdacht geschöpft und die Polizei informiert. Durch ein Megafon forderten sie Michael auf, die Geisel frei zu lassen und mit erhobenen Händen heraus zu kommen. Durch das Fenster sah ich, dass weiter hinten meine Eltern vor einem Auto standen. Ich ging als erste durch die Tür. Danach kam Michael. Der Polizist rief: „Werfen Sie die Waffe auf den Boden.“ Michael hatte sie aber gar nicht in der Hand, sondern in der Hosentasche. Er griff hinein, um sie heraus zu holen. In diesem Augenblick schoss einer der Polizisten. Die Waffe flog in hohem Bogen durch die Luft und landete vor den Füßen des Schützen. Dieser hob sie auf und rief: „Es ist eine Schreckschusspistole!“
Michael war tödlich getroffen zusammengebrochen. Ich warf mich über ihn, weinte und schrie: „Ihr Schweine! Heute wollte er sich stellen. Er ist kein schlechter Mensch.“ Ich umklammerte und schüttelte ihn. Seine ge-brochenen blauen Augen starrten erstaunt ins Leere. Aus seinem Mund rann ein rötlicher Faden.
Meine Eltern hoben mich auf und nahmen mich in die Arme. Und mein Vater sagte: „Weine nicht um ihn. Er ist ein Verbrecher und keine Träne wert.“
Was wusste er von ihm?
Hexennacht
Diesen Ausflug werden wir nie vergessen. Das Wetter war seit Wochen wunderbar, die Sonne schien warm vom Himmel, die Fahrräder standen startbereit im Schuppen und wir freuten uns alle auf die Radtour am ersten Mai. Ganz früh zeitig sollte es losgehen, mit dem ersten Sonnenstrahl.
Meine Frau Helga war die erste auf den Beinen. Sie weckte uns um vier Uhr. Jana, unsere Kleine, war schon seit Tagen aufgeregt. Heute Nacht hatte ihre Freundin Lisa bei uns geschlafen, denn sie wollte unbedingt mit. Wir saßen alle beim Frühstück, da kam auch endlich unsere Große – „Nadine die Schlafmütze“ aus ihrer Kemenate.
Halb fünf Uhr fuhren wir los. Gleich hinter unserem Dorf geht es in den Wald hinein. Die Wege kennen wir alle ganz genau, denn wir sind sie schon hundert Mal gefahren. Aber diesmal sollte alles anders werden.
Schon nach 200 – 300 Metern änderte sich plötzlich der Weg. Die Bäume traten zusammen, sie nahmen an Um-fang zu, der Himmel bedeckte sich mit einem grünlichen Schleier und die Sonne wurde blassrosa. Wir hielten an und schauten uns um. Es war eine so bedrohliche Stimmung eingetreten, die Vögel hatten aufgehört zu singen, nur ein einsames Käuzchen erhob seine schauerliche Stimme, dass wir am Liebsten umgekehrt wären. Wir konnten uns den Wandel nicht erklären und wir erkannten unseren Wald plötzlich nicht wieder.
Aus unserem breiten Weg war ein schmaler Pfad geworden, düstere knorrige Eichen standen da, wo noch vor kurzem schlanke Fichten in den Himmel ragten. Und dann kam dieser Wind auf. Erst ganz sacht und flüsternd, dann zunehmend und singend. Jana bekam Angst und fing an zu weinen. Wir stellten uns alle ganz dicht zusammen und hielten unsere Räder fest, denn nun war der Wind zu einem Orkan angeschwollen, der brüllend an unseren Kleidern und Haaren zerrte. Schemenhafte Gestalten bewegten sich durch die Luft. Sie berührten uns wispernd. Es war, als wenn einen eine feuchte Spinnwebe am Gesicht entlang streift. Lisa schrie auf. Das Wispern in der Luft wurde stärker und zwischendurch erklang ein leises Lachen. Minutenlang waren wir eingehüllt von Schwaden grünlichem Nebels. Auf einmal wurde Nadine hochgehoben und durch die Luft getragen. Ihr Fahrrad fiel polternd um. Wie von Geisterhänden gestützt, saß sie plötzlich auf dem untersten Ast der Eiche. Ihr Rücken lehnte – in der Luft. Sie lag wie in einem Schaukelstuhl auf dem schmalen Ast und fiel doch nicht herunter. Der Schock lähmte ihre Stimme und sie starrte mit Grauen in den Abgrund. Helga rannte schreiend zu dem Baum, aber sie konnte den Ast nicht erreichen. Jana und Lisa hielten sich zitternd und weinend in den Armen. Auf ihren Köpfen saß ein Zwerg und hielt sich an ihren Haaren fest. Er lachte und die beiden Mädchen konnten sich nicht rühren und ihn nicht abschütteln.
Ich war festgewachsen. Krampfhaft hatte ich versucht, alle Fahrräder festzuhalten, aber nun merkte ich, dass das nicht nötig war. Sie standen da wie angeschmiedet und ich ließ sie los. Verzweifelt versuchte ich einen Schritt in Richtung der Kinder. Es war unmöglich. Meine Füße steckten bis zu den Knöcheln in der Erde und ich konnte sie nicht herausziehen. Meine Frau schrie wie verrückt und versuchte an Nadine heran zu kommen, in dem sie in die Luft sprang. Mitten im Sprung erfasste sie ein Schatten, trug sie fort zu einem anderen Baum und setzte sie mitten in eine Astgabel. Ihre Stimme versagte.
Plötzlich erklang das Gebell eines Hundes. Die Luft klarte auf, der Himmel wurde wieder blau und die Sonne schien golden vom Firmament. Vom Dorf her hörten wir die Kirchturmuhr „Sechs-Uhr-Läuten“. Aus den Eichen waren wieder Fichten geworden, der Weg war breit und wir alle standen wie benommen im Kreis und hielten unsere Fahrräder fest. Ein gelbes Knäuel jagte uns entgegen und dann sprang Bonzo freudig bellend an unseren Beinen empor. Der Bann war gebrochen. War alles nur ein böser Traum? Aufatmend bestiegen wir unsere Räder und setzten unseren Familienausflug fort. Bonzo begleitete uns. Lachend schworen wir uns, einen Ausflug nie wieder in der Hexennacht zu beginnen.
Jerry
Mit einer Körpergröße von einssechsundsiebzig und einem Gewicht von fünfundachtzig Kilo hat man es als Frau nicht leicht, einen passenden Mann zu finden. Schon in der Schule überragte ich meine Klassenkameraden, was diesen automatisch Respekt einflößte. Wenn die anderen Mädchen gehänselt wurden, weil ihnen in gewissem Alter kleine Hügelchen wuchsen, so war ich mit elf bereits voll entwickelt. Doch keiner traute sich, das in meiner Gegenwart zu erwähnen.
Im sechsten Schuljahr dann spielte die ganze Klasse in jeder Pause: „Ich sitze hier und schneide Speck, und wer mich lieb hat, holt mich weg.“ Und dann wurde geknutscht, was das Zeug hielt. Aber nicht mit mir.
Mich zu hänseln traute sich keiner, mich zu knutschen kam keinem in den Sinn. Dabei war ich nicht hässlich. Aber ich war für alle, die mich leiden konnten, ein überaus brauchbarer Kumpel. Und wer mit mir durch die Straßen zog, der brauchte keine Angst zu haben, von irgendwelchen Individuen überfallen zu werden.
Ich lernte den Beruf eines Metzgers, mit allem drum und dran. Mein Meister nahm keine Rücksicht auf eine zarte Frauenseele. Ich hatte einen Männerberuf ergriffen und da musste ich eben durch. Sogar schlachten gehörte zu meiner Ausbildung. Ich tat es, obwohl mir die Tiere leid taten, wenn die Angst aus ihren Augen schrie. Aber ich verrichtete meine Arbeit mit zusammengebissenen Zähnen und duschte abends lange den Schmutz von meiner Seele.
Und dann zog ich die halbe Nacht mit meinen Kumpels um die Häuser. Wir tranken Bier und Klaren in unserer Stammkneipe und spielten Skat.
Ich war inzwischen dreiundzwanzig. Die Musik dröhnte aus dem Automaten, den Harry ständig mit Groschen fütterte. Plötzlich entstand eine Pause. Ich wunderte mich über die plötzliche Stille und drehte mich um.
Ein langer schlaksiger Junge hatte die Kneipe betreten, bei dessen Anblick die Gespräche verstummt waren. Dann schlug einer dem Knaben auf die Schulter und brüllte: „Hey Jerry, bist du wieder raus! Das ist großartig.“ Sie umringten ihn.
Ich rammte Harry meinen Ellenbogen in die Seite und fragte: „Wer ist dieser Jerry? Ich habe ihn noch nie gesehen.“
Harry schaute mich verdutzt an und flüsterte dann: „Jerry ist der härteste Bursche, den du dir vorstellen kannst. Wer es sich mit dem versaut, der atmet nicht mehr lange.“
Ich riss die Augen auf und starrte Jerry an. Dann flüsterte ich zurück: „Der sieht aus wie ein großer Junge, dem man das Alphabet durch die Rippen blasen kann. Den lasse ich doch an einer Hand verhungern.“
„Leg dich bloß nicht mit ihm an.“ Harry drehte entsetzt Jerry den Rücken zu, sodass dieser seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. Dafür sah er meinen. Und er kam auf mich zu. „Hallo, schöne Frau. Wir kennen uns noch nicht. Ich bin Jerry.“ Er reichte mir galant die Hand, seine wasserblauen Augen sahen mich blinzelnd an. Mit der semmelblonden Igelfrisur und seiner Stupsnase sah er wirklich aus wie ein Kind. Ich musste innerlich kichern. Aber ich riss mich zusammen. „Hallo, ich bin Debby.“ Ich gab ihm meinen festesten Händedruck, bei dem meine Kameraden stets in die Knie gingen. Jerry tat es nicht. Er erwiderte ihn und ich wurde leicht unsicher. Er lächelte. „Du gefällst mir. Trinkst du einen Korn mit mir?“
„Warum nicht.“ Ich schielte auf seinen schmalen Körper, in dem so viel Kraft steckte und blickte ihn dann mit gespielter Selbstsicherheit ins Gesicht. Er war einen halben Kopf größer als ich und zwinkerte mir zu. Wir tranken auf ex und dann erfuhr ich, dass er lange fort war und nun endlich mal wieder seine Eltern besuchen wollte. Wir kippten noch zwei bis drei Schnäpse miteinander, dann widmete sich Jerry wieder seinen Kumpels im Lokal. Er stand als unangefochtener Held im Mittelpunkt und ich hörte nicht auf, mich den ganzen Abend über ihn zu wundern.
„Wo war er die ganze Zeit?“ fragte ich leise Harry.
„Im Knast. Hast du nicht damals von den Zuhältermorden gehört? Es ist jetzt ungefähr zehn Jahre her. Seine Schwester ging auf den Strich. Ihr Zuhälter war einer von der ganz harten Sorte. Er ließ ihr keine freie Minute und wenn die Freier ohne Gummi wollten, so befahl er ihr, es ohne zu tun. Hauptsache sie zahlten gut. Und dann steckte sie sich mit HIV an. Als Jerry davon hörte, räumte er in der Szene auf. Da er nicht genau wusste, wer der Zuhälter seiner Schwester war, brachte er gleich drei oder vier um die Ecke. Dafür bekam er lebenslänglich. Ich habe keine Ahnung, wieso er schon wieder draußen ist.“
Betroffen schaute ich Harry an. „So war das also. Ich war damals dreizehn. Da habe ich mich für solche Geschichten nicht interessiert. Wie alt ist denn Jerry?“
„So ungefähr achtundzwanzig oder neunundzwanzig.“ Harry nahm einen großen Schluck aus seinem Bierglas und sah mich forschend an. „Wieso interessiert er dich? Debby, ich warne dich, lass bloß die Finger von ihm. Er ist einer von den ganz harten Jungen. Der macht nicht viel Worte, wenn ihm was nicht passt.“
„Und ich bin ein hartes Mädchen, das weißt du doch.“ Lachend prostete ich Harry zu.
Als die Kneipe geschlossen wurde, wankte ich leicht angeduselt hinaus.
„Du willst doch nicht etwa allein nach Hause gehen in dieser unsicheren Gegend?“
Ein Arm legte sich um meine Schulter und Jerry ging wie selbstverständlich neben mit her. „Du gefällst mir.“
„Das hast du heute schon mal gesagt. Was findest du bloß an mir. So schön bin ich nun auch wieder nicht.“ Ich schaute gerade aus und hörte mein Herz überlaut klopfen.
„Du bist eine starke Frau. Keine, die sich wie eine Zicke benimmt. Du bist etwas Besonderes, ich fahre voll auf dich ab.“
Er schaffte mich nicht bloß bis zur Haustür. Wir verbrachten die Nacht miteinander. Er war ein stürmischer, heißblütiger Liebhaber, aber er küsste mich nicht.
Von da ab sahen wir uns jeden Tag. Anfangs warnten mich meine Kumpels noch vor ihm, aber dann hatten sie schnell begriffen, dass ich für sie verloren war. Ich gehörte Jerry und war somit für jeden anderen unantastbar. Jerry zog zu mir.
Unsere Liebe war etwas Seltsames. Nicht wie man sie in romantischen Romanen liest. Keine roten Rosen, keine heißen Küsse oder Liebesschwüre. Jerry wollte eine starke Frau an seiner Seite, kein verträumtes, nach Zärtlichkeit heischendes Mädchen. Es gab kein Händchen halten vor anderen Leuten, keine Streicheleinheiten, keine vertrauten Blicke. Aber wir waren minutiös aufeinander abgestimmt. Jeden Schritt, den er tat, suggerierte er mir in einer Art Telepathie und ich reagierte wie eine Marionette. Er wusste genau, dass er sich in jeder Situation auf mich verlassen konnte. Ich war sein zweites Standbein. Im Spielsalon war er der absolute King. Ob Roulette, Black Jack oder Poker, gemeinsam räumten wir ab. Das heißt, er spielte und ich passte auf. Wir ergänzten uns vorzüglich.
Nur nachts, wenn wir allein waren, fielen wir übereinander her, wie die Wölfe. Wir liebten uns hemmungslos, leidenschaftlich, bis zur Selbstaufgabe. Aber er küsste mich nie!
Ich war mir meiner Gefühle zu ihm nicht sicher. Innerlich bohrte eine Angst in mir, keinen falschen Schritt zu tun, um ihn nicht zu verlieren. Stets musste ich mein Gesicht wahren, keine Gefühle zeigen, keine Schwäche oder Unsicherheit. Es gab kein Wenn und Aber, Jerry war ein Meister der Verstellung. Keiner kam an ihn heran, keiner brachte ihn aus der Fassung. Alle zitterten vor ihm, doch keiner traute sich, offen gegen ihn anzutreten. Er beherrschte den ganzen Kiez.
Und dann kam Ben. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich, wie Jerry blass wurde. Ben war um die fünfzig – und er war Jerrys Onkel. Nach achtzehn Jahren war er vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Früher war er der uneingeschränkte Herrscher im Kiez. Die Älteren von uns konnten sich noch gut an ihn erinnern und die Stimmung sank auf den Nullpunkt. Ich kannte ihn natürlich nur vom Hörensagen, aber was ich von ihm wusste reichte aus, um nachts Alpträume zu bekommen. Schutzgelderpressung, Hehlerei, Waffenschieberei, Drogenschmuggel, Prostitution, in allen Sparten hatte er das Sagen. Er war der King der Szene, bis er durch einen dummen Zufall bei einer Routinerazzia in einem Spielsalon geschnappt und wegen unzähliger Vergehen zu zwanzig Jahren Haft verurteilt wurde, von denen er nur achtzehn abzusitzen brauchte.
Mit kleiner kräftiger Ringerfigur stand er im Kneipeneingang und fixierte den Wirt. „Ich bin wieder da. – Und was das heißt, weißt du!“ Der Wirt schaute mit offenem Mund auf Ben und sagte keinen Ton. Das Bier, welches er gerade in ein Glas ließ, schäumte über und lief quer über die Theke. Aber er reagierte nicht.
Dann kam Ben auf uns zu. Er lief sehr gerade, seine muskulösen Arme leicht vom Körper abgespreizt, den kahlen Kopf mit dem kantigen Kinn etwas nach vorn geschoben, mit einem Blick wie ein Habicht, der sich jeden Moment auf seine Beute stürzt. Breitbeinig blieb er vor uns stehen und ließ seine Muskeln spielen. Im Knast hatte er für Bodybuilding genügend Zeit gehabt. Eine Aureole von Gewalt und Rücksichtslosigkeit umgab ihn. Ich spürte, dass Jerry zitterte. Es machte mich unsicher und schnürte mir die Kehle zu. Er war ein Kopf kleiner als Jerry und musste nach oben schauen. Aber er tat es mit einem Blick, als schaute er von einem Hügel auf uns herab.
„Wo sind deine anderen Schwalben?“ Er blickte geringschätzig an mir herunter. „Mit der wirst du keine großen Geschäfte machen.“
Es dauerte einige Sekunden bis ich begriff, worauf er anspielte. Dann stieg mir die Röte in die Wangen. Wieso sagte Jerry nichts? Eisige Stille war im Raum. Selbst der Wirt hatte den Zapfhahn nun zugedreht und hielt krampfhaft das übervolle Glas in der Hand. Alle Blicke waren auf uns gerichtet.
„Ich – habe keine Schwalben“ stotterte Jerry.
Bens Augen traten wie Zwiebeln aus den Höhlen. „Willst du damit sagen, dieses Ungetüm ist ...“ Er sprach nicht weiter, aber er grapschte mit der Hand nach meinem Busen. Noch ehe ich nachdenken konnte, trat ich ihm mit aller Gewalt zwischen die Beine. Lautlos krümmte er sich, nur etwa zwei Sekunden. Dann starrte er mich an. Zu Jerry gewandt murmelte er: „Das werdet ihr bereuen“ und verließ die Kneipe. Jerry sank auf einen Hocker, der Wirt reichte ihm wortlos ein großes Glas Korn und er schüttete es auf einen Zug hinunter. Wütend blickte ich ihn an. Wie aus weiter Ferne sagte er: „Das hättest du nicht tun sollen.“
„Und was wolltest du tun? Wolltest du ihm meine Vorzüge erklären?“ Noch nie hatte ich Jerry so angeschrien. Alle hielten den Atem an, aber Jerry rührte sich nicht. Ich kannte ihn nicht wieder. Zornig warf ich einen Geldschein auf die Theke und verließ das Lokal.
In dieser Nacht wachte ich vom Geheule einer Sirene auf. Danach setzte ein Martinshorn ein und gleich hinterher noch zwei. Mehrere Feuerwehren und zwei Polizeiwagen rasten die Straße entlang. Ich griff neben mich, die Stelle war leer. Jerry war nicht zu Hause. Ich tappte zum Fenster und sah nach unten. In der Ferne gewahrte ich einen roten Feuerschein. Ich brauchte nicht lange zu überlegen, dort befand sich unsere Stammkneipe. Rasch zog ich mich an und rannte los. Eine Absperrung hinderte mich, näher an das in Flammen stehende Gebäude heran zu kommen. Mehrere Rettungswagen standen etwas abseits. Feuerwehrleute schafften Verwundete heraus, die von Notärzten erstversorgt und in die Krankentransporter geladen wurden. Ich versuchte näher heran zu kommen, wurde aber von einem Polizisten festgehalten.
„Bitte, ich muss wissen, ob mein Freund verletzt ist. Lassen sie mich durch.“
Er aber war unerbittlich. „Das geht jetzt nicht, Sie behindern nur die Rettungsaktion.“
Ratlos lief ich hin und her, konnte aber nichts erkennen. Dann wandte ich mich wieder an den Polizisten. „Wo werden die Verwundeten denn hingebracht?“
„Ins Städtische“ lautete die knappe Antwort.
Von hinten stupste mich jemand an der Schulter. Ich fuhr herum. Ein Oberleutnant tippte sich an die Mütze. „Können Sie mir ein paar Fragen beantworten?“
Ich nickte.
„Kennen Sie die Gaststätte?“
Ich nickte wieder.
„Waren Sie heute im Lokal? Haben Sie irgend etwas ungewöhnliches bemerkt? Vielleicht einen Streit zwischen den Gästen?“
Da erzählte ich ihm von dem Vorfall und Bens Drohung. Aber ob der Brand etwas damit zu tun hat, konnte ich natürlich nicht beschwören. Er machte sich Notizen, schrieb meine Personalien auf und erklärte mir, ich hätte mich für eine Gegenüberstellung am nächsten Tag bereit zu halten, dürfe also die Stadt nicht verlassen. Ich versprach es und machte mich dann schnellstens in Richtung Krankenhaus auf.
In der Notaufnahme war die Hölle los. Die leicht Verletzten harrten auf Stühlen, bis sie an die Reihe kamen, die schwerer Verletzten lagen bereits auf Tragen und warteten, dass Betten für sie frei würden. Jerry konnte ich nirgends entdecken. Ich fragte an der Rezeption nach ihm und erfuhr, dass an drei Leuten bereits eine Notoperation durchgeführt wurde. Ob Jerry dabei war, konnte sie mir nicht sagen, da die Personalien noch nicht festgestellt werden konnten. Ich musste mich also gedulden. So setzte ich mich auf eine Bank im Gang und wartete. Stunden vergingen, ich nickte ein und schreckte hoch, als mich eine Hand an der Schulter berührte. „Kommen Sie. Hier ist ein junger Mann ohne Papiere. Er wurde operiert und liegt noch in Narkose. Aber er ist stabil. Sagen Sie uns bitte, ob Sie ihn kennen. Vielleicht ist es ja der Mann, den Sie suchen.“
Ich lief hinter der Schwester her und dann stand ich vor Jerrys Bett. Er war eingewickelt wie eine Mumie, Schläuche ragten aus seinem Mund, eine EKG piepste und schlug grüne Wellen. Entsetzt schlug ich die Hand vor den Mund.
„Das ist Jerry, was ist mit ihm?“
„Er hat eine Schussverletzung und Verbrennungen zweiten und dritten Grades. Er hatte riesiges Glück, dass keine lebenswichtigen Organe verletzt wurden.“
„Kann ich bei ihm bleiben?“
„Sicher!“ Sie zog einen Stuhl ans Bett und ich setzte mich. Dann schrieb sie Jerrys Personalien auf und verabschiedete sich.
Ich wachte die ganze Nacht bei ihm. Am nächsten Morgen blinzelte er mich mit blutunterlaufenen Augen an und versuchte, etwas zu sagen. Ich drückte auf die Klingel. Die Schwester kam und schickte mich aus dem Raum. Kurz darauf kam ein Arzt. Ich setzte mich auf die Bank vor der Tür und wartete wieder. Nach etwa einer halben Stunde kamen die beiden wieder heraus. Der Doktor sprach mich an. „Sie können jetzt zu ihm. Wir haben ihn von der Magensonde und dem Beatmungsschlauch befreit. Er kann jetzt wieder sprechen.“
Ich setzte mich auf den Stuhl vor seinem Bett und betrachtete ihn. Mein großer, starker Jerry, vor dem alle Respekt hatten, lag wehrlos in seinem Bett und sah mich an wie ein scheues Reh. Ein seltsam bedrückendes Gefühlt keimte in mir auf, es bohrte sich von meinem Magen hinauf in meine Brust, pikte in der Herzgegend und suchte weiter steigend durch meinen Hals den Ausgang über meine Lippen. War es Mitleid? War es plötzlich aufkommende Zärtlichkeit? Zugleich spürte ich, dass ich keine Angst vor ihm haben musste. Jetzt konnte ich das tun, wonach ich mich die ganze Zeit so sehr sehnte. Mich schwindelte. Ich fasste seine Hände und beugte mich über ihn. Er sah mich unsicher an, da drückte ich zärtlich meinen Mund auf seine geschwollenen Lippen. Ich spürte, dass ihm die sanfte Berührung weh tat, aber er hielt still.
Als ich mich nach unserem ersten Kuss von ihm löste, schaute er mich selig an. „Ich hab mich das nie getraut“ sagte er. Dann wurden seine Augen wieder traurig. „Ich habe Angst um dich. Auch an dir wird sich Ben rächen.“
Ich dachte an die Gegenüberstellung auf der Polizeiwache und dass ich Ben nicht ungeschoren davon kommen lassen würde. Diesmal käme er nicht mehr heraus. „Er wird keine Gelegenheit mehr dazu bekommen, dafür sorge ich.“
Jerry schaute mich lange an. Dann sagte er: „Du bist immer so stark und unnahbar, so eiskalt. Kannst du nicht einmal schwach werden, wie eine ganz normale Frau. Ich möchte dich in meinen Armen halten und beschützen. Wieso bist du immer die Stärkere von uns beiden? Ich sollte dein Schutzengel sein, nicht du meiner.“
Wie vom Donner gerührt stellte ich fest, dass er unter dieser verkehrten Konstellation genauso litt wie ich. Ich legte meinen Kopf an seine Brust und spürte seinen Herzschlag. Er legte seine Arme um mich und streichelte mein Haar. Und er genierte sich nicht, trotzdem seine Eltern das Zimmer betreten hatten und noch einige unserer Freunde.
Geistesgegenwart
Pünktlich vierzehn Uhr dreißig schloss Helga Winter ihre Bankfiliale auf, vor der schon die Rentnerin Anni Ermisch wartete.
„Guten Tag, Oma Ermisch. Na, haben die Enkel wieder Wünsche?“ Frau Winter beugte sich weit über den Bankschalter und brüllte der schwerhörigen Rentnerin ins Ohr. Diese stützte sich auf ihren Regenschirm, schüttelte den kleinen, weißhaarigen Kopf und brüllte zurück: „Nein, heute brauche ich das Geld für meine Party. Ich werde übermorgen achtzig. Da kommen sie alle; meine vier Kinder, neun Enkel und drei Urenkel. Geben Sie mir fünfhundert!“ Sie schob der Kassiererin ihr Sparbuch über den Tresen.
„Oje, da haben Sie ja volles Haus. Und Sie wollen ganz allein alles kaufen und vorbereiten? Helfen Ihnen denn die Kinder nicht?“
„Doch, doch. Meine Tochter holt mich dann von zu Hause mit dem Auto ab und fährt mit mir in den Supermarkt. - Was haben Sie denn?“
Die Augen der Kassiererin fixierten starr einen Punkt hinter der Rentnerin. Plötzlich wurde diese von einem jungen Mann zur Seite geschoben. Er beugte sich über den Tresen und schob Helga Winter einen Zettel zu.
„He, junger Mann, haben Sie denn gar keinen Anstand?“ brüllte Oma Ermisch. „Sehen Sie nicht, dass ich an der Reihe bin?“
Verblüfft starrte der mit einem Dreiecktuch maskierte Bursche die Rentnerin an. Dann sagte er: „Halts Maul, Alte!“ und reichte der Kassiererin eine Aktentasche.
Helga Winter hatte den Zettel fallen lassen, auf dem in ungelenken Großbuchstaben stand: ICH SCHIESSE SOFORT, WENN SIE ALARM GEBEN. ALLES GELD IN DIESE TASCHE.
Zitternd versuchte sie Oma Ermisch klar zu machen, dass dies ein Banküberfall ist. Mit weißem Gesicht schrie sie: „Nicht, Frau Ermisch, das ist ein Überfall!“
Aber Oma Ermisch hatte bereits ihren Schirm gehoben und drohend die Spitze gegen den Bankräuber gerichtet. Dabei zeterte sie: „Dir frechen Kerl müsste man den Hosenboden stramm ziehen! Und nimm den Lappen aus dem Gesicht, wenn du mit einem redest, man versteht dich ja nicht!“
Helga Winter stürzte hinter dem Schalter hervor und stellte sich vor die Rentnerin. Sie schrie: „Hören Sie auf, er wird uns alle erschießen!“
Der Mann zog eine Pistole, richtete sie auf die Frauen und brüllte: „Keine Dummheiten!“ Erst da erkannte die Rentnerin den Ernst der Situation. Mitten in der Bewegung hielt sie inne und erstarrte zur Salzsäule.
Mit fahrigen Bewegungen füllte Helga Winter die Tasche und schob sie dem Gangster hin. Dieser riss sie an sich, stieß die Rentnerin zur Seite und rannte rückwärts zur Tür. Als er mit aufheulendem Motor davon raste, brach Helga Winter weinend mit einem Nervenschock zusammen.
Die resolute Rentnerin aber lief leichtfüßig wie ein junges Reh aus der Bankfiliale und merkte sich Automarke, Farbe und die ersten drei Zahlen des Kennzeichens. Sie ballte ihre kleine Faust und rief: „Die heutige Jugend! Kein Wunder, dass es mit dem Staat bergab geht!“
Erneut betrat sie die Bank und notierte ihre Beobachtun-gen. Kopfschüttelnd betrachtete sie kurz die völlig aufgelöste Kassiererin, dann umrundete sie kurz entschlossen den Kassenschalter und klopfte Helga Winter beruhigend auf die Schulter. „Nicht weinen, mein Mädchen, ist ja nochmal gut gegangen. Der kommt nicht weit.“ Sie blickte sich kurz um, dann fand sie, was sie suchte. Sie nahm den Telefonhörer und wählte 110.
Dank ihrer Geistesgegenwart konnte der Täter zwei Tage später verhaftet werden. Ihre Geburtstagsparty aber wurde vom Bankdirektor persönlich ausgerichtet
Texte: © 2009 Alle Rechte bei Leonore Enzmann. Nachdruck oder Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 13.04.2009
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