Inhaltsverzeichnis
Die Schnecken (Helgas)
Schnecke auf dem Weg Bild (Helgas)
Zeitverschiebung (Concortin)
Der Softeisautomat (Wuschel)
Kreise (Charssta)
Eine Begegnung auf Zeit (chastra)
rot (concortin)
grün (Angelika Röhrig)
Wenn die Zeit stillsteht (Angelika Röhrig)
Die Schöpfung (Michael Labs)
Die Zeit verweht (Reinhold)
Fahrerwechsel (Bernadette (Aljosha9.Pen))
Die Schnecken
Die Schnecken sind ja ein Synonym für Langsamkeit. Sie leben halt im Schneckentempo. Immerhin, auch sie beanspruchen für sich ein gewisses Tempo. Nun, es ist halt ihr Spezielles. Wenn der Mensch „Tempo, Tempo“ grölt, dann meint er sicher etwas ganz anderes. Je nach dem, wen er anfeuert, er will es stets immer noch schneller als der Aktive vorlegt. Schließlich möchte man ja, dass der Favorit gewinnt, ob er darüber ins Gras beißt ist schnuppe. Die Menschheit wünscht sich eben Rasanz. Langsame Trantüten sind und bleiben außen vor. Man kann sich allenfalls über sie lustig machen. Ehe die aus der Knete kommen, sind alle Messen gesungen, heißt es. Kann ja auch stimmen, ist aber nur ein höchst dämlicher Schnack. Unsere Nacktschnecken zum Beispiel haben nämlich bereits Unmengen von Blättchen gefressen und den halben Garten verödet, ehe wir sie überhaupt zu bemerken geruhen, denn sie sind schlau, fressen nur in aller Herrgottsfrühe, wenn der lahmarschige Mensch noch in den Federn liegt, und verschwinden anschließend. Man regt sich auf, verspritzt sein Gift, rotiert wie blöde, aber die fetten, langsamen Schnecken knabbern ungerührt weiter an unseren wunderschönen Pflanzen. Ja, manchmal erledigt man die eine oder andere Schnecke, sammelt sie auf oder macht ihnen tatsächlich irgendwie den Garaus. Doch hilft dies wirklich? Hat man die langsamen Biester besiegt? Hat unser Tempo genützt? Rotieren ist ja schön und wichtig und manchmal das einzig Richtige. Aber eben nur manchmal.
(Helgas)
Zeitverschiebung
Mitten im Kugelregen kletterte ein Lebensversicherungsvertreter über zerschossenes Mauerwerk zu den Zinnen der Burg hinauf.
Er fragte einen Soldaten: "Leben Sie eigentlich noch?"
Der Soldat fuhr in an: "Mann, fragen Sie nicht so dumm, das sehen Sie doch!"
Im selben Augenblick schlug eine Kugel ein, mitten in den Soldaten.
Der Vertreter entgegnete: "Das hätten Sie freundlicherweise gleich sagen können."
(concortin)
Der Softeisautomat
Einkaufsbummel beendet, ich hatte eine Gier nach einem Softeis. Und da stand er: Ein Prachtstück, wie aus früheren Zeiten, der Softeisautomat. Früher gab es jedoch jemanden, der dieses Teil bediente. Heute nicht mehr.
Ich lese mir also die Gebrauchsanweisung durch, mit reichlich Bildern bestückt. Gut, schmeißen wir 2 Euro rein, Eiswaffel raus aus dem Behältnis, Automat gestartet. Dieser hatte jedoch einen Defekt. Im Prinzip wäre der nicht tragisch gewesen, hätten mehr Leute drum rum gestanden. Dem war nicht so. Ich hatte mit meinem selbst gemachten Softeis bereits 10 cm Eishöhe erreicht und das Ding hörte nicht auf. Ich schnell die nächste Eiswaffel, weitere 10 cm aufgetürmt.
Noch war ich ruhig, aber mein Gehirn formte bereits das Wort: Hilfe. Es kam ziemlich kleinlaut aus meinem Mund. Allmählich sammelten sich Menschen um mich und den Automaten und das lustig sich auftürmende Softeis. Alles lachte, ich heulte bald. Doch da geschah es: Mit einem leicht quietschenden Geräusch hörte das Eis auf, sich auf die Eiswaffeln zu türmen. Die Milchvorrat war erschöpft, ich hatte 10 laufende Softeis und am Ende keines mehr, weil alles auf dem Boden landete.
(Wuschel)
Kreise
Heilen wirst du mit der Zeit,
doch auch wieder neu erkranken.
Geht ein Kummer, kommt ein Leid.
Leben haben – das heißt: Zeit,
rötet und bleicht Wangen.
In dir spürst du manche Härten,
doch auch Weichheit und Verzeihen.
Schwebst mit Wolken, stürmst mit Pferden.
Bist ein ständig Stirb und Werden,
Dörren und Gedeihen.
Stilles Wachsen ist in dir,
aber auch lautes Verbluten.
Bist aus Blume, Stein und Tier,
bist aus Geben und aus Gier,
Asche und aus Gluten.
Leben wirst du mit der Zeit,
doch auch wieder neu verderben.
Zukunft wird Vergangenheit.
Leben ist Lieben geweiht.
Leben – das heißt: Sterben.
(charsta)
Eine Begegnung auf Zeit
Sie befanden sich in einer Menschenmasse, die an einer Straße auf Sherwood Forest und seine Prozession wartete. Ein Mann stand schräg hinter ihr. Valerie hatte ihn flüchtig wahrgenommen. Er überragte die anderen. So wie alle hier in freudiger Erwartung die stille Zirkulation des Sauerstoffes einatmeten, so fügte sich auch Valerie in das Muster der Menschen ein. Der Mann schräg hinter ihr tippte auf ihre Schulter und fragte nach der Uhrzeit. „Fräulein, können Sie mir sagen, ob es schon zu spät ist?“
Valerie schaute sich sensibel um. „Es scheint schon halb Acht zu sein. Die Sterne am Firmament irren sich nie.“
Er zwinkerte mit einer Stirnfalte und lächelte direkt in ihr Hirntrauma. Sie drehte sich schleunigst nach vorn, um nichts von dem Vorbeimarsch zu verpassen. Nach geraumer Zeit, geräumiger Zeit, nachdem der duftende Wald vorübergezogen war, machte sich auch Valerie auf den Heimweg. Der Mann schräg hinter tippte ihr noch einmal auf die Schulter. Die zwei blieben stehen im Fluss der Menschenmassen und der Zeit.
„Jetzt ist die Uhr stehen geblieben. Was meinen Sie, Fräulein, haben die Zeiger noch eine Chance?“
Valerie dachte unheimlich nach. „Eins ist klar, meine Füße wollen nach Hause, mein Kopf kennt die Uhr noch nicht, und das Herz würde jetzt gerne mit Ihnen einen Wein trinken gehen.“
Der Mann freute sich wie ein Junge und klemmte sich das Fräulein unter seinen Ellenbogen. „Ich kenne ein hübsches kleines Restaurant in der Nähe. Dort hängen überall Uhren an den Wänden. Was halten Sie davon, Fräulein?“
Valerie kroch unter seiner Elle hervor und flüsterte: „Ja, sehr gerne, dann höre ich das Ticken auch draußen und nicht nur innen.“
Sie stiegen auf sein Pferd und ritten über Asphalt. Es wurde die Nacht der Nächte. Die Begegnung schwamm glatt wie ein Aal unter den Blumentöpfen entlang. Der Mann, zum Zeitvertreib und überhaupt, lachte in freudiger Erwartung: „Die Zeit hat eben ausgesetzt. Haben Sie es bemerkt, Fräulein?“
Valerie hätte diesen Stillstand nie zugegeben... positives Gefühl zu zeigen... Mit einer groben Handbewegung wischte sie das Gerücht fort. Der gutmütige Mann ließ sich von dem unwirtlichen Verhalten keineswegs beirren. Er lächelte in eine Bahnhofsuhr, an der sie gerade vorüberritten, während Valerie in eine Pause hinein plauderte: „Wie hat Ihnen denn die Prozession von Sherwood Forest gefallen?“ –
„Ich bereue keine einzige Minute. Es war das prachtvollste Grün, das ich je gesehen habe!“
Vor dem Restaurant angelangt, sprangen beide heiter vom Pferd. Sie schoben es in den Flur. Dann nahmen sie sich einen Platz. Beide hatten die gleiche Zeit. Insgeheim wünschte sich der Mann, dass es auch dieselbe werden würde... „Fräulein, haben Sie Lust, ein wenig Zeit mit mir zu teilen?“
„Teilen? Müssen wir die Zeit dann spalten? Tut es ihr weh?“
„Nein, wenn Sie mit mir die Zeit teilen, wird sie sich verdoppeln! Sie müssen sich nur fallen lassen und mitschwingen. Der Rest dauert von ganz alleine.“
Valerie atmete tief durch. Zeit verging, und sie wischte sich die Halskrause aus der Nackenverspannung. Sollte sie in diesem Moment Zeit zeugen? Schweigend sahen sie sich in die Augen. Es waren weise Blicke in der Zeit, zeit-weise eben.
„Wie heißen Sie, junger Mann?“, wagte sie sich in unbekanntes Gebiet vor.
„Mein Name ist Sebastian, und ich wohne in einer großen Turmuhr. Ich kenne mich also aus in den Gesetzen von Ursache und Wirkung.“ Valerie nippte schnell am Glas, um der Pause in der Zeit zu entwischen.
„Das brauchen Sie gar nicht erst zu versuchen, Fräulein. Wenn Sie der Zeit weglaufen wollen, machen Sie es nur schlimmer.“
Der Mann schenkte ihr liebevoll ein paar Sekunden. Valerie schaute vorsichtig auf und fasste den Mut beim Schlafittchen: „Ich heiße Valerie, und ich will keine Nähe nur so zum Zeitvertreib. Ich möchte die Zeit nicht in einer Beziehung vertreiben. Verstehen Sie, Sebastian?“
Er sah sie ernst an und schob den Arm über die Tischdecke. In Valerie kämpften verschiedene Momentehalber, die die Momente halbierten, mit Vergangenheitsräubern und Gegenwartspazifisten.
„Vergessen Sie doch einfach die Zeit, Fräulein Valerie. Atmen Sie aus und lächeln Sie. Das Leben kann so schön sein!“
Valerie fiel eine Träne aus dem Knopfloch. Sie vertuschte diesen zwischenzeitlichen Vorfall zwischen zwei kurze Sekunden. Und so unauffällig und nebenbei wie irgend möglich berührte ihr Pfötchen die männliche Hand. Endlich fiel Anspannung ab, und beide wurden Zeit los.
Sebastian spürte die Kühle in ihrer Handinnenfläche und wagte nicht, sich zu bewegen. Er ließ die Zeit einfach laufen, ließ die Berührung in sich wandern, die prickelnden Zeitsprünge, die vom Handrücken bis ins Hirn schnellten, um dann in sein Herz zu hüpfen und einen Oldie von Ewigkeit zu singen – solange bis Zeit gereift war. Er drehte behutsam seine Hand um. Nun trafen sie sich in den Handinnenflächen. Valeries Augen hatten sich schon vor einigen Minuten niedergeschlagen. Sebastian suchte sie vergeblich in den Pupillen. „Fräulein Valerie, darf ich Ihnen sagen, dass Sie eine der zeitintensivsten Personen sind, die mir jemals begegnet sind?“
Valerie fiel es sehr schwer, diese Direktheit anzuhören, obwohl diese sich tief in ihr Innerstes einbrannte. Sie schwieg. Es regten sich nur Haaresbreiten.
„Fräulein Valerie, darf ich Ihr Schweigen als Zustimmung auffassen oder möchten Sie die Zeit mit mir lieber verkürzen?“
Valerie war hin- und hergerissen. Einerseits wollte sie Zeit ausdehnen auf eine wirklich langlebige Kuckucksuhr, andererseits hatte sie sich in einen Vakuumbereich zurückgezogen, in dem es keinerlei Zeiteigenschaften mehr gab. Sie schwieg zärtlich verbittert. Sebastian blieb still mit ihr in dieser Zeitsamkeit sitzen und beobachtete gelassen das Geschehen aus einer Mitte heraus. Valerie gab sich endlich einen Schubs: „Ich habe Angst.“
Sie richtete ihren Kopf auf Augenhöhe. Beide hatten Ein Blick und fielen in ein Zeitloch, das voller Licht und grenzenlos war. Sebastian drückte ihre Hand. „Es ist in Ordnung, Fräulein Valerie. Ich habe auch Angst.“
Dann, als Zeit vergangen war – sie hatte sich an den Erregungen der zwei vergangen – beschlossen die beiden, einen Spaziergang durch die Nacht zu machen. „Darf ich meinen Arm um Ihre Hüfte legen, Fräulein Valerie?“
„Sebastian, halten Sie mich fest. Vielleicht hat es eine Auswirkung auf die Neuzeit. Ich will es neu und sehr bewusst versuchen.“
Sebastians Arm schlängelte sich langsam aber zielsicher an ihrer Haut entlang. Er schmiegte sich an sie. Die Wärme seines Körpers strahlte auf Valerie aus. Sie atmete so unauffällig wie irgend möglich den Duft der Annäherung ein und stöhnte lautlos den innersten Schmerz in den Kosmos hinaus.
Es war äußerst still. Hier und da hörten sie ein Tier schlafen. Die Nacht warf einen Umriss auf den Schatten, der Sebastian war. Valerie blieb stehen, näherte sich seinem Gesicht und hauchte einen absolut einsamen Kuss auf seine Zunge. Er schloss die Augen und ließ sich in diesen Zeit Punkt einfallen.
Der Moment verblieb ohne Minuten und Sekunden.
(charsta)
Rot
Er erkennt mich nicht mehr. Er hält mich für ein anderes Auto. Dabei bin ich bloß vor Wut rot geworden. Vorher war ich graublau. Er braucht nur im Kofferraum nachzuschauen, da liegen seine Sachen drin. Es ist ja auch kein Wunder, wenn man sich über so einen Fahrer ärgert. Obwohl er sich jedesmal hernach, wenn es zu spät ist, bei mir entschuldigt. Ich bin nicht sicher, ob ich ihm nochmals verzeihen werde, ob ich ihn überhaupt noch eine Probefahrt machen lasse. Wenigstens betrunken sollte er nicht wieder sein wie bei unserer letzten Tour, bei der sich sechs seiner Freunde in mich hineinquetschten. Er jagte den Berg hinunter, daß ich mich fast überschlagen hätte. Dann sind sie beim Salvator eingekehrt, und er hat den Zündschlüssel stecken lassen. Kein Wunder, daß man mich gestohlen hat. Ich habe die Diebe bis in die Innenstadt mitgenommen und bin bei Halteverbot einfach stehen geblieben.
(concortin)
Grün
Ich finde ein stilles Bild:
das warme Holz einer Langhalslaute verbindet sich mit einem grünseidenem Tuch. Mir vermittelt sich ein harmonisches Stillleben. Woran erinnert mich dieses Bild?
Ein Erinnerungszipfel erscheint. Vor meinem inneren Auge öffnet sich ein Zeitfenster:
Eigentlich eine ganz andere Situation, ich war vier oder fünf Jahre alt: ein runder Holztisch - Eiche - darauf eine verhüllende gehäkelte Spitzendecke - naturweiß - ein kleine Kugelvase aus Glas steht auf dem Tisch, gefüllt mit duftenden Wicken - eine meiner Lieblingsblumen. Wenn ich an diesen Duft denke, wird mir warm und ich spüre eine positive Wirkung auf mich - und ja, da ist noch etwas anderes, es lässt mich lächeln - die Holzdielen unter meinen Füßen sind frisch gebohnert - ein ganz spezifischer Geruch - und es ist wohltuend still. Durch die relativ kleinen Fenster des alten Hauses flirrt Hochsommerlicht.
Was verbindet das Bild mit der Erinnerung? Ein Stück Nostalgie, die Essenz meiner Kindheitssommer und dieses beglückende Gefühl, geborgen zu sein.
(Angelika Röhrig)
wenn die Zeit still steht
Rabenherz
Ich steige in den Rahmen, trete über die schwarze Barriere. Meine Füße sind nackt und berühren den Sand. Kühl und feucht fühlt er sich an und von einer unbeschreiblichen Dichte. Ich schaue aufs Meer, sehe die Wellen und den Felsen jenseits. Er teilt den Horizont, ist Blickpunkt, lässt innehalten. Das Auge hat etwas, woran es sich festhalten kann. Da ist auch etwas Grün und ein natürlicher Torbogen am Rand. Der Geruch von Algen und salziger Luft lässt mich tief einatmen. Eine leichte Brise streicht mir das Haar aus dem Gesicht. Ich stapfe durch den Sand, so viele Spuren hier. Auf dem umgefallenen Baumstamm sitzt ein Rabe. Nichts scheint ihn zu beunruhigen, nur sein Kopf geht hin und her. Was er wohl sieht. Ich nähere mich. Er lässt es geschehen, anscheinend bin ich im Windschatten. Ich bin schon ganz nah, berühre das Holz. – feucht, ein bisschen glitschig. Was wäre wenn?
Wie wäre es, der Rabe zu sein im schwarzen Federkleid, fähig, die Flügel auszubreiten und hinüber zu fliegen zum Felsen? Was er wohl sieht, wahrnimmt? Wartet er auf etwas? Wo ist seine Gefährtin?
Vielleicht drüben auf der anderen Seite? Oder verlangt es ihn nach den sechs Brüdern? Die Verbindung von Sand, Holz, Wasser und Stein mit ihrer sanften natürlichen Farbigkeit berührt mich sehr.
Eine Weile bleibe ich noch im Bild und genieße den Wind. Dann stapfe ich langsam zurück - meine Füße sind ganz warm und kribbeln - ich steige aus dem Rahmen und bin wieder da.(Angelika Röhrig)
Die Schöpfung
Am Anfang war die Ruhe.
Da gab es keine Hektik,
es gab auch kein Getue
und keine Dialektik.
Da schuf der Herr die Zeit –
was er sogleich bereute.
Denn statt der Ewigkeit
war nun auf einmal: Heute.
Die Zeit, sie machte gründlich
den Herrn zu ihrem Affen
und fragte beinah’ stündlich:
„Hast du nicht was zu schaffen?“
Sie wollte was Adrettes
so hübsch um sich herum
und wünschte sich ein nettes
Raum-Zeit-Kontinuum.
Gott hatte nicht im Traum
dergleichen je gedacht.
Nun machte er den Raum
und schuf bei Tag und Nacht,
die Erde, dann den Himmel,
der oben drüber hing,
dazwischen viel Gewimmel,
das auf die Nerven ging.
Er sah, dass es nicht gut war
(kein Wunder bei dem Klima!),
doch weil er auf der Hut war,
so rief er: „Alles prima!“
Die Zeit sprach: „Ich weiß auch nichts,
was man noch schaffen könnte.
Das heißt ab jetzt: Ich brauch’ nichts“,
und schickte Gott in Rente.
Sie herrschte und regierte
ganz ohne Maß und Ziel
und evolutionierte,
so wie es ihr gefiel.
Sie hat dabei ein Wesen
besonders hart gestraft:
Die Kunst, die Uhr zu lesen,
hat dies Geschöpf versklavt.
„Es taugt dazu perfekt“,
befand sie kurz und knapp,
„denn es stammt ja direkt
von meinem Affen ab.“
(Michael Labs)
Die Zeit verweht und du wirst älter Du...
Die Zeit verweht und du wirst älter
Du wirst gesiezt
Deine Sprache spaltet sich ab
Du kennst
Diskette
Telefone mit Kabel
Fernseher ohne Fernbedienung
Und auch noch Schwarzweiß
Testbild
Meine jungen Kollegen kennen
Mein Handy besser als ich
Verabreden sich in Lokalisten
Surfen in Communities
Leben teilweise im Internet
Ich will nicht wieder 20 sein
Entscheidungen treffen müssen
Die mein Leben verändern werden
Ohne Ahnung davon zu haben
Das habe ich hinter mir
Gottseidank!
(reinhold)
Fahrerwechsel
Ich weiß nicht, aber ich traue ihm einfach nicht. Da können sie noch so sehr den Fortschritt preisen und die Annehmlichkeiten der neuen Ära, aber der alte Wessely war mir trotzdem, verzeihen sie den Ausdruck, am Arsch lieber als dieser sogenannte Hannes Diehsel beim glatten Gesicht. Es reicht doch schon, dass so einer wie der heutzutage in jedem öffentlichen Amt, in jeder Telefonzentrale und in jeder Dienstleistungsbranche zu finden ist, sogar in der ältesten der Welt, was ich besonders abartig finde. Aber im Straßenverkehr?
Sicher, die werden nie krank, sind immer höflich und korrekt, haben keine Schwankungen und fahren bei Regen und Schnee genauso unbeirrbar perfekt wie bei trockener Fahrbahn und Sonnenschein, nämlich. Keine irrationalen Handlungen, keine Übermüdung, keine Fehlreaktionen.
Aber um das geht’s eben in Wahrheit nicht. Der alte Wessely war kein guter Mensch, eher ein Charakterschwein, und das nicht mal im Verborgenen. Jeder, der täglich mit dem Siebener zur Arbeit und retour muss, bekam es mit, denn er hielt weder mit seiner Meinung noch mit den Details aus seinem Privatleben hinter dem Berg, und eigentlich hätte so ein Schild in den Bus gehört: „Es ist dem Fahrer während der Fahrt verboten, mit den Fahrgästen zu sprechen“.
Der alte Wessely hatte die Klappe jedenfalls immer offen und erzählte jedem, der es hören oder nicht hören wollte, in welchem Bordell er dieses Wochenende wieder einen drauf gemacht hatte, in welcher Kneipe er voriges Wochenende unter dem Tisch gelegen oder die Zeche geprellt hatte, er brüstete sich mit Schlägereien, die er angezettelt hatte genauso wie mit den zahlreichen Gerichtsprozessen, die anschließend gegen ihn ins Laufen gebracht wurden. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, seinerseits allen Nachbarn wegen jeder möglichen Lappalie die Polizei auf den Hals zu hetzen.
Er war eine richtige Pest, hinterhältig, schadenfroh und primitiv und weder seine Frau noch seine Kinder und Enkelkinder waren zu beneiden.
Trotzdem war er ein guter Fahrer. Ich sage ausdrücklich nicht ein perfekter, denn wer fühlt sich angesichts eines Hannes Diehsels oder wie sie immer heißen, nicht befangen und unwohl, sondern ein guter Fahrer, aus dem einfachen Grund, weil er an seiner jämmerlichen Existenz hing, so wie jeder Mensch, so wie wir alle, die auf den sicheren Transport im Siebener angewiesen sind.
Sicher fluchte er beim Fahren und belegte die anderen Verkehrsteilnehmer mit den unflätigsten Ausdrücken, und das wird mir sicher nicht fehlen.
Was mir fehlen wird ist sein Überlebensinstinkt, dieses rattenartige Wittern von Gefahr schon im Vorfeld um dann immer rechtzeitig die Kurve zu kratzen. Ja, er hatte etwas von einer Ratte: Schmierig, nervös, feige und prinzipiell auf den eigenen Vorteil bedacht. Um sein eigenes Überleben ging es ihm, um nichts anderes, doch damit garantierte er unseres eben auch.
Seine Antennen waren immer ausgefahren und oft beobachtete ich ihn von hinten, wie er den Bus mit schlafwandlerischer Sicherheit durch das Chaos des hiesigen Nahverkehrs navigierte, über alle dreißig Spuren unserer Autobahn, die kreuz und quer über- unter- und durcheinander laufen, um nicht nur den letzten paar altmodischen ein- und zweispurigen Fahrzeugen der Reichen, sondern auch den moderneren öffentlichen Luftkissengefährten und vor allem den neuartigen zahlreichen Flugkörpern Raum zu geben.
Trotz des ganzen Geschwafels von der neuen Verkehrsordnung des dritten Jahrtausends, den unzähligen, über die letzten Jahre eingeführten neuen Regeln und Zeichen, die einen Sicherheitsstandard gewährleisten sollen, der einer Gesellschaft wie unserer würdig ist, nehmen die Unfälle einfach nicht ab. Im Gegenteil.
Ich glaube, das ist auch der Grund, warum dieser Hannes Diehsel jetzt im Fahrersitz vom alten Wessely sitzt, und warum in allen anderen Transportmitteln des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs auch einer sitzt. Die sollen jetzt die Unfallstatistik senken und alles menschliche Versagen soll im Dunkel des Vergessens verschwinden. Die Europaregierung kann sich einen neuen epochalen Triumph an die Fahnen heften, im Namen des Fortschritts und der Technik, zum Wohle der Allgemeinheit, etcetera, bla bla.
Ich glaube nicht daran, zumindest nicht zu hundert Prozent, und dieser unsägliche Hannes Diehsel da vorne, der starr auf die Straßen blickt und seine Hebel wie ein Schweizer Präzisionsuhrwerk bedient- ja, sowas gibt es noch, sogar im dritten Jahrtausend- macht mich nervös. In Wirklichkeit sitzt dort vorne niemand, sondern der Bus rast vollautomatisch und ohne jede bewusste Kontrolle im Blindflug durch den Fließverkehr.
Den anderen Fahrgästen geht es auch nicht besser als mir, das spüre ich, schweigend und angespannt sitzen sie da, den Blick fest auf Diehsels Hinterkopf gerichtet, als ob sie ihn und seine Aktivitäten damit telepathisch unter Kontrolle bekommen könnten. In Wirklichkeit fühlen sie sich den wilden physikalischen Kräften, die der alte Wessely so meisterhaft zu handhaben wusste, auf einmal hilflos ausgeliefert, und einige beten insgeheim sicher schon, obwohl das in unserer Gesellschaft mehr als nur rückständig ist. Wer braucht einen Gott, wenn er einen Hannes Diehsel haben kann?
Es ist aber auch ein Unterschied, ob so einer in einem gut klimatisierten Büro vor deiner Nase sitzt, in Gärtnermontur deinen Rasen pflegt oder bei über dreihundert Stundenkilometern für dein nacktes Leben verantwortlich ist. Da kann er noch so einen sympathischen deutschen Namen bekommen haben, so wie all die anderen seiner Art, trotzdem hatte der alte Wessely, so unsympathisch er wiederum war, recht, als er an seinem letzten Arbeitstag nur höhnisch lachte, auf den Boden spuckte und sagte: „Diese Wahnsinnigen vom Europaparlament werden schon sehen, was sie sich damit einbrocken, und mein Arsch hat heute das letzte Mal einen Bus von innen gesehen. Lieber gehe ich zu Fuß als dass ich mich von so einem rumkutschieren lasse!“
Dem alten Wessely trau ich das sogar zu, der ist stur genug, und einen eigenen Pkw kann der sich sowieso nicht leisten, das können heutzutage nämlich die wenigsten.
( Soviel nur zum Lebensstandard, der sich laut unserer Herren Politiker längst in schwindelerregenden Höhen befinden sollte ...)
Jedenfalls bleibe ich dabei, ein Wesen das den Tod nicht kennt, sollte kein öffentliches Fahrzeug lenken, von mir aus können sie mir diese Roboter überall anders vor die Nase setzen, dort wo es um nichts Wesentliches geht, sie sollen mir von mir aus die Haare schneiden oder meine Steuererklärung machen.
Aber mein Leben, meine kostbare Existenz, sollen sie nicht in der Hand halten. Diesem serienmäßigen Diehsel haben sie zwar ein Selbst- und Fremderhaltungsprogramm eingepflanzt, doch Angst kennt er nicht und auch nicht den unbedingten Willen, um jeden Preis weiter zu existieren. Die kennt nur ein Mensch, sie ist sein biologisches Erbe aus unzähligen Jahrmillionen der Evolution.
Diesmal sind die Politiker wirklich zu weit gegangen. Aber denen ist es offenbar egal, ob und wann es uns samt ihrem grinsenden Automaten aufklatscht. Schließlich fahren die nicht mit den Öffis.
Bernadette (Aljosha9.Pen)
Texte: Umschlagbild von Britta Ahrens
Tag der Veröffentlichung: 30.08.2009
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