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Der große Schinkenraub




Der Winter war hart, sehr hart.
Als der Weihnachtsmarkt auf dem Kirchplatz noch geöffnet hatte, war es der Gruppe noch äußerst gut gegangen. Plätzchen, Pommes Frites, Pfefferknacker, Bratwürste, Rahmschnitten, Lebkuchen, Backschinkensemmeln, Eierlikörpunsch und Glühwein – ein Schlaraffenland. Immer, wenn der Markt um 20 Uhr schloss und die Budenbesitzer die Läden versperrt hatten, blieb ein reich gedeckter Tisch zurück für Rufulus, den Clanchef und seine Rattenbande. Der Boden war übersät mit Krumen, Bröseln und großen Brocken der leckersten Nahrung, die man sich nur vorstellen konnte, und von den Glühweinresten in den zu Boden gefallenen Pappbechern schleppte so manches Bandenmitglied einen dicken Kater mit in das labyrinthartige Versteck am Kirchenfundament.

Sogar Pinkus war es gut gegangen. Er war ein Außenseiter. Mehr oder weniger geduldet, weil er noch jung war. Aber er war nicht sehr groß, nicht sehr kräftig, nicht sehr mutig. Aber vor allem: er war Vegetarier. Eine Ratte, die kein Fleisch frisst! Ja wo gibt's denn so was? Sogar seine Eltern betrachteten ihn als aus der Art geschlagen.
Woher das kam? Pinkus wusste es selbst nicht. Er mochte nur kein Fleisch. Wenn sich die Clanmitglieder genussvoll schmatzend über Maden, Käfer, Regenwürmer oder Fleischabfälle hermachten, kam ihm das Frühstück hoch. Mehrfach hatte beim Probieren sein Magen rebelliert, und so ließ er es eben bleiben. Zum Glück hatte Rufulus, der Rattus Rex,

irgendwie einen Narren an ihm gefressen, was sich einfach so äußerte, dass er ihn in Ruhe ließ und andere Ratten zurückpfiff, wenn sie anfingen, Pinkus wegen seiner Abartigkeit zu piesacken. Andererseits: Eine Ratte, die kein Fleisch frisst? Prima. Bleibt mehr für die anderen übrig.

Obwohl beim Fressen jeder erst mal auf sich schaute, waren sie doch eine verschworene Gemeinschaft. Sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel, schlugen sich durch und behaupteten ihr Revier um die Kirche auch gegen die anderen Rattenbanden. Obwohl – so richtig scharf waren die wohl nicht darauf, denn nicht umsonst hieß es: "Arm wie eine Kirchenratte." (Oder war es –maus? Egal, was sind schon Mäuse!)
Nur bei den seltenen Kirchenfesten wurden sie von den anderen Banden beneidet, und natürlich, wenn der Christkindlmarkt stattfand.

Doch jetzt war Weihnachten längst vorbei, die Buden waren verschwunden, der letzte Krümel vertilgt, und alles lag unter einer dicken Schneedecke verborgen.
Natürlich hatte Rufulus die Vorratskammer füllen lassen. Mit Körnern, weil die nicht verdarben. Das kam zwar Pinkus entgegen, aber die Portionen waren streng rationiert und gingen trotzdem langsam zur Neige. Der Hunger zwickte und zwackte. Genauer gesagt, er nagte in den Gedärmen wie eine hungrige Ratte. Welch ein Vergleich!

Alle waren geschwächt und dösten vor sich hin, als Pinkus erwachte, weil sich Unruhe in der Höhle breit machte. Einer ihrer Späher, die in regelmäßigen Abständen durch die Gegend streiften und nach Beute und Nahrung Ausschau hielten, war zurückgekehrt, und hatte Erstaunliches zu berichten.
Ein neuer Pfarrer war eingezogen. Einer aus Südtirol.
"Ja und? Was weckst du uns deswegen auf? Wen interessiert das? Geh lieber Futter suchen…"
"Jetzt haltet doch einmal eure verdammten Schnauzen!", brüllte Herakles, der trotz des Hungers noch so aussah, wie er hieß. "Lasst Sisyphos doch mal ausreden!"
Rufulus starrte Herakles erbost an, war es doch nicht dessen Aufgabe, für Ordnung zu sorgen, schrie dann aber nur:
"Jetzt sprich endlich, Sisyphos!"
Der Späher begann zu berichten:
"Ihr kennt doch die Speisekammer des Pfarrhauses. Unser Waterloo."
Rufulus knurrte gereizt und rief: "Weiter!"
"Na ja, damals haben wir versucht, den weißen Tresor des alten Pfarrers zu knacken, wie ihr wisst."
Unwilliges Gemurmel erhob sich.
"Ja, wir hatten viele Opfer zu beklagen. Der weiße Tresor, der unseren Zähnen so heftigen Widerstand entgegen gesetzt hat, dass Remus, Abakus und Paris daran starben. Und dann der komische, graue Wurm, der von der Wand zum Tresor führte. Als Hector und Priamos daran knabberten, wurden sie verkohlt."
"Ja, ja, wir wissen. Unser Waterloo. Friede ihrer Asche."
"Aber jetzt ist alles anders! Jetzt hängt ein riesiger, geräucherter Schinken in der Speisekammer. Einfach so. Nicht im Tresor".
Gemurmel erhob sich wieder. Zum Beweis warf der Späher ein paar rauchig riechende Fetzen in die Gruppe, die sich gierig darauf stürzte.
"Schinken, Freunde, Südtiroler Schinken!"
Wüstes Geschrei brach los, aus den Schnauzen troff Speichel, und die Schwänze peitschten über den Boden.
"Los, auf, nichts wie hin, Schluss mit der ewigen Körnerfresserei, scheiß auf den Hunger!" Alles schrie durcheinander.
Nur Pinkus rollte enttäuscht den Schwanz ein. Schinken. Bääh.

Mit einem gellenden Pfiff brachte Rufulus seine aufgeregte Bande zum Verstummen.

"Es nützt uns wenig", begann er seine Rede, "wenn wir an dem Schinken nagen, bis uns die Bäuche platzen. Wenn das Teil so groß ist, wie Sisyphos berichtet, können wir nur wenig davon essen. Aber das merkt Frau Steinbrück und der Schinken ist weg. Wir sind zwei Tage satt und der Hunger ist wieder da. Und schließlich: Vergesst Kater Karlo nicht

."
Ängstliches Schweigen breitete sich aus. Frau Steinbrück war die Haushälterin der Pfarrei und Karlo ihr Kater. Ach was, Kater. Karlo war ein Teufel! Schwarz wie die Hölle, hinterhältig wie Dschingis Khan und riesig wie King Kong. Einer von der Sorte, die früher den Hexen auf den Schultern saß. Ein Monster. Eine Mordmaschine. Auch ein Grund, warum andere Rattenbanden kein gesteigertes Interesse am Kirchenterrain hatten.
Mit anderen Katzen kam der Clan ganz gut zurecht. Wenn Rufulus sich auf die Hinterbeine stellte und die gefährlichen Nagezähne bleckte, zog jede Mieze den Schwanz ein und trollte sich. Nicht umsonst war er Rattus Rex

.
Rufulus war ein harter Kämpfer, aber auch ein geschickter Verhandler und Taktierer. Ein Abkommen, so war sein Wahlspruch, ist besser als ein Kampf. Und so waren sie mit einigen Nachbarkatzen schon öfters Bündnisse eingegangen und hatten gemeinsam nicht wenige erfolgreiche Raubzüge durchgeführt.
Aber mit Kater Karlo verhandeln? Undenkbar. Eher friert die Hölle zu.
"Also, Leute", sagte er in die Stille hinein, "wir brauchen den ganzen Schinken. Das hilft uns viele Wochen über die Runden. Wir brauchen ihn. Unser Korn ist bald alle."

Und dann erklärte er ihnen seinen Plan.

In der nächsten Nacht ging's los. Lukretia und Sokrates hielten an der Hintertür des Pfarrhauses mit der Katzenklappe Wache, für den Fall, dass Kater Karlo unverhofft von seinen allnächtlichen Streifzügen zurückkehren sollte. Philosophia, Rußwurm, Luzifer, Nitsche und Madonna (Na ja, sie hieß nicht wirklich so, aber jeder nannte sie Madonna) und noch ein paar andere drangen unter Rufulus' Führung in das alte Pfarrhaus ein.
Pinkus hatten sie zuhause gelassen. Er war jung, klein, ängstlich und Vegetarier. Ein Versager. So jemand konnte die Aktion höchstens gefährden. Er sollte stattdessen ihr Versteck bewachen. Haha. Heute Nacht würde wohl kein Angreifer kommen.

Im Hausgang herrschte Totenstille, und so huschten sie an den Fußleisten entlang zur Treppe. Vorsichtig witternd prüfte Rufulus die Lage, dann ging's trippeltrappel die Treppe hinunter.
Das Pfarrhaus war ein Gebäude aus dem 16. Jahrhundert, solide gebaut, aber mit einem Ziegelfundament, an dem der Zahn der Zeit genagt hatte. Und die Zähne der Ratten. Zielsicher hatten sie vor langer Zeit in mühevoller Arbeit einen Riss erweitert, und so einen Gang zum Keller gegraben, in der Hoffnung auf fette Beute. Doch sie hatten nur den weißen Tresor gefunden und einige den Tod. Der Gang wurde von den Spähern in regelmäßigen Abständen benutzt, denn manchmal lag in den Regalen ein Glasgefäß so günstig, dass man es über den Rand wälzen und auf dem Ziegelboden zerschellen lassen konnte, um an den Inhalt zu gelangen, doch diese Glücksfälle waren sehr selten. Aber jetzt ging es um mehr.
Als Jungratte war Rufulus an der Erforschung des Pfarrhauses beteiligt gewesen, eine bittere Expedition, die einigen Clanmitgliedern durch Kater Karlos Krallen und Zähne das Leben gekostet hatte. Aber Rufulus war entkommen, und die Räumlichkeiten hatten sich in sein Gehirn eingebrannt. Am Fuß der Treppe führte eine Tür zu dem Raum, in dem der weiße Tresor stand. Und in dem der Schinken wartete. Diese Tür hatte keine Klinke, sondern einen Knopf, und war deshalb nur mit einem Schlüssel zu öffnen, was die Sache sehr erschwerte. Die Pfarrer hüteten ihre Weinvorräte sorgfältig.
Es war die Aufgabe des Außentrupps, durch den engen Gang im Fundament vorzudringen und zu versuchen, die Tür von innen zu öffnen. Dort war nämlich aus Sicherheitsgründen eine Klinke vorhanden. Dann die Schnur abbeißen, an der der Schinken hing und mit vereinten Kräften die leckere Beute durch den Gang zur unter dem Haus befindlichen Garage schleppen. Hoffentlich war sie nicht abgesperrt. Mit normalen Türen hatte die Rattenbande keine Probleme. Ein Seil über die Klinke werfen, zwei ziehen an, fertig.
Die Garage, so hatte sich Rufulus erinnert, besaß innen einen elektrischen Toröffner. Eine rot-weiße Plastikkette, die von der Decke baumelte.
Rufulus konnte aus dem Stand eineinhalb Meter hoch springen, das hatte ihnen auch damals das Leben gerettet, als sie vor Kater Karlo geflohen waren. Und sein Gewicht würde ausreichen, um den Öffnungsmechanismus in Bewegung zu setzen.

Alle hatten sich leise um die magische Tür versammelt. Rufulus schaute forschend in die Runde und sog prüfend die Luft ein. Ja, da war er, der Geruch, der alle Sinne benebelte. Er kroch unter der Tür heraus und direkt in ihre Schnauzen. Die Schwänze begannen zu peitschen, die Speicheldrüsen zu tropfen. Geräucherter Schinken!

Der wunderbare Duft überdeckte allerdings einen anderen Geruch, einen Geruch, der von einem monströsen Schatten ausging, welcher vorsichtig, lautlos, Pfote für Pfote hinter ihnen die Treppe herunter geschlichen kam…

Hinter der Tür hörte die gespannt wartende Rattenbande ein Schleifen, Zerren, Schlagen – dann gab es einen Klack, und die Tür war auf. Leise kichernd fielen sich die Clanmitglieder in die Arme, klopften sich auf die Schultern und starrten zu dem riesigen Schinken hoch, auf dem schon Hannibal saß und an dem fettigen Seil knabberte.
Ein Fauchen und höhnisches Lachen ließ die ganze Bande herumfahren und erstarren. Kater Karlo! Der Killer! Er war gar nicht außer Haus gewesen wie es sonst seine Art war, sondern hatte heimtückisch ihr Eindringen beobachtet.
Nach der ersten Schrecksekunde gingen alle in Kampfstellung, obwohl sie wussten, dass sie gegen diese Mordmaschine keine Chance hatten. Aus und vorbei. Ade, du schönes Leben. Doch eine Ratte geht niemals kampflos unter, auch wenn es aussichtslos ist.

Kater Karlo ließ sich Zeit. Er genoss die Situation. Der einzige Fluchtweg war der enge, alte Gang durchs Fundament, aber den zu erreichen, und einer nach dem anderen durchzukriechen, konnte nicht klappen. Lediglich Hannibal hätte von seinem Schinkenplatz aus eine Chance gehabt, aber Ratten sind nicht feige. Ratten ziehen kämpfend ins Rattenwalhall ein.

Karlo dehnte und streckte sich, fuhr die Krallen aus und ein, weidete sich am Entsetzen der Rattenbande. Dann spannte er die Muskeln an und wollte angreifen.
Plötzlich ertönte von der Treppe ein schriller Pfiff. Zwar war es dunkel, aber die Ratten konnten deutlich sehen, dass es Pinkus, der Schwächling war, der da herumhüpfte und schrie:
"He, du hässliches schwarzes, schleimiges Ungeheuer, du stinkender Scheißbatzen, schleich zurück in dein verpisstes Körbchen, bevor ich dich in der Luft zerreiße!"
Der Rattenclan starrte sich entsetzt an. War Pinkus verrückt geworden, warum war er nicht im Versteck geblieben? Was war in ihn gefahren? Er würde mit ihnen untergehen! Aber vielleicht war das auch besser so.
Der Kater drehte den Kopf und starrte die kleine, unaufhörlich schimpfende Ratte wütend an.
"Stinkendes Schmusekätzchen, willst du ein Leckerli, komm und hol es dir, du faulendes Madenfutter, geh zu Frauchen, du weicheiiger Fußwärmer!"
Ein tiefes Grollen drang aus Karlos Kehle. Sollte er die Rattenbande angreifen oder erst den kleinen, lebensmüden Scheißer zu Brei machen? Der Rattenclan war wichtiger. Ruckartig drehte er wieder den Kopf zur Speisekammer und fixierte Rufulus. Das war der Anführer. Eindeutig. Ihn würde er zuerst erledigen.
Plötzlich drangen mehrere schmerzhafte Stiche durch sein Fell. Der kleine, graue Mistkerl hatte begonnen, mit einer Zwille Reißzwecken auf ihn abzuschießen. Als ein Geschoss sein Ohrläppchen zerfetzte, war es genug.

Fauchend drehte er sich um und sprang mit einem gewaltigen Satz auf die Treppe zu. Noch im Flug erstarb sein Kampfschrei. Mit einem lauten Knall schlug er auf die Treppe auf und kollerte zum Boden zurück, wo er reglos liegen blieb.

Die Rattenbande hielt den Atem an. Was war geschehen? So scharf wie Katzen können Ratten in der Dunkelheit nicht sehen, aber der alte Kämpfer Rufulus reimte sich schnell alles zusammen.
Pinkus war heimlich mit Abstand der Bande gefolgt und hatte bemerkt, wie Kater Karlo hinter ihr die Treppe hinab schlich. Sie zu warnen wäre zu spät gewesen, und so hatte er panikartig nach einem Ausweg gesucht. Er fand ihn in Gestalt eines losen Brettes in der morschen Deckenverkleidung der Kellertreppe. Aus dem groben Teppich im Hausgang knabberte er eine Schnur heraus und bastelte nach McGuiver-Manier seine Falle.
Er hatte den Angriff des Katers provoziert und vorhergesehen. Beim Ausweichsprung nach oben riss er gleichzeitig mit Hilfe der Schnur das Brett von der Decke, das unglaublich zielsicher auf Karlos Schädel krachte. Volltreffer!


"Mein Katz is dick, mein Katz is fett,
ich brat sie mir als Katzolett"



sang Pinkus und tanzte auf Karlos betäubtem Körper herum, während die anderen schnell den eroberten Schinken auf ihre Schultern luden und nach vorhergesehenem Plan durch die Garage das Weite suchten.

Und der Vegetarier, Versager, Schwächling Pinkus war plötzlich ein Held. Während die Rattenbanditen sich die Bäuche mit Schinken voll schlugen, überließen sie Pinkus gerne die Körner. Und immer wieder ließen sie ihn hochleben.

Ein Mythos war geboren: "Der große Schinkenraub".



Und Karlo? Tja, der Kater machte fortan immer einen großen Bogen, wenn er einen aus der Rattenbande auch nur roch…


© Garlin 211208


Dreimal schwarzer Kater



„Wenn man morgens siebenmal mit dem großen Zeh wackelt, bevor man aufsteht“, fiel es Annabell ein, „dann wird es ein guter Tag.“
Sie lächelte. Das hatte sie gestern in dem Buch gelesen, das sie auf einem Sitz in der U-Bahn gefunden hatte. Leider stand dort nicht, welcher Zeh der Glücksbringer war. Rechts oder links. Sicherheitshalber wackelte sie mit beiden Zehen. Dann schwang sie sich aus dem Bett.
Ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass noch immer Winter und Frühling um die Vorherrschaft rangen. Die Morgensonne kämpfte sich durch eine dünne Wolkendecke. Einige blaue Stellen versuchten zaghaft, ihren Platz zu behaupten, aber es zogen von Osten bereits wieder dicke graue Wolken auf.

„Erstmal einen Kaffee, und dann den Tag planen“, dachte Annabell. 3 Tage unverhoffter Urlaub lagen vor ihr. Ihr Chef hatte sich den Arm gebrochen. Den rechten. Eine sehr unangenehme Angelegenheit für einen rechtshändigen Zahnarzt. Zwei Tage hatte er seine Helferinnen angehalten, in der Praxis zu desinfizieren, sterilisieren, sortieren. Das war jetzt bestimmt die sauberste und aufgeräumteste Praxis des Städtchens. Dann hatte er eingesehen, dass es keine weitere Arbeit gab und alle nach Hause geschickt.

Die Kaffeemaschine zischte und fauchte. Sehr laut. „Oh, die muss ich auch mal wieder entkalken“ bemerkte Annabell. Der Kaffee war fertig, sie schaltete die Maschine aus und goss sich eine große Tasse ein. Es duftete verführerisch.
Allerdings, das Fauchen war immer noch zu hören. Annabell sah sich in der Küche um. War irgendwas kaputt? Verlor der Kühlschrank Kühlflüssigkeit? „Bitte nicht“ flehte Annabell. Ihr Budget war klein, Reparaturen rissen immer ein großes Loch hinein.

Sie machte einen Schritt vorwärts und verfing sich in der Verlängerungsschnur, die über den Küchenboden führte. Den heißen Kaffee jonglierend, versuchte sie, das Gleichgewicht zu halten. Es nützte nichts. Sie stürzte. Fast. Im letzten Moment merkte sie, wie etwas den Sturz bremste. Wie ein Airbag. Alles lief in Zeitlupe und so schaffte sie es, sich auf den Boden zu knien statt zu fallen. Nur wenig vom Kaffee war verschüttet.

Erstaunt schaute sie sich um. Und dann sah sie ihn. Einen großen schwarzen Kater. Er starrte sie an, missbilligend, wie ihr schien. Schüttelte er nicht dabei sogar leicht den Kopf? Dann war er weg. Einfach weg.

Annabell stand auf. „Das Kabel muss ich jetzt wirklich endlich besser verlegen“ schimpfte sie mit sich. „Aber jetzt trinke ich den Kaffee und dann suche ich nach dem Kater. Wie ist der bloß rein gekommen?

Eine Stunde lang durchkämmte sie alle Winkel der Wohnung. Kein Kater da. „Man weiß ja, Katzen sind Ausbruchskünstler.“ beruhigte sie sich selbst. „Der ist irgendwie aus der Wohnung entwischt“.

Bei der Inspektion war ihr aufgefallen, dass sich auf dem Schlafzimmerschrank einiges an Staub angesammelt hatte. Also holte sie einen feuchten Wischlappen aus der Küche. Auch die Leiter hervorzuholen, dazu hatte sie keine Lust. Sie kletterte auf den Stuhl, der noch von der Katersuche neben dem Schrank stand.. Und zuckte zusammen. Wieder war lautes Fauchen zu hören. „Wo steckt das Tier bloß?“ fragte sie sich. „Na, ich schau nachher, jetzt wird erst geputzt.“ Aber bevor sie mit der Arbeit beginnen konnte, merkte sie, wie ein Stuhlbein weg knickte. Ehe sie sich am Schrank festhalten konnte, geriet sie ins Fallen. Sie ruderte mit den Armen. Und dann war es wieder da, das Airbaggefühl. Und wieder verlief alles in Zeitlupe. So schaffte sie es, vom Stuhl abzuspringen und einigermaßen sicher zu landen. Und oben auf dem Schrank saß der Kater. Fixierte sie. Annabell war sicher, er wollte ihr etwas mitteilen. Und sie war sicher, er war sauer. Auf sie. Warum?
Ehe Annabell reagieren konnte, war das Tier wieder verschwunden.

„Der Kerl nervt“, dachte sie. Dann allerdings wurde sie nachdenklich. Zweimal war es jetzt passiert. Erst das Fauchen, dann ein Beinahunfall, der nur wie durch ein Wunder verhindert wurde.
„Unheimlich“, grübelte Annabell. „Ist der Kater ein Unglücksbringer?“ Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende formuliert, als ganz kurz das Katergesicht vor ihr auftauchte. Und jetzt schaute er wirklich böse. Oder mehr beleidigt?

„Ich lese zu viel Horrorgeschichten“, dachte die junge Frau. „Das ist ja wie bei Stephen King hier. Stammt der Kater vom Friedhof der Kuscheltiere?“ Annabell bekam eine Gänsehaut. Sie wollte jetzt ganz schnell raus aus der Wohnung. Also ging sie ins Badezimmer, um sich zu kämmen. Das Stück Seife auf dem Boden sah sie nicht. Und wieder das Fauchen! „Schluss“, rief Annabell. „Ich will das nicht mehr!“. Energisch trat sie einen Schritt vor. Und rutschte auf dem Seifenstück aus. Wären nicht der unsichtbare Airbag wieder aufgetaucht und die Zeitlupe, der Sturz wäre böse geendet.

Zitternd saß Annabell auf den Badfliesen. Das war alles zu viel. Sie wagte gar nicht, auf zuschauen. Da war sicher wieder irgendwo der Kater. Aber sie wollte ihn nicht sehen.

„Jetzt brauche ich Schokolade, die beruhigt,“ dachte sie. Vorsichtig ging sie in die Küche.
Da lag etwas auf dem Küchentisch. Sie ging näher. Es war das seltsame Buch aus der U-Bahn. Das hatte sie doch gar nicht mitgenommen! Annabell hatte zwar Angst, aber die Neugier siegte. Sie schaute genauer hin. Das Buch war aufgeschlagen. Der Abdruck einer feuchten Katzenpfote war auf einer der Seiten zu sehen. Annabell las den Text dort:
Die häufigsten Fehler beim Umgang mit magischen Regeln

 

 

“ lautete die Überschrift:
Und unter Punkt eins stand:
Bitte beachten Sie, nur das Wackeln einer Zehe siebenmal vor dem Aufstehen bringt Glück. Hüten Sie sich, mit beiden Zehen zu wackeln. Wenn nicht gerade ein magischer schwarzer Kater in Ihrer Nähe ist und Sie warnt, sie beschützt, dann kann das böse ausgehen.



Annabell ließ sich auf den Küchenstuhl nieder. „Das glaub ich nicht“, flüsterte sie. Aber dann musste sie zugeben, dass die Tatsachen für diese Beschreibung sprachen. „Und ich habe den Kater verdächtigt, mir zu schaden“, dachte sie. „Dabei hat er mich mit seinem Fauchen nur warnen wollen und mich dann gerettet, wenn das Unglück passierte.
„Es tut mir Leid“, rief sie in den Raum. „Ich werde Dein Fauchen ab sofort befolgen. Und ich stelle Dir auch ein Schälchen Milch hin. Das hast Du Dir verdient.“ Ihr war, als vernähme sie ein leises Schnurren.
Annabell ging zum Kühlschrank und schüttete Milch in eine Untertasse. Auch ein Stückchen Käse entnahm sie und legte es neben den Teller auf den Küchenboden. Dann setzte sie sich an den Tisch. Kein Kater zu sehen. Allerdings, Milch und Käse waren bald verschwunden. Es wunderte sie nicht.

Im Laufe des Tages war kein Fauchen mehr zu hören. Es geschah auch kein Unglück mehr. Annabell war froh, als sie endlich ins Bett gehen konnte. „Diesen Tag werde ich so schnell nicht vergessen“, dachte sie noch kurz vorm Einschlafen.

Um Mitternacht kroch ein schwarzer Kater unter ihrem Bett hervor. Er glitt durch die Schlafzimmerwand und verschwand in die Nacht.

Im Wald in einer kleinen Höhle, tauchte er wieder auf. Andere schwarze Kater waren dort. Sie begrüßten den Neuankömmling. „Na, Maurizio, wie war der Tag bei Dir?“ fragten sie. „Wenig Arbeit, nur 3 Unfälle“ antwortete der Angesprochene. „Und eine Schale Milch und Käse. War eigentlich eine nette junge Frau. Trotzdem“, er rümpfte seine Nase und die Schnurrhaare zitterten, „ich wünschte mir, die Autorin hätte nie ein magisches Buch erfunden, in dem beidseitiges Zehenwacklen zu Unglück führt und nur magische schwarze Kater es abwenden können. Dann hätten wir jetzt nicht diesen Scheißjob am Hals und könnten einfach glückliche schwarze Kater sein.“

Regina Krause



Der Käfer


(Fabel)

Für einen kleinen Käfer ist der schmale Radweg ein Highway, ihn zu überqueren ist lebensgefährlich, aber er weiß es ja nicht. So krabbelt er munter drauf los. Er hat ein Ziel und den eisernen Willen, es zu erreichen. Käfer sind halsstarrig und sie vertrauen ihrem kleinen Panzer. Außerdem haben sie viele flinke Beine. Was kann schon passieren? Ein Käfer denkt nicht lange nach. Er krabbelt vorwärts. Käfer hören auch wenig. Sie sind damit beschäftigt, zu krabbeln. Das ist es, was sie können.
Plötzlich bemerkt er ein Vibrieren. Er glaubt, es wäre ein Erdbeben und in der Tat, um ihn herum springen kleine Steine und es ist, als würden sie tanzen. Sie reißen den kleinen Käfer mit. Oh, ja, er möchte auch einmal tanzen, nicht nur krabbeln. So richtet er sich auf, blickt nach oben, schaut immer noch höher und plumps, liegt er auf seinem dicken Rückenpanzer. In dieser Lage fühlt sich ein Käfer niemals wohl. Nicht nur, dass er sich nicht aus der misslichen Lage aus eigener Kraft befreien kann, nein um ihn herum hocken Riesen, die ihn mit langen Furcht erregenden Stöckchen zu bewegen versuchen. Der kleine Käfer möchte schreien, aber Käfer schreien nicht, sie können nur mit den Beinchen zappeln. Schließlich nimmt einer der Riesen ihn in seine Riesenhand und hält ihn vor sein Riesenauge. Der Käfer stellt sich tot. Hat er jetzt in das Auge des Käfergottes geblickt? „Ein schönes Exemplar“, sagt dann ein noch größerer Gott anerkennend und nimmt dem kleineren Käfergott das Tierchen aus den Fingern. Der Käfer ist stolz darauf, ein schönes Exemplar zu sein. Und zappelt mutig ein wenig mit seinen Beinchen.
„Wir werden ihn in einem Glaskasten mit den anderen ausstellen, “ sagt der große Gott. Dann steckt er das schöne Exemplar in ein Kistchen, welches in seinem Rucksack verschwindet. Dem Käferlein ist im Dunkeln gar nicht mehr so wohl und er bekommt auch allmählich keine Luft mehr. Er denkt noch: „ Ich bin ein schönes Exemplar“, dann schwinden ihm die Sinne. Einmal tanzen, einmal den Göttern ins Antlitz zu blicken, kann fatale Folgen haben. Aber er ist wenigstens ein schönes Exemplar in der Glasvitrine



Helga Siebecke


Flickflauder

< Es war schon ein beschwerlicher und vor allem ein sehr gefährlicher Weg, den Johann jeden Tag unter seine vielen – Füße - nehmen musste. Johann wollen wir ihn nennen, denn einen Namen hatte er keinen, der arme. Nun, den beschwerlichen, gefährlichen Weg musste er täglich antreten, wenn später einmal aus ihm etwas werden soll. Etwas ganz besonderes, ja sogar etwas grossartiges sollte einmal aus ihm werden. Und um eben dies zu erreichen, musste er diesen beschwerlichen, gefährlichen Weg auf sich nehmen.

Da haben es die vielen Blumen, die jetzt im Frühling ihr schönstes Kleid angezogen haben und mit diesem im bunten Reigen in allen nur möglichen und allerschönsten Farben um die Wette und die Gunst der Hummeln und Bienen tanzten und buhlten. Denn der Tau verwandelte sich im Kelch ihrer Blüten zu süßestem Trunke, und eben mit diesem locken sie an jedem schönen Morgen. War es einmal ein nicht so schöner Tag wie heute, es regnet oder, was noch viel schlimmer war, dass es kalt wurde oder gar Schnee fiel, ja, da wurden sie sehr traurig und liessen ihre Köpfe hängen.

Johann war auch an diesem milden Frühlingsmorgen unterwegs zu einem schönen, neuen und großen Brennnnesslstrauch, denn Brennnesseln war seine Lieblingsnahrung und er musste jeden Tag sehr viel davon fressen, wenn er einmal gross und schön werden wollte und das wollte er ja auch. Aber bis dahin war es noch ein langer, beschwerlicher Weg. >

...So erzählte mir mein Grossvater die Geschichte vom Flickflauder, als wir an einem ebensolchen Morgen auf einem Spaziergang unterwegs waren. Wir wollten eigentlich Holunderblüten sammeln, die dann zu Hause von den Frauen zu feinem Sirup verarbeitet wurde. Er zeigte mir die vielen schwarzen Raupen, die sich an den Brennnesseln erfreuten...

< Also, Johann war an diesem Morgen bereits kurz nach Tagesanbruch unterwegs zu seinem Brennnesselstrauch Nummer Zwei, denn Nummer Eins hatten er und seine Freunde fast komplett aufgefressen und es war nicht mehr genug für alle vorhanden. Da er nun der älteste und stärkste von allen war, beschloss er, den Brennnesselstrauch zu wechseln. Er war nicht alleine, sondern zog zusammen mit seiner Freundin, der Elfrieda des Weges.

Nach einer recht kühlen Nacht waren an diesem schönen Frühsommermorgen die Wiesen, das heisst deren Grashalme und Blumen mit Tautropfen übersäht. Diese funkelten und glitzerten in den ersten Sonnenstrahlen, die von Osten her in die Wiese am Waldrand schienen, wie tausend kleine Sterne. Dunst und Nebel fetzen stiegen aus dem freuten Gras und verwoben sich sachte mir der Landschaft. Friedolin, die grosse Weinbergschnecke war auch schon unterwegs. In der saftigen Wiese weideten Kühe und Rinder. Die Rinder freuten sich des schönen Tages, der ihnen da bevor stand und sprangen freudig in der Wiese umher. Zwischen den Holzlatten vom Zaun am Wegesrand hatte eine riesige Spinne ein noch riesigeres Netz gespannt. Dieses leuchtete und glitzerte ebenfalls in der Sonne mit Hunderten von Tautröpfchen. Als die Spinne die beiden sah, die da unter ihr und ihrem Netz hindurch wanderten, rief sie, "hallo ihr beiden, so früh schon unterwegs?“, "Ja, wir sind auf Nahrungssuche", gab Johann zurück, "darf ich vorstellen, meine Freundin Frieda und ich bin der Hannes, wir sind Unterwegs zum Brennnesselstrauch Nummer Zwei, und der soll nicht weit sein von hier". "Angenehm, ich bin Rosalina, aber all, die mich kennen, nennen mich Rosi. Ja gleich da drüben am Waldrand. „Ja, Ja" seufzt Rosi, "das mit der Nahrungsbeschaffung ist Heutzutage nicht mehr so einfach wie früher. Jetzt bin ich schon ganze zwei Tage und Nächte hier und keiner ist mir ins Netz gegangen."

Es war ein wirklich schöner Morgen. Hummeln, Bienen und Käfer summten und brummten durch die Lüfte. Aber auch die Vögel waren aufgeregt über den schönen Tag, der sich da ankündigte. Sie sangen um die Wette und die Männchen versuchen so die Gunst der Weibchen zu erhaschen. Dieses Treiben versuchten nun unsere beiden Freunde, die Elfrieda und Johannes zu nutzen, denn die Vögel hatten sie zum fressen gern und dieses Risiko wollten und durften sie nicht eingehen.

Und dann kamen sie endlich am Brennnesselstrauch Nummer Zwei an. Nur, sie waren nicht die einzigen, die diese Idee hatten, und so mussten sie diesen Strauch mit vielen anderen teilen. Das machte ihnen aber überhaupt nichts aus, denn die beiden waren gesellige Wesen.

Unsere beiden gefräßigen Freunde haben während ihrer kurzen Lebenszeit ihr Kleid schon mehrmals gewechselt, denn durch den stetigen Hunger sind sie gewachsen und haben auch an Umfang zugelegt und sind nun voll ausgewachsen. Ihr Kleid war schwarz und mit weißen Punkten übersäht.

"So, nun wird es langsam Zeit, dass wir uns ein schönes Plätzchen suchen" meinte Johannes. “So können wir unser Kleid ein letztes Mal wechseln, um dann in ein wunderschönes Ballkleid zu schlüpfen". Gesagt, getan. Beide suchen sich nah bei einander ein geeignetes und geschütztes Plätzchen im Brennnesselstrauch und begannen nun langsam in ein neues Kleid zu schlüpfen. Nachdem in der Nackengegend die Haut aufgeplatzt war, beginnt eine Metamorphose, die seines gleichen sucht. Durch rhythmische Bewegungen streifen die beiden nun ihre sich lösende Haut vom Körper und erschienen nun in einer neuen Form als starre Puppe. In dessen Schutz ihre Verwandlung nun weiter ging.

Nach ein bis zwei Wochen Ruhepause, in der sich unsere Freunde unsichtbar weiterentwickelt haben, geschieht nun etwas wirklich Unvorstellbares. Fast gleichzeitig beginnen sie ihre dünne Puppenhülle zu verlassen, nach dem diese durch wenden und drehen aufgeplatzt war. Nun drängt sich ein verklebtes Etwas, eher unscheinbares durch rhythmische Bewegungen aus dieser Hülle, das so gar nicht nach unseren beiden Freunden Johannes oder Elfrieda aussah. Kaum der engen Hülle entronnen, wurde in der Umgebung ein günstiger Platz eingenommen um da ihre Metamorphose zu beenden. Zwei einzigartige Wesen sind entstanden.

Nun mussten nur noch die kleinen, weichen Flügelläppchen zur Entfaltung gebracht werden. Ein Zittern ging durch die filigranen Leiber, Blut wurde in die Flügeladern gepresst und die Flügelläppchen entfalteten sich und unsere Freunde hatten sich so in kurzer Zeit zu wunderschönen Schmetterlingen entwickelt. Die Oberseite braunrot, auf jedem Flügel ein auffälliger, blauer Augenfleck mit dunkler Pupille, und dies auf beiden Flügelpaaren. Tagpfauenaugen ! Welch ein Anblick ! Nunmehr wurde die Blutflüssigkeit zurückgenommen, die Adern füllten sich mit Luft, die Flügelmembran versteifte sich und unsere Freunde, die auf diese Weise ihre Wiedergeburt erlebt hatten, waren nun für den ersten Flug ihres Lebens bereit.

Hei, kam da eine Freude auf, als sie sich zum ersten Mal gegenseitig betrachteten! "Endlich vorbei mit der ewigen Kriecherei", meinte Johann zu Elfrieda. "Frei, wir sind frei, komm wir schauen uns ein wenig um". Ohne zu zögern fanden sich die beiden frisch geschlüpften Schmetterlinge in ihrer neuen Welt zurecht. Ein geheimnisvolles Wissen übernahm sie nun ihre Führung. Sie erspürten mit ihren langen Fühlern die Luft, flogen Blüten an, saugten mit ihren Rüsseln Nektar aus deren Kelchen und bestäubten so die Blüten.

Gemeinsam flogen Elfrieda und Johannes tanzend und spielend durch die Lüfte, durch Wald und Flur und freuten sich ihres Lebens. >

...Während Grossvater so erzählte, war ich ganz in die Geschichte hineingewachsen, denn der Duft der feuchten Wiesen und Wälder, das Vogelgezwitscher, die schwarzen Raupen, das alles liess nun keinen Unterschied mehr zu zwischen Geschichte und Wirklichkeit. Zwischenzeitlich haben wir eine Stelle mit mächtigen Holundersträuchern erreicht, die prallvoll mit Blüten waren. Mann musste sie nur noch pflücken...

< Und denk ein wenig an die beiden, wenn du einmal an einem schönen Frühsommermorgen zwei tanzende und spielende Sommervögel siehst. Freu dich über ihr fröhliches, ausgelassenes Spiel und erinnere dich an diese Geschichte vom Flickflauder, denn so nennt man bei uns im Appenzellerland ja die Schmetterlinge >.

Später einmal, nach dieser Holunderblütenernte, hatten wir dann im August diesen Platz nochmals aufgesucht, um auch noch die restlichen vielen Dolden am Strauch, die nun mit unzähligen kleinen, schwarzen Beeren behangen waren, zu ernten. So gab es dann zu Hause noch etliche Gläser Konfitüre, nebst dem Sirup vom Frühjahr. Und es reichte am Abend dann auch noch für eine – Holderzonne -, einem leicht eingekochten und gezuckerten Holundermus, das noch warm aufgetischt wurde. Dazu gab es Schlagrahm und Lindenblüten - Tee. Ein Festschmaus. Während der Beerenlese flatterten ab und zu zwei Tagpfauenaugen lustig spielend um uns herum. < Hast du gesehen >, sagte Grossvater, < Johann und Elfrieda ! >

© Hans-Peter Zürcher


Stello Negro

Vor einer Weile saß ich im Garten unter meinen Rosenbüschen. Es war warm und ein flippiger Wind streifte durch das Gras und über die Haut. Ich war müde und ganz leise, lauschte den nachmittäglichen Geräuschen um mich herum. Zwischendurch fielen mir die Augen zu. Als ich sie wieder öffnete war ganz nah neben mir ein Amselmännchen - Stello Negro, nannte ich ihn -- es wippte flink hin und her und sammelte Nistmaterial. Nach und nach füllte sich der goldgelbe Schnabel mit kurzen Halmen, Gras und kleinen Blattstücken. Der Kopf ging aufgeregt hin und her. Das Vögelchen war so nah, dass ich jede Schattierung der Federn im schiefergrauen Gefieder erkennen konnte, auch den orange-gelben Innenring um die dunklen Perlaugen.
Als ich mich kurz ruckartig streckte, flog er aufgescheucht davon.
Eine Weile später hörte ich den Vogel im Vorgarten singen und zwitschern. Er sang ein fröhliches Lied und fast meinte ich, es zu verstehen:
er erzählte von der Sonne, dem Wind und dem Nest, in dem bald schon Eier liegen werden – die Hoffnung auf neues Leben.

"Stello Negro", fragte ich, "bist du es, der zwischen Winter und Frühling so wunderschön singt am Morgen? Bist du es, der auf dem Hausgiebel sitzt und den Frühling verspricht, wenn ich den Winter nicht mehr mag?"

Leider konnte ich seine Antwort nicht mehr verstehen, denn drinnen klingelte das Telefon. Und jetzt ist Gewitter und keine Amsel mehr zu hören. Aber es duftet nach nassem Gras, Rosenblüten und Kräutern.

@findevogel


Hacky, die Krähe

Eine wahre Tiergeschichte

Diese Geschichte ist vor einigen Jahren geschehen.
Meine Kinder und ich haben sie persönlich erlebt.
Es war ein nasskalter Tag Ende Januar. Die Kinder spielten mit dem Nachbarjungen im Garten. Da es nachts geschneit hatte, waren sie morgens nicht zu halten und verschwanden sofort nach dem Frühstück ins Freie. Ich freute mich und glaubte nun in Ruhe meine hausfraulichen Pflichten erledigen zu können.
Doch weit gefehlt, sie waren kaum zehn Minuten draußen, da fingen sie an zu rufen:“Mama, komm mal schnell! Mama! Mama hörst du nicht?“ Ein dreistimmiger Chor unterbrach meine Aufräumversuche. Aha, der Nachbarsohn rief also auch. Na, anscheinend war wirklich was passiert.
Ich öffnete das Fenster und sah in den Garten, die Nachbarin hatte wohl im gleichen Augenblick dasselbe getan. „Was ist los?“ schall es zweistimmig raus.
„Mama, komm mal raus! Da ist ein Vogel hinten im Garten!“ klärte mich meine Große auf.
„Na und? Wir haben doch öfters Vögel im Garten!“ Ich konnte das Problem nicht erkennen.
„Ja, aber der hockt da und fliegt nicht weg, wenn wir drauf zu gehen.“
„Hm, ja, wartet, ich ziehe schnell Schuhe an!“
Meine Nachbarin kam ebenfalls hinaus, und gemeinsam gingen wir mit den Kindern nach hinten in den Garten.
Die Kinder hatten Recht, dort hockte eine Krähe, quetschte sich an die Gartenmauer und sah uns mit weitgeöffneten Augen an.
Wir blickten uns ratlos an.
„Was hat sie wohl?“ fragte Sandra.
„Ihr ist bestimmt schlecht!“ meinte unser Kleiner.
„Ja, das sieht ganz so aus, aber weshalb?“ Wir Frauen wussten uns zunächst keinen Rat.
„Du musst ihr helfen, Mama. Bring sie zum Tierarzt!“ Unser Sohn Ben kannte den Tierarzt schon, da er unsere Katzen schon mal begleitet hatte, als sie geimpft wurden.
„Schatz, das ist ein wildes Tier, auch wenn es ein Vogel ist!“
„Mama, wir können ihn nicht hier liegen lassen, bitte, bitte, mach was!“
Drei Paar Kinderaugen sahen mich bettelnd an.
„Traust du dich ihn anzufassen?“ fragte mich die Nachbarin.
„Ich weiß nicht, er hat einen ganz schön großen Schnabel!“ Ich zweifelte, ob er sich so ohne weiteres anfassen ließ.
„Wenn du ihn nimmst, renn ich schnell rein und ruf den Tierarzt an“, schlug Nachbarin Babs vor.
„Na gut, ich probier es, “ antwortete ich und bückte mich ganz langsam zu dem Vogel runter. Babs ging langsam zurück, und als sie weit genug entfernt war, sauste sie ins Haus.
Ganz behutsam streckte ich die Hände aus und näherte sie dem Tier. Es muckte sich nicht, beobachtete mich jedoch die ganze Zeit.
Langsam kamen die Handflächen näher an ihn heran. Da, schon berührte ich das schwarze Gefieder. Die Krähe zuckte nicht mal zusammen. Ich umschloss sie locker mit beiden Händen, und das Unglaubliche geschah, der Vogel ließ sich von mir hochheben.
Ich weiß nicht, wer von uns mehr Angst hatte, der Vogel vor mir, oder ich vor dem Vogel! Er hatte einen unglaublich starken, langen Schnabel. Noch niemals hatte ich solch ein Tier so nah gesehen. Ein Ruck von ihm nach vorne und er könnte mir ohne Probleme ein Auge aushacken!
Die Kinder merkten nichts von meiner Angst, sie waren begeistert, dass der arme Vogel nun verpflegt werden sollte.
„Oh, ist der schön! Guck mal Mama! Und so ein toller Schnabel! Wie heißt der denn?“ Sie plapperten wild durcheinander.
„Seid mal leiser, und macht keine schnellen Bewegungen! Er ist doch scheu!“
Erstaunlicherweise wurden sie etwas ruhiger. „Er muss doch einen Namen haben, Mama!“
„Ja, aber den kennen wir doch nicht.“ Nun musste ich doch schmunzeln.
„Seht mal, das Auffälligste an ihm ist sein Schnabel! Damit kann er bestimmt gut hacken!“
„Ja, er heißt Hacky!“ Das war der Nachbarjunge Chris.
„Gut, nennen wir ihn Hacky, das passt!“ Alle waren mit dem Namen einverstanden.
Da kam Babs vom Telefonieren zurück. „Der Tierarzt sagt, wenn der Vogel keine äußerlichen Verletzungen hat, wäre es besser, wenn wir ihn hier behalten könnten. Dann kann er, wenn er wieder fit ist, besser zu seinem Schwarm zurück finden!“
„Na, super! Wie sollen wir das machen?“ Wir hatten keine Ahnung!
„Er sagte, Krähen würden Katzenfutter fressen!“ Babs lachte, denn sie kannte natürlich unsere Katzen und wusste, dass wir immer Katzenfutter im Hause hatten.
„Ins Haus kann ich ihn aber nicht holen!“ Das war mir dann doch zu gefährlich, für ihn und auch für meine Katzen.
„Nein, sollst du auch nicht, der Arzt meinte, besser solle er im Garten bleiben!“
Die Kinder waren enttäuscht, denn sie hatten sich natürlich auf einen neuen Spielkameraden gefreut.
„Was soll ich nun mit ihm machen?- Ich sehe ihn mal vorsichtig an!“ schlug ich vor und begann sachte seine Flügel und seinen Laib zu untersuchen. Gespannt sahen alle zu. Hacky verhielt sich total ruhig, als ob er merkte, dass wir ihm nur helfen wollten. Er ließ mich seine Flügel auseinander ziehen und sich von allen Seiten betrachten.
„Er scheint jedenfalls keine Verletzung zu haben! Was nun?“
„Ich hole dir einen Karton, den werde ich etwas auspolstern, und Schälchen für Futter und Wasser!“, entschied Babs.
Sie sauste los und wir warteten, die Krähe blieb in meinen Händen. Anscheinend tat ihr die Wärme gut.
Nach ein paar Minuten kam Babs mit einem nicht zu hohen Karton zurück. Wir brachten ihn unter die Terrassenüberdachung und stellten ihn auf den Gartentisch.
„So, Hacky, das ist jetzt dein Haus!“ Mit diesen Worten setzte ich ihn in seine Kiste.
Er hockte sich sofort dort hinein, was uns alle freute.
„Aber Mama, wenn er hier bleibt, was ist dann mit Whiskey und Winni?“ Unsere Tochter Sandra machte sich Sorgen.
„Schatz, es liegt Schnee! Du weißt doch, solange Schnee liegt, gehen unsere Katzen freiwillig nicht nach draußen!“
Da war sie auch beruhigt.
Babs stellte zwei kleine Schälchen in das Vogelheim. Beide waren schon gefüllt. Doch das war zu viel für den Vogel, er flatterte einmal und beide Schälchen fielen um.
„Wir müssen die Schälchen auf den Tisch stellen, sonst sitzt er nur im Nassen!“
Wir packten sie schnell raus.
„Er frisst aber nicht, Mama!“
„Hm, ja. Ich probier mal, ihn zu füttern!“ Ich nahm etwas Katzenfutter zwischen die Finger und hielt ihm das vor den Schnabel, und siehe da, er öffnete ihn und nahm das Futter von mir an. Es war ein unglaubliches Erlebnis. Ein Tier, das draußen lebte, das keinen Bezug zu uns Menschen hatte, nahm Futter aus meiner Hand! Wir waren alle überwältigt.
Doch nun hieß es alle 1-2 Stunden raus und Füttern, das war ja fast wie ein Baby!
Von Fütterung zu Fütterung merkte man, wie Hacky wieder kräftiger wurde. Gegen Abend musste ich schon auf meine Finger aufpassen, denn der Schnabel kam schon immer schnell auf sie zugeschossen.
Langsam wurde es dunkel und die Kinder machten sich Sorgen, wie es Hacky wohl nachts ergehen würde.
„Da wird er sicher schlafen! Ihr braucht keine Angst zu haben!“ Eigentlich wusste ich auch nicht, wie er die Nacht überstehen würde, doch davon sollten sie nichts merken, sonst würden sie nicht schlafen.
Am nächsten Morgen ging ich sofort ans Fenster und sah hinaus. Hacky war nicht zu sehen. Als es hell wurde ging ich mit frischem Futter und zwei aufgeregten Kindern raus. Vorsichtig sahen wir in seine Kiste, und da hockte er zufrieden in seinem warmen Nest und wartete.
Bei jedem Füttern wurde es besser. Mittags hüpfte er zum ersten Mal aus seiner Kiste und sprang auf dem Tisch herum, doch abends verschwand er wieder in seinem Nest.
Der darauffolgende Tag begann mit einem Schreck, kein Hacky zu sehen! War er wieder fort geflogen? Er hatte es doch noch gar nicht wieder ausprobiert! Wir machten uns schon Sorgen, als ein lautes “Krah!“ ertönte. Da war er ja, er war schon auf den kleinen Birnenbaum geflogen, der neben der Terrasse stand. Wir freuten uns alle sehr, auch Babs und Chris waren wieder gekommen, um nach ihm zu sehen.
Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Hacky dehnte seine Aktivitäten immer weiter aus. Nach drei Tagen war er so weit, dass er bis hinten in den Garten flog und nur zum Füttern zurück kam. Bald würde er uns wohl verlassen. Wir bereiteten die Kinder auf den Abschied vor.
Und richtig, am vierten Tag flog er fort. Er kam in diesem Winter ab und zu bei uns vorbei, wie um sich zu bedanken, doch im Sommer war er wieder ein richtig wilder, freier Vogel.
Unsere Kinder und wir freuen uns noch heute über dieses außergewöhnliche Erlebnis mit einem freilebenden Tier.


(c) GaSchu

Impressum

Texte: Die Rechte an den Texten und Bildern liegen allein bei den genannten Autoren. Dreamingcat, Findevogel, Gaschu, Garlin, Helga Siebecke, Hans-Peter Zürcher, Das Cover entsprang der Feder von Katja Kortin.
Tag der Veröffentlichung: 05.03.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Anthologien der Autorengemeinschaft "Zeitlos" sind der Freude an gemeinsamer kreativer Gestaltung und Teamarbeit gewidmet.

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