Sinnsuche
von Conrad Cortin
"Warum haben Sie eigentlich Ihre Managerkarriere an den Nagel gehängt?"
"Mein Bruder und ich leiteten ein erfolgreiches Unternehmen. Ich trauere dem nicht nach. Damals, vor zwei Jahren, hat sich mein Leben schlagartig geändert. Ich weiß es noch wie heute."
"Sie haben nie darüber gesprochen. Was ist passiert?"
"Ich hatte eine Geschäftsreise nach England vor, da geschah etwas, das nicht in mein bisheriges Leben passte. Ich hatte mir nie Gedanken über den Sinn des Lebens gemacht. Ich hatte ganz andere Aufgaben zu bewältigen, mich beschäftigte Logistik, Organisation, Optimierung, also der Kampf gegen das alltägliche Chaos. Plötzlich kippten die Diagramme und Ablaufpläne in meinem Kopf um, vor mir sah ich das Schicksal der Welt bis zum fernen Horizont und der Menschen, die dort lebten, wie auf einer riesige Platine verdrahtet, von der ich den Sinn jeder Lötstelle kannte."
"Deshalb sind Sie also aus dem Wirtschaftsleben ausgestiegen?"
"Ja und nein. Eine einzige Freiheit verbleiIt dem Menschen. Ich höre mich jetzt noch zu meinem Bruder sagen, dass ich zu 99,9 Prozent den Tag nicht überleben werde. Ich gab ihm das Flugticket und bat ihn an meiner Stelle nach England zu fliegen."
"Wie hat Ihr Bruder darauf reagiert?"
"Natürlich trat er diese Reise nicht an. Er telefonierte mit den Geschäftspartnern in England und erklärte ihnen, dass er wegen eines Trauerfalls absagen müsse. Er kümmerte sich stattdessen um die anstehenden Trauerfeierlichkeiten und verschickte Trauerkarten mit folgendem Text: 'Leider muss ich Euch mitteilen, dass mein Bruder diesen Tag nur zu 0,1 Prozent überleben wird.'
Ich selber habe meinen Schreibtisch aufgeräumt."
"Offensichtlich sind Sie bei bester Gesundheit. Fühlten Sie sich damals krank, hatten Sie eine gesundheitliche Attacke?"
"Als ich endlich Ordnung geschaffen und einen Organisationsplan für meinen Nachfolger verfasst hatte, konnte ich mich nicht mehr an meine Erkenntnis über den Sinn des Lebens erinnern. Gegen Mitternacht setzte aber trotzdem der Todeskampf ein. Mein Herz schlug dröhnend, sprengte mir fast die Brust und schlug immer wilder, wie Trommelwirbel zu einer mittelalterlichen Hinrichtung."
"Hat man einen Arzt geholt?"
"Nein! Ich lag allein im Zimmer auf dem Bett und sah nicht ein, warum ich sterben sollte, da ich doch den Sinn des Lebens und damit auch den des Sterbens vergessen hatte. Ich hatte beschlossen, mich gegen den Tod zu wehren, atmete ruhig und tief, bis mein Herz wieder normal schlug."
"Wie hat sich Ihr Bruder am nächsten Morgen verhalten?"
"Für ihn und alle die mich kannten, galt ich als wortbrüching und war von dem Tag an für sie gestorben. Ich zog mich hier in diese einsame Bucht zurück, in der ich in Ruhe über das nachdenken kann, was mir für einen kurzen Moment so klar vor Augen stand: der Sinn des Lebens."
"Und ist er Ihnen wieder eingefallen?"
"Ich ahne ihn. Mein Leben hat jetzt seinen Sinn!"
"Und welchen?"
"Nach dem Sinn zu suchen."
Menschen heiraten
von Helga Siebecke
Heiraten ist altmodisch. Nur Spießer heiraten, allenfalls noch diejenigen, die sich finanzielle Vorteile versprechen. Die heiraten wegen der Steuerersparnis. Aber wir lieben uns. Wir brauchen keinen amtlichen Stempel, um das glaubhaft zu dokumentieren. Zusammen eine Wohnung zu teilen, sollte genügen. Früher sagten die biederen Bürger dazu „wilde Ehe“. Sie leben in Sünde, lautete das strenge, antiquierte Urteil der Frommen. Doch wir sind nicht fromm und wir kämen auch ohne Steuerersparnis klar. Was die Leute sagen könnten, ist uns egal. Wir halten uns für Mann und Frau, ehegleich und wir sind uns treu. Wir verstehen uns. Das ist wichtig, finden wir. Viele standesamtlich und kirchlich getraute Ehepaare sind nicht annähernd so glücklich wie wir. Ihre Schwüre vor Gottes Gnaden und vor der staatlichen Gesetzesmacht sind oft und schnell keinen Pfifferling mehr wert. Ihr „Ja“ verwandelte sich in ein himmelschreiendes „Nein“. Sie trennen sich teuer, schmerzhaft, aufwendig, bereuen ihr eheliches Leben zutiefst. Vergeudete Jahre. Wir wissen das alles noch zu gut.
Wir leben einfach zusammen, sind zusammengezogen, sorgen uns umeinander. Wir sind nicht verheiratet. Du heißt so und ich heiße so. Nur das trennt uns.
Nun wollen wir auch und wieder heiraten. Warum wollen wir das?
Wir sind keine kleinbürgerlichen Spießer. Um Gottes Willen, nein wer will das schon sein. Wir ganz bestimmt nicht. Auch wenn wir inzwischen Geranien pflanzen. Die Familie, Freunde oder irgendwelche Leute drängen uns nicht, es zu tun. Wir können keine Kinder mehr bekommen. Also warum heiraten wir?
Der gemeinsame Name, die geringere Lohnsteuer, die Altersabsicherung, ist es das alles in seiner Gesamtheit? Heiraten nur der uns zustehenden gesetzlichen Vorteile wegen?
Als Realisten und Mitglieder unserer ehrenwerten Gesellschaft, müssen wir sicher eingestehen, dass die Ehe gleichermaßen Vorteile wie Gefahren mit sich bringt. Wir neigen dazu, die Vorteile mitnehmen zu wollen. Sie stehen uns zu. Die Gefahren sind uns wohlbekannt. Zunächst erkennen wir keine, dennoch schließen wir wenigstens einen Ehevertrag ab. Man weiß ja nie!
Warum heiraten wir nun wirklich und freuen uns sogar darauf?
Jeder Mensch hat, ob es ihm bewusst ist oder nicht, eine Lebensphilosophie, einen roten Faden gewissermaßen, nach dem er läuft und tickt. Sicher, man kann abweichen, ausbrechen. Der Faden reißt. Anfangs merken wir es nicht einmal, doch eines Tages fühlen wir uns orientierungslos, schwimmen herum und vermissen unseren Faden, der nun neu zu knüpfen ist, wenn wir denn die beiden Enden gefunden haben. Ich bin so froh, dass wir es geschafft haben. Wir wollen es nun versuchen und die Fadenenden verbinden und das absolut freiwillig, ohne Druck oder Zwang, nicht weil es irgendeiner erwartet.
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Ich spreche jetzt nur für mich:
Ich liebe dich (das habe ich dir sicher schon hundertmal gesagt, und schriftlich genauso oft). Das genügt aber nicht. Nein, es muss amtlich sein, es muss verbindlich sein, es muss öffentlich sein, vor aller Welt (auch wenn sie noch so klein ist). Nur so hat alles Gewicht und es ist nun ganz offiziell, dass ich zu dir gehöre. Damit das ein für allemal klar ist. Dies ist keine Drohung, es ist eine Feststellung und ich finde sie ganz fantastisch! Meine Lebensphilosophie hat wieder ein festes Zuhause gefunden. Sie fühlt sich in ihm so gut wie nie.
Mein Name ist nichts wert. Ich möchte deinen. Jawohl! Das bringt uns noch näher und von nun an sagst du nicht mehr, dass ich nur deine Freundin bin. Ich bin jetzt mehr, ich bin deine Frau. Das macht mich stolz. Aber ach,… könnte ich trotzdem auch noch deine Freundin sein?
Sag jetzt bloß nicht, man kann nicht alles haben. Schließlich möchte ich auch alles für dich sein.
Ich glaube wir haben es richtig gemacht und wir können alles haben und bekommen, was wir uns erträumen. Ob so oder so, aber so
ist es besser.
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Weissagung
von Conrad Cortin
"Du kannst mich über die nächsten tausend Jahre ausfragen."
"Wie leben die Menschen in hundert Jahren?"
"Über den Straßen brütet die Hitze. Die Menschen sind durstig und erschöpft, sie bewegen sich kaum."
"Gibt es noch Autos?"
"Ich sehe einen LKW, auf der Ladefläche ein Dutzend blökender Schafe. Der LKW fährt von Wasserhahn zu Wasserhahn. Jedes Mal wenn der Fahrer den Hahn aufdreht, tröpfelt es ein bisschen. Das reicht nicht für ihn, geschweige denn für die Schafe."
"Und in tausend Jahren. Existiert dann die Menschheit noch?"
"Die Zeit ist wie ein Marmorgewölbe. Ich gehe tausend Jahre weiter durch diesen Korridor der Zeit. Ich erahne im Dämmerlicht riesige Wandgemälde, Götter oder Ahnen. Auf der linken Seite erkenne ich eine enge Türe. Ich öffne sie, steige eine schmale Holztreppe hinauf, und gelange in ein Studierzimmer."
"Weiß man um uns oder sind wir vergessen."
"Ein Gelehrter sitzt an einem einfachen hölzernen Sakristeisekretär, er beugt sich über ein kleines blaues Buch. Der Verfasser gilt als Klassiker. Nur diese wenigen Gedichte sind erhalten geblieben. Nun schlägt er das Buch wieder zu. Auf dem Umschlag lese ich den Namen des Autors."
"Wie heißt er."
"Du kennst ihn. Du wirst es mir nicht glauben, es ist dein Name."
Für alle Zeiten
von Bert Rieser
Tischlermeister Gropius trat zurück, ging in die Hocke und warf einen prüfenden Blick über sein Werkstück.
Er benötigte keine Messlatte, kein Streichmaß, keinen Präzisionswinkel, um festzustellen, ob es gelungen war. Er brauchte nur seine Augen und seine Fingerkuppen. Vorsichtig fuhr er an einer Kante entlang und fand bestätigt, was er im schrägen Lichteinfall schon gesehen hatte: Eine leichte Unebenheit war noch zu glätten, dann würde seine Arbeit perfekt sein. Seufzend nahm er einen Putzhobel und machte sich noch einmal an die Arbeit.
Gropius war ein Meister der alten Schule. Nie wäre er an diese Nacharbeit mit Schleifpapier gegangen oder etwa gar mit einem Schwingschleifer. Undenkbar. Nicht bei einer Arbeit für Frau von Sättingen, seiner ältesten und treuesten Kundin. Und seiner kritischsten. Sie erwartete immer Perfektion. Und Dauerhaftigkeit. Ja, eigentlich war Haltbarkeit das Wichtigste für sie. Egal, was es kostete. Nicht etwa, weil Qualität sich letztendlich immer auszahlt, sondern weil sie länger hält, nicht so schnell kaputt geht. Sie hasste es zutiefst, wenn etwas kaputt ging. Das machte sie regelrecht krank.
Mit Engelszungen hatte Gropius sie einmal überreden müssen, einen schönen, alten Stuhl mit einer gebrochenen Hochstrebe reparieren zu lassen, anstatt ihn sofort im Kamin zu verfeuern. Die Restaurierung war perfekt gelungen, der Stuhl sah aus wie neu und die Bruchstelle konnte auch ein Fachmann nicht mehr erkennen.
"Ich weiß aber, dass sie da ist!", sagte sie danach etwas quenglerisch, ließ die Sache dann jedoch auf sich beruhen.
Kennengelernt hatte Gropius Frau von Sättingen, weil sie auf der Suche nach einem neuen Gartentisch völlig entnervt zu ihm in die Werkstatt gekommen war. Sie hatte zuvor eine Odyssee durch diverse Möbelhäuser, Gartencenter und Baumärkte hinter sich gebracht und war entsetzt, welch mindere Qualität man ihr hatte zumuten wollen. Gropius hatte ihr zur Beruhigung erst einen richtigen Mokka gebraut, keinen neumodischen Mochaccino oder Espresso aus Tüte, Glas oder Pad – und sie hatte sich dann mit dem Tässchen in der vornehmen Hand vorsichtig in der Werkstatt umgesehen und die in Arbeit befindlichen Stücke kritisch betrachtet. Erst nach aufmunternden Worten des Meisters wagte sie es, die Hölzer zu befühlen, ihre Oberfläche zu betasten, die komplizierten Verzapfungen genauer in Augenschein zu nehmen.
Was sie sah, gefiel ihr sehr. Und als Gropius dann von seiner Arbeitsanschauung sprach und von seiner Bewunderung für die Philosophie der Shaker
, war sie begeistert.
Die Shaker
waren eine puritanische Religionsgemeinschaft, von der vor allem ihre Möbel berühmt geworden waren. Ihr Glaube gebot ihnen so zu arbeiten, dass es Gott gefällig war. Gott sah alles, also mussten auch die versteckten, nicht sichtbaren Details perfekt gearbeitet sein. Die zweckmäßigen, schlichten, aber unglaublich funktionellen und stabilen Möbel wurden weltweit bekannt.
Diese Perfektion hatte es Gropius schon als Lehrling angetan.
Er wusste natürlich, dass das heute nicht mehr zeitgemäß und für eine normale Tischlerei betriebswirtschaftliches Harakiri war, aber er verabscheute das lieblose Spanplatten-stumpf-aneinander-Gespaxe und Umleimer-Herumgepappe zutiefst. Doch da er einige Kunden hatte, die das genauso sahen, und die eine Engelsgeduld bis zur Fertigstellung, sowie eine entsprechend dicke Brieftasche hatten, konnte Gropius ganz gut von seiner Arbeit leben.
Frau von Sättingen war die schwierigste, aber auch seine treueste und letztendlich dankbarste Kundin.
In vielen Gesprächen über die Jahrzehnte hin, die sie sich kannten, gelang es Gropius nie herauszufinden, woher ihre Obsession, ja geradezu Manie kam, immer die dauerhaftesten Objekte zu besitzen. Und auch nicht, woher ihr Vermögen kam. Aber letzteres interessierte ihn eigentlich auch nicht.
Dabei war Frau von Sättingen nicht verschwenderisch, nicht protzig, wie so manche seiner neureichen Kunden, die im geleasten Phaeton vorfuhren und mit seinen Möbeln bei ihren versnobten Freunden angaben. Vielen waren seine Arbeiten auch zu schlicht, zu einfach, machten nichts her, sahen nicht teuer genug aus. Doch diese Art von Kundschaft fand sich schneller vor seiner Werkstatttür wieder, als sie "geil" sagen konnte.
Gropius ging wieder um sein Werkstück herum, blies vorsichtig die kaum mehr sichtbaren Späne des Putzhobels weg und überlegte, wie er in diesem besonderen Fall die Oberfläche behandeln sollte.
Lacke waren ihm eigentlich ein Graus. Ein Holzstück nur mit dem Hobel zu bearbeiten, dass es samtig spiegelte und es dann unter einer Schicht 2K-Lack zu ersäufen, ging fast gegen seine Natur. Er bevorzugte Firnisse, Beizen, Wachse, die er selbst in seiner Giftküche zubereitete. Einige Naturlacke und Schleiflacke, die eine immense Arbeit erforderten, hatte er in seiner Sammlung, und die hatten nichts mit den modernen Mehrschichtlacken, die gespritzt und als Klavierlack hochgelobt wurden, zu tun. Aber auch Kunstharzlacke der brutalen Art, wenn das Werkstück es erforderte. Er war Tischler, kein Dogmatiker.
Doch für Frau von Sättingen kam nur eine Oberflächenbehandlung in Frage: Ein spezieller Japan-Lack, Ki-urushi
, aber aus Taiwan, mit einer UV härtenden, modernen Komponente versetzt. Schweineteuer. Wurde vorwiegend im Luxusyachtenbau eingesetzt, weil er extrem widerstandsfähig und haltbar war, aber trotzdem eine schöne Oberfläche ergab. Aber das Universalkriterium für Frau von Sättingen war ja die Haltbarkeit. Nicht Schönheit, nicht Zweckmäßigkeit, sondern Haltbarkeit.
Jedes Jahr kaufte sie sich einen neuen VW Golf, keinen Mercedes SLK. Das wäre zu teuer gekommen, denn es ging nicht um das Auto, sondern darum, dass es neu war, noch eine lange Lebenserwartung hatte. Nach einen Jahr fürchtete sie schon, dass irgendetwas defekt werden könnte. Weg damit, mit dem alte Gelumpe!
Am liebsten wäre es ihr gewesen, sie hätte ihre Autos nie fahren, ihre Möbel nie benutzen, ihre Kleider nie tragen müssen, denn mit ihrem Gebrauch alterten die Dinge unweigerlich und strebten dem bitteren Ende zu, so wie sie selbst.
Sie hasste Alterung. Nie hatte sie geheiratet; die Liebe könnte altern, der Mann reparaturanfällig werden und die Kinder sich schon von Geburt an dem unweigerlichen Tode zu bewegen.
Deswegen lebte sie auch gesund wie zehn Adventisten, wusste besser als Dr. Spitzbart über Anti-aging Bescheid und mied Ärzte aus Überzeugung. Auch Schönheitschirurgen. Denn die reparierten ja auch nur, und Reparaturen hasste sie.
Sie schaffte es, immer zwanzig Jahre jünger geschätzt zu werden, was ihr aber keineswegs schmeichelte. Mit 75 wie 55 auszusehen erfreute sie nicht. Im Gegenteil. Fünfundfünfzig! Das ist auch schon fast im Grab, dachte sie.
Gropius konnte das alles nicht verstehen. Gut, die Pharaonen hatten auch für die Ewigkeit gelebt, doch das war vor 5000 Jahren. Aber heute? Lebe schnell, sterbe jung, hinterlasse einen gutaussehenden Körper
– das Motto der Rockstars war ganz und gar nicht seine Einstellung, aber übertreiben wie seine Kundin sollte man auch nicht. Ach Gott, was ist der Mensch? Das, was er aus sich macht, das, wie er sich sieht, und das, wie er sich in seinem sozialen Kontext einbindet. Alles Tand? Und was bleibt zum Schluss übrig? Asche zu Asche.
Sicher, er hatte selbst immer die schöne Vorstellung, etwas Bleibendes zu schaffen, etwa ein Möbelstück, das noch Generationen später seinen Dienst verrichten und seinen Besitzer erfreuen würde. Ein "echter Gropiusstuhl". Das wäre schon was.
Er schüttelte den Kopf über seine sonderbaren Gedanken. Noch lebte er, und er hatte eine Arbeit fertig zu stellen. Noch einmal umrundete er kritisch sein Werkstück. Vielleicht sollte er dieses eine Mal doch eine Schicht aus nigerianischem Karnabau-Wachs aufbringen? Das würde so gut mit der Maserung korrespondieren.
Aber nein. Der Kunde ist König, vor allem, wenn er schon im Voraus bezahlt hat.
Gewissenhaft entstaubte er die Oberfläche und begann, Quadratzentimeter für Quadratzentimeter den taiwanesischen Bootslack aufzutragen. Er tat es mit aller Sorgfalt, zu der er fähig war, obwohl er wusste, dass sein Werkstück den Flammen des Krematoriums nur wenige Minuten widerstehen würde. Es war schließlich der letzte Auftrag seiner treuesten Kundin. Es war ihr Sarg.
Frau von Sättingen war vor zwei Tagen gestorben.
Garlin 1109
Texte: Die Rechte an den Texten liegen allein bei den genannten Autoren.
Conrad Cortin,
Garlin,
Helga Siebecke
Das Aquarell für die Covergestaltung entsprang der Feder von Katja Kortin.
Tag der Veröffentlichung: 05.03.2009
Alle Rechte vorbehalten
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Die Anthologien der Autorengemeinschaft "Zeitlos"
sind der Freude an gemeinsamer kreativer Gestaltung und Teamarbeit gewidmet.