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Totenstille



„April! Hör auf zu schlafen!“, brüllte Chase Dearing durch das halbe Gebäude und knallte seine flache Hand direkt neben meinem Kopf auf den Tisch.
Das glatte Holz an meinem Ohr vibrierte und die dadurch erzeugten Wellen stürmten durch mein armes Gehirn, woraufhin das Chaos darin noch schlimmer durcheinander gewirbelt wurde.
Benommen blinzelte ich ein paar Mal, ehe ich registrierte, dass ich nicht zu Hause in meinem warmen, weichen Bett lag und friedlich vor mich hinschlummerte.
Nein, mein Kopf lag auf meinem glanzpolierten Arbeitstisch – besser gesagt auf dem großen Haufen Akten, der in einem wilden Chaos darauf ausgebreitet war.
Als sich zwei Sekunden später auch mein Nacken in Form von stechenden Schmerzen meldete, richtete ich mich schließlich auf und blickte verwirrt durch den großen Raum.
Chase, mein Mitarbeiter und somit ebenfalls einer der erfolgreichsten Anwälte ganz New Yorks, blitzte mich wütend aus seinen kleinen, schwarzen, asiatischen Augen an.
„Tut mir leid“, murmelte ich immer noch ein wenig schläfrig und zog die Akte, in der ich gelesen hatte, ehe ich eingeschlafen war, wieder zu mir heran.
Dabei sah ich unauffällig auf meine Armbanduhr und musste ein Stöhnen unterdrücken. 07.45 Uhr stand auf dem Ziffernblatt.
Das war viel zu früh für einen Langschläfer wie mich. Aber was sollte ich schon machen? Meinen Job hinschmeißen und damit auch das, worauf ich mein ganzes Leben lang hingearbeitet hatte, nur damit ich länger schlafen konnte?
Wohl kaum.
„Ja, ja, es tut dir leid! April, seit drei Tagen schläfst du alle fünf Minuten über der Arbeit ein und störst alle im Umkreis von einem Kilometer mit deinem ohrenbetäubenden Schnarchen!“
Chase gestikulierte wild mit den Händen herum, während er sprach – eine alte Angewohnheit, die ihm schon einige seltsame Blicke von den Richtern eingebracht hatte, und doch so tief verwurzelt war, dass nichts ihn davon heilen konnte.
Chase behauptete, es läge in der Familie.
„Ich schnarche nicht!“, rief ich empört und rollte mit meinem Stuhl ein Stück nach hinten, um meine Arme vor der Brust zu verschränken.
„Oh, das glaubst aber auch nur du!“
„Ich glaube es nicht nur, ich weiß

es!“
„Und woher, wenn ich fragen darf?“, spottete Chase und grinste mich überlegen an.
Ich verengte meine Augen und schaute wütend in sein verboten gutaussehendes Gesicht.
„Ich weiß es einfach!“
Er schmunzelte, sein Oberkörper bebte durch ein unterdrücktes Lachen.
„So so. Du weißt es also.“
„Ach, denk doch was du willst!“, grummelte ich in mich hinein, drehte mich um und stand auf, um mir einen Kaffee zu holen.
Ich und Chase hatten eine eigene Kaffeemaschine in unserem gemeinsamen Büro und waren furchtbar stolz darauf, weil wir die einzigen in unserem Stockwerk waren. Deswegen statteten uns die anderen auch jeden Tag einen Besuch ab – und quatschten entweder mich oder ihn mit belanglosen Dingen voll, während sie wie beiläufig eine Tasse mit der energiespendenden, braunen Brühe füllten und gleich darauf wieder abdampften.
Ich klopfte ungeduldig mit den Fingern auf den kleinen Tisch und starrte auf jeden Tropfen, der in die Kanne fiel.
Kaffee war lebenswichtig für mich.
Würde man mich eines Tages in der Wüste aussetzen, ohne Wasser oder Proviant … ich würde wahrscheinlich an Entzugserscheinungen sterben, anstatt zu verdursten.
Tja, die physische Abhängigkeit von koffeinhaltigen Getränken machte eben auch nicht vor Anwälten im World Trade Center halt.
Als die Maschine endlich fertig war – meiner Meinung nach, war das Ding viel zu langsam – hob ich hastig meine Tasse an die Lippen und stöhnte genussvoll auf, als der dunkle Lebenssaft meine Kehle hinab rann.
Ich konnte förmlich spüren, wie ich wacher wurde und setzte mich mit neuem Elan und einer gefährlich herumschwenkenden Kaffeetasse an meinen Tisch.
„Wie geht es Cole eigentlich? Ich hab ihn seit letzter Woche gar nicht mehr gesehen“, fragte Chase von seinem Schreibtisch aus, ohne von seinem Computer aufzusehen.
Ich widmete mich ebenfalls wieder meiner Arbeit, während ich antwortete.
„Naja, wenn man von seinen ständigen Tobsuchtsanfällen mal absieht, ist er eigentlich ganz normal.“
Ich konnte es nicht sehen, doch ich war mir sicher, dass Chase dieses süße Schmunzeln auf den Lippen hatte, in das sich alle Mädchen verliebt hatten, als wir beide noch auf der High School waren.
„Ist es wirklich so schlimm?“
„Oh, du hast ja keine Ahnung. Nicht einmal nachts bleibe ich von seinen ewigen Schimpftiraden über diesen teuflischen Playboy verschont, der seiner armen kleinen Schwester ja nur das Herz brechen will und sie in ein Loch voll Drogen, Zigaretten und Depressionen ziehen wird!“
Lachend schüttelte ich den Kopf, als ich an meinen Ehemann dachte, wie er aufgewühlt durch unser Schlafzimmer rannte und wild gestikulierend die verbotensten Flüche vor sich hinmurmelte.
Hinter Chase’ Computer konnte ich ebenfalls ein paar belustigte Laute vernehmen.
„Ich weiß gar nicht, was er hat“, meinte ich und nahm mir die nächste Akte vor. „Ich finde ja, Jason ist ein echt anständiger Kerl! Und er liebt Chloe wirklich, genauso wie sie ihn.“
Ich spürte, wie ich ins Schwärmen geriet, als ich an das süße Paar dachte. Niemand blieb von ihrer Ausstrahlung verschont, und sie waren stets von glücklich lächelnden Menschen umgeben.
„Das ist doch ganz offensichtlich: Der große Bruder, der sein Kleines beschützen muss, kommt zum Vorschein.“ Chase klang, als wäre das das Sinnvollste auf der Welt.
„Aber sie sind doch schon seit vier Jahren zusammen! Wie kommt es, dass er erst jetzt damit anfängt?“, fragte ich neugierig, denn diesen Teil verstand ich wirklich nicht.
„April, jetzt streng doch mal dein koffeingetriebenes Hirn an!“, motzte Chase und blickte nun doch ungläubig zu mir hinüber.
Ich sah ebenfalls auf und warf ihm einen verwirrten Blick zu.
Chase seufzte. „Er regt sich erst jetzt so auf, weil ihm klar geworden ist, dass Chloe nun wirklich

nicht mehr sein kleines Mädchen ist! Mein Gott, sie ist verlobt! Diesen eindeutigen Wink mit dem Zaunpfahl kann selbst dein viel zu blinder Ehemann nicht mehr übersehen. Und wir wissen beide, dass er sich seit dem Tod ihrer Eltern eher wie ein Vater, als wie ein großer Bruder benommen hat.“
Ich blinzelte. „Oh…“
Mehr sagten wir nicht dazu und wir wandten uns wieder vollständig unserer Arbeit zu.
Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte mir, dass es inzwischen 08:40 Uhr war. Ich hasste die Dienstage im September. Na gut, ich hasste generell jeden Tag im September, weil der Himmel wieder grau und regnerisch wurde.
Immer wieder schaute ich aus dem Fenster, einfach nur um die atemberaubende Aussicht zu genießen, die mich auch nach fünf Jahren nicht langweilte. Noch waren wir vom herbstlichen Regenfall verschont geblieben, doch wenn man dem Wetterbericht Glauben schenken durfte, würde es gegen 10 Uhr anfangen zu regnen.
Mit jedem Blick lächelte ich ein wenig mehr auf die Stadt, die niemals schläft, hinab und fragte mich, wie um Himmelswillen ich es nur bis hierhin geschafft hatte.
Von meinem Büro aus konnte man gerade noch die nördliche Seite des südlichen Zwillingsturmes sehen und soweit oben wie ich war, hätte ich sogar die weltweit höchste Dachterrasse erkennen können, würde ich mich direkt ans Fenster stellen.
Ich feixte, als ich an Cole dachte, der nur wenige Stockwerke unter mir sein Büro hatte.
Als wir uns vor vier Jahren im Fahrstuhl kennen gelernt hatten, war er furchtbar eifersüchtig gewesen, weil ich seiner Meinung nach den besten Büroplatz der Welt hatte. Und dann auch noch eine Kaffeemaschine

!
Damals war ich 26 gewesen, er ein Jahr älter.
Es hatte Monate gedauert, in denen er mich immer wieder während seiner Mittagspause besucht hatte, ehe er mich endlich um ein Date bat.
Und kaum ein Jahr später hatten wir geheiratet.
„Du, Chase“, begann ich, wurde jedoch unterbrochen. Und Chase würde wohl niemals erfahren, was ich ihn fragen wollte.
Denn in genau diesem Moment, erbebte das Gebäude und ein ohrenbetäubender Knall ließ uns beide aufschrecken.
Mein Kopf schoss in die Höhe, und mein panischer Blick begegnete dem von Chase.
Als plötzlich mein großer Schrank, in dem ich die Akten meiner aktuellen Fälle verstaute, umkippte und die Glastüren auf dem Boden mit einem lauten Klirren zersprangen, schrie ich entsetzt auf.
Ein Erdbeben?

, war das erste, was mir durch den Kopf schoss, doch keine Sekunde später verwarf ich diesen Gedanken schon wieder.
Ein Erdbeben kündigte sich nicht durch so einen markerschütternden Krach an, der gleich darauf wieder verebbte, als ob eine Bombe explodiert wäre.
Ein Erdbeben kam schleichend, wurde zunehmend lauter, durch das Geräusch der umfallenden Möbelstücke oder gar der einstürzenden Häuser.
Ein Erdbeben war sowieso in New York äußerst unwahrscheinlich.
Und selbst wenn es eins gewesen wäre, dann ein sehr kurzes, denn kurz nachdem der Aktenschrank zu Bruch gegangen war, war das Zittern des Gebäudes bereits verebbt.
Ich schluckte.
Nein, das war kein Erdbeben

, flüsterte eine kleine Stimme in mir und ich wusste, dass sie Recht hatte.
Bei so einem vergleichsweise harmlosen Erdbeben, hatte man nicht dieses Gefühl der absoluten Leere.
Dieses Gefühl, dass man wusste, dass etwas ganz und gar nicht stimmte, man aber keine Ahnung hatte, was es war.
Dieses Gefühl der Kälte, die langsam die Beine hinaufkroch und Stück für Stück vom eigenen Körper Besitz ergriff, wie der Tod höchstpersönlich.
Dieses Gefühl, dass nicht weit entfernt Menschen gestorben waren.
Für ein paar Sekunden stand die Welt still.

Dann brach das Chaos aus.
Mit einem Mal waren Schreie zu hören, und ich konnte nicht einmal sagen, ob eine der Stimmen mir gehörte oder nicht.
Ohne darüber nachzudenken sprang ich auf, wodurch mein Stuhl quer durchs Zimmer flog, und rannte auf die große Tür zu, die mich in diesem Büro einsperrte.
Ich hatte plötzlich Platzangst, und es war mir, als würden die Wände immer näher kommen, als würde mit einem Mal die Decke über mir einstürzen, doch nichts dergleichen passierte.
Ich sprang über Glassplitter, verstreute Blätter und größere Holzsplitter, ohne mich darum zu kümmern, dass ich mir dabei das Bein aufriss und zu bluten begann.
Ich nahm nicht einmal den Schmerz wahr.
Als ich endlich an der Tür ankam, keuchte ich, wusste jedoch nicht, ob vor Anstrengung oder Angst. Es könnte auch beides gewesen sein.
Doch das war mir im Moment auch egal, alles war egal, ich wollte nur raus.
Mit einem großen Ruck riss ich die Tür auf und stürmte Hals über Kopf aus dem Büro hinaus, dicht gefolgt von Chase, der hektisch hin und her blickte.
Doch kaum hatte ich zwei Schritte in den rettenden Flur geschafft – zumindest war er das bis vor kurzem in meinen wirren Gedanken gewesen –, blieb ich polternd stehen.
Es war vollkommen schwarz

.
Es dauerte ein paar Sekunden, ehe ich bemerkte, dass es nicht an einem Stromausfall lag, sondern ich mitten in eine Wand aus dichtem, schwarzem Qualm hineingerannt war.
Ohne noch weiter darüber nachzudenken, packte ich Chase am Arm, wirbelte mit ihm im Schlepptau herum und stürzte zurück in unser Büro, ehe ich die Tür mit einem lauten Knall zuschmiss.
Durch meine schnelle Reaktion war kaum Rauch in den Raum gelangt, aber dennoch brannte der beißende Gestank in meinen Lungen und meine Augen tränten.
Mit geweiteten Augen starrte ich auf die Tür, unter der langsam aber sicher der Schwarze Rauch hervorquoll und er sah für mich einen wahnsinnigen Moment lang so aus, wie die Hölle, die ihre Finger nach mir ausstreckte.
Rauch steigt nach oben

, schoss es mir in den Kopf und plötzlich erstarrte ich in all meinen Bewegungen.
Chase und ich waren im 103. Stock im Nordturm des World Trade Centers, über uns kamen also nur noch sieben weitere Stockwerke.
Wenn der Rauch hier schon so durchdringend war, wie war er dann weiter un…
COLE!


Wie von der Tarantel gestochen stürmte ich wieder los, riss die Tür ein zweites Mal auf und zögerte keine Sekunde, in die wabernde Schwärze abzutauchen. Aus einem Reflex heraus riss ich die Augen weit auf, um etwas sehen zu können, kniff sie jedoch gleich darauf wieder zusammen, als sich die giftigen Gase in meine Iriden fraßen.
Blind lief ich weiter, stützte mich an der Wand neben mir ab und versuchte verzweifelt, den Weg zu den Treppen zu finden.
Den Aufzug hatte ich klugerweise ausgeschlossen.
Unsichtbare Hände klammerten sich an meiner Kleidung fest, ich wurde zur Seite geschubst und unsanft an die Wand gepresst, panische Schreie dröhnten in meinen Ohren.
Es dauerte viel zu lange, ehe ich endlich mit der Hand an das Treppengeländer stieß und mein linker Fuß plötzlich keinen Boden mehr fand.
Ich fiel mehr die Treppe herunter, als das ich lief, doch es war mir egal, dass ich mir dabei einige blaue Flecken holte – ich musste Cole finden!
Seins lag nicht weit unter meinem Büro, doch in Todesangst, blind und unwissend, wie es dem eigenen Ehemann ging, waren zwei Stockwerke eine unüberwindbare Strecke.
Ich rannte, stolperte, rappelte mich wieder auf und fühlte mich unendlich klein und unbedeutend.
Tränen flossen meine Wangen hinab, meine Lunge schien zu bersten, da ich mich seit mehreren Minuten weigerte, einzuatmen, mein ganzer Körper fühlte sich an, als stünde er in Flammen.
Nach weiteren unendlich langen Sekunden fing ich an, seinen Namen zu schreien.
Ich schrie mir die Seele aus dem Leib, achtete nicht auf meine protestierende Lunge, die Sauerstoff wollte und kein CO₂.
Und dann hörte ich ihn – endlich konnte ich seine Stimme zwischen all den verschiedenen Rufen erkennen und vor Erleichterung weinte ich gleich noch mehr, als ich wie von Sinnen auf Coles Stimme zu rannte und seinen Namen umso lauter schrie.
Auch er rief jetzt lauter nach mir und ich vermutete, dass auch er mich hören konnte.
Ich sah immer noch nichts, doch er war ganz nah.
„Cole! Cole!“, rief ich aus Leibeskräften und mein Kopf fuhr hin und her, als ich versuchte, ihn durch den Qualm hindurch zu entdecken.
„April!“, kam ein Schrei von meiner Rechten und ich stürzte darauf zu, kümmerte mich nicht darum, dass ich über etwas Großes, Warmes stolperte und schrie wieder seinen Namen.
Dann umklammerten mich zwei starke Arme, ich wurde an eine Brust gedrückt und eine Männerstimme flüsterte mir ins Ohr: „April?“
Als Antwort presste ich mich fester an ihn und nickte an seiner Brust, woraufhin sich seine Arme wie ein Schraubstock um mich schlossen.
„Komm!“, keuchte er mit rauer Stimme, weil er so viel vom Rauch eingeatmet hatte und zog mich in eine andere Richtung. „Wir müssen aus dem Qualm raus!“
Ich antwortete nichts, durch meine verzweifelten Schreie war die schlechte Luft in meine Lunge gekommen und sie fühlte sich jetzt noch schlimmer an, als vorher.
Cole trug mich nicht weit, ehe er eine Tür aufriss, mich hineinzog und sie sofort wieder schloss.
Blinzelnd öffnete ich meine Augen und registrierte, dass wir in seinem Büro waren, in dem der Rauch nicht so allgegenwärtig war und ich noch ein wenig Sauerstoff zum Atmen hatte.
Zu meinem Entsetzen kam aus meinem Mund tiefschwarze Luft und ich hatte plötzlich furchtbare Angst, meine Lungen könnten nicht mehr funktionieren.
Doch statt dass es schlimmer wurde, spürte ich, wie ich langsam wieder klar denken konnte, obwohl ich gar nicht mitbekommen hatte, wie benommen ich doch gewesen war.
Jetzt kam es mir so vor, als hätte ich kurz vor einer Ohnmacht gestanden.
Mit großen Augen sah ich mich um und schnappte entsetzt nach Luft.
Hier sah es viel schlimmer aus, als bei mir.
Alle Schränke waren umgefallen, die Arbeitsmaterialien von den Tischen gerutscht und teilweise auf dem Boden zerbrochen. Überall lagen Scherben und Bruchstücke von verschiedenen Dingen herum.
Coles Laptop lag auf dem Boden, der Bildschirm einen halben Meter von der Tastatur entfernt.
Erst hier bemerkte ich, dass alle Lampen ausgegangen waren, wodurch nur das Licht der aufgehenden Sonne ein wenig Helligkeit spendete, wenn auch nicht so viel wie sonst. Denn eine riesige, undurchdringlich wirkende Rauchwolke stieg außerhalb des Gebäudes in den Himmel hinauf.
„Was für ein Chaos“, flüsterte ich tonlos und krallte mich in Coles Hemd.
„Allerdings“, sagte er finster und vergrub sein Gesicht in meinen Haaren.
„Was ist hier nur passiert?“
„Das weißt du nicht?“ Seine Stimme wurde immer finsterer, je länger er sprach.
Ich schüttelte nur den Kopf, da ich nicht wusste, ob ich meine Stimme weiterhin gebrauchen konnte. Ich fühlte mich so entsetzlich schwach…
„Ein Flugzeug.“
Ich wollte verwirrt zu ihm aufsehen, doch er hielt mich so fest umklammert, dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte.
„Was?“, fragte ich also, um an eine Erklärung zu kommen.
Doch er sagte nichts mehr, stattdessen legte er seinen linken Arm in meine Kniekehlen und hob mich mühelos hoch. Ich fühlte mich plötzlich an unsere Hochzeitsnacht erinnert, in der er mich so über die Türschwelle geführt hatte – und es seitdem immer wieder tat, egal, wie blöd die Leute guckten.
Mit mir auf den Armen schlängelte er sich umständlich durch die am Boden liegenden Trümmer und blieb schließlich mit mir am Fenster stehen.
Entsetzt schnappte ich nach Luft und mir wurde augenblicklich schwindelig, als ich nicht weit unter uns etwas aus dem Gebäude ragen sah – etwas, das ein klaffendes Loch hineingerissen hatte und nun von Rauch und Feuer umgeben war.
Hätte Cole es nicht schon gesagt, hätte ich darin niemals das Heck eines Flugzeuges erkannt.
„Wie …? Warum …?“, flüsterte ich unzusammenhängend und konnte die Augen einfach nicht von dieser Katastrophe abwenden.
„Ich weiß es nicht“, murmelte Cole und zog mich wieder fester an sich, während er seine Lippen an meine Stirn presste.
Eine kleine Ewigkeit standen wir einfach so da, während ich wie paralysiert auf das Flugzeug starrte und fieberhaft versuchte, mein Gehirn anzukurbeln.
Dann traf es mich plötzlich wie der Blitz.
„Es … es ist unter uns.“
Cole umarmte mich jetzt so fest, dass ich beinahe wieder erstickte, obwohl in dem Büro überraschend klare Luft war. Das lag wohl an der schallsicheren Tür, die Cole unter viel Aufwand hatte einbauen lassen. Sie hielt anscheinend auch die Luft von außen fern.
„Das heißt …“ Ich beendete den Satz nicht. Wir beide wussten, was das bedeutete.
„Ja. Wir sind eingesperrt.“

Da war es wieder. Dieses Gefühl, dass der Tod meine Beine hinaufkroch und versuchte sich meine Seele zu angeln.
Mir wurde kalt, unendlich kalt, als mir klar wurde, dass … wir sterben würden.
Wir würden sterben. Sterben.
Das Wort hallte in meinen Gedanken wieder und löschte alles aus. Ich konnte nicht mehr denken, da war nur noch dieses Wort, das so endgültig und grausam war, dass ich automatisch davor zurückschrecken wollte.
Sterben.


Doch es gab keinen Ort, an dem ich mich verstecken konnte, keinen rettenden Unterschlupf.
Ich war dem Tod ausgeliefert. Und Cole auch.
Nein!

„Vielleicht … wenn sie Hubschrauber schicken …“, flüsterte ich, klammerte mich an den einzigen Hoffnungsschimmer, der mir geblieben war und versuchte krampfhaft, die Tränen zu unterdrücken.
Doch in Coles Gesicht sah ich, dass es einfach keine Hoffnung mehr gab.
„Nein, April. Selbst mit Helikoptern nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil sie sie nicht einsetzen können, wenn sie ihr Ziel nicht sehen. Und das ist hier, umgeben von all dem Rauch, leider der Fall“, erklärte Cole ganz ruhig, als wäre ich ein Kindergartenkind, das nicht verstand, dass eins plus eins zwei ergibt.
Und doch hörte ich in seiner Stimme, dass es ihm unendlich wehtat, mir das zu sagen. Und so fragte ich nicht mehr.
Wir standen da, enganeinander geschmiegt und die Augen geschlossen, während wir auf den Tod warteten.
Doch er kam nicht.
Durch Coles Sondertür konnten wir nicht an den giftigen Gasen ersticken und das Feuer kam anscheinend ebenfalls nicht durch die massive Stahltür, obwohl es zunehmend heißer wurde.
Nach einiger Zeit – ich hatte keine Ahnung, ob es Stunden, Minuten oder nur Sekunden waren – wusste ich, dass ich so nicht sterben wollte.
Langsam regte ich mich in Coles Armen und sah zu ihm auf.
Seine wunderschönen Augen blickten auf mich herab und ich konnte nicht anders, als zu lächeln, auch wenn es ein trauriges Lächeln war.
„Ich möchte so nicht sterben“, sagte ich nach einigen weiteren Minuten und schmiegte mich noch enger an seine Brust, während ich ihm wehmütig in die Augen blickte.
Er schaute genauso zurück, beugte sich zu mir herab und legte seine Lippen sanft an meine Stirn.
„Ich auch nicht.“
Wieder herrschte Stille, doch mein Gehirn hatte plötzlich wieder den Betrieb aufgenommen.
Mit jeder verstrichenen Sekunde wuchs ein Gedanke in mir heran, der mir zumindest diesen letzten Wunsch erfüllte: Ich wollte, dass es schnell ging.
Wollte, dass ich in dem Moment, in dem ich starb, ein Lächeln auf den Lippen hatte, weil ich an den schönsten Mann dachte, den es auf dieser Erde gab.
Ich wollte, dass mein letzter Gedanke ihm galt, und nur ihm.
Auch wenn es egoistisch war, ich wollte nicht an Chase denken, der seit dem Kindergarten mein bester Freund gewesen war. Ich wollte nicht an all die Menschen denken, die in diesem Gebäude ihr Leben verloren.
Cole und ich, wir waren hier allein; fernab vom Rest der Welt.
Und ich hatte das Gefühl, würde ich nun an jemand anderen als ihn denken, dann zerbräche diese friedliche Atmosphäre und die Panik würde wiederkommen.
Und ich wollte nicht, dass das Ende so aussah.
„Dann sollten wir auch nicht so sterben.“
Cole erstarrte kurz, ehe er seufzte und mit seinen Lippen an mein Ohr wanderte.
„April, sieh doch ein, dass …“
„Das habe ich“, unterbrach ich ihn und hauchte ihm einen leichten Kuss auf den Hals. „Aber das heißt doch nicht, dass wir nicht selbst bestimmen können, wann es soweit ist.“
Ich wollte es nicht aussprechen.
Zu denken, dass der Tod unvermeidbar geworden war, war schon schlimm genug, da wollte ich es nicht auch noch sagen.
Langsam löste sich Cole ein wenig von mir, um mir ins Gesicht sehen zu können.
Er runzelte die Stirn. „Was meinst du?“
Ich antwortete nicht, stattdessen schloss ich die Augen und drehte mich zurück zum Fenster, um mit meinem Zeigefinger hinauszudeuten.
Cole schnappte nach Luft, dann schlang er seine Arme um meine Brust und presste meinen Rücken an sich.
„April…“, begann er, doch ich ließ ihn wieder nicht ausreden.
„Ich möchte wissen, wann ich meine letzte Sekunde erlebe, Cole. Ich möchte, dass ich diese Entscheidung noch treffen kann, jetzt, da das Schicksal mir schon mein Leben wegnimmt“, flüsterte ich und wusste, dass es die Wahrheit war.
„Ich auch, aber …“
„Was spricht dann noch dagegen?“, unterbrach ich ihn erneut und drehte meinen Kopf, um in seine Augen zu sehen.
Er sah gequält aus und zugleich nachdenklich. Ich hatte diesen Ausdruck noch nie zuvor an ihm gesehen.
Dann sah ich die Erkenntnis in seinem Gesicht, und ich wusste, dass er genauso dachte wie ich.
„Du hast Recht“, hauchte er und beugte sein Gesicht zu mir herab.
Zärtlich küsste er mich; es war ein langer, gefühlvoller Kuss und das Wissen, dass ich nur noch eine begrenzte Anzahl davon bekommen würde, tat unheimlich weh.
Dann löste Cole sich von mir, schritt zur gegenüberliegenden Wand und packte sich seinen Schreibtischstuhl.
Ich hatte noch nicht verstanden, was er vorhatte, da hatte er das schwere Teil schon aus dem südwestlichsten Fenster geworfen – das Fenster, bei dem der Rauch draußen am dünnsten war.
Sofort strömte das schwarze Gift in den Raum und so zögerte ich keine zwei Sekunden.
Ich rannte zu Cole, der inzwischen in all den Scherben stand und die Hand nach mir ausgestreckt hatte, und warf mich ihm in die Arme.
Er fing mich auf und presste mich fest an die Brust, ehe er mich noch einmal küsste.
Ich erwiderte den Kuss heftig, versuchte alles hineinzusetzen und klammerte mich an ihn, wie an einen Rettungsring.
Und in gewisser Weise war er das auch, als wir gemeinsam Anlauf nahmen und sprangen.

Es war die Richtige Entscheidung gewesen, das wusste ich, als Cole mich im Flug fester an sich zog und seine Lippen auf meine presste.
„Ich liebe dich, April“, flüsterte er in unseren letzten Kuss hinein und ich lächelte glücklich, als ich „Ich liebe dich auch, Cole“ zurückflüsterte, kurz bevor wir auf dem Boden aufschlugen.
Ich hätte mir keinen besseren Tod wünschen können.


Und so erlebten wir auch nicht mit, wie alle Menschen auf der Welt dieses Gefühl bekamen, während sie uns beim Sterben zusahen.
Dieses Gefühl, das den ganzen Körper lähmt und die Kälte des Todes durch die Glieder schickt, die Gedanken auslöscht und nur noch entsetzte Stille zurücklässt.
Dieses Gefühl, das sich Totenstille

nennt.



Ende


Impressum

Texte: Coverbild: http://www.heise.de/tp/artikel/30/30602/1.html
Tag der Veröffentlichung: 24.12.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Gefallenen vom 9/11/2001

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