Was mache ich hier nur?
, dachte ich mir seufzend und klingelte an der x-ten Haustür, die mit Weihnachtsdekoration zu gekleistert war bis zum Geht-nicht-mehr.
Noch so eine Familie.
Ich seufzte wieder, als eine blonde Frau mir strahlend die Tür aufmachte und ich die drei Kinder sah, die sich an ihr Bein klammerten.
Ich hasste Kinder. Aber ich brauchte Geld, war single und hatte keine Familie, mit der ich heute zu Hause rumsitzen konnte. Also brachte ich diesen kleinen Mistfliegen ihre dämlichen Geschenke, während ich mich insgeheim fragte, warum zur Hölle ich mein Abitur nicht hingekriegt hatte.
Oh ja, ich hasste Weihnachten.
Da sind immer alle fröhlich und lachen über den dusseligen Vollidioten, der sich verzweifelt in seinem viel zu großen Weihnachtsmannkostüm damit abmüht, nicht an einem Hitzeschock zu sterben.
Hört sich das nicht lustig an? Sicher doch. Wenn man nicht dieser dämliche Vollidiot im Weihnachtsmannkostüm ist.
Und der war ich. Super.
»Wer bist du?«, fragte mich ein winziges Mädchen mit großen Augen und zupfte an meinem knallroten Mantel, woraufhin ich mich gelangweilt zu ihr herunterbeugte.
»Ho, ho, ho, ich bin der Weihnachtsmann«, ratterte ich meinen Routinesatz herunter und stand wieder auf.
Die Mutter strahlte mich an – warum auch immer – und bat mich herein, woraufhin ich ein »Ho, ho, ho, das freut mich aber sehr, ho, ho, ho!« von mir gab, meinen echt schweren Sack auf meine Schulter hievte und ihr ins Haus folgte.
Im Wohnzimmer traf mich dann fast der Schlag. Das war mal ne Großfamilie.
Da waren um die sieben Kleinkinder, ein Baby, neun Teenager – die ganz schön gelangweilt aussahen – und ein Junge, der bestimmt schon die Schule fertig hatte.
Wo zur Hölle war ich denn hier gelandet?!
Etwas unsicher stand ich also da und starrte den Haufen Kinder an, die mich mehr oder minder erwartungsvoll anguckten. Ich glaubte, die Teenager bekamen gerade einen halben Lachanfall, weil sie gesehen hatten, dass ich gerade mal achtundzwanzig war.
Also ungefähr zweitausend Jahre zu jung, um der Weihnachtsmann zu sein.
Ich seufzte innerlich und stellte meinen Geschenksack auf den Boden, woraufhin mir plötzlich drei Kleinkinder am Bein klebten und mich angrinsten wie drei süße, kleine, ätzende Honigkuchenpferde.
Hilfesuchend sah ich zu der blonden Frau – der einzigen Erwachsenen im Haus, wie ich verwirrt feststellte –, aber die sah mich nur lächelnd an und nickte zufrieden.
Wie war das mit an Weihnachten hilfsbereit sein? Schönen Dank auch!
Also improvisierte ich einfach mal und sagte: »Ho, ho, ho, wollt ihr denn keine Geschenke, ho, ho, ho?«
Sofort ließen die Kleinen mich los und ich konnte wieder einigermaßen frei gehen.
Gott sei Dank war das das letzte Haus für heute Abend.
»Also«, begann ich und fügte hastig ein weiteres Weihnachtsmann-typisches »Ho, ho, ho« ein, weil das das einzige war, das in unserer Berufsbeschreibung stand.
Neben den Kostüm
, Geschenke
und auf keinen Fall betrunken zu den Familien gehen
Stichpunkten.
Wo war ich gerade? Ach ja. Also, hatte ich gesagt.
»Ward ihr denn alle brav?«, fragte ich und setzte ein freundliches Lächeln auf, das sofort gefror, als mich alle Kleinkinder wütend ansahen.
Ich schluckte. »Äh?«
Und dann fing die große Geständnisrunde an.
»Kevin hat mir meine Barbie geklaut!«, rief die erste und funkelte einen kleinen Jungen wütend an, der die Hände in die Hüften stemmte.
»Weil du mein Fahrrad kaputt gemacht hast!«
»Nico wollte mich umbringen!«, meinte ein anderer Junge und zeigte auf besagten Nico.
»Wollte ich nicht!«
»Du wolltest mich erwürgen!«
»Weil du mich k.o. geschlagen hast!«
»Hab ich nicht!«
»Hast du doch!« (Dieses Gespräch ging die ganze Zeit über so weiter, also achtete ich mehr auf die anderen Kinder …)
»Dieser Freak hat mir versprochen, dass wir uns den Game-Boy teilen, mit ihm gespielt und ihn dann auseinander gebrochen!«, weinte ein kleines, orangehaariges Mädchen mit Sommersprossen und hatte tatsächlich jede Menge Schrauben und andere elektronische Dinge in der Hand.
»Wir haben ihn geteilt!«
»Aber doch nicht sooooo!«, heulte die Kleine und schluchzte laut los.
»Äh?«, meinte ich wieder unsicher, wurde aber vollkommen ignoriert.
»Die da hat mir Juckpulver in die Unterhose getan!«
»Du hast mich danach mit Zehnsekundenkleber an die Wand gepinnt!«
»Weil du es verdient hattest!«
»Aber-«, begann das braunhaarige Mädchen wieder, allerdings hatte ich jetzt endgültig keinen Bock mehr und sagte donnernd: »HO, HO, HO!!!!!!!«
Daraufhin wurde es unnatürlich still.
Ich dachte über meine Möglichkeiten nach. Eigentlich war ich jetzt doch berechtigt, ihnen die Geschenke zu verweigern, oder? Ich könnte einfach abdampfen und sagen: »Seid nächstes Jahr lieber artige Kinder!«
Aber dann wäre ich zu hundert Prozent meinen Job los … also erfand ich einfach mal eine Geschichte.
»Habt ihr schon mal von…« Verdammt, mir fiel kein Name ein. »Von der kleinen Crystal Dealer gehört?« Crystal Dealer? Nenn sie doch gleich Cannabis!
Wie nicht anders zu erwarten kicherten die Teenager drauf los, während mich die Frau fassungslos anstarrte, woraufhin ich knallrot anlief. Die Kinder hingen aber nach wie vor an meinen Lippen und warteten auf meine Geschichte.
Einfach weitermachen.
»Tja, die kleine Crystal Dealer hat ganz, ganz viele böse Dinge gemacht. Also, ganz, ganz schlimme Dinge. Und … ja … also dann, an Weihnachten, war sie ganz traurig, weil … weil sie zu böse war, um ein Geschenk zu bekommen.«
Die Kleinkinder bekamen plötzlich Tränen in den Augen und wie auf Knopfdruck fing das Baby wieder an zu weinen. Verdammt.
»Ja, also, sie dachte das«, ruderte ich schnell zurück, um die Situation noch irgendwie zu retten. »Aber dann kam der Weihnachtsmann doch zu ihr und sagte, dass sie ein Geschenk bekommt.«
»Das verstehe ich nicht«, meinte einer der kleinen Jungen und runzelte die Stirn.
»Naja«, druckste ich herum und wand mich unbehaglich, was in dem Kostüm echt unbequem war. »Die Crystal verstand das auch nicht und hat den Weihnachtsmann gefragt. Und der hat ihr dann erklärt, dass … äh … ja, dass sie eben gar nicht so böse war.«
»Hm-hm«, warf plötzlich ein fünfzehnjähriges Mädchen ein und grinste fies, »Crystal Dealer war gar nicht so böse, was?«
Oh, Teenager waren ja noch schlimmer als Kinder!
»Ja, genau«, meinte ich trocken und wandte mich wieder an mein verwirrtes Publikum. »Die Crystal Dealer war gar nicht so böse, weil sie alles bereut hat. Deswegen hat sie ein Geschenk bekommen. Und weil sie sich bei jedem, zu dem sie böse war, entschuldigt hat.«
Die Kinder sahen mich mit großen Augen an, dann liefen sie alle durcheinander und warfen sich jeder Person im Raum um den Hals, während sie »Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid!« riefen.
Aus irgendeinem Grund klammerten sie sich auch an mich und entschuldigten sich, obwohl sie mir doch gar nichts gemacht hatten. Das war wahrscheinlich einfach der Schock.
Nach ein paar Minuten legte sich der Tumult wieder und alle sieben Kinder lagen wie ein riesiger Berg aus Menschen zu meinen Füßen und weinten.
»Ho, ho, ho, jetzt weint doch nicht!«, meinte ich und hockte mich hin, weil ich es nicht mochte, wenn jemand weinte. Ich war eben ein Weichei. Aber der Weihnachtsmann durfte das, oder?
»Ihr seid doch alle brav, ho, ho, ho!«
Ein kleiner Junge sah auf und blickte mich aus tränenverschmierten Augen an. »W-wirklich?«
»Ho, ho, ho, aber sicher doch! Und ihr bekommt auch alle eure Geschenke, ho, ho, ho!« Dafür hatte ich eindeutig eine Gehaltserhöhung verdient.
Ganz nebenbei fragte ich mich, wie eine einzige Frau so viele Kinder haben konnte. Das war doch nicht mehr normal.
Langsam beruhigten sie sich wieder und ich konnte schließlich endlich mit dem Geschenkausteilen beginnen.
Und wie versprochen, bekam jeder etwas und sie freuten sich über so simple Dinge, wie ein selbst gebasteltes Spielzeugauto, eine Tüte Bonbons oder einen Block mit Zeichenpapier.
Die Teenager lächelten mich seltsamerweise an, als ich ihnen ihre Geschenke überreichte und ich war vollkommen verwirrt, als mir einer von ihnen auch noch auf die Schulter klopfte.
Und dann, nach mehreren Dankeschöns
und Bitte bleiben sie dochs
und Das war das beste Weihnachten aller Zeitens
und Ich will mehr von Crystal Dealer hörens
wurde ich endlich von einer blonden Vierzehnjährigen zur Tür gebracht, die mich dort schließlich ganz seltsam ansah.
Als ich dann ein nervöses »Was?« herausbrachte, lächelte sie, zog meinen weißen Bart herunter und küsste mich auf die Wange.
Ich zuckte zusammen und starrte sie ungläubig an, während sie kicherte.
»Danke. Eigentlich sind sie nie so begeistert, weil die anderen Weihnachtsmänner immer überhaupt keine Lust auf das Ganze haben. Naja, du wahrscheinlich auch nicht, aber irgendwie war es trotzdem lustig. Also, danke, dass du ihnen das beste Weihnachten ihres Lebens gegeben hast.« Dabei sah sie mich warm an und kicherte wieder, als mir die Kinnlade herunter fiel. »Guck nicht so. Sei lieber stolz auf dich. Wie heißt du überhaupt?«
Ich grinste und entgegnete nun selbstsicherer: »Na Koks Dealer, natürlich! Ho, ho, ho!«
Lachend schloss sie die Tür und ließ mich draußen in der Kälte stehen.
Als ich langsam durch den Tiefschnee durch den kleinen Vorgarten stapfte – auf den Wegen, selbstverständlich –, hatte ich immer noch ein Lächeln auf dem Gesicht.
Wie beiläufig warf ich einen Blick auf das Schild des weißen Briefkastens und meine Augen schweiften automatisch über die langsam abblätternden Buchstaben, ohne, dass die Bedeutung wirklich in meinem Gehirn registriert wurde.
Als ich dann schon fast an meinem Wagen war, hielt ich inne und lief noch einmal zurück, um fassungslos auf das Schild zu starren.
Kinderheim für Waisen
Finanziell unterstützt und gegründet von Crystal Dealer
Ne, oder?!
Ende
.
Texte: Die Kurzgeschichte "Crystal Dealer" ist aus den tiefen Ursprüngen meiner gruselig ausgeprägten eigenen Fantasie entstanden, durch die dank des Informatikunterrichts der fünften Klasse erstaunlich flinken Tippfinger meiner allerliebsten Hand in Worte gefasst, in der Gewissheit absoluter Einsamkeit in meinem frisch weihnachtlich dekorierten Jugendzimmer ohne schulterblickende Mitleser geboren und letztendlich vollkommen überraschend und allein in meinem Wissen auf dieser Seite aufgetaucht. Ja, ich glaube, das Copyright ist somit meins.
Bildmaterialien: Das Titelbild habe ich von der Website: http://www.bilderkiste.de
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2011
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