Cover

Anfang

Der Weg

Der Weg raus

Teil 1

 

 

Das Leben

und die

demütige bedingungslose

Akzeptanz von Mutter-Natur

ist der Beginn allen Seins.

 

Alles andere der Untergang.

 

Glam`mue, Neabeos 3127

Der Weg

SciFi-Erzählung

von

Spike Sol

 

Band 1

Der Weg raus

 

 

 

Impressum:

Spike Sol c/o Schermer

Tilsiter Str. 2E

22049 Hamburg

Deutschland

Spike.Sol.Soloton@gmail.com

https://soloton.webnode.com/der-weg/

 

Lektorat: Nadine Manz

 

Alle Recht vorbehalten. Alle Texte, Textteil, Grafiken, Layouts sowie alle sonstigen schöpferischen Teile dieses Werks sind un­ter urheberrechtlich geschützt und jedwede Änderung des Dokuments untersagt. Das Kopieren, die Digitalisierung, die Farb­verfremdung, die Komprimierung in ein anderes Format und Ähnliches, stellen auch eine urheberrechtlich relevante Vervielfäl­tigung dar. Verstöße gegen den urheberrechtlichen Schutz sowie jegliche Bearbeitung der hier erwähnten schöpferischen Ele­mente sind nur mit ausdrücklicher vorheriger Zustimmung des Verlags und des Autors zulässig. Zuwiderhandlungen haben Un­terlassungs- und gegebenenfalls Schadenersatzansprüche zur Folge und werden auch strafrechtlich verfolgt.

 

 

Copyright by Spike Sol 2018

Inhaltsverzeichnis

1 Nu aber 7

1.1 Das Bett 7

2 Beginn 15

2.1 Die Garage 15

2.2 Die Langeweile 25

2.3 Die Kneipe 32

2.4 Nicht der erste Kontakt 47

2.5 Die Visitenkarte 52

3 Das Kino 94

3.1 Vor dem Film 94

3.2 Der Film 124

3.3 Nach dem Film 148

4 Die letzte Woche 157

4.1 Mittwoch 157

4.2 Donnerstag 171

4.3 Freitag 196

4.4 Samstag 223

4.5 Sonntag 239

4.6 Montag 248

4.7 Dienstag 279

5 Das Camp 329

5.1 Der Geist 329

5.1.01 Die Ankunft 329

5.1.02 Die Inspektion 342

5.1.03 Die Einkleidung 352

5.1.04 Die Unterkünfte der Habitat I 362

5.1.05 Nach der Einkleidung 371

5.1.06 Das Tablet 378

5.1.07 Sanitär 384

5.1.08 Knutschen 386

5.1.09 Das erste Abendbrot 400

5.1.10 Erster Diensttag 405

5.1.11 Die erste Entscheidung 412

5.2 Körper 422

5.2.01 Vorbereitung zur ersten Party 422

5.2.02 Die Party 431

5.2.03 Nach der Party 454

5.2.04 Die Rückkehr 489

5.2.05 Die Neuen 499

5.2.06 Der Steinbruch 509

5.3 Seele 525

5.3.01 Die Zielgerade 525

5.3.01.1.1 Erste Gruppe 531

5.3.01.2.1 Zweite Gruppe 535

5.3.01.1.2 Die Spreizung 539

5.3.01.2.2 Seile 544

5.3.02 Am Abend 557

5.3.03 Das Gemeinschaftsexperiment 576

5.3.04 Am nächsten Morgen 643

5.3.05 Das Gewissen 686

5.3.06 Neabeos 694

5.3.07 Der Endspurt 712

6. Die Ansprache 729

Nachwort 755

Danksagung 756

 

Buch 1 -
Der Weg raus

1 Nu aber

Erde, später Nachmittag, Samstag, der 10. Juni 3245. Alles ist verseucht.

1.1 Das Bett

Das Bett quietscht unfassbar. Die Phase zärtli­cher Streicheleien haben die Beiden längst hinter sich. Er liegt auf dem Rücken und sie reitet auf ihm, als wäre die Kavallerie hinter ihnen her.

Jieg Jieg Jieg Jieg. Das Kopfende des Bettes schlägt rhythmisch an die Wand.

Sie schreit immer lauter: »Fester, fester… Ja, ja, ja…« Und immer dieses Quietschen des Bet­tes.

Der Nachbar rammt ständig den Besenstiel von der anderen Seite an die Wand. Das haben die beiden gar nicht mehr gehört. Ihre Haut ist heiß, Schweiß perlt überall. Rhythmisch klat­schen nasse Schenkel aneinander, beide stöhnen so laut sie können. Er scheint sie regelrecht auf­zuspießen und sie es zu genießen.

Der Nachbar verleiht seinem Missmut hartnä­ckig Ausdruck.

»Geht das da noch LAAAUUUDER, oder was?«, brüllt er von nebenan. Noch lauteres Auf­schreien: »Ja ja ... ja ich, ich och k… kk…«

Seine Stimme versagt und sie fiept in den höchsten Tönen. Ein Geysir der Gefühle lässt den Körper beben und explodieren wie Feuerwerk mit Donnerhall…

Und langsam, … ja … langsam, ganz langsam, finden beide ihren Frieden wieder.

»Boah war das schön, Sudi«, wie er Sudenia liebevoll zu nennen pflegt. Sie lächelt ihn an und sinkt mit wohliger Erschöpfung in seine Arme.

Im Gegensatz zu den kleinen Freunden im Le­ben ist die Welt da draußen von langweiliger Rou­tine geplagt. Das Licht tritt in Streifen von der Neonreklame bunt blinkend durch die Lamellen der Jalousie und erhellt wie feine Laserstrahlen die winzigen Staubpartikel, die durch die Luft tanzen in allen Farben, im sonst gelben, fast fade wirkenden Raum. Er streichelt ihren Rücken, wie sie noch eine Weile so da liegen.

Anschließend wird er aktiv.

Er verschwindet rasch im Bad, kommt aber schnell wieder raus. Als er sich anzieht, bemerkt er, dass die Badezimmertür erneut ins Schloss fällt. Rodreon will noch mal zum Kumpel runter, will sich aber vorher von Sudi verabschieden. Und er setzt sich und wartet.

Er nimmt sich eine Zeitung…..

Irgendwann steht er auf und holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Dann setzt er sich wieder.

Zeit vergeht.

Er schaut sich im Wohnzimmer um. All die Po­kale, die Sudi und er in den Jahren gesammelt ha­ben. Und seine Öllampe, die er von seinem ersten Meister in Spanien bekommen hat. »Sie solle Dir Glück bringen auf all Deinen Pfaden«, hat der Sensei damals gesagt, Rod lächelt.

Kampfsport sehen die beiden nicht als Akt der Gewalt, sondern als eine Art der Meditation, als Entspannung vom Alltag, als Ausgleich, ja beina­he als Tanz an.

Nach einer ganzen Weile, das Radio dudelt vor sich hin, und nach einem Werbespot sagt der Sprecher die Uhrzeit durch. Mit einem kleinen Schwung des linken Handgelenks erscheint ein holografisches Display und zeigt die Zeit noch einmal an.

Rod wird ungeduldig. »Schatz, alles klar da drin? Will Dir noch Tschüss sagen, muss gleich mal los.«

Innerlich fängt er bereits an zu kochen. Aus seiner Kindheit heraus hat er einen leichten Hang zum Choleriker, gerade wenn es wie im Moment im Allgemeinen nicht so gut läuft. Seine Unge­duld wächst ins Bodenlose.

»Ich komme gleich«, tönt es von innen.

»Ja, mach hin, ich will los«, meint Rod, wie er meist kurz genannt wird. Inzwischen ist er sicht­lich genervt.

»Frau Seva, hamma's bald?«

Jetzt wird er langsam echt sauer. Was macht die da drin, solange.

»So, ich geh' schon mal los, lass Dir Zeit.«

»Nee, nee warte. Will Dir noch 'n Küsschen ge­ben«, ertönt, von einem Badezimmerhall unter­malt, Sudenia's Stimme.

Dann kommt sie aus dem Bad und hat Ihre Haare nach dem Duschen in ein pinkfarbenes Handtuch gewickelt, einen pinkfarbenen Frottee-Bademantel an und kleine Häschenschühchen mit Öhrchen dran.

Natürlich hätte er längst losgehen können, aber da steht er sich mal wieder mal selbst im Weg. Er wartet, er wird immer saurer. Wut steigt auf. Und nun? Alles in Pink! Er hasst Pink. Und dann die Häschenschühchen. Das war zu viel.

»Und dafür hast Du mich nun fast eine Stunde warten lassen?«, brüllt er sie an.

Sein Kopf wird knallrot.

»Für Häschenschühchen?«, geifert er und fasst es nicht. Dann knallt er Ihr Eine im Vorbei­gehen und geht.

Hinter der zugeschlagenen Tür bricht sie in Tränen aus.

Unfassbar, was für ein Arschloch, denkt sie. Eben war es so schön und nun so was.

Sie reibt sich die Wange, geht in die Küche und gönnt sich einen Eierlikör. Nicht der von frü­her, nein, sie hatte nur dieses synthetische Zeug. Aber besser als nichts.

-*-

Es ist nicht die Straße da draußen, es ist das Treppenhaus, denn das ganze Gebäude ist so groß, das es Europa vollständig einschließt. Alles ist in »EINEM Haus«. Ganz Europa ist in einem Gebäude untergebracht, Vieh, Landwirtschaft, In­dustrie, Nutzholzflächen, einfach alles ist in ei­nem gigantischen Gebäude.

Einer der letzten 5 Orte auf dieser Welt in de­nen 8,5 Milliarden Menschen leben. Ja! 8,5 Milli­arden Menschen in einem »Haus«. Okay, das Ge­bäude ist etwas größer, schon klar.

Es gibt 5 Gebäude dieser Größe auf dem Pla­neten. Der Rest des Planeten ist nicht mehr be­wohnbar. Die Weltbevölkerung liegt bei weit über 42 Milliarden Menschen, so genau weiß man das ehrlich gesagt gar nicht, und das führt zu Proble­men, die massiv nach einer Lösung schreien.

Diese weltweit 5 großen Häuser sind wie Raumstationen, hermetisch abgeriegelt. Nichts kommt rein, aber Abgase und Müll gehen raus. Architektur gibt es keine mehr, draußen sind die Wände gerade, glatt und grau. Fenster gibt es nach draußen nicht, weil das Elend sowieso kei­ner mehr sehen kann, und will.

Innerhalb des Hauses gibt es Fenster. Aber es gibt kein »Draußen« mehr im eigentlichen Sinne. Hat man die Wohnung verlassen, ist man nur »quasi draußen«. Es gibt Wege, Tunnel und Gän­ge, schwebende Verkehrsmittel und die zuweilen über weite Strecken, aber es ist immer innerhalb des kontinentalen Gebäudes. Alles ist überdacht und von der Außenwelt abgesperrt. Das wurde erforderlich, weil draußen alles verseucht und verstrahlt ist.

Die Reichen haben es geschafft, jedes bisschen Individualität auszurotten. Hier wird sogar kon­trolliert geatmet. Nichts ist mehr kostenlos. Alles kostet etwas. Auch das Atmen. Entweder Du tust, was man Dir sagt, und arbeitest hart und fleißig und zahlst Deine Rechnungen, oder Dir wird ganz schnell klargemacht, dass Dein bisheriges Leben gar nicht so schlecht war.

2 Beginn

Beginn

2.1 Die Garage

»Ehy Barbotis, was geht Mann, alles fit im Schritt?«

»Heeyyyy….«, erwidert Barbotis und steht auf, nimmt Rodreon kurz männermäßig in den Arm. »Wie geht’s Sudenia?«, will Barbo wissen.

»Oh alles hochkant, das Häschen ging gerade ab wie 'ne Rakete«, meint Rod und schlägt drei­mal mit der Fingerspitze auf eine Dose Bier, be­vor er sie öffnet. >>Zisch<<

»Aber dann fing sie wieder an mit ihrem Rosa-Tick. Ich hasse das. Sie ist doch kein kleines Kind mehr«, motzt er herum, versucht aber, dabei ru­hig zu bleiben, wenn auch mit wenig Erfolg.

»Und bei dir?«, erkundigt sich Rod.

»Alles klar man, musste wieder mal den Job schmeißen, aber das ist mir heute Abend egal, der ist morgen auch noch weg«, Barbo versucht, seinen Frust zu überspielen.

Rod zoscht ein paar große Schlucke des kalten Biers, und bringt ein lang anhaltendes »Aaaahhhh­hh« mit einem ausgedehnten Rülpser zu Gehör.

»Dann sind wir wohl beide nicht so gut drauf, wa?«, meint Rod und lässt sich in die Couch fal­len.

Barbo holt sich ebenfalls ein Bier aus dem Eis­schrank.

»Die machen mit dir was sie wollen. Und du hast keine Chance, etwas dagegen zu tun. Egal was ist, die haben immer recht«, erklärt Barbo. Als ob Rod das nicht wüsste.

»Weißt du schon, was du tun wirst?«, erkun­digt sich Rod.

»Naja ich hab…« Barbo stockt. »Ich hab noch keine Vorstellungen. Ich werde erst einmal sehen, welche Möglichkeiten noch bleiben. Es muss ja weiter gehen«, sagt Barbo und nimmt Anlauf ei­nen riesigen Schluck Bier zu nehmen, setzt aber dann doch noch mal ab.

»Ich meine, ich sehe ja ein, das man so viele Menschen auf der Welt nur noch wie Vieh halten kann. Es ist einfach zu voll hier auf der Erde«, Barbo lässt resigniert den Kopf hängen.

»Man sollte keine Kinder mehr kriegen. Die machen alles nur noch schlimmer«, meint Rod.

Rods Feststellung sorgt für ausgedehntes Schweigen.

»Hast du schon mal über Kinder nachge­dacht?«, will Barbo schließlich wissen.

»Über das ´Machen´ schon, aber ´Vater sein´? Nein, nicht wirklich«, sagt Rod und beide lachen.

»Ja genau!«, meint Barbo.

Rod ergänzt: »Wobei ich mir keine bessere Mutter als Sudi vorstellen kann.« Er muss an die Ohrfeige denken. Das war nicht richtig. Das hätte ich nicht tun sollen, denkt er.

»Trisch und ich haben es versucht, aber ich weiß nicht, was dabei heraufgekommen ist. Trisch ist seit einiger Zeit sehr still und wenn ich das Thema anschneide, weicht sie mir aus«, sagt Barbo.

»Dann weiß sie was, denke ich mal.« Rod, schaut seinem Freund in die Augen.

»In erster Linie bedeutet das, dass du wieder einen Job finden musst«, stellt Rod fest.

»Ich werde morgen mal bei uns anfragen, ob da wer gebraucht wird. Du kannst doch mit 'nem Hammer umgehen, oder?«

»Ich bin der Hammer! He he he.« Barbo`s Lau­ne scheint sich zu fangen.

»Hast du eigentlich mal über die Zukunft nachgedacht?«, will Rod wissen. »Wo du in 5 Jah­ren stehen willst?«

»Nein«, entgegnet Barbo. »Das bringt doch nichts. Solche Überlegungen hätten Sinn, wenn man einen Einfluss auf das hätte, was kommt. Aber das kannst du in unserer Welt doch völlig vergessen.«

Rod, senkt seinen Kopf und schaut nachdenk­lich auf den Boden.

»Stell dir vor«, setzt Barbo noch mal an, »du findest einen Diamanten, einen Einzigen, wertvoll und kostbar. Du würdest ihn hüten wie deinen Augapfel. Aber würdest du am Strand spazieren gehen und der ganze Strand wäre aus Diaman­ten, würdest du nur bemerken, wie es an den Fü­ßen pickst und es besser wäre, wenn sie nicht da wären. Weißt du was ich meine?« Rod nickt.

»Wir sind zu viele. Jeder einzelne von uns ist entbehrlich. Eher eine Last als ein wertvoller Teil der Gesellschaft.«

Rod, atmet tief durch und zoscht noch mal tüchtig am Bier.

»Der Reichtum des Einen, ist die Armut des Anderen und umgekehrt. Wenn immer weniger Reiche immer reicher werden wollen und es nicht mehr genug Leute gibt, denen man etwas weg­nehmen kann, müssen immer mehr Leute her, die immer ärmer werden. Deshalb wächst unsere Be­völkerung unaufhörlich, damit es mehr arme Leu­te gibt und die Reichen immer reicher werden. Nur wenn genug Leute da sind, kann man die Preise hochtreiben, weil die Nachfrage entspre­chen hoch ist. Und ist die Nachfrage entspre­chend hoch, kann man Kredite verkaufen, die du dann mit Zinsen zurückzahlst.« Barbo kommt mächtig in Fahrt.

»Bei jedem Zuhälter gäbe es ganz fürchterlich auf die Fresse, wenn du dein Geld nicht zurück­zahlst, Banken verkaufen dir nur einen neuen Kredit. Sie leihen dir auf dem Konto Geld, was gar nicht da ist, das steht nur in den Büchern. Und du musst es durch ehrliche Arbeit verdienen. Du leihst dir 10.000 Credits und musst 11.000 in einem Jahr zurückzahlen. Kannst du das nicht, leihen sie dir 11.000 Credits und mußt 12.100 Credits zurückzahlen, und so weiter, und so wei­ter, und so weiter. Was du zurückzahlst, wird im­mer mehr, nur bekommst du das Geld nie zu se­hen.« Barbo ist kaum zu bremsen.

Schweigen.

Barbo findet sich und die Erklärung gar nicht mal so schlecht.

Rod nickt. Beide nehmen noch mal einen tüch­tigen Schluck Bier.

»Ja, du kommst hier einfach nicht auf den grü­nen Zweig«, erkennt Rod nickend.

»Komisch eigentlich, was die Menschen so al­les mit sich machen lassen. Ich meine, da werden wir nach Strich und Faden verarscht und keiner findet das merkwürdig. Alle gehen irgend einer Arbeit nach, gehen dann nach Hause, schauen Fernsehen oder aufs Handy, oder sprechen laut­stark als wäre es so wichtig, dass es jeden inter­essieren müsste, im Personal-Rapid-Transit (PRT) mit Leuten, die gar nicht da sind. Jede Form von Freundschaft ist von technischen Einrichtungen abhängig. So wie wir, trifft sich doch keiner mehr.« Barbos Stimme klingt resigniert.

»Doch Kneipen gehen noch«, meint Rod und nimmt noch einen Schluck.

»Was würde ich drum geben, wenn ich hier wegkönnte«, meint Barbo.

»Ja!«, Rod nickt. »Aber wo willst du hin? Die Erde ist total verkorkst. Du findest keinen Platz mehr, an dem man neu anfangen kann. Außerhalb der Städte ist alles Strahlen verseucht. Nur in den Städten bist du vor Strahlung geschützt. Draußen hat man die Ozeane weitestgehend ent­salzen, das Salz in alle Hohlräume des Planeten gepumpt, die durch den Raubbau an Erdöl und Erdgas entstanden sind, um atomare Endlager daraus zu machen. Das übrig gebliebene Süßwas­ser können wir heute für ein Vermögen als Trink­wasser kaufen. Ich meine, die verseuchen den ganzen Planeten und wir bezahlen sie auch noch dafür. Da ist doch irgendwas gewaltig schiefge­laufen«, Barbo blick etwas ängstlich zu Rod.

»Noch' n Bier?«, fragt Rod.

»Ja, klar«, sagt Barbo.

Nichts geschieht.

»Das war keine Frage, sondern eine Bitte«, meint Rod.

»Ja, Ja. Kannst mir auch eins mitbringen, da bin ich gar nicht so«, meint Barbo, der immer noch nicht verstehen will, dass Rod gerne von ihm ein Bier gehabt hätte, nicht umgekehrt.

»Fauler Sack«, brummt Rod und grinst seinen Freund an. Sie lachen und er steht auf, um für beide noch ein Bier zu holen.

»Hepp!«, ruft Rod und wirft Barbo die Dose zu, ohne darauf zu achten, ob er die Dose fängt. Doch reflexartig kommen die Hände im richtigen Griff zur Dose.

»Danke Alter.«

»Mit deiner Musik? Ich meine, machst du noch was? Spielst du noch in einer Band?«, erkundigt sich Rod.

Barbo meint: »Ja Mann, ich übe zurzeit alleine. Die Band? Naja. Die haben alle Zusatzschichten angenommen und kamen nicht mehr zum Üben. Da haben wir es bleiben lassen. Echt schade, Mann. Hatten immer viel Spaß zusammen. Aber die müssen halt auch sehen, wo sie abbleiben. Bin niemandem böse oder so.« Barbo schaut aber schon traurig nach unten.

Mist, denkt Rod, das hätte ich besser nicht ge­fragt.

»Soll ich mal die Glotze anmachen?«, fragt Rod.

»Ja, mach mal, schön bunt da.« Barbos Stim­mung ist wieder auf dem Nullpunkt.

»Ich könnte 'ne Pizza vertragen, was meinst du?«, fragt Rod und Barbo nickt.

»Ja, ich ruf mal an, was willst'n für eine?«

»Frag mal, was sie da haben«, meint Barbo und Rod greift zum Telefon.

2.2 Die Langeweile

Sudenia schmeißt gelangweilt die Zeitschrift auf den Tisch und nippt einmal am Eierlikör. Sie macht einen etwas genervten Gesichtsausdruck, als sie versucht, ohne aufzustehen, irgendwelche Falten des Bademantels, auf dem sie selber liegt, wegzubekommen. Sie versucht, liegend zu hüp­fen, was mit Sicherheit für jemanden, der es ge­sehen hätte, komisch ausgesehen haben muss.

Aus dem Fernseher kommt ständig Werbung. Dazwischen irgendwelche Spielshows. »Farben­froher Blödsinn, der einem das Resthirn einwi­ckelt«, murmelt Sudi vor sich hin und fängt an zu Zappen.

Nachdem sie die 93 freien Kanäle zweimal durch gezappt hat, hat Sudi es eingesehen. Es gibt nichts!

Natürlich nicht, es gibt nie etwas, außer das, was als moderne Form der Gladiatoren-Kämpfe durchgeht. Shows, in denen sich die Leute anpö­belten, eine heißt »Triumpf über Horst«, aber ihn zu schlagen ist gar nicht leicht, der steht im­mer wieder auf.

Das Telefon klingelt und aus dem Fernseher kommt: »Heute ist Samstag, der 10. Juni 3245, wir senden Nachrichten.« Zipp ist die Kiste aus.

Zum wiederholten Male klingelt das Telefon.

»Hallo?«, nimmt Sudi den Hörer ab.

»Bist du das, Sudi? Hier ist K'TrischaFenya.«

»Hey Trish, wie geht’s?«, will Sudi wissen.

»Naja 'n bisschen einsam gerade. Barbo ist ja mit Rod unter­wegs und im Fernseher gibt’s nur Mist«, sagt Trisch und klingt dabei etwas nieder­geschlagen.

Sudi versucht sie aufzumuntern: »Naja, die bei­den haben ja auch mal einen Männerabend ver­dient. Nimm's leicht, so hast du mal Zeit für dich, ist doch auch viel Wert, oder?«

»Ja, da hast du recht«, sagt Trisch und Sudi spürt, dass da noch etwas anderes ist.

»Ist irgendwas mit Barbo?«, hakt Sudi nach.

»Nein, nein… Na ja Barbo hat den Job verloren, aber sonst geht' s ihm gut«, entgegnet Trisch und Sudi bohrt weiter.

»Was ist denn los? Du hast doch was! Bist doch sonst nicht so knapp angebunden, zumal du mich angerufen hast, nicht umge­kehrt.« Sudi macht sich Sorgen. Wenn es ein Problem gibt, dann ist es besser, es zu besprechen, als hier herumzu­drucksen.

»Naja, es ist…«, so langsam löst sich bei Trisch der Knoten in der Zunge. »Es ist so, ich bin schwanger.«

»Waaaaaaassssssssssssss? Das ist ja super, herz­lichen Glückwunsch. Das ist die beste Neuigkeit seit Monaten. Trisch, ich knuddel dich, mein Schatz«, meint Sudi zu ihrer Freundin ganz auf­gelöst.

»Ich wünschte ich könnte deine Freude teilen«, lenkt Trisch gleich ein.

»Warum, was ist los?«, will Sudi wissen.

Trisch klingt nicht sehr optimistisch.

»Naja, ich hab keinen Job, Barbo hat keinen Job, die Woh­nung hier ist nun wirklich kein Paradies und wie es weiter gehen soll, wissen wir auch nicht, und nun noch das Kind. Es wird die Sache nicht leichter machen«, stellt Trisch besorgt fest.

»Das ist wahr. Wieso hat Barbo den Job verlo­ren?«, fragt Sudi nach.

»Naja, sie haben wiedermal Plätze gestrichen, und da war er nun dran«, erklärt Trisch.

»Diese Säcke!«, schimpft Sudi nickend, obwohl Trisch es ja nicht sehen kann.

»Sag mal, wann fängt man eigentlich mit der Schwanger­schaftsgymnastik an?«, erkundigt sich Trisch.

»So genau weiß ich das auch nicht, war ja noch nie Schwan­ger, aber eine frühere Arbeitskollegin begann irgendwann im 7. Monat. So etwa fünf­undzwanzigste Woche. Also glaube ich jedenfalls, bin mir aber nicht sicher, wieso, wie weit bist du denn schon?«, erkundigt sich Sudi.

»In der 6. Woche, also noch ganz frisch alles«.

»Alles frisch bei Trisch, ist das nicht schön«, ver­sucht Sudi trällernd ihre Freundin aufzuheitern, aber so richtig will sich der Erfolg nicht einstel­len.

»Wenn alle Stricke reißen, rücken wir hier etwas zusammen und ihr zieht vorübergehend bei uns ein. Also ihr werdet weder verhungern noch ob­dachlos. Alles klar?«, legt Sudi fest.

Auch wenn Trisch nicht genau weiß, wie das Al­les laufen soll, ist sie über das Angebot sehr dankbar.

»Ich danke dir Sudi, so etwas hab ich gerade ge­brauchen kön­nen. Aber wir können doch nicht.«

»Doch könnt ihr!«, fällt Sudi ihr ins Wort. »Kannst du bitte erst mal obdachlos werden, be­vor wir klären was alles nicht geht?«

Trisch und Sudi lachen, dass erste Mal wieder.

»Schau, lachen ist viel besser als Trübsal blasen. Mit einem Lachen geht alles leichter und wir wer­den eine Lösung finden, glaub mir. Du wirst nie­mals alleine sein«, sagt Sudi, »Niemals!«

Trisch atmet auf. Sie hat es nicht gewagt, Hilfe zu erwarten, aber das war genau das, was sie zu hören wünschte.

»Wie ist es denn?«, erkundigt Sudi sich. »Ich meine, spürst du schon wie es wächst?«

»Nein, im Moment sind es mehr die Ängste, die von Außen kommen, als die von innen«, sagt Trisch, die sich inzwischen wieder gefasst hat.

»Die Fragen nach dem ´Wie wird alles werden?´ ´Die Ungewissheit´. Na ja, aber das machen wohl alle Mütter durch, oder?«, vermutet Sudi.

»Ja, denke ich auch, gerade heutzutage, wo man nicht mehr weiß, wie der nächste Tag werden wird. Eigentlich eine Scheißwelt. Man sollte hier keine Kinder mehr in die Welt bringen, es geht ja doch alles zum Teufel«, meint Trisch.

»Du denkst an Abtreibung?«, erkundigt sich Sudi.

»Nein, nicht wirklich, war nur so ein allgemeiner Gedanke«, sagt Trisch.

»Wir werden das Kind schon schaukeln.« Den Kalauer konnte Sudi sich nicht verkneifen. »Sieh' es mal so. Der Planet hat über 42 Milliarden Ein­wohner, es ist also schon X-mal gut ge­gangen, da werden wir deinen kleinen Scheißer auch ver­nünftig auf die Welt kriegen, ganz sicher«, meint Sudi nickend.

»Wir sind nicht die Feuerwehr und nicht Mutter Theresa, aber wir lassen euch nicht hängen. Alles klar?« Sudi schaut Trisch durch den Telefon-Hö­rer sehr ernst an.

»Mmmh«, auch Trisch nickt, wie ihr einfiel, dass Sudi das durch den Hörer ja nicht sehen kann.

»Wer ist Mutter Theresa?«

2.3 Die Kneipe

Rod und Barbo machen sich, einmal im Monat zum Männerabend, in die Kneipe auf. Es ist laute Musik bis weit auf die Straße vor der Tür der Kneipe zu hören. Die Tür steht offen und die Lich­ter der Straße sorgen für einen erheblichen Teil des Lichtes innen, bis hin zum Tresen, der so im Halbdunkeln steht. Doch dann verfinstert sich al­les.

Es ist eng zwischen den Tischen und Stühlen in der gut besuchten Kneipe als breitschultrig, ei­nen gewaltigen Schatten werfend, Warwick wie ein Hüne in der Tür steht. Seine Schultern enden zur Mitte hinten irgendwo am Hinterkopf, einen Hals, mal so gesehen, hat er eigentlich nicht. Nur einen gewaltigen Stiernacken. Die Jukebox hört auf zu atmen, alle verharren in ihrer Bewegung und starren ihn an.

Warwick bleibt ein Weilchen in der Tür stehen, sieht sich ganz in Ruhe um, nimmt sich viel Zeit, seinen Blick durch den Raum schweifen zu las­sen, dann wird die eingetretene Stille nur von den knirschenden Schritten seiner schweren Stie­fel unterbrochen. Sich von selbst eine Schneise bildend, geht er auf die Bar zu.

»Hey Kumpel, gibst'n Hochhaus aus?«, zieht Dietel den Hünen an der Schulter, ohne zu be­merken, sich gerade in Lebensgefahr gebracht zu haben.

Dietel ist ein kleiner, sehr schmächtiger Quar­talssäufer, der mal wieder erfolgreich dabei ist, sich voll laufen zu lassen. Völlig unbeeindruckt wischt sich Warwick Dietel's Hand, ohne sie eines Blickes zu würdigen, von der Schulter.

»Geschmeiß!«, denkt er und nimmt mit einem grunzenden Nicken in der Mitte des Tresens Platz. Der Wirt versteht und zapft ein großes Hel­les. Dann beginnt auch die Jukebox wieder zu at­men.

»Ehy Tyyyyppppp!!«, kehlt Dietel lautstark, der sich irgendwie missverstanden fühlt, mit ei­ner ausladenden Armbewegung, die ihn etwas aus dem Gleichgewicht bringt, den Wirt jenseits aller Wahrnehmungsgrenzen an.

»Mach mir mal 'n Hochhaus, aber bubb bubb geh' dasssss, sonst mach ich den Lod'n hiäää zur Achterbohn.«

Der Wirt schenkt ein Glas 0.4 mit Rum ein und gibt eine kleine Cola dazu.

»Und das soll ich anschreiben, richtig?«, er­kundigt sich der Barkeeper mit breit gezogener Stimme und einem fast väterlichen Grinsen im Gesicht.

»Du pisssd ja n Helllseeehhh'rrr, Aaaallter...« Dietel versucht Balance zu halten.

»Iss aber der letzte Dietel. Gemischt wird im Mund«, brummt der Barkeeper.

Erneut muss der Schein der Straßenlaterne in der Tür zwei weiteren Gästen Platz machen. Rod und Barbo haben feuchtfröhlich die Bar erreicht.

»Ooops iss aber voll hier«, meint Barbo.

»Ja, ich will nur was trinken«, grollt Rod.

»Wir werden uns einfach mal an die Bar durch­arbeiten.« Barbo geht voraus. »Tschulligung, darf ich mal. Ich wollte nur... Dankeschön... tschulli­gung... Ich wollte nur... danke, sehr freundlich… Ich … ja … Dankeschön.«

Unweit der Bar steht in Pärchen auf und will gehen, als sie Rod von oben bis unten abfällig mustert und irgendwas faselt von: »Mann, ist der voll.«

Rod und Barbo ergreifen sofort die Chance und sichern sich den Tisch.

Barbo stellt gleich fest: »Ehy Mann, hast Du gesehen, wie die Dich angesehen hat, die steht auf Dich, man…..« Und schlägt Rod mit dem Handrücken leicht auf die Brust.

Rod lacht zwar über die scherzhafte Bemer­kung, muss aber sofort wieder an Sudi denken, die gerade alleine Zuhause sitzt. »Ich hätte sie nicht schlagen dürfen, das war nicht richtig«, denkt er immer wieder bei sich.

Barbo holt tief Luft und brüllt zum Barkeeper: »Zwei mal Lütt 'n Lütt und wo kein Schnee liegt, kannst Du laufen!« Der Wirt lächelt verständnis­voll und nickt langsam. Es gibt wohl nichts mehr, was in einer Kneipe passieren kann, was er nicht irgendwann in den letzten 30 Jahren bereits er­lebt oder gehört hat. Das war nun wirklich ein ganz alter Spruch.

»Mann, ich hab kein Bock mehr«, erklärt Rod recht lallig.

»Kriegst 'n Depri oder was?«, erkundigt sich Barbo.

»Nee, mal im Ernst, ist doch alles Scheiße. Du und Trisch, Ihr habt keinen Job, Sudi hat keinen Job, ich hab noch einen, aber wer weiß wie lange noch. Wir sind doch alle bloß Vieh für die.«

»Hey Mann, was los? Krieg Dich mal wieder ein«, versucht Barbo, seinen Freund zu beruhi­gen.

»Das kriegen wir schon wieder hin. Du hast doch noch 'n Job, ich bin es, der hier 'n Depri schieben müsste.« Auch Barbo´s Stimmung ist wieder mal beim Nullpunkt angekommen.

»Lütt 'n Lütt, 2 mal, kannst Dir abholen«, brüllt der Barkeeper über die laute Musik.

»Ja, kannst hier abstellen«, meint Barbo eben­so laut und wedelt zeigend, mit dem Finger, auf die Tischplatte.

»Das ist hier nicht das Moulin Rouge, also be­wegt Dich!«, meint der Barkeeper und lässt das kleine Tablett unbeaufsichtigt auf dem Tresen stehen.

»Halt mir mal 'n Platz warm, ich hol mal eben…« Barbo steht auf und versucht sich durch das Gedränge zur Bar vorzuarbeiten.

»Scheiße«, denkt Barbo, »gleich noch mit Ta­blett durch das Gedränge wieder zurück.«

»Ehy…. bissss Du nicht dei, dei jümmers so pett wenn hei geit?« Dietel muss wohl schon die 3‰ Grenze überschritten haben, wenn er an­fängt, Plattdeutsch zu sprechen. Barbo versucht ihn, zunächst Augen rollend, zu ignorieren, und behielt das Tablett fixiert.

»Sa‘mma‘, Du bist doch 'n Cooler, oder?«, lallt Dietel. Eine Ansage, die man nur schwerlich ver­neinen konnte und Barbo dreht sich genervt zu ihm um.

»Was !!!!????«, brüllt er Dietel an.

Dietel legt ihm seinen Arm so auf die Schulter, als würde er ihm im Vertrauen etwas sagen wol­len.

»Päss auf«, haucht er und hat eine fürchterli­che Fahne.

»Die Sache ist die…« Dietel scheint langsam auf den Punkt zu kommen.

»Der Arzt hat mir gesagt, ich soll immer viel trinken, damit ich von innen nicht austrockne, und da hab ich mich gefragt, ob Du mir nicht no' mal 'n Hochhaus spendidelidieren kannst.«

Da Barbo vorhin schon beschlossen hat, sich heute Abend zu amüsieren, lässt er bei Dietel mal Fünfe gerade sein.

»Magst Du dem Gentleman mal 'n Hochhaus machen«, brüllt er gegen die laute Musik zum Barkeeper.

»Der hat genug«, erwidert er.

»Wir haben das geklärt. Schreibs bei mir mit auf.« Barbo hat den Tresen erreicht.

»Na, wenn das so ist.« Der Barkeeper rechnet die Getränke zusammen, kassiert und macht sich gleich an die Arbeit.

Kurz darauf: »Das Hochhaus hat Dir der Typ dahinten ausgegeben, Dietel, sag schön danke.«

Dietel, der Mühe hat sich am dicken Seil des Tresens festzuhalten, schwingt seinen Arm durch die Luft und brüllt etwas von »Gesegnet sei der, der dem Dürstenden zu Trinken gibt« und rutscht daraufhin vom Barhocker runter, knickt mit den Knien ein und sitzt jetzt auf dem Boden und sieht nur noch Beine und Schuhe.

»Ohuu, dizz nich gut,« denkt er, »mal wiedä hochaabeidn…«

Barbo macht sich mit dem Tablett in der Hand auf den Rückweg zum Tisch. Unweit, am Billard­tisch, holt einer der Spieler zu einem kräftigen Stoß aus und trifft mit dem Billard Queue-Ende den Ellenbogen einer schönen Blondine, die ih­rerseits ein Glas Sekt in der Hand hält, welches überschwappt, woraufhin ihr Freund einen Aus­fallschritt nach hinten macht und Barbo in die Pa­rade fährt, der seinerseits versucht die Getränke auf dem Tablett zu retten, jedoch ohne Erfolg.

Erfrischend verschwinden zwei Helle und zwei eisgekühlte Köm in den üppig gefüllten Aus­schnitt einer Brünetten, deren Freund, ohne nachzudenken, Barbo mit einem gewaltigen rech­ten Haken auf die Sprünge hilft. Barbo überprüft daraufhin sofort die Festigkeit des Bodens, rap­pelt sich aber schnell wieder auf.

Und das ist nun wirklich erstaunlich. War die Kneipe eben gerade noch gerammelt voll, sodass kein Platz mehr war, haben die Beiden nun plötz­lich eine kleine Fläche für sich und bringen sich in Stellung. Niemand fragt sich, wo dieser Platz mit einem Mal herkommt.

Kurzer Schlagabtausch. Pamm, Pamm, Pamm ….. Man bewegt sich, man schleicht um sich her­um, man überprüft, was der Gegner so drauf hat. Da die Zeit für Höflichkeiten offenbar vorbei ist, wirft Barbo mal ein paar Kohlen ins Feuer.

»Weiß Deine Freundin, dass Du schlägst wie 'n Mädchen?« Barbo ärgert es, dass er 3 Gedecke bezahlt hat, nichts davon hat und nun auch noch auf die Mütze bekommt.

Wieder gibt es einen Schlagabtausch, bei dem diesmal der Typ für ein neues Arrangement des Mobiliars sorgt. Rod wird bei dem Ganzen lang­sam sauer und auch wieder etwas nüchterner, und sieht sich reichlich genervt das Affentheater an.

Der Typ und Barbo stehen sich wieder gegen­über und ein erneuter Schlagabtausch steht an. Diesmal etwas länger. Barbo scheint sich eine Weile ganz gut zu halten, endet dann al­lerdings doch, nach kurzem Flug durch die Knei­pe, auf dem unter ihn zerberstenden Tisch, wo Rod sitzt.

»Das reicht!«, meint Rod und steht auf.

In der Gewissheit das Barbo schon alleine auf­stehen kann, geht er ruhig in die Mitte.

»Ich mag es nicht, wenn mein Freund verprü­gelt wird«, erhebt Rod Anspruch auf die Ge­sprächsführung.

»Ach! Und wie meinst Du das verhindern zu können? Klugscheißer!« Der Typ zieht sich seine Kleidung zurecht.

»Ich hab mal Stricken gelernt«, erklärt Rod.

Ein schallendes Gelächter ertönt in der ganzen Kneipe. Dann kommt kurz und schmerzvoll ein 4-faches Trommelfeuer aufs Fressbrett und ein an­gezogenes Knie auf den Solarplexus. »Zwei links, zwei rechts, ein fallen lassen, hat meine Oma im­mer schon gesagt.«

Der Typ sinkt, nach Luft ringend, zu Boden.

Augenblicklich ist wieder Ruhe in der Kneipe.

Warwick scheint immer noch unbeteiligt mit dem Rücken zum Geschehen am Tresen zu sitzen, aber er hat soeben aufgemerkt, bewegt sich je­doch keinen Millimeter.

Es treten zwei Freunde des Typs aus der Men­ge hervor, helfen ihm auf.

»Ehy, bist Du in der Gewerkschaft, oder machst Du auch Überstunden?«, erkundigen sich die beiden. Und Rod bringt sich lächelnd in Grundstellung und meint »Schau an, 2 Nachhilfe­schüler, da werde ich gerne noch eine Lektion er­teilen.«

»Du nimmst Dein Maul ganz schön voll, oder ist das Mumps?«, meint der eine.

Rod erwidert: »Nein, ich bin Gebissträger.«

Wieder hagelt es eine blitzartige Folge von Schlägen und Tritten. Beide liegen schmerzerfüllt kurze Zeit später auf dem Boden, neben Ihren Zähnen.

Rod, stellt fest: »Ach, Ihr auch?« Dann wendet er sich langsam dem Tresen zu.

»Ist es noch möglich etwas zu Trinken zu be­kommen, ich denke man kommt mit dem Tablett nun besser durch«, meint Rod zum Barkeeper.

Während sich ein echtes Kraftpaket zwischen Warwick und Rod stellt und zu Rod meint »Es ist noch nicht vorbei.«

Rod, schaut nach oben und denkt »OhHa!«

»Ist es nicht?«, fragt Rod ungläubig.

Warwick greift den zwischen ihnen Stehenden mit der rechten Hand an den Hinterkopf und lässt sein Gesicht dreimal heftig auf der Tresenkante aufschlagen, sodass er augenblicklich mit Blut überströmtem Gesicht zu Boden gleitet.

»Doch ist es«, sagt Warwick. Er zottelt einen 1.000 Credit Schein aus der Tasche und meint zum Wirt: »Kauf die mal eine anständige Bestuh­lung…«, und schüttelt den Kopf: »Wie das hier aussieht?«, brummt er, dann schaut er Rod tief in die Augen und gibt ihm eine Visitenkarte. Wortlos verlässt er die Kneipe, wie er gekommen war.

Der Barkeeper steht einen Augenblick verdutzt mit dem 1.000 Credit Schein da.

»Sooo!!!« Er klatscht drein mal rhythmisch in die Hände, »Jeder nimmt sich schnell ein paar Teile und räumt sie an die Seite, ich will nicht das sich jemand verletzt.«

Er schaut auf den 1.000der und rechnet rasch den Schaden hoch.

»Da ist fett was über« Der Wirt lacht und ruft: »Lokalrunde! Aber nicht drängeln.«

Der Barkeeper hat nun erst einmal alle Hände voll zu tun und auch Dietel hat es geschafft sich wieder an dem Barhocker emporzuarbeiten. Vom Boden bringt er eine leere Flasche mit, die er an der Tresenkante zerschlägt.

Laut ruft Dietel durch die ganze Kneipe: »So Ihr Säcke, was wollt Ihr, ich mach Euch alle Platt!«

Wiedermal väterlich, reckt sich der Barkeeper über den Tresen, um Dietel einerseits in den Arm, und ihm andererseits die abgeschlagene Flasche aus der Hand, zu nehmen.

»Alles gut Dietel, hast doch schon gewonnen, Dietel. Du warst klasse«, meint der Barkeeper und Dietel guckt etwas ungläubig, weil er sich an seinen Kampf gar nicht erinnern kann, aber wenn der Barkeeper das sagt… »DÄ wüdde mich doch nich' anlügen. Wa? Odä?«, denkt Dietel.

»Gib Dietel noch 'n Hochhaus, wir beide hauen jetzt ab, Zeit nach Hause zu gehen…«, sagt Rod zum Barkeeper, dieser winkt noch mal. Dann schnappt Rod sich Barbo und beide verlassen die Kneipe.

2.4 Nicht der erste Kontakt

In einem beeindruckend edlen Büro mit auf­wendig verzierten Möbeln und weißer, erstaun­lich flauschiger Teppichauslage sitzt Dr. Jochen Janssen am Schreibtisch und schaut nachdenklich drein.

Es heißt, er sei der reichste Mann der Welt. Eine künstliche Sonne scheint von »Draußen« herein und vor der Terrasse ist ein wunderschö­ner Garten, mit einem kleinen Wasserfall.

Alles künstlich natürlich, manches sogar nur holografisch, aber das fällt nicht auf. Draußen zwitschern die Vögel und eine holografische Flie­ge verirrt sich in das Büro.

Dann erwacht die Schreibtischfläche zum Le­ben. Ein Licht geht an und ein Bild auf dem Moni­tor erscheint.

»Ah Dr. Chander, ich grüße Sie. Wie geht es meiner Familie?«, erkundigt sich Dr. Janssen.

Dr. Janssen spricht immer von seiner Familie, wenn er das Projekt »Habitat I« meint.

»Das ist der Grund meines Anrufes. Wir sind außerordentlich zufrieden und liegen fast eine Woche vor dem Zeitplan«, sagt Dr. Chander.

Dr. Janssen nickt: »Das hört sich fantastisch an, wie geht es Nikita?«, will er wissen.

»Oh, sie wird überrascht sein«, meint Dr. Chander. »Sie badet gerade.«

»Lassen Sie mal sehen. Drehen Sie die Kamera mal dahin«, sagt Dr. Janssen grinsend.

Dr. Vasudha, wie Nikita auf der Habitat 1 nor­malerweise angesprochen wird, kommt aus dem Wasser und trocknet sich ab.

»Grüßen Sie sie mal schön von mir«, sagt Dr. Janssen.

»Das werde ich«, entgegnet Dr. Chander.

»Wir müssen uns noch mal wegen der Ab­schluss – Inspektion unterhalten. Arbeiten Sie schon mal einen Plan aus, damit wir nichts ver­gessen und diese Formalität schnell über die Büh­ne bringen«, meint Dr. Janssen.

»Selbstverständlich Dr. Janssen«, Dr. Chander dreht sich zu Nikita um und ruft: »Ist der Boss, ich soll schön grüßen.«

»Grüß mal zurück!«, ruft sie vom See aus.

»Ich soll schön zurückgrüßen, sagt sie.«

Dr. Janssen lacht: »Ja, danke, ich habe es ge­hört.«

»Also, die Fertigstellung des Plans wäre gut bis, sagen wir Ende des Monats«, sagt Dr. Jans­sen und fügt aus Spaß noch an: »Und machen sie mir da keinen Unfug.«

»Sie kennen mich doch Dr. Janssen«, entgeg­net Dr. Chander grinsend.

»Drum eben!« Beide lachen.

»Janssen Ende.« Dann wird aufgelegt.

Dr. Vasudha, die einen ziemlich erotischen Ba­deanzug mit hohem Beinausschnitt trägt, nähert sich dem Tisch, an dem Dr. Chander sitzt. Dr. Chander kann sich zwar, wenn auch nur schwer, einen Pfiff verkneifen, sagt dann aber: »Der Bade­anzug entspricht aber nicht den Vorschriften.«

Die bildhübsche Nikita schaut an sich runter und meint: »Ein Glück!«

Lächelnd nimmt sie neben Dr. Chander am Tisch Platz. »Was haben wir?«, will sie wissen.

»Dr. Janssen kommt Ende des Monats und schaut sich die Habitat 1 noch einmal an. Wir müssen also überall noch mal feucht durchwi­schen«, meint Dr. Chander und Nikita grinst ihn an.

»Ok, ich mache das Krankenhaus, die medizi­nischen Einrichtungen, die Labore und die sozia­len Einrichtungen, Schule für Kinder und Er­wachsene, Kindergarten, und so weiter«, sagt Dr. Vasudha nickend.

Dr. Chander meint dann: »Dann nehme ich die physikalischen Einrichtungen, Energieversor­gung, Wasser- und Luftaufbereitung, Recyclings­ysteme. Die Einrichtungen sind so weit in Ord­nung, das wird nur schnell ein Abgehen werden, denke ich mal.«

Dr. Vasudha ergänzt: »Schön, dann können wir zum Schluss die gesellschaftlichen Einrichtun­gen, Wohnbereiche, Kultur, Sport und Freizeitge­staltung abschließend zusammen ma­chen, okay?«

Dr. Chander nickt und ergänzt: »In den einzel­nen Berufen können die Abteilungsleiter die Sa­che selber in Augenschein nehmen, oder? Was meinst du?«

Dr. Vasudha nickt. »Absolut!«

»Gut dann tun wir mal so, als hätten wir einen Plan«, sagt Dr. Chander und grinst breit.

Dr. Vasudha lächelt und Dr. Chander fügt an: »Und zieh' dir `was an, um Gottes Willen. Ich will nicht, dass deinetwegen noch irgendwo ein Unfall passiert, weil irgendwer nicht hinguckt, was er tut.«

Beide lachen und gehen dann an die Arbeit.

2.5 Die Visitenkarte

Am nächsten Morgen … Boah, hat Rod einen Geschmack im Mund. Rod denkt an die Kneipen­tour mit Barbo zurück.

Sudi räkelt sich im Bett. »Wie geht es dir Schatz?« Sie klingt mitfühlend. Aber von Rod kommt keine Antwort.

Er schmeißt die Decke weg und bleibt einen Moment auf der Bettkante sitzen, dann streicht er sich mit den Händen durch das Gesicht und meint zu Sudi: »Was immer bei dir gestern los war, es war besser, als das, was ich gemacht habe.«

»Och Schatz, so schlimm?«, erkundigt sich Sudi mit süßem Schmollmund.

Er sagt nichts und steht auf. Auf dem Weg ins Bad rempelt er an die Türzarge. Er schlägt mit dem Handballen dagegen und bellt: »Was?« Als ob die Zarge ihn versteht oder gar Schuld wäre an der Karambolage.

Für Sudi ist klar: Alarmstufe rot! Zwei Aspirin, Wasser im Glas und einen extra starken Kaffee. Zu Essen, denkt sie, braucht er nichts. Der be­kommt sowieso nichts runter. Sie ordnet einiges in der Küche, wie er aus dem Bad kommt.

»Geht's besser, mein Herz?«

»Ja, geht schon«, brummt er, verschwindet dann noch einmal im Schlafzimmer, um sich die restlichen Sachen anzuziehen. Dann kommt er in die Küche und setzt sich.

»Aaahhh Kaffeeeeeee, du bist ein Schatz«, sagt Rod und Sudi lächelt.

Sie stellt sich hinter ihn und massiert ihm den Nacken. »Wie geht’s deinem Gesicht? Hast du „diskutieren“ müssen?«, fragt Sudi und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, aber Rod antwortet nicht.

Es ist eher ein kurzer Brummton. Er findet eine Zeitung auf dem Tisch und beginnt, in ihr zu lesen. Es dauert eine Weile, bis er merkt, dass es eine alte Zeitung ist. Er legt die Zeitung halbiert zusammen, schmeißt sie, wie man früher Bierde­ckel geworfen hat, auf den Tisch und meint »Pas­siert auch immer das Gleiche, dasselbe stand ges­tern schon drin.«

Sudi lacht und er schaut zu ihr auf. Auch er kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Er steht auf. »Ich muss los, mein Herz. Lass dir den Tag nicht zu lang werden.«

Er nimmt Sudi in den Arm und küsst sie, als würde er sie nie wieder sehen. Fortwährend denkt er an gestern. Das mit der Ohrfeige tut ihm leid. Das hätte er sich besser verkniffen.

Dann öffnet er kurzentschlossen die Tür und geht zur Arbeit.

»Huch, was war das denn?« Sudi ist etwas au­ßer Atem, aber es war ein imposanter Kuss und sie lächelt.

Sie setzt sich wieder und trinkt in Ruhe ihren Kaffee aus, dabei liest sie ebenfalls in der Zeitung von gestern. Oder war es vorgestern, ach egal, Hauptsache 'was zu lesen. Die Nachrichten, die aktuell im Radio laufen, nimmt sie gar nicht wahr. Nur am Schluss plötzlich, da hört sie hin…

»Senator Rossman schlug eine weitere Kür­zung der Lebensmittel-Bezugsscheine vor. Ande­renfalls wäre ein weiterer Stellenabbau die un­weigerliche Folge. Anders wäre die Wirtschaft vor einer weiteren Krise nicht mehr zu bewahren. Luft- und Wasseraufbereitung, sowie die Müllab­fuhr und Energieversorgung können nur weiter aufrechterhalten werden, wenn jeder seinen Bei­trag leistet. So Senator Rossman in seiner gestri­gen Stellungnahme.

Das Wetter…«

»Was für ein Blödsinn, das ist doch alles ge­macht«, faucht Sudi, legt die Zeitung weg, und fängt an, den Haushalt zu machen.

Sie hat durch gesaugt und den Müll runterge­bracht, hier und da mal Staub gewischt und ist augenblicklich beim Abwaschen, wie es an der Tür klingelt.

»Ach wer ist das denn?«, fragt Sudi sich selbst. »Ich komme gleich!«, ruft sie in Richtung Woh­nungstür, und sucht schnell ein Handtuch, um sich die Hände abzutrocknen.

Nachdem sie die Tür geöffnet hat, sieht sie ei­nen Boten von einem dieser Paketdienste.

»Sie sind Frau ääähhh Seva?«, will der Bote wissen.

»Ja, bin ich«, sagt Sudi nickend.

»Ich hab hier ein Paket für Rodreon Seva.«

»Ja, das ist mein Mann.«

»Gut, dann brauch ich hier ein…«

Sudi's Hände greifen bereits nach dem Gerät, wo man den Daumen drauflegen muss, um den Empfang zu quittieren, dann gibt der Bote ihr das Päckchen.

»Einen schönen Tag noch«, wünscht der Bote.

»Danke, ihnen auch«, entgegnet Sudi und schließt wieder die Tür.

´Was da wohl drin ist?´, denkt Sudi und schüt­telt das Päckchen und horcht dran. Aber nichts.

»Ob Rod sich etwas bestellt hat? Er hat gar nichts gesagt.« Sie guckt stutzig, legt dann aber das Päckchen auf das Sideboard im Flur und ver­richtet weiter ihre Hausarbeit.

--*--

Am Arbeitsplatz von Rod ist es laut, es fliegen Funken. Rod ist Schlosser. Irgendwer flext und sägt immer irgendwas.

Rod brüllt zu seinem Kollegen rüber: »Ey, weißt du, was mir gestern passiert ist?«

Der Kollege schüttelt den Kopf.

»Ich war mit Barbo, den kennst du doch auch, gestern los, was trinken, mal 'ne Männertour ge­macht und da war«, Rod stockt plötzlich mitten im Satz. Er will gerade die Geschichte mit War­wick erzählen, erinnert sich dann aber an den Blick von Warwick, als er ihm die Visitenkarte gab. Einer spontanen Eingebung folgend denkt er plötzlich, es sei besser, es nicht zu erzählen, »na ja da war diese echt volle Kneipe. Es war nicht einfach, da einen Sitzplatz zu bekommen.« Rod nickt und hofft, dass sein kurzes Stocken nicht aufgefallen ist.

»So? Volle Kneipe was? War wohl nicht das einzige, was am Ende voll war.«

Beide lachen und Rod ist erleichtert über den Scherz, auch wenn er auf seine Kosten ging. Er überlegt plötzlich wieder eifrig, was es mit dieser Karte auf sich hat.

--*--

Sudi ist mit sich zufrieden. Sie ist mit dem täg­lichen Haushalt fertig und will schnell die Wäsche anwerfen. Sie holt den großen Wäschekorb und füllt die Waschmaschine. Bevor sie die Maschine anstellt, macht sie einen Kontrollgang durch die Wohnung.

Liegt noch irgendwo etwas, was mit rein kann. Das kleine Deckchen vom Wohnzimmertisch, könnte ja auch mal wieder, denkt sie. Anschlie­ßend im Schlafzimmer gucken. Ach die Sachen von Rod, von der Kneipen-Tour.

»Boioioioi.. oh-ha, die haben es aber nötig«, sagt Sudi leise zu sich selbst. Alle Taschen kon­trollieren, nicht dass etwas durch die Waschma­schine geht, was da nicht reinsoll.

»Oh! Eine Karte?«, stellt Sudi überrascht fest.

Es steht nur eine Adresse drauf. Kein Name, keine Telefon-Nummer.

Das ist ja komisch, denkt Sudi und dreht die Karte um. Da steht handschriftlich »Warwick«. Was soll das sein? Sudi ist etwas irritiert.

Wieder etwas, das sie nicht einordnen kann. Sie legt die Karte zum Päckchen auf das Side­board im Flur und die Wäsche von Rod ver­schwindet in der Waschmaschine. Sie macht die Maschine an und legt sich etwas hin.

--*--

Auf dem Heimweg nach der Arbeit geht Rod beim Juwelier vorbei. Sieht sich in der Auslage um und entscheidet, Sudi eine kleine Kette zu schenken. Es ist als Entschuldigung für die Ohr­feige angemessen. Er betritt das Juwelierge­schäft, und wird vom Verkäufer freundlich be­grüßt.

Ein schon fast alter Mann mit einem sympathi­schen Lächeln und einem auffallend geschmack­vollen Bart begrüßt ihn. Fast wie mein Opa frü­her. Für einen Geschäftsmann, der immer mit großen Summen und reichlich Edelmetall han­tiert, ist dieser gütige Gesichtsausdruck eher un­gewöhnlich, denkt Rod.

»Guten Tag, Sie haben da draußen im Fenster eine Kette, diese mit zwei silbernen Blättern und vier kleinen Stein drin.« Rod kennt sich nicht so aus, deshalb weiß er nicht, was das für Edelsteine sind.

»Ja, es sind wunderschöne Steine«, sagt der alte Mann, mit der Stimme eines Märchenerzäh­lers: »Warten Sie, ich hole sie Ihnen.«

Er öffnet die Schaufensterverkleidung von in­nen und schließt sie gleich wieder, nachdem er die Kette herausgenommen hat.

»Sind es nicht vier wunderschön funkelnde Steine?« Der alte Mann blickt Rod an, der lä­chelnd dasteht.

»Ein roter Rubin, ein blauer Saphir, ein grüner Turmalin und ein weißer Topas, die dünne Hals­kette ist aus Silber«, erklärt der alte Mann. »Die Steine symbolisieren die vier Elemente«, sagt der Verkäufer und Rod nickt geschäftig.

»Der Anhänger ist wie aus zwei silbernen Blät­tern geformt, die ineinander liegen. Jeder dieser beiden Blätter trägt zwei dieser Steine«, fährt der alte Mann fort.

»Vielleicht können Sie sie nett einschlagen? Soll ein Geschenk sein«, meint Rod und der Ver­käufer antwortet lächelnd: »Ich dachte mir schon, dass sie nicht für Sie ist.«

Rod schaut etwas verlegen: Nein, natürlich nicht.

--*--

Sudi wacht auf und ist spontan sehr in Eile. Sie hat etwas verschlafen und Rod wird jeden Mo­ment kommen. Bevor er kommt, sollte die Wäsche hängen. Sie bemerkt, wie sich jemand am Tür­schloss zu schaffen macht.

Es ist Rod: »Hey Schatz.«

Sudi lässt alles stehen und liegen und kommt ihm im Hausflur entgegen. Rod legt ab, nimmt Sudi kurz in den Arm und küsst sie, dann geht er ins Wohnzimmer.

»Wie war dein Tag?«, fragt Sudi, weil sie nicht mit der Tür ins Haus fallen will.

»Och danke, normal. Laut eben. Nichts Beson­deres.«

Rod lässt sich in die Couch fallen und schlägt auf dem Tisch die Beine über Kreuz.

»Endlich Feierabend. Essen fertig?« Rod ist ausgehungert, aber in Sudi obsiegt die Neugier.

»Nein, ich hatte mich am Nachmittag etwas hingelegt und verschlafen, ich mach gleich et­was«, sagt Sudi.

Er grabbelt nach der Fernbedienung. »Hast'n Bier da?«, fragt er und Sudi lacht. »Ach 'n Bier geht schon wieder? Wa?«

Sie verschwindet in der Küche, um ein Bier zu holen, und kommt zusammen mit dem Päckchen und der Visitenkarte wieder ins Wohnzimmer.

»Du schau mal, was heute gekommen ist«, meint Sudi und gibt ihm das Päckchen mit seinem Namen drauf. Er versucht, es aufzubekommen, aber die Klebestreifen hätten einen Atomkrieg überstanden.

»Warte«, sagt Sudi, »ich hol dir ein Messer« und verschwindet abermals in der Küche.

Sie gibt ihm das Messer und er macht das Päckchen auf. Er fummelt erst einmal überra­schend üppig Füllmaterial heraus.

»Das ist immer ein Wunder, was da alles hin­einpasst«, meint er und grinst.

»Ach pass' doch auf, ich hab gerade vorhin ge­saugt«, schmollt Sudi etwas gekünstelt.

Beide lächeln sich an. Rod hält kurz inne, als er sich das ganze Füllmaterial ansieht und sich wundert, dass das alles in diesem winzigen Päck­chen war.

Er holt 2 Armreifen heraus, schaut sie sich prüfend an und legt sie dann auf den Tisch.

Sudi nimmt sich einen, schaut ebenfalls kri­tisch und meint: »Chic ist ja was anderes.«

»Ich hab auch nicht das Gefühl, dass es sich dabei um Schmuck handelt«, sagt Rod und hält zwei Ident-Karten in der Hand. »Schau mal, da stehen unsere Namen drauf.«

Sudi nimmt eine und überprüft die Karte, das Material, die Flexibilität.

»Schau mal, ein Magnetstreifen und ein Chip«, sagt Sudi und Rod nickt. »Ich heiße aber nicht Rodreon«, stellt Sudi kopfschüttelnd fest.

»Ich heiße auch nicht Sudenia«, sagt er.

»Du hast meinen«, sagt Sudi und knufft ihn in die Seite.

»Ja«, lenkt Rod ein, »nun lass uns mal schau­en, was noch drin ist« und holt einen Flyer her­aus, faltet ihn auseinander. Bilder sind auf ihnen zu sehen, fantastische Bilder. Natur, Seen, Wie­sen, Wälder, schicke Wohnungen. Eben alles, was ein schönes Leben ausmacht und fundamental an­ders, als die Welt in der sie leben. Beide staunen nicht schlecht und schauen sich ungläubig an.

»Diese Bilder müssen 2.500 Jahre alt sein oder älter«, meint Rod. »So etwas gibt es heute gar nicht mehr.«

Sudi wird ungeduldig. »Gib mal her« , sagt sie und reißt Rod den Flyer aus der Hand, dreht ihn um, betrachtet ihn ungläubig von allen Seiten.

Rod liest währenddessen den Brief, den er au­ßerdem im Päckchen findet.

»Das 'n Scherz!«, meint Sudi.

Rod erwidert: »Nee, nee warte mal.«

Rod, murmelt beim Lesen unverständliches Zeug vor sich hin und schaut auf.

»Die suchen Leute, die in dieser Welt wohnen wollen. Das fass' ich nicht! Da würde mir der gan­ze Planet einfallen. Ich meine, wer will da nicht wohnen?«

Niemals hat Rod erlebt, das Informationsmate­rial derart viele Fragen aufwirft und gar nichts erklärt.

»Aber es wäre schon cool dort zu wohnen, fin­dest du nicht?« Sudi ist hin und weg.

»Sudi, mal im Ernst. Die Sache ist doch faul! Sie machen einem die größten Versprechungen und sagen nicht einmal, wer sie sind oder was sie tun. Keine Telefonnummer. Wir haben eine Adres­se und den Namen ›Warwick‹ von einer Visiten-Karte. Ah, hier ist sie ja, sonst nichts. Und ein paar schicke Bilder, die wer weiß woher sind. Wir wissen nicht einmal, ob die zusammen gehören. Ich trau' der Sache nicht.« Rod ist skeptisch.

»Was hat das mit den Armreifen auf sich?«, er­kundigt sich Sudi.

»Mmmh« Rod schaut sich prüfend eins genau­er an.

»Schmuck ist das nicht. Könnte mir denken, dass es irgendwelche Zugangscodes enthält, wer weiß.«

Sudi nimmt sich den zweiten und denkt über alles nach, was sie bisher gesehen hat.

»Wir sollten der Sache mal nachgehen«, meint Sudi.

»Warum?!«

»Naja, die Sachen sind irgendwie geheimnis­voll. Und wegschmeißen können wir sie immer noch, wenn uns nicht gefällt was wir vorfinden. Aber bis dahin wissen wir gar nichts.«

»Da ist etwas Wahres dran«, gibt Rod zu und nickt. Dann schaut er sich nochmal den Brief an.

»Ist das nicht faszinierend, mit wie vielen Wor­ten man gar nichts schreiben kann«, stellt Rod beeindruckt fest und legt den Brief aus der Hand.

»Ich finde, wir sollten da wenigstens mal hin­gehen und schauen, was da ist«, sagt Sudi, als sie sich den Brief noch einmal genauer ansieht. »Was haben wir zu verlieren?«

Rod nickt: »Ja, du hast recht. Komm, lass uns los.«

»Jeeeetttzzzttt!!!« Sudi klingt extrem über­rascht.

»Ja, wann sonst?«

»Naja, wenn du meinst. Warte ich hole nur schnell meine Sachen. Bin sofort fertig.«

»Keine Stunde im Bad, keine rosa Häschen­schüchen?«

»Nei-hein!!« Sudi grinst breit.

»Na gut, dann warte ich«, brummt Rod ge­spielt.

Dann sofort im Anschluss: »Bist schon fertig?«, stichelt Rod.

»Ich geb dir gleich ›fertig‹!« Sudi gibt Rod ei­nen Klapps auf den Po. »Hehehe«

Rod versucht, cool zu gucken, es entweicht ihm aber doch ein Lächeln. Dann ist er wie ein kleiner Junge erstaunt und muss trocken schlu­cken.

»Man, siehst du gut aus!«

Rods prüfender Blick wandert langsam an den langen Beinen hinauf.

»Du siehst«, er schluckt wiederholt trocken, »umwerfend aus, Schatz.«

Rod hat immer mal so Augenblicke, da ist er wieder frisch verliebt.

Sich ihrer Ausstrahlung auf Rod durchaus be­wusst, schiebt sie ihren weiten Ausschnitt an Rod vorbei und raunt mit tiefer Stimme: »Ich weiß!« Dann zieht sie den Wohnungsschlüssel ab, schüt­telt ihre blonden, langen Haare noch mal durch und wartet vor der Tür: »Kommst du dann?«

»Nee, nee, warte mal«, lenkt Rod ein.

»Ich hab hier vorhin«, stammelt er und fingert in seiner Jacke herum. »Also es war gestern.« Zö­gerlich kommen ihm die Worte über die Lippen. »Weißt du«, er holt die kleine Schatulle in Ge­schenkpapier aus der Jackentasche hervor. »Na ja, ich hab`s nicht so gemeint. Ich hätte dir keine Ohrfeige geben dürfen. Ich bitte dich um Ent­schuldigung«, sagt er kleinlaut mit gesenktem Kopf und Sudis rechte Hand wandert zu seinem Nacken.

Sie küsst ihn und sagt: »Ich liebe dich mein Herz. Ich hab mich auch eher erschrocken, als das es weh tat. Sieh nur zu, dass es nicht wieder passiert, okay?«, haucht Sudi ihm verständnis­voll, aber fordernd ins Ohr. Er nickt und gibt ihr das kleine Präsent.

Sudi geht wieder in die Wohnung zurück, er folgt ihr und schließt hinter sich die Tür.

Aufgeregt wie ein kleines Kind zu Weihnachten nestelt sie an der Verpackung herum und be­kommt schließlich das Papier ab. Sie öffnet die kleine Schmuckschatulle, dann stockt ihr der Atem.

»Oh, die ist wundervoll. Du bist wundervoll.« Sudenia küsst ihn wieder. Nach einiger Zeit be­freit sie die Kette aus der Schatulle.

Rod nimmt sich dem Schmuckstück an, tritt hinter sie und schließt sie im Nacken. Sie stehen hintereinander vor dem Spiegel im Flur und Sudi streicht mit der linken Hand liebevoll über den Anhänger.

»Was sind das für Steine?«, erkundigt sich Sudi.

Rod holt tief Luft, weil er ja die Erklärung vom Juwelier bekommen hat, stockt dann aber und sagt beim langen Ausatmen: »Ich weiß es nicht. Der Juwelier hat es mir erklärt, aber ich hab es nicht behalten. Es hat etwas mit den vier Elemen­ten Feuer, Wasser, Luft und Erde zu tun, meinte der Verkäufer. Die Namen der Steine habe ich vergessen.«

»Sie ist wunderschön. Ich danke dir.« Sudi dreht sich um und küsst ihn abermals.

Lange…..

Sehr lange……

….. immer noch….

»Können wir jetzt los?« Sudi klingt recht ener­gisch, meint es aber als Spaß.

»Ja Schatz!«, kam sofort die Antwort mit ei­nem gespielten Augenroller.

Er öffnet die Tür und geht als Erster und sie hinter ihm her und gibt ihm einen kräftigen Klaps auf den Po.

»So!« Sudi lacht. »Jetzt sind wir quitt. Ich liebe dich!«, sagt Sudi, zieht die Tür ran, die mit zwei ungleichen Tönen der automatischen Verriege­lung ins Schloss fällt. Dann hakt sie sich unter und beide spazieren der Straße nach.

Rod, schaut einmal prüfend auf die Visitenkar­te.

»Ich weiß nicht genau, wo das ist. Es scheint aber nicht in der Nähe zu sein. Wir sollten ein PRT nehmen. Der bringt uns schon mal in die Nähe, von dort aus können wir sicher jemanden Fragen.«

Sudi ist, hinsichtlich ihrer hohen Absätze, so­fort einverstanden, Fußwege nicht unnötig auszu­weiten. Beide begeben sich zur nächsten PRT-Sta­tion.

Der Personal Rapid Transit, kurz PRT, ist eine kleine Magnetschwebebahn, die zu einem einge­gebenen Ziel selbsttätig fährt. Ein Fahrer ist nicht erforderlich. In eine Gondel passen 6 Perso­nen. Haben Leute das gleiche Ziel, reisen sie mit­einander, sonst alleine. Die PRT's lösten den Indi­vidualverkehr völlig ab, der wegen der unbezahl­bar gewordenen Treibstoffpreise keine Zukunft mehr hatte.

Da diese PRT's dem Staat gehören, macht man sich um den Verbleib nach der Benutzung keine Gedanken mehr. Es ist einem egal, was mit ihnen passiert. Hat man den PRT wieder verlassen, fährt es selbstständig zu seiner nächsten Verwen­dung.

Die Innenraumsensoren sind so angelegt, dass sie jedwede Art von Zerstörungen oder übermäßi­ge Verschmutzung feststellen und in diesem Fall nicht das eingegebene Ziel erreichen, sondern gleich in den Vollzug fahren, wo man sich der kri­minellen Elemente, wie es so schön heißt, an­nimmt. Was dann mit ihnen geschieht? Nun, es gibt eine Vielzahl von Geschichten, jedoch wirk­lich wissen, tut es niemand. Jedenfalls nicht offizi­ell.

Beide schauen während der Fahrt wortlos aus dem Fenster. Die Gegend ist von fahlen Licht­strahlen durchzogen. Die Luft ist durchaus atem­bar, alles wirkt wie in ein gelbes diesiges Licht getaucht. Milchig, düster, staubig. Bunte Neon-Reklamen bringen etwas Farbe in die Tristesse. Nein, ein schöner Ort ist das nicht.

Sudi und Rod haben nach einiger Zeit ihr Ziel erreicht und steigen aus. Sie gehen über den Bahnsteig zur Rolltreppe, die sie nach unten führt. Sudi steht eine Stufe hinter Rod und meint, fast etwas albern: »Guck mal, ich bin größer als du!«.

Rod dreht sich zu Sudi um und beginnt, sie an beiden Seiten zu kitzeln. Sie knickt etwas in den Knien ein und er sagt: »Aber nicht mehr lange. He he he.«

Sie geben sich einen Kuss und dann sind sie auch schon unten.

Und natürlich, wie ist es anders zu erwarten: »Personenkontrolle. Können wir mal ihre Auswei­se sehen?«

Zwei Typen, ganz in schwarzer Uniform mit ebenso schwarzen Helmen, schwarzen Sonnen­brillen und schwarzer Seele versperren ihnen den Weg. Man weiß nie, was in so einem Betonschä­del vor sich geht.

»Respekt dem Führer«, grüßt Rod und gibt ihm, wonach er verlangt.

Sudi hasst diese Typen, lässt sich aber nichts anmerken und begrüßt sie ebenfalls mit der all­gemeinen Grußformel. »Respekt dem Führer«.

Er steckt die erste Ident-Karte in ein kleines Handgerät, um eine Retina-Abtastung durchzu­führen. Der Andere steht zwei Schritte zurück, ständig mit der Hand an der Waffe. Anschließend ist Sudi dran und schaut in das Gerät.

»Sie sind verheiratet?«, fragt der Officer.

Wenn das da steht, denkt Rod, beißt sich aber gerade noch auf die Zunge und sagt stattdessen: »Ja, sind wir.«

»Was ist das Ziel ihrer Unternehmung?«

Das war eine wirklich schwere Frage, weil so genau wissen sie ja selber noch nicht, warum sie unterwegs sind.

»Wir gehen nur gerne nach dem Abendessen etwas spazieren«, antwortet Rod.

»Um 22 Uhr ist Sperrstunde, denken sie dran.«

Seine Stimme klingt so vertrauenerweckend wie der Klang einer Kettensäge, denkt Rod.

»Selbstverständlich«, sagt Rod. Missglückt versucht er zu Lächeln. Anschließend nimmt er die Ausweise wieder an sich, steckt sie rasch ein und Sudi hakt sich fest unter.

»Respekt dem Führer«, sagen beide fast gleichzeitig und entfernen sich zügig von den Be­amten.

»Ein paar Saftsäcke«, meint Sudi. »Um einen Intelligenzquotienten oberhalb der Teppichkante zu erreichen, brauchen die beiden doch eine Bergsteigerausrüstung.« Sudi bringt sich nicht mehr ein.

»Ganz ruhig, Schatz, die tun auch nur ihren Job«, versucht Rod sie zu beruhigen.

»Falsch Rod!«, detoniert Sudi. »Sie tun diesen Job, weil sie nichts anderes können und nicht die Eier in der Hose haben, zu sagen, dass sie so ei­nen Job nicht machen wollen. Wenn das alle tun würden, gäbe es diesen Job gar nicht.«

Augenscheinlich hat sie recht, jedoch hilft im Moment eine wütende Sudi nicht weiter. Rod macht eine tänzerische Bewegung und lässt Sudi einmal im Kreis drehen, um sie dann mit dem lin­ken Arm zu halten. Sie spielt mit und lässt sich an seinem Arm weit nach hinten runterbeugen. Als sie wieder hochkommt, küsst er sie.

»Geht's wieder, mein Herz?«, fragt er mit nied­lichem Unterton und einem Lächeln.

»Ach menno, ist doch wahr.« Sudi zieht etwas schmollend die Mundwinkel runter, lächelt aber dann schnell wieder.

»Hier muss es sein, oder?«, fragt Sudi und Rod holt nochmal die Visitenkarte hervor.

»Ja, hier ist es«, bestätigt Rod.

Sudi ist vom Portal sehr beeindruckt: »Toller Eingang, aber kein Name dran. Das ist ja merk­würdig.«

»Wir gehen mal rein und fragen mal, wie es weiter geht«, meint Sudi. Rod nickt.

Sie gehen auf den Portier zu und stellen sich vor.

»Guten Tag wir sind Sudenia und«, setzt Rod an.

»Ich weiß, wer Sie sind«, unterbricht der Por­tier.

»Sie werden erwartet, nehmen Sie einen Au­genblick im Wartebereich Platz. Es kommt gleich jemand, um sie abzuholen.«

»Ja, äääh, natürlich«, sagt Rod.

»Es wäre von Vorteil, wenn sie nun die Armrei­fen tragen würden«, sagt der Portier. »Hier sind überall Sensoren. Die Türen gehen sonst nicht auf. Die Ausweise sollten sie gut sichtbar an der Kleidung befestigen«, ist die letzte seiner Anwei­sungen. Beide nicken noch einmal und begeben sich ins Wartezimmer.

Sofort holen die beiden die Armreifen heraus und streifen sie sich über das linke Handgelenk. Die Ausweise, und das ist erstaunlich, halten an jedem Stoff oder Leder, oder was auch immer, je­doch ohne zu kleben. An den Fingern zum Bei­spiel würden sie nicht haften bleiben.

»Sie sind Sudenia und Rodreon Seva?« Eine attraktive junge Frau, sehr adrett gekleidet, be­tritt das Wartezimmer.

»Ja, sind wir«, antwortet Rod.

»Bitte folgen Sie mir«, sagt die nette junge Dame und geht schon mal voraus.

Sie benutzen einen Fahrstuhl, einige Etagen höher. Die Fahrt ist wahrscheinlich nicht so lang, wie sie Sudi vorkommt. Niemand sagt etwas.

Ping, die Tür öffnet sich.

»Sehen Sie, da sind wir schon«, sagt die junge Dame und geht ein paar Schritte vor. Sudenia und Rod gehen hinter ihr her. Sudi schaut der Frau gerade auf ihren Hüftschwung und überlegt Ich würde zu gerne wissen, was Rod gerade denkt.

Dann öffnet die junge Dame eine Tür zu einem Büro.

»Nehmen Sie schon mal Platz. Dr. Jayanta kommt sofort. Darf ich Ihnen etwas zu Trinken anbieten?«

Das ist echt nett und wirklich nicht selbstver­ständlich. Irgendwas verbergen die. Sonst wären sie nicht so nett, denkt Sudi.

»Wir hätten gerne einen Orangensaft, wenn das möglich ist«, sagt Sudi.

»Aber natürlich, ich bringe ihn sofort«, kommt es freundlich, wie aus der Pistole geschossen, zu­rück.

Sudi und Rod schauen sich nur ungläubig an. Orangensaft? Der ist seit Jahren nur den ganz Reichen vorbehalten. Sie haben nicht einmal ge­sehen, dass sie ihn hätten kaufen können, für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie ihn auch hätten bezahlen können und hier ist das offenbar über­haupt kein Problem. Das ist alles sehr merkwür­dig. Ebenso seltsam ist es, dass hier alle um diese Zeit noch arbeiten.

Dr. Jayanta kommt in das Büro. Beide erheben sich und begrüßen ihn mit Handschlag, Diener, Knicks. Dr. Jayanta macht eine einladende Hand­bewegung: »Bitte nehmen Sie doch Platz, ich freue mich, dass Sie zu uns gefunden haben.«

Dr. Jayanta trägt einen weißen Kittel. Darunter aber einen Anzug mit Krawatte. Ein großer Schreibtisch, der augenscheinlich ziemlich was hermacht, gibt den Anwesenden in jeder Hinsicht ausreichend Platz und Dr. Jayanta stützt sich mit den Ellenbogen auf den Tisch und fragt: »Warum sind Sie hier?«

Sudi und Rod schauen sich verwundert an.

»Verschiedene Ereignisse in der jüngsten Ver­gangenheit, haben uns hier hergeführt«, sagt Rod erst einmal ganz allgemein und findet, dass das eine gute Antwort ist.

»Ja?« Dr. Jayanta schaut die beiden immer noch fragend an.

»Naja, wir haben die Adresse hier von einer Vi­sitenkarte, die uns ein großer Typ gegeben hat, und ein Päckchen. Und das Ganze ergibt irgend­wie keinen Sinn. Da sind wir verständlicherweise neugierig, was das alles zu bedeuten hat«, erklärt Rod weiter.

»Ah ha! Sie sind verständlicherweise neugie­rig? Das ist schon mal sehr gut. Wir suchen neu­gierige Menschen. Jedoch ist es nicht selbstver­ständlich, da heute fast niemand mehr neugierig ist, weil Neugier etwas mit zusätzlichem Wissen zu tun hat, was Veränderung bedeutet und genau das wollen die meisten Menschen heute nicht mehr. Und deshalb suchen wir neugierige Men­schen.«

»Wozu?«, erkundigt sich Rod.

»Sehen Sie, genau deshalb mag ich Sie. Sie können schnell denken, kommen schnell auf den Punkt, stellen die richtigen Fragen«, meint Dr. Ja­yanta.

Und Sudi denkt: Nun wird er aber schleimig.

»Wir suchen neugierige Menschen, weil wir uns weiter entwickeln wollen«, führt Dr. Jayanta weiter aus. »Und dafür brauchen wir Menschen, die uns dabei unterstützen. Wir brauchen Men­schen aus dem Volk, wie man so schön sagt. Wir brauchen keine Stars, keine Politiker, irgendwel­che Leute aus dem öffentlichen Leben. Nein, wir suchen Leute wie Sie.

Wir brauchen Handwerker, Künstler, Medizi­ner, Feuerwehrleute, Wissenschaftler. Menschen, die eine Gesellschaft voranbringen. Menschen, die was bewegen können. Menschen, die Visionen haben und auch die Energie haben, diese umzu­setzen, wenn man sie lässt.«

»Das klingt alles ziemlich gut«, stellt Rod fest.

»Wie wollen Sie das anfangen?«, will Sudenia wissen.

»Sagen wir mal so. Wir haben die Möglichkeit, in einer Welt, die völlig abgeschlossen ist von der die sie kennen, eine Gesellschaft aufzubauen, nach ihren Vorstellungen. Wir werden zwar bera­tend dabei tätig sein, aber die, die diese Welt be­wohnen, werden alles selber entscheiden, planen, bauen und umsetzten.«

»Das klingt fantastisch. Und dort wird es so aussehen wie auf den Fotos in dem Flyer?« In Rod breitet sich Vorfreude aus.

»Ja, ganz genau so.«

»Wo sind die Fotos gemacht?«, fragt Rod, der nun langsam auch ein paar Antworten haben will, um was es denn nun genau geht.

»Sehen Sie«, fängt Dr. Jayanta an zu erklären. »Eben das ist das Problem. Wenn ich Ihnen mehr sage, als ich darf, könnte dieses Wissen in der Öffentlichkeit schwerwiegende Folgen haben. Und warum das so ist, darf ich Ihnen natürlich auch nicht erzählen. Was ich Ihnen sagen kann und werde, ist Folgendes.« Dr. Jayanta lehnt sich in seinem großen Sessel zurück.

»Was wir Ihnen anbieten, ist eine Welt, in der Sie keine Not leiden werden. Alles ist sauber, kos­tenlos und in einem immer fortwährenden Kreis­lauf. Diese Welt funktioniert bereits seit etwas mehr als einem Jahrzehnt und läuft stabil. Wir sind uns jetzt sicher, dass nun auch Bewohner in dieser Welt eine Heimat finden können. Aber be­vor ich Ihnen mehr erzählen kann, müssen Sie sich unser Vertrauen verdienen«, sagt Dr. Jayan­ta.

Sudi denkt: Ah, jetzt kommen wir zum span­nenden Teil.

»Vertrauen?«, fragt Rod, »Inwiefern?«

»Nun, wir wissen, dass wir Ihnen ein wirklich unglaublich fantastisches Angebot machen, dem jeder Bewohner dieses Planeten sofort und ohne mit der Wimper zu zucken folgen würde, wenn er nicht so große Angst vor Veränderungen hätte. Das Problem ist, dass wir gar nicht alle haben wollen und können. Wir haben nämlich auch un­sere Vorstellungen, was die neuen Bewohner an­geht. Einige Vorstellungen haben Sie bereits er­füllt, sonst säßen Sie nicht hier. Andere müssen Sie uns noch zeigen.

Ist das zunächst soweit verständlich für sie?« Dr. Jayanta schaut in zwei sehr verunsicherte Ge­sichter. Die allerdings dann doch zögerlich ni­cken.

Dr. Jayanta setzt sich wieder dichter an den Schreibtisch.

»Der Plan sieht vor, dass wir Sie etwas besser kennenlernen. Dafür ist es erforderlich, dass Sie bei uns einen dreimonatigen Kurs absolvieren. Sie werden bei uns wohnen, leben, essen und schlafen und sich von uns Ihre körperliche, geisti­ge und emotionale Konstitution prüfen lassen. Sind wir mit den Ergebnissen zufrieden, werden wir Sie mit allen notwendigen Informationen ver­sorgen.

In dieser Zeit haben sowohl wir, als auch Sie selbst, jederzeit die Möglichkeit, aus dieser Ver­einbarung zurückzutreten. In diesem Fall leben Sie ihr Leben so weiter, wie gehabt.

Wir sorgen dafür, dass während dieser Zeit ihre laufenden Kosten gedeckt werden. Auch ihren Job werden sie so lange behalten. Sie sehen also, es gibt für Sie nicht das geringste Risiko.

Gefällt es Ihnen, machen sie weiter mit. Gefällt es Ihnen nicht, steigen sie aus und leben ihr bis­heriges Leben weiter. Na? Was sagen sie?« Dr. Ja­yanta schaut in 2 Gesichter, die von wachsender Unsicherheit geprägt sind.

»Sie werden sich natürlich nicht jetzt sofort entscheiden. Das ist klar. Denken Sie über alles, was ich Ihnen gesagt habe gründlich nach, nur besprechen Sie es mit niemandem.

Das ist eine ganz wichtige Vereinbarung, die wir mit Ihnen treffen müssen. Würde sich das herumsprechen, wollen alle mit und das kann nicht funktionieren.

Sagen Sie irgendetwas zu irgendjemandem, werden wir jegliche Beteiligung abstreiten und dafür sorgen, dass ihr bisheriges Leben das Beste war, was sie je hatten. Also wenn sie zu uns fair sind, werden sie feststellen, dass auch wir ein echt guter und großzügiger Freund sein können. Sind Sie es nicht, stellen Sie genau das Gegenteil fest. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

»Sehr deutlich Dr. Jayanta«, sagt Rod und Sudi sitzt da und weiß nicht genau, wie sie diesen Mann einschätzen soll.

Rod, fragt schließlich: »Warum wir?«

»Rod, wie ich Ihnen sagte, sind wir nicht auf der Suche nach Stars oder schillernden Persön­lichkeiten aus der Öffentlichkeit. Was wir suchen, sind einfache Leute aus dem Volk, die jedoch über besondere Fähigkeiten verfügen. Und je­mandem von uns sind besondere Fähigkeiten bei ihnen aufgefallen. Auch ihre Frau«, nickend dreht er sich zu Sudi, »die hat es in sich, könnte man sagen« Dr. Jayanta zieht einen Mundwinkel leicht nach oben.

»Ihre Ehe spielt für uns eine weitere Rolle. Uns interessieren nämlich nur verheiratete Paa­re. In der ersten Vorauswahl sind Sie beide bei den Kandidaten dabei, die für uns infrage kom­men. In dem dreimonatigen Kurs werden wir her­ausfinden, ob wir Ihnen trauen können und Sie für uns weiterhin interessant bleiben.«

Rod, fasst sich mit der rechten Hand ans Kinn: »Mmmh… Ein Test also?«

»Wenn sie so wollen, ja« Dr. Jayanta nickt.

»Beraten Sie sich und nehmen Sie sich eine Woche Zeit um ihr Leben, von Grund auf zu än­dern, oder es zu belassen wie es ist. Brechen Sie nichts übers Knie«, sagt er schmunzelnd.

»Denken Sie genau und in aller Ruhe darüber nach. Wenn Sie nicht wollen, ist Ihnen niemand böse. Es entstehen keinerlei Nachteile. Die ganze Unternehmung ist absolut freiwillig, bis zu dem Punkt, wo es kein Zurück mehr gibt.« Dr. Jayanta macht einen ernsten Gesichtsausdruck.

»Was bedeutet das? ›Wenn es kein Zurück mehr gibt.‹ Was meinen sie damit?«, Rods Unsi­cherheit steigert sich ins Bodenlose.

»Das werden sie innerhalb der drei Monate er­fahren«, Sudi und Rod nicken.

»Ich sollte Ihnen noch sagen«, fährt Dr. Jayan­ta fort, »dass sie sich morgen Abend im Kino ei­nen Film ansehen können – und auch sollten.« Lä­chelnd schaut Dr. Jayanta beide nacheinander an.

»Was denn für einen Film?«, hakt Sudi nach.

»Dieser Film wird Ihnen möglicherweise etwas mehr darüber sagen, wo es hingeht und vor al­lem, was Sie dort vorfinden werden. Wenn Sie In­teresse haben, diesen Film zu sehen, schlage ich vor, Sie tragen die Armreifen und finden sich morgen Abend um 20 Uhr im Kino-Royal ein. In Saal 1 wird man Ihnen einen Platz anweisen. Der Kassiererin zeigen Sie einfach den Armreif und sagen, dass Sie ins Kino 1 wollen. Man wird sie dann durchwinken.«

Beide schauen sich mit zustimmender Geste an, obwohl sie sich etwas überrannt vorkommen.

»Tja, dann wäre ja erst einmal so weit alles ge­klärt. Man wird Sie in einer Woche abends um 20 Uhr anrufen und ihre Entscheidung erwarten. Sollte ihre Entscheidung JA sein, sollten Sie be­reits gepackt haben. Sie werden wenig später ab­geholt und ins Ausbildungscamp gebracht.«

Dr. Jayanta rollte mit seinem Stuhl etwas vom Schreibtisch weg.

»Ist die Antwort NEIN, werden Sie nie wieder etwas von uns hören. Wenn Sie sonst keine Fra­gen mehr haben, genießen Sie noch ihren Oran­gensaft und ich hoffe, wir sehen uns wieder. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen.«

Er steht auf und die beiden tun es ihm gleich. Sie verabschieden sich mit Handschlag und ni­cken einmal, dann verlässt Dr. Jayanta den Raum. Sudi und Rod schauen sich an, wie eine Kuh, wenn es blitzt.

»Gehen wir!«, schlägt Sudi vor und Rod ist ein­verstanden.

»Ist wohl erst einmal alles hier.«

Schnell noch den letzten Schluck O-Saft, nichts verkommen lassen. Dann verlassen die zwei den Raum, der lange Flur, der Fahrstuhl, die Empfangshalle, der Weg nach draußen. Beide sprechen keinen Ton.

Sudi will sich bei Rod unterhaken, aber Rod nimmt Sudi in den Arm, bloß festhalten, wer weiß, was noch kommt. So gehen die Beiden den Weg zurück zur PRT-Station, dann die Fahrt nach Hause, der Fußweg, die Wohnung, der Flur, das Wohnzimmer, Rod nimmt langsam auf der Couch Platz. Sudi zieht sich im Schlafzimmer schnell die hohen Stiefel aus und setzt sich mit Rosa-Öhr­chen-Hausschuhen neben Rod auf die Couch.

»Das muss ich erst mal sacken lassen«, meint Rod und nimmt die Schühchen nicht einmal wahr.

Sudi nickt nur.

3 Das Kino

Das Kino

3.1 Vor dem Film

Rod ist längst bei der Arbeit und Sudi kommt, nur mit einem Handtuch verhüllt, aus dem Bad. In der Küche gurgelt bereits die Kaffeemaschine, das Radio bringt etwas, was wohlwollend als Ge­räuschkulisse angesehen werden kann.

Zu Essen gibt es erst einmal nichts, weil sie gleich los will. Etwas Bewegung schadet nicht, denkt sie.

Sie verschwindet im Schlafzimmer, um sich an­zuziehen. Sie geht ihre Garderobe durch und hat plötzlich einen dieser High-Cut-Leotards in der Hand und schmunzelt. Die sehen zwar klasse aus, aber so etwas geht ja heute nicht mehr. Jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Sie entscheidet sich dann doch für die schwarze Jogginghose und das weiße T-Shirt vom Führer. Das ist zwar alles an­dere als chic, aber es eckt wenigstens nirgends an.

Nach dem Kaffee schenkt Sudi sich einen Saft ein. Keinen Orangensaft, so etwas haben sie ja nicht. Aber das synthetische Zeug tut es auch, erst einmal.

Der Saft ist sauer! Sudi verzieht das Gesicht, aber mehr ist eben nicht drin.

Sudi zieht die Turnschuhe und einen Hoodie an und das Eary hinters Ohr, für den Fall, das je­mand anruft. Anrufweiterleitung ist aktiv. Dann kann´s ja losgehen, denkt sie.

Sudi joggt. Ein bisschen was für die Figur tun. In Form bleiben. Aber sie denkt immer wieder über das Gespräch mit Dr. Jayanta gestern nach.

Sie spaziert also eher ruhig durch die Straßen und beobachtet die Leute. Das hat sie vorher nie gemacht, jedenfalls nicht so.

Wenn man in einer Welt aufwächst, dann ist sie eben so, wie sie ist. Sie muss nicht genauer un­tersucht werden, da man ja meint, alles zu ken­nen. Aber tut man das wirklich? Nach dem gestri­gen Gespräch mit Dr. Jayanta hegt Sudi Zweifel.

Hingebungsvoll beobachtet Sudi die Leute auf der Straße sehr genau, nimmt sich Zeit. Sie weiß nicht genau, was oder wonach sie sucht. Viel­leicht ist es nur das Gefühl, welches durch die Be­obachtung ausgelöst wird. Sie sieht sich alles an, überprüft die Umgebung.

Sie fragt sich: Was macht diese Menschen aus? Was haben sie gemeinsam? Alle!

Sie schauen alle nach unten, tragen alle Varia­tionen von schwarz-weißer Kleidung. Sie alle ha­ben etwas in der Hand. Einen Koffer, ein Handy, ein Schirm. Irgendwas, niemand hat 2 Hände gleichzeitig frei. Doch dann fällt es ihr auf!

Kein Lächeln!

Wenn man derart an diese Welt gewöhnt ist, bemerkt man das erst einmal nicht. Aber es ist das Lächeln, das fehlt.

Niemand ist hier wirklich glücklich, aber nie­mand tut etwas dagegen. Hier laufen alle in der Spur, sind »normal«. Sie funktionieren innerhalb normaler Parameter. Sudi schmunzelt bei dem Gedanken, da sie den Satz schon mal im Kino ge­hört hat.

Sudi hat eine Idee. Ich möchte mal wissen, wer jemandem helfen würde, der kein hohes Tier ist, denkt Sudi und wirft sich die Kapuze vom Pull­over über den Kopf, sodass sie besser in der Mas­se untergeht.

Sie geht weiter in die Innenstadt und bemerkt irgendwann einige Obdachlose, die an einer Hauswand ihr kleines Lager aufgeschlagen ha­ben.

Schüchtern setzt sich einfach dazu, macht und sagt nichts und hält die Hand auf.

Mal sehen was passiert, denkt Sudi.

Zunächst passieren keine Überraschungen. Alle gehen weiter und ignorieren sie. Manche gu­cken auch mal, schütteln den Kopf und gehen weiter. Einer nuschelt im Vorbeigehen irgendwas von: »Musst mal arbeiten gehen.« Für Sudi eine völlig neue Erfahrung.

Noch vor einer Stunde hätte sie die gleiche Auffassung vertreten und hätte wahrscheinlich ebenso reagiert, aber das hat sich gerade geän­dert.

Das gestrige Gespräch mit Dr. Jayanta hat of­fenbar weitreichendere Auswirkungen, als sie es sich zunächst hat denken können.

»Ahy, hast du schon was gegessen, heute?«, will einer der anderen Obdachlosen wissen. Sudi schaut verschämt rüber und schüttelt den Kopf.

»Wir teilen uns 'ne Dose«, sagt der Obdachlo­se. »Willst auch was?«

Sudi ist von den Socken. Sie entschloss sich, mal etwas zu testen, und schon hat sie von völlig unerwarteter Seite »Hilfe« bekommen. Ihr ist das ziemlich peinlich, weil sie ja nicht wirklich ob­dachlos ist, und will den Leuten nichts wegessen.

»Lass dir Zeit, wenn du willst. Is` eh kalt«, sagt der Obdachlose. Sudi beschließt, eine Weile mitzuspielen, und sagt: »Okay, ich komm rüber.«

Es ist eine kalte Dose Nudeln und jeder hat ei­nen kleinen Napf dabei.

»Nimm dir etwas«, meint der Eine.

Sudi schaut hilflos drein und weiß nicht, wo sie ihre Portion auffüllen soll.

»Warte, ich geb‘ dir einen Napf, ich hab zwei«, sagt einer der Obdachlosen und kann seinen Stolz kaum für sich behalten.

»Warum macht ihr das? Ich meine … mir etwas abgeben. Ihr kennt mich doch gar nicht«, erwar­tungsvoll schleicht sich eine Falte in Sudis Stirn.

»Kennst du den Satz, ›Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an jeden gedacht‹?«, will einer der Obdachlosen wissen. Sudi nickt.

»Schau«, fährt der Obdachlose fort. Seine Stimme klingt ruhig, fast schon weise, »das ist ein guter Satz, denn es ist die Grundlage dessen, dass sich etwas weiter entwickeln kann.

Der Satz ist nur nicht das Ende des Gedan­kens, sondern der Anfang.

Alles hier ist so, wie es ist, weil es einige weni­ge gibt, die diesen Satz, wie er ist, zu ihrer Religi­on gemacht haben und glauben, aus allem alles ausquetschen zu müssen, was sie können. Der Satz geht nämlich weiter. Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an jeden gedacht und er kann fortan auch an andere denken. Du kannst erst für andere etwas tun, wenn du selber keine Not lei­dest. Du musst erst einmal an dich selber denken, aber dann nicht aufhören zu denken.

Das ist der Satz, wie er vollständig heißt und wie er unsere Welt ganz schnell wieder in ein Pa­radies verwandeln würde. Aber bis das passiert, iss deine Nudeln, mehr gibt es nämlich nicht.«

Ja, stimmt, denkt Sudi und lernt, dass Men­schen, die sie bisher für Alkoholiker gehalten hat, eigentlich Großstadtphilosophen sind. Das ist zwar gut, was er sagt. Es nützt nur nichts.

»Ich muss mal eben was holen, lauft nicht weg«, sagt Sudi. »Ich bin gleich zurück.« Schnur­stracks marschiert Sudi ins nächste Kaufhaus.

Sie holt fünf große Nackensteaks, einen Cam­pingkocher mit zehn Kartuschen, Einwegteller und Besteck und eine Flasche scharfen Ketchup und geht dann wieder zurück zu ihren neuen Freunden.

»Hier, ich hab euch mal etwas eingeholt. Es wird die Welt nicht retten, aber es ist zumindest mal eine gute Mahlzeit«, sagt Sudi und reicht die Tüte rüber.

Sudis neue Freunde schauen nacheinander in die Tüte und versuchen ihrer Freude Ausdruck zu verleihen.

»Wow, wie kommen wir denn dazu?«, will einer wissen.

Sudi sagt: »Ihr habt soeben mein Weltbild der Realität angepasst. Das war klasse und darüber habe ich mich gefreut. Seht es als Dankeschön.«

Ein Anderer schaut in die Tüte und meint: »Wenn wir noch mal irgendetwas mit deinem Weltbild machen sollen, wir sind immer für dich da.«

Alle lachen.

Einer sagt: »Ach dann bist du gar nicht … ?«

»Nein, bin ich nicht«, sagt Sudi. »Aber ich wünschte, Menschen wie ihr würden die Politik unseres Landes machen, dann ginge es uns allen besser.«

Mit frustrierter Stimme neigt der Eine seinen Kopf nach unten und seufzt: »Mein Reden.«

»Leuten wie uns geht es deshalb so schlecht, damit sie jemanden haben, auf denen sie runter­zeigen und Angst verbreiten können. Immer nach dem Motto: Streng dich an, sonst ergeht es dir wie denen«, meint ein Anderer.

Und Sudi sagt: »Ja, das dachte ich neulich auch schon mal, als Senator Rossman etwas von der Kürzung von Lebensmittel-Bezugsscheinen sagte. Das ist alles gemacht und gewollt, dachte ich da, wusste nur noch nicht, dass ich damit gar nicht so falsch lag.«

Sie holt kurz Luft.

»Na ja, wie dem auch sei«, fährt Sudi fort. »Ich muss mal langsam weiter.«

Alle haben eine gewisse Sehnsucht im Blick, als Sudi eine verabschiedende Geste macht und sagt: »Hat mich gefreut eure Bekanntschaft ge­macht zu haben. Wenn ich wieder mal in der Nähe bin, werde ich nach euch sehen… Okay?«

»Ja, und vergiss dein Weltbild nicht. Da lässt sich sicher noch was machen.«

Wieder lachen alle und Sudi schaut etwas be­schämt, aber süß zurück. Wahrscheinlich hat er sogar recht. So manches, womit Sudi aufwuchs und es als selbstverständlich empfand, ist es ganz und gar nicht.

»Vieles in meinem Leben muss neu bewertet werden«, sagt Sudi leise nickend und geht lang­sam heimwärts.

-*-

Auf den Weg kommt Sudi doch noch zu ihrer »Sporteinlage«. Sie joggt nach Hause. Mit einer üblichen Handbewegung streicht sie über ihren Arm und es erscheint ein holografisches Termi­nal, auf dem sie ungeduldig Trischs Nummer her­aussucht. Sie findet sie, bestätigt sie und…

»Chavall«, ertönt es aus dem Headset.

»Hi Trisch, ich bin's, Sudi. Wie geht’s dir?«

Trisch hat offenbar mit dem Anruf nicht ge­rechnet und zeigt sich leicht verdutzt.

»Hi Sudi. Danke. Komme gerade vom Markt. Wie geht es dir? Was ist passiert?«

»Ach so ein Zufall, dass du fragst, Trisch. Ich muss dir was erzählen«, meint Sudi und Trisch wird ungeduldig.

»Echt? Was denn? Erzähl' schon...«

»Kommst du mal vorbei, dann können wir ein bisschen Quatschen«, schlägt Sudi vor.

»Barbo müsste gleich kommen, ich kann hier gerade nicht weg«, lenkt Trisch ein.

»Ich rufe Barbo an, er soll auch hier herkom­men. Dann können wir schön zusammen Abend­brot essen. Rod, müsste ja auch bald kom­men. Mach du dich auf den Weg, ich sage Barbo Be­scheid.«

»Ok, so machen wir es. Bis gleich dann«, sagt Trisch und legt auf.

Noch während des Laufens streicht Sudi er­neut über ihren Unterarm. Wieder erscheint das holografische Terminal. Sie sucht Barbos Num­mer heraus und drückt ›Enter‹.

»Jou! Was geht?«, ertönt es von der anderen Seite.

»Barbo bist du das?« Sudi kann die Stimme aus drei Worten bei dem Verkehrslärm nicht ge­nau erkennen.

»Jou!«

»Hier ist Sudi. Du hör zu, wir müssen mal Quatschen.«

»Nun schnaufe doch nicht so. Bist du am Mö­bel schleppen, oder was?«

»Nein, am Joggen. Bin hier unterwegs. Ich ma­che gleich Abendbrot und Trisch kommt auch. Wäre toll, wenn du dabei wärst.«

Barbo lässt aus Spaß mal den Rockstar raus­hängen und meint: »Jou man, du weißt, bin viel auf Tournee und so, ich muss mal eben meinen Manager fragen, wann ich wieder Zeit habe und ob ich das irgendwie einschieben kann.«

»Oh Ohhhh Mister Weltberühmt, es wäre ganz wundervoll, wenn Sie es irgendwie einrichten könnten.« Sudi lacht in den Hörer. »Rod müsste auch gleich kommen, ich hau mal etwas in die Pfanne. Könnte lecker werden«, ergänzt Sudi.

Barbo erkundigt sich plötzlich mit der Stimme eines kleinen Jungen: »Was gibt’s denn?«

»Auf dem Weg nach Hause gehe ich gleich noch mal über den Markt, da wird sich schon et­was Anständiges finden, hoffe ich. Es wird dir schmecken, wird 'n Männer-Essen.« Sudi's Stim­me klingt fürsorglich.

Und Barbo ist Feuer und Flamme. »Bin schon unterwegs.« Klack, aufgelegt.

Sudi lässt ihr Joggingtempo mit zwei bis drei Schritten auslaufen, als sie den Markt erreicht und die Auslagen in Augenschein nimmt. Lang­sam nähert sie sich der Mitte des Marktplatzes, wo die langjährigen Marktschreier ihre Stände haben.

»Für 20 Credits, diese Palme. Wa? Oder. 20 Credits… Pass auf: Ich hau noch n Farn drauf, für 20 Credits. 20 Credits und beide Pflanzen gehö­ren dir. Ach was, bei dem Wetter geb' ich noch n Farn drauf und die Yuka hier. 20 Credits, 20 Cre­dits, na wäre das nicht was? Ach komm, ich muss wahnsinnig sein, aber ich geb' noch diesen herrli­chen Kaktus dazu. 20 Credits, mein letztes Ange­bot. Ja, die Dame da vorne… sie haben einen aus­gezeichneten Geschmack. 20 Credits… 20 Cre­dits, können sie es tragen? Ist ja echt viel, was hier für 20 Credits weggeht.«

Aber die Frau schafft es grinsend, alle Pflan­zen mitzunehmen.

Eine weitere Traube meist weiblicher Kundin­nen schart sich um den nächsten Stand.

»Oh herrlich, herrlich, ist der Lang… Wie mein Mann seiner!«, sagt der bärtige Bär, der so gar nichts Schwules an sich hat. »Komm her, Schätz­chen, willst ihn mal in Mund nehmen?«

Was da etwas frivol an den Mann, oder besser an die Frau gebracht werden soll, sind Aale.

»Na, du magst das doch auch, wenn so 'n bü­schen nach Fisch riecht und schön glitschig iss, oder?«

Was »Aale-Klaas« hier vom Stapel lässt, trennt die Spreu vom Weizen. Während die einen es un­erhört finden, mit welchen Mitteln er versucht, seine Fische zu verkaufen, gehen andere wieder­um eben genau deshalb zu ihm. Mit langer schar­fer Klinge teilt er einen Aal in kleine Stücke auf und verteilt sie unter den Damen.

»So… Nu' kannst ihn mal in' Mund nehmen. Ist das nicht herrlich? IST DAS NICHT HERRLICH?« Wiederholt er seine Einschätzung und die anwe­sende Damenwelt ist ihm treu ergeben.

»40 Credits für den Aal, 40 Credits für den Aal, ah der ist so lang und glitschig, willst ihn noch mal in Mund nehmen, wah? So'n Langen hattest du noch nie im Mund. Wah? Oder?«

Eine Kundin wird puterrot.

»Und da hau ich noch ‘ne Seite Lachs drauf, und noch zwei Bückling, hier mal schön 'n Bück­ling und hier noch 'n Stück vom Dorsch. Oder? Ihr mögt doch Dorsch, oder? Dorsch genau.« Aale-Klaas ist voll in seinem Element und Sudi geht schmunzelnd daran vorbei, bis sie beim Schlachter ankommt, der sich etwas ruhiger zeigt.

Nach einer kurzen Beratung holt Sudi vier schöne Stücke Fleisch und geht anschließend beim Gemüse-Höcker vorbei, der sie mit allen Beilagen und Eiern für ein Dinner zu viert aus­stattet.

»Harte Brötchen?« Sudi ist beim Bäcker ange­kommen. »Haben sie harte Brötchen?«, will Sudi vom Backwarenverkäufer wissen, der etwas pi­kiert reagiert.

»Hier ist selbstverständlich alles frisch«, stellt der Mann im weißen Kittel klar.

»Ich möchte Paniermehl machen und brauche harte Brötchen.«

Der Bäcker lächelt und sagt fast übertrieben freundlich: »Das ist doch kein Problem, das ha­ben wir doch fertig.«

»Was kostet denn wie viel?«, verklausuliert Sudi lächelnd ihre Frage.

»Ich gebe Ihnen einen Beutel mit 500 Gramm für zwei Credits.« Nickend glaubt er, ein gutes Angebot gemacht zu haben.

»Zwei Credits für harte Brötchen, die Sie ei­gentlich wegschmeißen würden? Haben Sie vie­len Dank, sehr freundlich.« Sudi dreht sich um und will verschwinden.

»Warten sie, ich äh, habe mich versprochen«, erklingt die hektische Stimme des Verkäufers.

Natürlich hat er das, denkt Sudi.

»Ich meinte zwei Cent.«

In der Bewegung spontan verharrend überlegt Sudi kurz und lächelt beim Umdrehen den Bäcker an. Sie lehnt sich etwas nach vorne, um ihm ei­nen besonderen Aus- bzw. Einblick ins Dekolleté zu gewähren, und schaut ihn mit einem Augen­aufschlag lächelnd an. »Wenn sie mir den Beutel so mitgeben, will ich die Sache ganz schnell ver­gessen.«

Und obwohl er nur ein Geschäft machen woll­te, wie sonst, ist der Bäcker peinlich berührt und gibt Sudi den Beutel Paniermehl so mit.

»Lassen Sie es sich schmecken«, sagt der Bä­cker nickend.

Sudi lässt den kleinen Beutel in den Rucksack gleiten und sagt, wenn auch nicht ganz aufrich­tig, aber doch irgendwie lächelnd: »Grüßen Sie mir ihre Lieben Zuhause.«

Sie schnallt den Rucksack wieder auf und joggt nach Hause.

Sie läuft gerne. Sie hat immer das Gefühl, dass durch das Laufen der ganze Körper mit dem Geist wieder in einen ruhigen Rhythmus gebracht wird. Hatte sich erst einmal der ganze Körper auf den Bewegungsablauf des Joggens eingestellt, hätte sie stundenlang Laufen können, ohne Müde zu werden.

Sudi läuft durch die Straßen und betrachtet die Menschen. Alle scheinen vom Mühsal geplagt. Niemand lässt erkennen, dass er gerne lebt. Alle schauen beim Gehen nach unten auf den Boden. Niemand nimmt Notiz vom anderen. Und obwohl es auf der Straße voll ist, sind doch alle irgend­wie alleine.

Sudi öffnet, von zwei unterschiedlichen Tönen begleitet, die verschlossene Wohnungstür und bringt ihren Einkauf in die Küche. Sie bereitet das Gemüse vor und wirft den Herd an.

So, schnell duschen und was Frisches anzie­hen. Trisch und die anderen müssten bald hier sein, denkt Sudi bei sich.

Erstaunlich, da Sudi sich normalerweise für Stunden ins Bad verabschiedet, dass sie mit allem drum und dran in 20 Minuten fertig ist. Während für Männer 20 Minuten völlig ausreichend sind und das Rasieren drin wäre, ist das für Sudi abso­lute Schallgeschwindigkeit.

Da sie ja weiß, dass heute Abend der Kinobe­such ansteht, zieht sie sich gleich wieder etwas Stadtfeines an, wie Trisch schon an der Tür klin­gelt.

»Hi Trisch komm rein.« Beide nehmen sich zur Begrüßung in den Arm.

»Leg ab, ich bin noch in der Küche. Das Essen ist noch nicht fertig.«

Trisch schaut etwas ungeduldig auf die Uhr und folgt Sudi in die Küche.

»Das Gemüse muss wohl noch 15 Minuten. Ich paniere schon mal das Fleisch.«

Sudi schlägt drei Eier auf und wendet das Fleisch darin, als sie sich bei Trisch über ihren Nachwuchs erkundigt. »Wie geht es dir? Ich mei­ne so insgesamt, euch beiden. Spürst du schon eine Veränderung?« Sudi ist neugierig, aber Trisch winkt ab.

»Das ist noch zu früh, aber es wird kommen. Ganz sicher. Und dann mehr als mir lieb ist, fürchte ich.«

»Wenn es einfach wäre, könnten es ja sogar die Männer«, grinst Sudi Trisch an und beide la­chen.

Es klingelt an der Tür.

»Das wird Barbo sein. Warte. Ich mach schnell auf«, sagt Trisch und geht zur Tür. Während die ersten beiden Stücke frisch paniert in der Pfanne liegen wäscht Sudi sich erst einmal die Hände, um dann Barbo zu begrüßen.

»Hi Barbo, wie geht’s? Fühl dich wie Zuhau­se.« Sudi macht eine einladende Geste, die ihn ins Wohnzimmer geleitet. Trisch und Barbo neh­men sich in den Arm und küssen sich.

»Ich fange schon mal an, den Tisch zu de­cken«, sagt Trisch und verschwindet in der Kü­che, um Teller und Besteck zu holen.

»Rod noch nicht da?«, fragt Barbo.

»Der müsste gleich kommen, Essen ist auch fast fertig«, entgegnet Sudi.

»Cool man. Hast 'n Bier?«

»Ja, aber erst zum Essen.«

»Och Mann…«

»Maul nicht«, sagt Trisch. »Du wirst warten, wie alle anderen auch.«

Da weiß Barbo wieder, warum er mit Trisch verheiratet ist. Sie weiß immer alles so richtig, also wirklich richtig… man ist das richtig…. Das ist brrrrrrrr!!

Jemand macht sich von Außen an der Schließ­anlage zu schaffen. Rod betritt die Wohnung und Barbo stellt fest »Ah, Bier kommt«, und grinst da­bei breit.

Trisch schaut ihn gespielt böse an. Rod nimmt Sudi in den Arm und küsst sie lang und ausgie­big.

Nach einiger Zeit meint Barbo: »Halbzeit!«

Rod schaut in die Runde: »Hi Trisch, Hi Barbo. Was geht?«

»Er ist nur noch etwas maulig, hat Hunger und noch kein Bier«, winkt Trisch ab, um noch einmal in der Küche zu verschwinden.

Rod geht zu Barbo ins Wohnzimmer.

»Komm, wir nehmen schon mal Platz«, schlägt Rod vor. Barbo steht auf und beide setzen sich an den Esstisch.

Mit einem lang gezogenen: »Sooooooo, hier sind schon mal Kartoffeln und Gemüse«, kommt Trisch rein und setzt sich ebenfalls. Dann er­scheint Sudi mit dem Fleisch und der Soße und alle essen zu Abend.

Niemand sagt etwas. Alle scheinen mit dem Genuss des Essens beschäftigt. Man hört nur lei­se Geräusche vom Klimpern des Bestecks.

»Ich könnte nun wirklich ein Bier vertragen«, klärt Barbo die Runde noch einmal nachhaltig auf.

»Ooops entschuldige. Ganz vergessen.« Sudi steht auf, um wenig später mit einem Getränke-Träger zurückzukommen. »Schatz, du auch ein Bier, denke ich mal, oder?«

Eingenommen vom vorzüglichen Essen nickt Rod nur.

Trisch schaut in den Träger und meint dann: »Ich würde einen Wein nehmen.«

Und als Sudi die Flasche öffnen will, macht Rod eine Geste und sagt mit vollem Mund: »War­te, gib her, ich mach das.«

Während Barbo und Rod einige kräftige Schlu­cke Bier trinken und ihnen im letzten Moment einfällt, dass jetzt ein lang gezogener lauter Rülp­ser unangebracht ist, versuchen beide diesen in unhörbare Bahnen zu lenken. Trisch lässt den Wein derweilen genüsslich an den Flanken ihrer Zunge entlang gleiten.

»Ich war heute in der Stadt und habe mich mit Obdachlosen unterhalten«, sagt Sudi nickend und schaut prüfend in die Runde.

»Ach warum das denn?«, fragt Trisch interes­siert.

»Naja, ich wollte mal wissen, wer denen helfen würde. Da habe ich mich als Obdachloser dazu gesetzt und mal die Hand aufgehalten, um zu se­hen, was geschieht«, erzählt Sudi.

»Und was ist passiert?«, fragt Rod.

»Na ja, wir kamen so ins Gespräch und…«, dann erzählt Sudi die ganze Geschichte.

Als sie fertig ist, sagt Barbo: »Wenn Obdachlo­se unsere Regierung wären, würden wir alle im Paradies leben, weil jeder soviel hätte, wie er braucht und keiner mehr hat als er der andere. Es kommt nicht auf die Menge an. Die ist vorhan­den, sondern auf die Verteilung.«

Alle nicken. »Das werden wir wohl nicht mehr erleben«, sagt Trisch.

»Nee, wohl nicht«, sagt Barbo.

»Aber genau das sagte der Eine von denen auch«, ergänzt Sudi.

»Wie spät ist es?«, will Trisch wissen.

»Wieso, hast du noch was vor?«, erkundigt sich Sudi.

»Na ja, wir müssen nachher nochmal weg«, er­klärt Trisch, etwas geheimnisvoll.

Sudi und Rod schauen sich an, weil sie ja eben­falls noch mal loswollen, sagen aber nichts und fragen auch nicht nach.

Alle essen in Ruhe weiter, nur Besteck war zu hören. Für eine Weile.

»Was ich da erlebt habe, hat etwas mit Mitge­fühl zu tun. Dies ist in unserer Gesellschaft völlig abhandengekommen. Bei uns interessiert sich niemand mehr für irgendetwas«, holt Sudi noch­mal Luft.

Alle nickten andeutungsweise.

»Diese Menschen, die gar nichts mehr haben, haben sich. Und somit auch einander. Sie leben nicht nur für sich selbst. Sie leben durch den an­deren. Sie sind eine Gemeinschaft, die zusammen hält. Die Vorstellungen und Ziele hat, die für je­den in dieser Gemeinschaft zählen. Sie haben eine gemeinsame Basis. Mitgefühl. Ich würde mir wünschen, wenn sich das in unserer Welt mal herumsprechen würde«, sagt Sudi abschließend fast leise.

Alle nicken schweigend.

»Ja, es wäre schön, wenn es eine Welt gäbe«, holt Trisch aus, »in der man miteinander Leben kann, wo jeder seinem Anspruch an Bildung und gesellschaftlichem Miteinander näher kommen würde. Wo die Wertvorstellungen nicht alleine am Geld bemessen werden, sondern auch menschli­che Züge einen Wert haben.«

Barbo tritt Trisch unterm Tisch leicht auf den Fuß. Er will das Thema jetzt nicht weiter vertie­fen.

»Das ist wohl eine Welt, die nach uns kommt. Da müssen wir uns keine Gedanken machen«, macht Barbo dem Thema ein Ende.

Sudi und Rod haben ihren Kinobesuch im Hin­terkopf und lassen das Thema vorerst auf sich be­ruhen. Sudi will Trisch und sich selbst noch etwas Wein nachschenken, aber Trisch lehnt ab. „Ein kleines Gläschen reicht.“ Aber für Rod und Barbo ist noch ein Bier drin.

»Möchte noch jemand einen Nachtisch? Ich habe noch rote Grütze und Sprühsahne im Kühl­schrank«. Sudi schaut in die Runde.

»Wir müssen gleich noch Wohin«, erklärt Trisch. Wieder mit einem komischen Blick.

Barbo, der hinten angelehnt im Stuhl sitzt, kommt nach vorne und sagt: »Ja, wir … haben da noch«, jetzt tritt Trisch ihn unterm Tisch auf den Fuß, »äääähh … genau.«

Alle nicken sich an. Jeder weiß, dass irgend­was in der Luft liegt, aber niemand fragt nach oder erzählt etwas.

»Sudi, ich helfe dir schnell mit dem Abräu­men«, sagt Trisch und Sudi blickt auf die starken Männer.

»Wenn sich die Herren vielleicht auch bemü­hen könnten.« Sudis Lächeln ist zuckersüß, aber der Tonfall hat den Charme einer Kreissäge.

»Oh, ja natürlich«, schnellt Rod hoch und drückt Barbo ein paar Sachen in die Hand, nimmt sich selbst noch etwas und alle verschwinden in der Küche. Der Tisch ist in Rekordzeit abgedeckt und Sudi kommt nochmal mit dem Lappen.

Trisch wird unruhig: »Es ist schon nach 19 Uhr, wir müssen langsam mal wieder los. Vielen Dank für die Einladung. Du hast zauberhaft ge­kocht Sudi.« Trisch nimmt Sudi in den Arm.

»Bis dann Alter« Barbo schlägt Rod nickend auf die Schulter. Und während Barbo Sudi in den Arm nimmt und Rod Trisch, sagt Sudi: »Danke das ihr da ward. Das machen wir demnächst mal wieder.« Alle zeigen sich zustimmend und Trisch und Barbo gehen ihrer Wege.

3.2 Der Film

»Willst du so los?« Rod erkennt an Sudis Ton­fall sofort, dass es sich um eine rein rhetorische Frage handelt. Was sie eigentlich sagen will, ist: ›Zieh dich mal anständig an.‹

Während Sudi in der Küche ein paar Teller spült, erwischt sie Rod etwas später, wie er im­mer noch unschlüssig im Kleiderschrank herum­kramt.

Sudi greift zweimal zielsicher in den Schrank und hat sofort ein erstklassiges Outfit zusammen­gestellt.

Rod ist beeindruckt. »Warum dauert das bei dir immer so lange, wenn du dich anziehen willst, und geht so schnell, wenn du mir etwas raus­suchst.«

»Weil Du ein Mann bist. Das ist immer ein­fach«, stellt Sudi mit kecker Stimme und einem Augenaufschlag fest.

Grinsend springt Rod mit einem Satz durch das Zimmer und schmeißt Sudi auf das Doppel­bett. Er hält sie fest und sagt: »Für diese freche Bemerkung, Frau Seva, muss ich Sie leider durchkitzeln.«

Sudi kämpft nur augenscheinlich gegen ihn an. Dann küssen sich beide lang und innig.

»Komm, wir müssen los«, sagt Rod plötzlich.

Sudi springt blitzartig auf und stemmt die rechte Faust in die Seite. Ihren Mund verzieht sie zu einer Geste der Überlegenheit. »Du hast doch mit der Knutscherei angefangen.«

Sudi steht inzwischen fertig zurechtgemacht im Flur, als Rod die letzten Dinge zusammen sam­melt.

»Hast du die Armreifen?«, vergewissert sich Sudi.

»Ach ja, Moment. Hier, ist deines.« Er gibt Sudi ihres und dann verlassen sie gemeinsam die Wohnung.

Als sie vor dem Kino ankommen, stehen sie noch etwas vor den Schaukästen und stellen fest, in allen Kinos laufen Filme. Aber nicht in Kino eins.

Der Film, wegendem sie hier sind, scheint gar nicht zu laufen. Sie schauen sich an, betreten dann das Kino.

Rod und Sudi zeigen an der Kasse den Ausweis vor, den sie bekommen haben und Rod sagt: »Kino eins bitte!«

»Sehr gerne«, entgegnet der Kassierer. »Da vorne steht ein Herr im schwarzen Anzug. Er wird Ihnen alles Weitere erklären.« Verstehend nicken beide und wenden sich dem schwarzen Anzug zu.

Der auffallend kräftige Mann scheint zur Secu­rity zu gehören. »Sie tragen die Armreifen am Handgelenk?«, vergewissert sich der Mann in Schwarz.

Beide zeigen das linke Handgelenk. Mit einer einladenden Geste weist der Mann auf die Tür des Kinos.

»Da drin wird Ihnen eine unserer Assistentin­nen den Platz zeigen«, sagt er und nach dem Aus­druck der Dankbarkeit betreten die Beiden das Kino.

Sudi und Rod gehen langsam durch die Tür, in das Kino hinein. Und als sie gerade durch die Tür gegangen sind, ist es irgendwie, als habe es ge­blitzt, oder so. Es hat so ausgesehen, als würde in einem Kinofilm ein Schnittfehler sein. Sie schau­en sich um und staunen nicht schlecht.

Das ist nicht das Kino, das sie soeben von au­ßen betreten haben. Es ist nicht das Kino, wel­ches sie vom Flur aus gesehen haben. Nein!

Dieses hier ist größer!

Sudi und Rod schauen sich um. Viel größer!

Obendrein ist es völlig anders im Stil. Überall Acrylglas, welches aus seinem Inneren heraus zu leuchten scheint. Es gibt offenbar keine Lampen, die Möbel selbst erhellen den Raum.

»Oh Mann, das ist krass«, sagt Sudi und Rod nimmt ihre Hand.

»Oh Herr und Frau Seva, bitte nehmen Sie gleich hier in der Mitte Platz. Darf ich Ihnen et­was zu Trinken anbieten?«, will die freundliche Dame wissen.

Rod hebt die linke Hand, als ob er sich zu Wort meldet: »Ich nehme ein Bier.«

»Wir nehmen beide ein Wasser«, reißt Sudi schnell das Ruder herum.

»Natürlich, ein Wasser«, Rod nickt lächelnd.

»Sehr gerne«, entgegnet die freundliche Dame. Sie reicht die Getränke und sagt: »Bitte haben Sie noch etwas Geduld. Der Film fängt gleich an.«

Sudi und Rod schauen sich um. Es müssen so 2.000 Menschen hier sein, vermutlich sogar mehr. Alle sprechen Sprachen, die eindeutig nicht aus derselben Gegend sind. Sie kommen von überall her. Womöglich sogar aus allen fünf Welt­blöcken.

Es war ein riesiges … Äääh, ja was eigentlich. Eine Leinwand, oder ein Vorhang war nicht zu se­hen, so wie man es in einem Kino erwarten wür­de. Diese von innen leuchtenden Acrylglasmöbel haben den Vorteil, das man sie eigentlich nicht sieht, man sieht nur das Licht, welches von ihnen ausgeht.

Das Kino füllt sich und so langsam haben alle Platz genommen und Sudi und Rod geben ihre in­zwischen leeren Gläser wieder ab. Ihre Neugier­de hat einen Höhepunkt erreicht.

Das Licht dämpft sich. Dann ist es dunkel. Es ist still.

Man hört etwas, das die Summe aller Atmen­den zu sein scheint.

Sonst ist es still und dunkel. Sehr dunkel.

Sudi und Rod fühlen sich, als seien sie schwe­relos.

Musik ertönt. Sphärische Klänge, ganz zarte Töne. Sie sehen immer noch nichts, aber da – un­ter ihnen scheint sich ein Licht zu bilden. Das Licht wird größer, die Musik lauter und rhythmi­scher, es ist der Eingang eines Tunnels, der von unten herangerauscht kommt.

Es ist ein 360 Grad Kino. Der Film läuft über­all. Deshalb gibt es keine Leinwand, weil das Kino selbst die Leinwand ist.

Alle der über 2.000 Besucher fallen in diesen Tunnel. Es ist eine faszinierende Erfahrung. Da­gegen ist Achterbahnfahren der reinste Langwei­ler. So als würde das ganze Kino mit einer affen­artigen Geschwindigkeit durch diesen Tun­nel fal­len. Der Tunnel windet sich offenbar durch den ihm umgebenden Raum. Während der Ein­gang des Tunnels von unten kam, scheint der Ausgang von vorne, auf sie zuzukommen.

Und wusch!!!

Sie sind in einer Welt, die es schon lange nicht mehr gibt.

Es blühen frische Wiesen und kleine Bäche plätschern unbeschwert vor sich her. Leichte Mu­sik von Geigen umhüllt die Kinobesucher. Bäume ragen hoch empor, deren Äste sich zart im Wind wiegen. Vögel zwitschern. Ein Idyll von denen sie bisher nur Träumen konnten. Aus ganz alten Fil­men wissen sie, dass es früher einmal so etwas gegeben haben muss. Aber das ist sehr, sehr lan­ge her.

Sudi kuschelt sich an Rod und auch ihm ge­fällt, was er dort sieht. Die Kamera fliegt schein­bar mit allen Anwesenden über die Landschaft, macht hier und da Pausen, dann geht es weiter über Hügel, Täler, dort ein Wasserfall, kleine Wäl­der mit verschiedenen Tieren. Und da, was ist das?

Es scheint ein Dorf zu sein, aber sehr modern gebaut. Beide schauen sich recht ungläubig an. Das kann es damals noch nicht gegeben haben. Die Häuser haben teilweise Gärten, eine außeror­dentlich moderne Architektur, beinahe futuris­tisch, andere sind in Terrassen an einer steilen Felswand gebaut. Alles ist sehr großzügig ange­legt. Ein Krankenhaus, Kindergärten für unter­schiedliche Altersstufen. Schulen, Ausbildungs­stätten. Freizeitanlagen und verschiedene Markt­plätze. Auf den ersten Blick eine Welt, wie sie sein sollte.

Wieder kommt ein freier Fall durch einen Tun­nel. Das ganze Kino scheint wieder durch irgend­etwas zu fallen, es ist schnell, extrem rasant und es dauert einen ganzen Moment, und wusch, sind alle zurück in der heutigen Welt.

Die Gewässer aller Art sind vergiftet und für die Trinkwasserbeschaffung ungeeignet. Die Ge­gend ist in einen gelblichen Dunst getaucht. Das Atmen ist außerhalb dieser fünf riesengroßen Blöcke, die die Kontinente überdachen, nicht mehr möglich. Smog vernebelt die Sicht überall und lässt die letzten Sonnenstrahlen nur als fah­les Licht erscheinen. Alle Menschen schauen trostlos zu Boden, wenn sie irgendwo hingehen.

»Viele Jahre haben wir damit verbracht, her­auszubekommen, warum es so ist, wie es ist, bis wir nun eine Lösung gefunden haben, die darauf wartet, mit Leben erfüllt zu werden.«, ertönt eine Sprecher-Stimme.

Die Atemgeräusche im Saal stocken für einen Moment. So sehr reißt die Stimme die Besucher aus ihren Gedanken.

»Wir gehen davon aus, dass Sie ihren Nach­wuchs lieber in der ersten Welt heranwachsen se­hen wollen, als in der, die Sie heute kennen. Wei­ter gehen wir davon aus, dass Sie eine Welt, in der alles kostenlos ist, der heutigen Welt vorzie­hen würden. Wir können Ihnen diesen Traum er­füllen.«

Der Sprecher verstummt für eine Weile. Das ganze Kino scheint viele entscheidende Punkte in der heutigen Welt anzufliegen. Es gibt keine Schnitte, wie in einem normalen Kinofilm, es wird immer der ganze Weg, von einer Location zur an­deren, gezeigt.

Aber echt fix. Das muss man sagen!

Wusch, wusch, wusch – geht es von einem Punkt zum nächsten.

Auf diese Weise wird deutlich, wo überall auf der Welt etwas im Argen liegt. Es wird ein Bild der schonungslosen Zerstörung des Planeten ge­zeigt und der radikalen und konsequenten Aus­beutung aller Ressourcen und Menschen.

Es gibt nur »die da oben«. Eine kleine Elite, die soviel Geld hat, das sie ganze Planeten damit kaufen können, und »42 Milliarden da unten«, die für dieses Geld arbeiten müssen. Sklaverei in Reinstform, ohne Ketten, ohne Wärter, gefangen ist der Verstand.

Dazwischen gibt es nichts mehr. Für alles, was man zum Leben braucht, braucht man Geld. Le­ben, Atmen, Wasser, Klo, Schwitzen, Frieren. Jed­wede Form des Daseins kostet Geld. Und der Lohn des Jobs wird so bemessen, dass jeder sich soviel kaufen kann, dass er seine Arbeitskraft er­hält und nicht zu denken anfängt. Im Wesentli­chen ist es Zerstreuung und Alkohol. Auch wenn Sudi und Rod nicht wirklich an der Armutsgrenze aufgestellt sind, Urlaub, ein eigenes Fortbewe­gungsmittel, irgendetwas, was nichts mit Wohnen und Arbeiten zu tun hat, haben die beiden noch nie erlebt.

»Diese Welt kann entstehen, weil alle auf der Welt Stück für Stück ihren Glauben an etwas ver­loren und ihn durch den Glauben an das Geld er­setzt haben.

Der einzige Gott, den es weltweit noch gibt, heißt Geld.

Jeder glaubt, wenn er nur hart genug dafür ar­beitet, wird er irgendwann auch genug davon ha­ben. Dieser Glaube ist schön, aber falsch. Das System sieht nicht vor, dass Sie irgendwann ge­nug Geld haben. Natürlich kann jeder steinreich werden, aber nicht alle. Diesen Unterschied intel­lektuell zu durchdringen, gelingt nicht vielen.

Immer wenn irgendwo jemand etwas mehr an­spart als alle anderen, werden Menschen kom­men und sich fragen: ›Wie ist das möglich?‹ Sie werden für die Ursachen Geld einfordern, eine Nutzungspauschale erheben, eine Bearbeitungs­gebühr. Irgendetwas wird dafür sorgen, dass der­jenige nicht mehr hat, als er unbedingt zum Le­ben und zum Arbeiten braucht. Und weil das schon immer so war und funktioniert hat, wird es auch in der Bevölkerung keinen Protest geben und die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer. Inzwischen sind es weit über 42 Milliarden Menschen, die ausgebeutet werden und der einzige Weg, die Reichen noch reicher zu machen, sind mehr Menschen. Und so wird jedes Kind, ihr Kind, in die Sklaverei gebo­ren.«

Weiter geht es mit Ausschnitten dieser Welt, wie sie entsetzlicher nicht sein kann. Denn hier wird einem alles gezeigt. Auch die Dinge, die man normalerweise nicht sieht.

Die qualmenden Schlote und die Menschen, die mit einem Mundschutz durch die Straßen lau­fen. Die Unmengen von giftigen Chemikalien, die das Trinkwasser irreparabel verschmutzen.

»Es scheint so zu sein«, fährt der Mann fort, »als würden alle Menschen dieser Erde daran ar­beiten, diese zu zerstören, denn protestieren tut niemand. Niemand hat eine Stimme. Niemand sagt: ›Hey, so geht es nicht, wir müssen damit aufhören.‹ Alle sind nur noch frustriert und hof­fen, auch den nächsten Tag irgendwie zu überste­hen. Bei jeder Idee, etwas zu verbessern, wissen alle sofort, warum das nicht möglich ist, ohne es jemals probiert zu haben. Jede Verbesserung wird automatisch von jedem sofort im Keim erstickt.

Die Würde des Menschen ist deshalb nicht mehr unantastbar, weil es keine Würde mehr gibt. Alte und Kranke werden zu wertlosem Men­schenmaterial degradiert und werden nur weiter versorgt, wenn sie es bezahlen können. Aber wer kann das noch? Familien zerfallen in ihre Einzel­teile, weil man die Kosten, für die Pflege ihrer Al­ten nicht aufbringen kann.

Auf diese Weise züchtet sich die Gesellschaft die, die sie am meisten fürchten, selbst heran. Es sind Barbaren. Der einzige Antrieb ist Gier auf al­les, was man bekommen kann und das Einzige, was das noch übertrifft, ist der Hass auf alles, was der Gier im Weg steht und das ist eigentlich alles. So wachsen Hass und Gier gleichermaßen und der Kunstgriff der Reichen ist der, dass sie es geschafft haben, allen Glauben zu machen, das müsse so sein.«

Der Sprecher verstummt für eine Weile und man sieht, wie alle Anwesenden durch das Elend befördert werden. Es stellt sich einem die tat­sächliche Welt dar, ohne Vorhang, ohne rosarote Brille, nüchtern, direkt und schonungslos.

Sudi und Rod haben ein beklemmendes Gefühl in der Brust und bekommen kaum Luft.

Nein, Sudi und Rod fühlen sich unwohl, übel geradezu. Die Bilder sind brutal, ehrlich und sie wissen selbstverständlich, dass sie wahr sind. Da ist nichts gestellt oder getrickst. Man selbst gau­kelt sich etwas vor, um diese Bilder nicht ständig zu Gesicht zu bekommen. Man verdrängt die Wahrheit gerne, da man, ohnmächtig wie man ist, außerstande ist, sie zu ändern.

Man redet sich ein, man kommt schon irgend­wie zurecht. Und jeder kennt einen, dem es noch viel schlechter geht. Soweit unten ist man selber ja noch gar nicht. So bekommt die Hoffnung wie­der Energie und das Leben schreitet von dannen. Welche Alternativen bleiben einem? Eine andere Möglichkeit hat man ja nicht. Und für Selbstmord geht es den Leuten noch nicht schlecht genug, das ist für viele noch keine Option.

Der Sprecher holt noch einmal Luft: »Uns in­teressieren von Ihnen zwei Dinge. Sind Sie bereit, ihr Baby in dieser Welt zu erziehen, mit den gege­benen Aussichten und Chancen, die bei null ste­hen?

Und wenn ihre Antwort ›nein‹ ist, was wären Sie bereit, für eine bessere Welt zu tun?«

Eine Weile verharren die Bilder des gegenwär­tigen dreiunddreißigsten Jahrhunderts. Stille überlagert die Bilder der Zerstörung.

»Du, wir sind hier falsch Rod«, flüstert Sudi und zottelt an seinem Ärmel.

»Warum?«

»Es geht immer darum, dass ein Kind erzogen werden soll. Wir haben aber keins«, stellt Sudi leicht nervös fest.

»Mach dir keine Gedanken, wir machen nach­her schnell eins.« Rod, grinst sie an.

»Du doof du!« Sudi boxt ihn auf die Schulter. »Die haben bisher einen wirklich klaren Plan ge­zeigt und es sieht nicht so aus, als würden denen viele Fehler unterlaufen. Also, warum sitzen wir hier?«

Rod meint: »Auf dem Weg nach Hause gehen wir mal bei der Apotheke vorbei und holen Test­streifen. Die scheinen etwas zu wissen, was wir noch nicht wissen und möglich wäre es ja.«

Sudi nickt zustimmend. »Ja! Gute Idee.«

Wieder scheint das ganze Kino durch den Tun­nel zu rauschen und kommt wieder in der ›ande­ren Welt‹ heraus. Hier ist es sauber, hell und freundlich.

»Wir haben Sie ausgewählt«, fährt der Spre­cher fort, »weil Sie die ersten Kriterien erfüllen. Sie sind jung, verheiratet, ohne Vorstrafen, neh­men keine Drogen und alle sind gerade im Begriff Eltern zu werden.

Das mag nun für einige neu sein, aber Ihnen wird klar sein, dass wir in der heutigen Zeit kei­nen Arzt fragen müssen, um von Ihnen eine Urin­probe zu bekommen.

Und Sie alle können etwas, was wir in unserer Welt gut gebrauchen können. Sehen Sie, unsere Welt hat mit der Welt, die sie kennen nichts zu tun.

Sie ist autark, hat keinerlei Verbindungen mehr zum Rest dieser Welt. Sie ist hermetisch ab­geschlossen. Was drin ist, kommt nicht raus. Was draußen ist, kommt nicht rein. Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass, wenn sie diese Welt betreten, Sie nicht mehr zurückkönnen.«

Ein leichtes Raunen erfüllt das Kino.

»Wir sind uns sicher, dass Sie wissen, was für ein unglaublich faszinierendes Angebot wir Ihnen machen. Wir wissen nur nicht genau, ob Ihnen klar ist, was wir von Ihnen erwarten«, fährt die Stimme fort.

»Und es wird einige Mühen kosten, dies her­auszufinden.« Jetzt wird es offenbar ernst.

»Bevor wir Ihnen mehr über diese Welt sagen oder vielmehr, dann auch zeigen, müssen wir uns besser kennenlernen. Dafür haben wir eine Art Zeltplatz eingerichtet. Nach unserer Vorstellung werden Sie diesen Zeltplatz für drei Monate be­suchen. Die Firma kommt derweil für ihre Kos­ten, wie Miete und so weiter, auf. Auch ihren Arbeits­platz werden sie solange behalten. Sie sind nur für diese Zeit beurlaubt. Das haben wir, wenn Sie wollen, so geregelt, wenn Sie unser An­gebot an­nehmen.«

Sudi drückt Rods Arm fester an sich ran. »Das hat Dr. Jayanta auch schon gesagt.«

»Genießen Sie noch die letzten Bilder. Sie ha­ben eine Woche Zeit, sich alles genau zu überle­gen. Wir rufen Sie in exakt sieben Tagen, abends um 20 Uhr, an.

Es ist ganz simpel. Sagen Sie ›nein‹, wenn sie nichts damit zu tun haben wollen. Sie werden nie wieder von uns hören. So einfach ist das.

Oder sagen Sie ›Ja‹ und wir holen sie wenig später von Zuhause ab. Ihre Tasche mit ihren per­sönlichen Dingen sollten Sie fertig gepackt ha­ben. Nehmen Sie nur das Nötigste mit. Ihnen wird während dieser Zeit alles an Kleidung, Aus­rüstung und Gerät gestellt. Sie werden keinerlei technisches Gerät mitnehmen. Sollten Sie einen Zahnersatz tragen oder einen Teddy oder derglei­chen mitnehmen wollen, ist das selbstverständ­lich ihr gutes Recht. Seien Sie sich darüber im Klaren, dass Sie, wenn Sie erfolgreich sind, ihr al­tes Zuhause nicht wieder sehen werden.

Es geht dann direkt in die neue Welt!

Wenn dazu keine Fragen mehr sind, bedanke ich mich für ihr Interesse und ihre Aufmerksam­keit und wünsche Ihnen einen angenehmen Heimweg«, sagt die Erzählerstimme.

»Ich hätte da mal eine Frage!«, hört man je­manden von der anderen Seite des Kinos.

»Natürlich«, sagt die Stimme: »Um was geht es?«

Der Fragesteller wedelt zeigend mit dem Fin­ger in der Luft herum: »Was genau wird uns in dem Zeltlager erwarten? Ich meine, wird das eine Art Campingurlaub oder wie muss ich mir das vorstellen?«

Einige sind schon dabei, sich die Jacke anzu­ziehen, aber nun halten plötzlich alle noch mal inne.

Die Stimme erklärt: »Das ist eine sehr gute Frage. Nein, ein Campingurlaub wird das ganz si­cher nicht.

Wir werden Sie testen. Wir werden schauen, ob Sie wirklich drei Monate durchhalten und im­mer noch ihren neuen Wohnsitz haben wollen. Sie werden zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit ha­ben, das Team für immer zu verlassen. Aber seien Sie sich auch darüber im Klaren, dass wir eben­falls die Möglichkeit haben, diese Absprache auf­zuheben, wenn wir glauben, dass dies erforder­lich ist.

Sehen Sie, solange alles normal verläuft, wer­den Sie immer nett sein, hilfsbereit und alles tun, damit Sie dort einziehen können. Aber werden Sie das auch noch tun, wenn sie psychisch, phy­sisch oder emotional an ihre Grenzen kommen?«

»Dann ist das so eine Art Boot-Camp, oder was?«, hört man jemand anderen fragen.

»Wir bezeichnen es eher als Willkommens-Camp, aber im Prinzip haben Sie recht. Es wird dort nicht einfach werden.«

»Da bin ich aber froh, dass ich da noch mal nachgefragt habe«, krakeelt der Fragesteller. »So ein Militär-Scheiß könn'se gleich vergessen.«

Sudi und Rod schauen sich an. »Komm, lass uns los. Ich muss mal an die frische Luft«, flüstert Sudi und Rod macht eine wegweisende Handbe­wegung.

Bevor Sudi und Rod das Tor passieren, durch das sie hereingekommen sind, teilt eine junge Frau Synthetik-Reisetaschen aus. Diese, aus leichtem, reißfestem, aber dünnem Stoff beste­henden, klein zusammen gefalteten Taschen, wer­den sich später als wahre Raumwunder erweisen.

Und das war nun wirklich ganz erstaunlich. Es erscheint wieder die Tür, durch die sie hereinge­kommen sind, als sie näher kommen und sie durchschreiten das Portal. Wieder ein kurzer Ruck und sie sind zurück im Kino Royal, das sie zuvor betreten hatten. Eiligen Schrittes durch­queren sie das Foyer und spazieren raus auf die Straße, die ja auch nicht wirklich draußen ist, aber anscheinend bekommt man dort besser Luft.

»Das ist doch.« Sudi hält den Atem an.

»Ich werd verrückt, was macht ihr denn hier«, will Rod von Trisch und Barbo wissen.

Beide drehen sich gleichzeitig um und fühlen sich zunächst ertappt.

»Wir waren nur im ääähh… «, druckst Barbo herum.

Sudi fasst mal kurz zusammen: »Ihr seid ver­heiratet, seid nicht vorbestraft und Trisch ist schwanger… Ihr wart im Kino eins, oder?«

»Ppppsssssstttt! Nicht so laut.« Barbo macht eine dämpfende Handbewegung.

Barbo und Rod versuchen sich, so hinzustellen, dass sie einen Sichtschutz bilden.

»Wir müssen mal schnell von der Straße run­ter«, erklärt Rod. Alle nicken.

»Zu uns ist am dichtesten«, sagt Sudi und alle setzen sich zustimmend in Bewegung.

»Wir müssen nochmal bei einer Apotheke vor­bei«, sagt Sudi.

»Ich weiß, wo eine ist, die noch aufhat«, ent­gegnet Trisch.

Kurze Zeit später holt sich Sudi Teststreifen aus der Apotheke. Dann weiter zu Sudi und Rod nach Hause.

3.3 Nach dem Film

Zwei unterschiedliche Töne entweichen der Schließanlage und die Tür öffnet sich. Rods Hand ertastet einen Lichtschalter und alle vier ver­schwinden zügig in der Wohnung. Alles wortlos und schnell.

Trisch und Barbo setzen sich im Wohnzimmer auf die Couch. Sudi und Rod sorgen in der Küche für Getränke und kommen rasch nach. Sudi setzt sich in den Sessel, Rod nimmt einen Stuhl vom Esstisch.

»So, nun mal ganz langsam. Was habt ihr in diesem Kino gemacht?«, fällt Rod mit der Tür ins Haus.

»Wir dürfen eigentlich nicht drüber reden«, sagt Trisch.

Barbo holt Luft: »Wir waren, wie ihr, im Kino eins. Alles klar?«

»Barbo!!« Trisch klingt verärgert.

»Trisch, du bist unter Freunden«, stellt Barbo noch mal klar. »Und die beiden ahnen doch so­wieso längst alles. Also, was soll die Geheimnis­krämerei?«

Trisch nickt. »Ja, es ist wahr, wir waren im Kino eins«, sagt sie, »Sie suchen Leute, die schwanger sind und gerade keine Arbeit haben und da passen Barbo und ich wohl genau ins Pro­fil.«

Sudi wendet sich Rod zu: »Ja, das tauchte nun schon öfter auf. Die Kombination schwanger und keine Arbeit. Aber warum dann wir, Schatz? Ich geh mal kurz wohin«, sagt sie, die endlich Ge­wissheit haben will.

»Kannst du dich an den Kerl mit den breiten Schultern in der Kneipe neulich erinnern?« Barbo schaut Rod fragend an.

»Ja, genau der gab mir diese Visitenkarte. Mit ihm fing alles an«, sagt Rod.

»Er lauerte auch mir auf und gab mir eine, als ich Zuhause ankam«, sagt Barbo.

»Ach nee.« Rod, grinst.

Barbo erklärt: »Wir waren dann bei dieser Adresse und da bot man uns an, den Film zu be­suchen und entsprechend dem, was wir sehen werden, zu handeln.«

»Das war bei uns ganz genau so«, ergänzt Rod.

»Das darf nicht wahr sein. Wie geil ist das denn?«, ertönt es lautstark aus dem Bad.

»Alles in Ordnung Schatz?« Rod, schaut neu­gierig Richtung Badezimmertür.

»Ha! Ich bin. Nee, das gibt´s ja gar nicht. Ich bin« Sudi bringt keinen Ton raus.

Rod, geht zur Badezimmertür. »Wenn ich et­was helfen kann, sagst du es einfach, ja?« Er ist etwas besorgt, Sudi klingt so komisch, das kennt er gar nicht von ihr.

»Alles bestens mein Herz, wir werden bald zu dritt sein«, trällert Sudi fröhlich von innen.

»WAS!?!?!?« Rod, klingt über alle Maßen über­rascht und ist so gar nicht auf diese Situation vor­bereitet.

Er hatte die Idee mit den Teststreifen doch nur, weil er wollte, das Sudi sich keine Sorgen mehr machen muss. Doch nicht, damit sich her­ausstellt, dass sie wirklich schwanger ist.

»Na, das ist ja 'n Ding, mein Herz. Ich freue mich so«, meint Rod, der sich seiner Gefühle ge­rade ganz und gar nicht im Klaren ist. »Das wird riesig. Denke ich mal. Wir werden zu dritt sein«, konstatiert Rod noch einmal im Flur, der noch et­was Zeit braucht, um sich an die neue Situation zu gewöhnen.

Eine Frage quält ihn dennoch im Hinterkopf, denn er weiß nicht wie das laufen soll.

Langsam öffnet Sudi die Tür.

Rod nimmt Sudi in den Arm und meint: »Wir werden das hinbekommen, ganz sicher.«

Sudi legt ihren Kopf an seine Brust und meint beruhigt, fast ernst: »Ich weiß.«

Beide finden sich anschließend im Wohnzim­mer ein und setzen sich wieder zu Trisch und Barbo.

»Also, zwei Pärchen, beide Frauen schwanger, der Job ist kein Thema, alle unter 30, gesund, Nichtraucher, keine Vorstrafen. Okay, was haben wir noch?«, fasst Rod zusammen.

»Mehr Gemeinsamkeiten gibt es scheinbar gar nicht«, sagt Trisch zu Rod.

»Wir kommen ganz woanders her, sind schwarz, afrikanischer Abstammung, haben eine völlig andere Kindheit gehabt«, fügt Trisch hinzu.

»Ja, das schon, wir haben aber einen ähnlichen Background«, meint Barbo.

»Einen was?« Sudi schaut fragend.

Barbo holt Luft. »Na ja, wir haben alle keinen großartigen familiären Anhang, einen sehr über­sichtlichen Freundeskreis, einfache Strukturen, was den Arbeitsplatz angeht. Es gibt Menschen, die sind sehr viel eingebundener als wir. Wir könnten hier leicht weg«, erklärt Barbo.

»Man, die haben uns schon ziemlich gut durch­leuchtet. Die überlassen wirklich gar nichts dem Zufall«, meint Rod.

»Okay, was machen wir jetzt?«, will Trisch wis­sen.

Alle gucken sich gegenseitig an und sagen fast wie aus einem Mund: »Weiter!«.

Rod dreht sich zu Sudi: »Bitte, mach morgen eine Liste von Dingen, die wir hier abschließend regeln sollten. Welche Freunde wir noch anrufen, uns verabschieden. Tante Margot und Onkel Klaus noch mal Hallo sagen. Wenn einer was fragt, fahren wir das erste Mal im Leben in den Urlaub. Was ja gar nicht so falsch ist.«

Sudi nickt.

»Machst du das bitte auch?« Barbo streichelt Trisch am Arm.

»Na klar, mein Großer.« Trisch klingt erleich­tert und nun auch voller Zuversicht.

Ihr hat diese Verschwiegenheit Sudi und Rod gegenüber quer im Magen gelegen. Geheimnisse vor Freunden zu haben, zumal dann, wenn sie das ganze Leben betreffen, liegt Trisch nicht. Nun wo die Karten wieder offen auf dem Tisch liegen, fühlt sie sich gleich wohler.

»Warte mal.« Sudi steht auf und verschwindet.

Fummp, tönt es lautstark in der Küche und Sudi kommt mit einer geöffneten Flasche alkohol­freien Sekt und vier Gläsern rein.

»Zur Feier des Tages habe ich mal einen syn­thetischen Sekt aufgemacht«, erklärt Sudi, als sie wieder hereinkommt.

»Aber das Baby mein Herz, denkst du an das Baby?«, zeigt sich Rod besorgt.

»Herzi? Ich bin schwanger, nicht krank und ich werde mich nicht betrinken und ein Glas wird schon nicht schaden. Nur zum Anstoßen, Okay?«

Rod schaut verunsichert »Na ja, wenn du meinst, es ist nur...«

Sudi küsst ihn und schon ist Ruhe. Nach einer Weile trennen sich die beiden und Sudi meint zu Trisch: »Er ist manchmal wie ein Baby. Steck ihm was in den Mund und er hört auf zu schreien.«

Trisch und Sudi lachen, während sich Rod we­nig amüsiert zeigt.

Barbos Blick kann man nicht genau einordnen. Es ist eine Mischung aus hab ich nicht verstan­den und finde ich gar nicht witzig.

»Okay, ich schenke ein«, sagt Rod gespielt an­gesäuert und nimmt Sudi die Flasche aus der Hand. »Bevor du noch Unfug damit machst.«

»Seeeeehr Witziiiiiich«, entgegnet Sudi mit ge­trumpfter Nase und einer kauenden Geste.

Rod, schenkt vorsichtig ein und gibt jeweils Trisch, Barbo und Sudi ein Glas.

Alle vier stehen auf.

»Auf eine bessere und spannende Zukunft für uns alle.« Rod versucht, seinen sakralen Unterton zu verbergen, aber es ist ihm anzumerken, dass er angesichts jüngster Veränderungen sehr er­freut ist. Alle schauen sich gegenseitig in die Au­gen, stoßen miteinander an und nippen am Glas.

4 Die letzte Woche

Die letzte Woche

4.1 Mittwoch

Am nächsten Morgen betritt Rod das dunkle, staubige Büro seines Vorgesetzten. Das einfallen­de Licht wird immer wieder durch die großen Ventilatorblätter unterbrochen. Die Kaffeeränder auf der Tischplatte haben das Holz zerfressen und der Aschenbecher quillt über.

»Herr Seva, es dreht sich um Folgendes«, holt Rods Vorgesetzter aus. »Ich habe die Aufgabe, Sie bis auf Weiteres zu beurlauben. Man sagte mir, ihre Bezüge würden weiter laufen. Wann die­ses Arrangement beendet sein wird, wurde mir nicht mitgeteilt.«

Rod ist bemüht, sich nichts anmerken zu las­sen. Jetzt bloß nicht lächeln oder so, denkt er.

»Oh, das ist ja überraschend. Das heißt, ich brauche morgen nicht hier herzukommen?«, ver­gewissert sich Rod.

»Sie können jetzt gleich nach Hause gehen. Ich weiß nicht, was dahinter steckt, aber die An­ordnung kam von ganz oben.«

»Ich verstehe. Haben Sie vielen Dank für diese Mitteilung. Wenn das alles wäre?« Rod, macht an­deutungsweise einen Diener.

»Ja, das wäre alles. Und einen schönen Tag noch«, sagt sein Vorarbeiter.

Rod, nickt nochmal und verlässt das Büro.

Das läuft ja wie geschmiert, denkt er bei sich und winkt seinem Kollegen in der Schlosserhalle zu.

»Ich muss mal weg. Ich weiß nicht genau, wann ich wieder komme. Ich wünsche dir was«, brüllt Rod gegen den Maschinenlärm an.

Sein Kollege winkt zurück und Rod verschwin­det.

-*-

Sudi kommt gerade aus dem Bad und macht sich Frühstück, wie es an der Tür klimpert.

»Hi Schatz, bin wieder dahaaaa«, kommt ein Singsang von der Wohnungstür.

Sudi, die mit einem großen rosa Handtuch auf dem Kopf, spärlich bekleidet durch die Wohnung läuft, ist überrascht. »Was machst du denn schon hier?«

»Mein Vorarbeiter hat mich für unbestimmte Zeit beurlaubt. Die Bezüge laufen weiter«, sagt er. Rod klingt erleichtert.

»Das ist toll, mein Herz. Möchtest du einen Kaffee? Ich setze schnell noch einen auf«, sagt Sudi und Rod nickt.

»Schau mal, ich habe Brötchen mitgebracht und etwas Aufschnitt. Wenn du Lust hast, frühstü­cken wir zusammen«, meint Rod und Sudi ist be­geistert.

Sie deckt schnell das Frühstücksgeschirr auf, während der Kaffee durchläuft, und holt ein paar Sachen aus dem Kühlschrank. Rod geht ins Bad, sich die Hände waschen und kommt wieder rein, als Sudi feststellt: »Wir sollten jetzt planen, was wir alles noch zu erledigen haben. Wir werden vielleicht nie wieder kommen und ich möchte hier nichts unerledigt zurücklassen, wenn du weißt, was ich meine.« Sie steht in der Küche, Rod un­weit gegenüber und Sudi hat ein leichtes Zittern in der Stimme.

Rod, nimmt sie in den Arm. »Was ist Schatz? Du klingst besorgt.«

»Na ja es ist so ... Ich habe noch nie mein gan­zes bisheriges Leben aufgegeben und ich bin et­was verunsichert. Ist das kindisch?«, schmollt Sudi Rod an.

»Wir packen das. Wir werden die drei Monate Aufnahmeprüfung mit Bravour bestehen und dann in diese neue Welt einziehen und nichts und niemand wird uns daran hindern oder zurückschi­cken. Sind wir uns da einig?«

»Und wenn ich es nicht schaffe, die Aufnahme­prüfung zu bestehen? Ich meine wir wissen doch gar nicht, was da auf uns zu kommt.« Sudi stürzt in einen Strudel aus Zweifeln.

»Hey, wir haben uns!«, fährt Rod fort.

»Wir werden uns gegenseitig Stützen. Wir werden es schaffen. Wir haben bisher alles ge­schafft. Wir werden in dieses Paradies einziehen! Wir werden immer zusammen sein, egal was pas­siert. Hörst du? Egal!!! Was passiert. Du wirst niemals alleine sein.«

Sudi schmiegt sich ganz eng an Rods Brust. »Was macht dich da so sicher?«

»Schau, …«, fängt Rod an, zu erklären, »du hast den Film gesehen, und sie wollen diese Welt nun mit Menschen beleben. Die brauchen uns. Sie werden uns nicht durch den Wolf drehen und dann wegschmeißen. Nein. Sie werden prüfen, ob wir geeignet sind, dort einzuziehen. Nie wieder zurückzukönnen ist ein Stressfaktor, den Manche nicht aushalten. Für uns ist das kein Problem, da uns hier nichts hält. Sie suchen verheiratete Paa­re, die ein Kind erwarten. Schon dabei haben sie sich etwas gedacht und wir passen 100 % ins Pro­fil. Die wollen uns. Sie wollen nur sichergehen, dass sie sich nicht Leute anlachen, die ihre schö­ne Welt gleich wieder zerstören. Sie wollen keine Extremisten, keine Fanatiker. Sie wollen ›normale Menschen‹ wie du und ich. Deshalb glaube ich, das wird kein Problem werden. Wir sind normal, oder etwa nicht?«

Sudi schaut Rod in die Augen, schüttelt den Kopf und lacht wieder. »Nein, sind wir nicht.« Nun lachen beide.

»Komm, lass uns frühstücken«, sagt Sudi. Hab Kaffeedurst und Hunger. Beide begeben sich zu Tisch und frühstücken. Sudi schreibt etwas auf ein Blatt Papier. Und schreibt, und schreibt, und schreibt. Kein Wort fällt.

Aus dem Radio kommen irgendwelche Meldun­gen die im Wesentlichen zum Inhalt haben, dass man diese Welt nur verbessern kann, indem man die Zustände verschlechtere. Das über diesen Wi­derspruch noch keiner gestolpert ist, kommt Rod schon merkwürdig vor. Er schüttelt den Kopf, sagt aber nichts.

»Was schreibst du da mein Herz?«, fragt er Sudi und lenkt sich so von seinen Gedanken ab.

Sudi meint: »Wenn wir uns hier auf nimmer Wiedersehen aus dem Staub machen, dann soll­ten wir uns doch bei einigen verabschieden. Fin­dest du nicht? Damit sie sich keine Sorgen ma­chen.« Rod, sieht Sudi an.

Es dauert einige Zeit, bis er antwortet: »Es wird nicht einfach sein, unser plötzliches Ver­schwinden allen plausibel zu erklären, ohne die Wahrheit zu sagen.«

Sudi nickt: »Daran habe ich natürlich auch schon gedacht.«

»Sagen wir die Wahrheit«, fährt Rod fort, »sind wir augenblicklich raus aus der Nummer und das möchte ich ganz und gar nicht.«

»Wir sagen die Wahrheit, ohne die Wahrheit zu sagen. Wie findest du das denn?«, fragt Sudi und Rod erkundigt sich, ob irgendetwas in dem Kaffee war.

Der fragende Blick sorgt bei Rod für eine krau­se Stirn: »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«

Sudi fährt fort: »Wir sagen, wir müssten be­ruflich woanders hin. Wohin wissen wir noch nicht. Wir melden uns, sobald es uns möglich ist. Das entspricht vollständig der Wahrheit. Oder nicht?« Sudi findet das ziemlich clever.

Aber Rod meint: »Es wäre nur die Wahrheit, wenn wir nicht wüssten, das wir uns nie wieder melden werden. Wir wissen es aber.«

Sudi nickt: »Du hast recht. So geht es nicht«, sieht Sudi ein.

»Ich würde woanders arbeiten, wüsste aber noch nicht, wo und du kämst mit mir. Da kann keiner etwas sagen. Das entspricht vollständig der Wahrheit. Tatsächlich wissen wir nicht, wo es hingeht. Das ist wirklich verzwickt, wenn man nicht die ganze Wahrheit sagen darf.«

Sudi schaut etwas traurig nach unten. Zu ger­ne hätte sie die Eindrücke der Neuen Welt mit an­deren geteilt, vielleicht sogar gerne den einen oder die andere mitgenommen, aber das ist nicht möglich.

Nun heißt es Abschied nehmen.

»Weißt du, was ich denke, Schatz?«, fragt Sudi und klingt sehr ernst dabei.

Rod, schaut sie an.

Sudi philosophiert vor sich hin: »Es ist mir of­fenbar geworden, dass, so schlecht diese Welt auch ist, wir unsere Wurzeln hier haben. Und ob es uns nun passt oder nicht ... Wir gehören hier­her und wir werden alles aufgeben.

ALLES!

Unsere Kindheit, unsere Verwandten, Freunde, Erlebnisse. Ja, sogar unsere Toten werden wir hier zurücklassen. Alles, was unser Leben bisher ausmachte, bleibt hier.

Wer werden wir sein, wenn wir dort sind?

Einige persönliche Gegenstände dürfen wir ja mitnehmen, aber das Allermeiste bleibt hier zu­rück.

Wir werden ein völlig neues Leben beginnen. Und wir haben keine Ahnung, wie das werden wird. Kleidung, Mode, der eigene Stil. Das alles ist doch ein Teil des Ausdrucks unserer eigenen Persönlichkeit und das bleibt nun alles hier. Was von uns wird überhaupt auf die Reise gehen, wenn wir auch uns selbst zurücklassen. Ich mei­ne, da bleibt ja nicht mehr viel.«

Rod überlegt: »Im Prinzip richtig. Willst du lie­ber hierbleiben?«

»Nein, natürlich nicht. Ich meine nur, dass es nicht einfach werden wird, von alledem loszulas­sen.«

»Mir fallen dazu zwei Dinge ein«, sagt Rod.

»Wer warst du, als du geboren wurdest? Du warst alles, was du bist. Alles andere ist bloß ma­terieller Unfug, den braucht kein Mensch.

Und wenn alle Entdecker so gedacht hätten, würden wir heute wahrscheinlich noch in Höhlen leben.«

Sudi grinst. »Ein guter Punkt.«

»Ein Küken muss, um fliegen zu lernen, auch das beschützende Nest aufgeben und erfährt erst dann die Freiheit. Anschließend erscheint dem Küken die Aufgabe des Nestes als kleiner Preis dessen, was das Küken nun neu erleben kann: Die Weite der freien Welt«, überlegt Rod laut.

»Du hast Recht, lass uns flügge werden.« Nun klingt Sudi wieder entschlossen und optimistisch.

»Okay, also die Leute anrufen und Bescheid sa­gen, dass sie sich keine Sorgen machen brau­chen. Was ist mit Versicherungen und so, Banken, Krankenkasse und so weiter?«, fragt Sudi.

»Die wollten sich um den Job kümmern. Ich gehe mal davon aus, dass sie das mitmachen, sonst hätten sie etwas gesagt. Und wenn nicht, kann uns das, wenn wir weit weg sind, auch egal sein. Bevor die 3 Monate um sind, sollten wir an der Stelle gar nichts machen. Nachher stellt ir­gendwer noch dumme Fragen«, sagt Rod ni­ckend.

»Stimmt auch wieder«, meint Sudi. »Was ist mit unseren Sachen? Sollten wir irgendwas ver­kaufen oder verschenken?«, fragt Sudi.

»Verkaufen macht keinen Sinn. Es gibt dort kein Geld, aber über ein Geschenk würde sich si­cher so mancher freuen«, meint Rod. »An was hattest du denn gedacht?«

»Na ja, die Haushaltsgeräte und der Fernseher vielleicht. Und die…«

»Nein!«, unterbricht Rod. »Wenn wir gehen, sollen die sich dann drum streiten, wenn wir weg sind. Wir brauchen es dann ja nicht mehr. Wenn wir jetzt etwas verschenken, wecken wir nur schlafende Hunde. Wenn du weißt, was ich mei­ne.«

Sudi nickt: »Ja, das sollten wir auf keinen Fall tun, stimmt. Aber es ist schon komisch, wenn man weiß, dass fremde Leute später in unseren Sachen herumwühlen, oder?«

»Wir sollten uns, glaube ich, ohnehin mal fra­gen, ob wir nicht zu sehr an Vergänglichem hän­gen, ob es nicht vielleicht auch etwas Größeres gibt. Etwas Ewiges«, sagt Rod.

»Du meinst einen Gott?«, hakt Sudi nach.

»Ich weiß nicht, ob ich ihn Gott nennen würde, aber irgendetwas sorgt in diesem Universum für Struktur, für Ordnung. Das ist der Grund, warum es uns gibt.«

»Du hast ja ´nen Philosophischen.« Sudi nimmt Rod in den Arm.

»Naja, wenn man so alles aufgibt, wirklich al­les, dann frage ich mich doch, was oder vielmehr, wer ich in wahrer Wirklichkeit bin. All diese Äu­ßerlichkeiten also schon mal nicht. Hast du dich nie gefragt, warum wir überhaupt leben? Was Le­ben in seinem Innersten ausmacht?«, will Rod wissen.

»Wir konzentrieren uns erst einmal auf die Reise in einer Woche, bevor wir uns um unsere letzte Reise und die letzte aller Fragen kümmern, Okay?« Sudi will Rod von dem philosophischen Trip runterbringen.

»Hahaha, du hast recht, mein Herz« Rod lacht.

»Zeig mir mal die Liste. Vielleicht kannst du ein paar Leute anrufen. Ich gehe bei den Anderen vorbei und sage persönlich ›Lebewohl‹ und mor­gen verabschieden wir uns von denen, die uns nahe sind, zusammen, Okay?«

Sudi stellt sich hinter Rod, der am Küchentisch sitzt und krault ihm den Nacken.

»Das sieht ja so aus, als hätten wir einen Plan«, stellt Sudi fest. »Auf geht’s!«

Der Rest des Tages ist erfüllt mit herumfahren, telefonieren, erklären, viel erzählen und nichts sagen dürfen. Es ist alles nicht einfach, aber sie haben es irgendwie hinbekommen.

Am Abend ist es fast befremdlich. Sie sitzen Arm in Arm auf der Couch, schauen Fernsehen, Bier, Chips, alles ganz normal. Nur sagt keiner et­was. Sudi und Rod haben zwar die Augen in Rich­tung Fernseher gerichtet, doch in Wirklichkeit hängen sie ihren Gedanken nach und bekommen vom Programm nichts mit.

4.2 Donnerstag

Früh am Morgen ist Sudi bereits in der Küche, als Rod aus der Dusche kommt.

»Ein Wald voller moosiger Sandelhölzer!« Rod, trägt einen Singsang in der Stimme und wedelt eingetragenen Duft zu Sudi mit dem Handtuch rüber. Sie atmet ihn tief durch die Nase ein.

»Wenn sich seine Majestät bekleiden und sich zu Tisch begeben könnten. Ich wäre ihm sehr ver­bunden.« Sudi verneigt sich lächelnd, und macht Richtung Boden eine wedelnde Handbewegung, als würde sie einen Hut schwenken und sich ver­neigen.

Rhythmisch dreimal in die Hände klatschend verschwindet Rod im Schlafzimmer und ruft ge­spielt schwülstig: »Bekleidungsdiener, wo sind meine Bekleidungsdiener?«

Rod legt kühlend den Handrücken auf seine Stirn, was Sudi wiederum nicht sieht.

»Alles muss man hier selber machen«, sagt er und Sudi lacht in der Küche.

Kurz darauf…

»Was hast du heute vor?«, erkundigt sich Rod, als er die Küche betrat.

»Ich habe gestern ein paar Freunde nicht er­reicht. Ich werde heute nochmal versuchen, sie anzurufen. Und du?«, fragt Sudi.

»Ich gehe gleich mal zu Barbo rüber, mal se­hen, wie alles läuft. Vielleicht braucht er Hilfe bei irgendwas.«

»Gute Idee«, findet Sudi. »Kaffee?«

Rod hält den Becher hin, Sudi schenkt ein, dann Frühstücken sie.

»Genopf gennofen (genau genommen) bin ich pfro, wenn wir enflich da fin«, erklärt Rod mit vollem Mund.

Sudi nickt verständnisvoll, mütterlich gerade­zu, mit einem Blick voller Zuversicht und spitzen Lippen: »Beiß doch noch mal ab, ich hätte dich fast verstanden.«

»Ich meine die Ungeduld. Man ist gedanklich schon weg, aber tatsächlich noch hier. Wenn wir erst mal da sind, werden wir sehr schnell wissen, ob wir da reinpassen oder nicht. Und wir können immer noch zurück, hat er gesagt. Der Job und al­les bleibt, wie es ist. Iss doch cool, oder?«

»Ja!«, sagt Sudi nachdenklich. »Deshalb soll­ten wir auch nichts vorzeitig verkaufen, wegge­ben oder sonst wie veräußern. Wer weiß, was noch kommt.«

»Ganz genau, darum will ich zu Barbo rüber. Nicht, dass er schon Haus und Hof an den Mann bringt«, meint Rod.

»Gute Idee! Du kannst das alles stehen lassen. Ich räume das dann ab, mein Herz.«

Rod nimmt noch einen letzten Schluck Kaffee und steht auf, um sich im Flur die Jacke überzu­ziehen.

»Ich gehe, glaube ich, mal über den Markt. Das ist zwar sehr viel voller, aber auch kürzer, was meinst du?«, will Rod von Sudi wissen.

»Ja, gute Idee.«

»Okay, ich geh dann mal, bis nachher«, sagt Rod zu Sudi. »Soll ich irgendwas mitbringen? Abendbrot oder so?«

Sudi nimmt ihn schnell noch mal zum Näseln in den Arm und sagt: »Ich hab dich zum Fressen gern, mehr brauche ich nicht.«

Die beiden küssen sich und er verschwindet.

-*-

Auf den Straßen ist es wie immer stickig, laut und sehr voll. Alle rennen, mit dem Blick nach un­ten, irgendwo hin. Es hat den Anschein, als wäre jeder unterwegs und niemand, da wo er sein will. Alle streben woanders hin. Wie in einem Insek­ten-Bau wuseln alle durcheinander. Das einzig Gute ist, dass es keine Autos mehr gibt. Die wür­den der miserablen Luft den Rest geben. Die Straßen sind fast frei von Autos. Ein paar Einsatz­wagen gibt es noch. Dafür sind nun alle zu Fuß unterwegs. Oder mit einem PRT, wenn entfernte­re Ziele angestrebt werden.

Auf dem desolaten Marktplatz ist es außerdem noch laut. Es kommt hinzu, dass hier alle durch­einander schreien. Die Marktschreier, jedenfalls die Meisten, haben nichts Originelles mehr und die Menschen tun vor allem eins.

Sie hören weg!

Je lauter einer schreit, desto mehr hören sie weg. Es gibt ein paar »Stars«, ja, aber der Rest?

Man ist auf dem Markt, weil man ein paar Din­ge braucht und sie nur dort erwerben kann, aber angenehm oder gar inspirierend findet das kaum jemand.

»Vorsicht!!!«, brüllt plötzlich einer lautstark, doch es ist zu spät.

Beim Entladen hat sich ein Fass gelöst und tru­delt nun flott über die Straße. Leider steht Rod im Weg. Es reißt ihn um, rollt über seinen Fuß, welcher augenblicklich unfassbar schmerzt.

›Scheiße, das ist nicht gut, gar nicht gut‹, denkt er.

Die Schmerzen sind so heftig, dass er sein Be­wusstsein verliert. Augenblicklich fällt er zu Bo­den. Das Fass rollt noch einige Meter und stoppt durch den Aufprall im Blumenstand, der auf einer Seite einen gewaltigen Schaden hinnehmen muss.

Sofort bildet sich eine große Menschentraube um Rod herum, der bewusstlos auf dem Boden liegt.

»Kann jemand mal 'n Arzt rufen?«, brüllt einer.

»Und wer bezahlt den dann?«, quäkt eine Frau aus einer anderen Richtung.

»Wir können den Mann doch hier nicht so lie­gen lassen«, meint wieder eine andere.

Von einer Frau, die sich mühsam in die erste Reihe vorgedrängelt hat, um auch ja richtig se­hen zu können, kommt: »Ich kenne den Mann nicht. Mich geht das nichts an.«

»Hat er Geld bei sich?«, erkundigt sich ein an­derer.

»Durchsucht ihn doch mal jemand«, meint wie­der jemand anderes.

Eine ältere Frau dreht sich weg und entfernt sich etwas von der Menschentraube. Sie holt ei­nen Kommunikator aus der Handtasche und ruft einen Krankenwagen.

»Notfall-Aufnahme, was kann ich für Sie tun?«, tönt es von der anderen Seite gelangweilt aus dem Headset.

Man hat unweigerlich das Bild eines Kaugum­mikauenden Langweilers vor sich.

»Hören Sie, auf dem Marktplatz im 16. Abteil liegt ein Mann bewusstlos auf dem Boden. Er braucht einen Arzt«, sagt die Frau.

»Name?«

»Ich kenne den Mann nicht, ich weiß nicht, wie er heißt.«

»Ihr Name!«

»Der tut nichts zur Sache. Ich liege ja nicht auf dem Boden, sondern er.«

Die alte Frau wird wütend.

»Wenn das ein blinder Alarm ist, brauchen wir ja jemanden, der die Kosten für den Einsatz über­nimmt«, erklärt das Kaugummi.

»Helfen Sie dem Mann nun, oder nicht?« Wü­tend legt die Frau auf, um Rod zu helfen. Sie kniet sich neben ihn. Sie nimmt seinen Kopf hoch und legt ihn auf ihr Bein.

Rod kommt wieder zu sich, was sich als fataler Fehler herausstellt. Die Schmerzen kommen durch. Irgendetwas ist mit seinem Fuß ganz und gar nicht in Ordnung. Rod schreit vor Schmerzen. Spontan lösen sich Tränen. Doch plötzlich ver­geht der Schmerz und er entspannt sich sogar.

»Psssschcchhhh Psssccchhhhh«, beruhigt die alte Frau den Mann.

»Das sind die körpereigenen Morphine.« Die Frau nickt weise. Sie scheint zu wissen, was sie tut. »Hilfe ist unterwegs, glaube ich. Ich habe an­gerufen, ich hoffe, es kommt jemand.«

Kaum hat die alte Frau den Satz beendet, hört man Sirenen näher kommen.

»Hilfe naht«, sagt sie und streicht Rod noch einmal über die Stirn.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird alles wieder gut.«

Die alte Frau klingt sehr vertrauenerweckend und Rod hofft, dass sie recht hat.

Die Männer, mit den Rettungswesten, steigen schnell aus dem Fahrzeug, eines der wenigen die es noch gibt.

»Wer übernimmt die Kosten für den Einsatz?« Der Fahrer versucht, gleich nach dem Ausstei­gen, die Kostenübernahme zu klären.

»Was sind Sie doch für ein Barbar. Der Mann braucht Hilfe und Sie reden von Geld?«, regt sich eine Frau auf, obwohl sie das natürlich kennt, aber sie hat es noch nie miterlebt.

»Ohne eine offizielle Kostenübernahme kann ich leider gar nichts für ihn tun«, sagt der Mann aus dem Rettungswagen, dreht sich um und rennt gegen die Brust eines Typs, der gut einen Kopf größer ist als er.

Der Typ nimmt den Mann aus dem Rettungs­wagen in den Arm, vielleicht besser, in den Schwitzkasten. »Die Kosten? Wer würde bezah­len, wenn plötzlich du brauchst Arzt?«, fragt der Große mit russischem Akzent?

Der Typ aus dem Krankenwagen bekommt kaum Luft und einen hochroten Kopf. »Die Kosten würde das Krankenhaus übernehmen.«

»Na ja, dann wir haben einen, der Kosten übernimmt. Wenn ich lasse dich in Ruhe, Geld ist über, oder?«

Der große Mann löst seinen kräftigen Griff wieder und das gestaute Blut scheint sich aus dem Kopf des Krankenwagenfahrers zurückzuzie­hen.

»Begrüßen würde ich außerordentlich, wenn Job machen.« Die Art, in der der Riese das sagt, erinnert an einen Boss, der sehr ungehalten ist.

»Ja, ääh, ich ääh, kann ich mal durch?«, stam­melt der Krankenwagenfahrer, macht eine Geste zu seinem Kollegen, der augenblicklich mit einer Trage ankommt. Rod wird daraufgelegt und ver­schwindet im Krankenwagen. Die wieder einge­schalteten Sirenen bahnen sofort eine Gasse auf dem Marktplatz und machen den Weg ins Kran­kenhaus frei.

-*-

Etwas später klingelt es bei Sudi an der Haus­tür.

»Jahhaaa, ich komme schoooooonnnnn!«, ruft Sudi trällernd.

Sie öffnet die Tür und zwei Polizeibeamte ste­hen vor der Selbigen.

»Oh ääh, guten Tag. Was kann ich für Sie tun?« Sudi schaut verunsichert.

»Sind Sie äh Frau äh Sudenia Seva?«, will der eine Beamte wissen, während er auf seinen Auf­tragszettel schaut.

»Ja, bin ich. Was ist passiert?«

»Können wir bitte einmal ihren Ausweis se­hen?«, fragt der Andere.

»Ja, einen Moment, ich hole ihn.« Sudi lässt die Tür los und holt den Ausweis aus der Jacken­tasche.

»Hier.« Sie reicht den Ausweis an. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung? Stimmt etwas nicht?«

Diese Beamten sind nicht so wie die Schläger neulich. Sie sind netter, menschlicher. Der Beam­te reicht den Ausweis zurück.

»Frau Seva, wir haben die Aufgabe, Ihnen mit­zuteilen, dass ihr Mann Rodreon Seva soeben im Krankenhaus im 92. Distrikt eingeliefert wur­de.«

»Oh Gott, was ist passiert?« Sudi ist plötzlich kurzatmig.

»Das hat man uns leider nicht mitgeteilt.«

Blitzartig reagiert Sudi und spielt mit ihren Reizen. Sie schiebt sich das Dekolleté zurecht und lehnt nach vorne gebeugt im Türrahmen. Wehleidig klagend sagt sie: »Wie soll ich da nur hinkommen? Ich weiß doch gar nicht, wo das ist.«

Ihre Stimme klingt schmerzvoll, in jedem Fall herzzerreißend. Der hintere Beamte stößt den vorderen an und dieser nickt.

»Wir könnten Sie gewissermaßen….« Er kann seinen Blick nicht von den herrlichen Auslagen Mutter-Natur's wenden. »Ääähh mitnehmen, das ääähhh wäre nur ein kleiner, ääh Umweg, quasi.«

»Wirklich nur ein...«, er schüttelt noch mal den Kopf, »ganz winzig kleiner«, fügt der hintere Be­amte hinzu, während er sich besser ins Sicht­feld drängt.

»Ich hole nur schnell meine Jacke.« Sudi zieht sie über und öffnet den Reißverschluss ihres Tops noch etwas.

»Wir können dann, wenn Sie so weit sind.« Sudi schiebt sich und ihren Ausschnitt an den Be­amten vorbei und schließt hinter sich die Woh­nungstür.

Sudi steigt freiwillig in einen Polizeiwagen. Dass sie das noch miterlebt, hätte sie auch nicht gedacht. Aber es ist die schnellste Möglichkeit, ins Krankenhaus zu kommen.

Nach ihrer Ankunft steigt Sudi schnell aus und beugt sich noch einmal mit tiefgestelltem Reiß­verschluss des Ausschnitts am Beifahrerfenster runter und bedankt sich.

Das sieht von Außen vielleicht etwas nuttig aus, aber die Beamten sind nett. Den Blick haben sie sich verdient, denkt Sudi.

Mit schmachtendem Blick hängen die Augen der Beamten noch ihrem ›Fahrgestell‹ hinterher, bis sie in der Anmeldung verschwindet. Nervös winkt der eine dem anderen, er solle doch losfah­ren.

Den Ausschnitt hat Sudi nun wieder sehr viel züchtiger gestellt und erkundigt sich beim Pfört­ner: »Sie haben einen Rodreon Seva hier? Kann ich zu ihm?«

»Seva, Seva, Seva… mmmhhh ich habe hier keinen Seva, Rodreon, ach Moment«, sagt der Pförtner.

Sudi schaut ungeduldig auf die Uhr.

»Hier, warten Sie. Oh ja, er ist in der … in der Notaufnahme. Block 42, am Eingang wird man Ih­nen mehr sagen«, sagt der Pförtner nickend.

»Haben Sie vielen Dank«, sagt Sudi.

Sie dreht sich um. Der große Plan hinter ihr zeigt das Krankenhaus-Gelände. Sie sieht gleich, wo sie hin muss.

Im Block 42 angekommen, dasselbe Spiel.

»Sie haben einen Rodreon Seva hier? Kann ich zu ihm?«

»Rodreon Seva, ja, richtig. Er wird gerade ge­röntgt. Das kann noch eine halbe Stunde dauern. Wenn Sie warten wollen, da vorne ist eine Bank. Im ersten Stock ist eine Cafeteria.«

»Dann warte ich oben, haben Sie vielen Dank«, sagt Sudi und geht hoch.

Warten! Mmmh. Sudi erreicht die Cafeteria und sieht sich um. Am Fenster ist ein Platz frei, okay.

Sie holt sich einen Kaffee und nimmt den Fens­terplatz. Hier kann man wenigstens ausgucken, auch wenn man nur den Hof vor dem Kranken­haus sieht.

Mal geht einer, mal kommt einer. Es ist un­glaublich spannend. Gähn, nein ehrlich. Sudi er­innert sich plötzlich daran, dass man beim Gäh­nen die Hand vor den Mund nimmt, aber da ist es schon zu spät.

Die Luft hier ist stickig. Das Fenster zu öffnen, hätte die Sache nur verschlimmert. Sie schaut auf die Uhr. Seit dem letzten Mal sind gefühlte zwei Stunden vergangen, das war vor drei Minuten.

›Boah, das wird sich noch hinziehen‹, denkt sie.

Im Minutentakt schaut sie auf die Uhr, was die Sache auch nicht beschleunigt. Es ist komisch, denkt sie. Man hat kein wirkliches Zeitgefühl. Zeit ist immer etwas, was unterschiedlich abzu­laufen scheint.

Ein Meter, ist ein Meter, das ist klar und ein­fach. Ein Raum ist vier Meter lang, drei Meter breit, zweieinhalb Meter hoch. Sich das vorzustel­len, bereitet uns keine Schwierigkeiten, aber Zeit. Was ist Zeit?

Schöne Momente vergehen wie im Fluge und wartet man, womöglich auf eine Sache, die einem nicht gefallen wird oder wichtig ist, dann dauert es ewig.

Aber so hartnäckig sie auch ist, die Zeit, sie vergeht doch. Sudi hat den Kaffee längst ausge­trunken und geht runter zum Pförtner.

»Ist Herr Seva schon fertig mit dem Röntgen?«, will Sudi wissen.

»Ja, er liegt nun in Zimmer 212, zweiter Stock, der Fahrstuhl ist da vorne«, sagt der Mann am Schalter.

»Danke«, sagt Sudi nickend und begibt sich zum Fahrstuhl. Pling, geht die Tür auf.

Oben angekommen, verlässt sie den Fahrstuhl und orientiert sich kurz.

»204, 206, 208… Aha, da geht’s lang«, mur­melt sie vor sich hin.

»212, hier ist es ja.« Da sie nicht weiß, was da drin los ist, klopft sie an und wartet kurz, hört aber nichts. Dann klopft sie noch mal etwas lau­ter. Wieder nichts. Sie geht rein.

Und da liegt er. Er scheint irgendwie wegge­dämmert zu sein. Sie nimmt sich einen Stuhl und setzt sich zu ihm ans Bett.

Sie hält seine Hand, sie streichelt ihm über sei­ne Stirn. Und so sitzt sie da. Und sitzt und sitzt und sitzt. Obwohl sie nun ebenfalls wartet, scheint die Zeit nun wie im Fluge zu vergehen.

Draußen wird es bereits dunkel. Plötzlich regt sich ein Finger an Rods rechter Hand.

»Schatz?« Platzt es sofort aufgeregt aus ihr heraus.

Aber Rod wird nicht wach. Er liegt da, friedlich wie ein Baby und schläft. Sudi steht auf und will einen Arzt sprechen. In Erfahrung bringen, was Rod fehlt. Aber die Ärzte sind alle beschäftigt, niemand ist zu sprechen. Eine Schwester sagt ihr, sie solle Geduld haben. Rod würde morgen wie­der aufwachen.

»Sind Sie sicher? Morgen?«

»Ja!«, sagt die Schwester. »Man hat ihm etwas gegeben, damit er schläft. Morgen ist er wieder da.«

»Okay, dann komme ich morgen wieder. Ab wann kann ich hier rein?«, erkundigt sich Sudi.

»Besuchszeiten sind normalerweise von 8 bis 18 Uhr.«

Sudi nickt: »Okay, dann bis morgen.«

Der Weg nach Hause mit dem PRT ist diesmal wirklich vollautomatisch. Sudi starrt in die Ge­gend und sieht nichts. Nur ein leerer Blick. Was ist eigentlich wirklich passiert? Warum genau liegt er im Krankenhaus? Was würde werden? Wird es ihm wieder gut gehen? Was kann sie tun, um seine Lage zu verbessern? Wann wird er wie­der rauskommen? Und wie kam es überhaupt dazu?

Sie wird wütend auf sich selbst, da sie mit so vielen Fragen gar nicht klarkommt. Wieder und immer wieder gehen ihr die gleichen Fragen durch den Kopf, auf der Suche nach Antworten, aber sie findet keine.

Der Weg nach Hause scheint endlos zu sein. Ihre Liebe zu ihm ist es ebenfalls und nun das. Sie will etwas tun, ihm helfen, irgendwas. Aber sie weiß nicht was.

Es ist diese Ohnmacht, die sie bis zur Ver­zweiflung quält. Was würde geschehen?

Zu Hause ruft sie gleich Trisch an. Wählt man die Telefonnummer von Trisch und Barbo klingt das jedes Mal wie ein alter Rockklassiker. Die Nummer klingt melodisch.

Tuuuuut, Tuuuuuut, »Chavall.«

»Hi Trisch ich bin's, Sudi.«

»Hallo Sudi, schön das du anrufst. Wie geht’s dir? Hat heute alles geklappt?«, fragt Trisch.

»Nee pass auf, ist große Scheiße passiert!«

»Nee, wieso das denn, was ist los?«

»Na ja, Rod hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus.«

»Waaaaaas…. Barbo, Rod liegt im Kranken­haus«, ruft Trisch nach hinten.

»Scheiße ja, und er spricht nicht. Er liegt ein­fach nur da.«

»Wieso, was ist denn passiert?«, hakt Trisch noch einmal nach.

»So genau weiß ich das auch noch nicht. Er hatte wohl einen Unfall und kam ins Kranken­haus. Da haben sie ihn geröntgt und nun liegt er im Bett und schläft.«

»Was ist dabei herausgekommen. Beim Rönt­gen?«, will Trisch, die Krankenschwester ist, wis­sen.

»Das weiß ich nicht. Ein Arzt war nicht mehr zu sprechen, waren alle schon weg oder beschäf­tigt. Morgen erfahre ich mehr.« Sudi klingt ein­sam und hilflos.

»Willst du bei uns schlafen? Dann bist du heu­te Nacht nicht so alleine«, schlägt Trisch vor.

»Oh ja, ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest«, sagt Sudi erleichtert. »Ich mache mich gleich auf den Weg. Bis gleich.«

»Bis gleich.«

-*-

Als Sudi bei Trisch und Barbo ankommt, ist die Stimmung verständlicherweise getrübt. Die sonst so freudige Begrüßung fällt deutlich zurückhal­tender aus.

»Komm rein, Schatz.« Trisch nimmt Sudi in den Arm. Sudi fängt an, zu weinen.

»Hey, schschschschsch, setz dich erst mal. Al­les wird gut«, sagt Trisch.

Sudi geht ins Wohnzimmer und wird von Barbo in den Arm genommen. Dann nehmen alle im Wohnzimmer Platz.

Barbo fragt: »Kann ich dir irgendwas bringen? Möchtest du was trinken? Hast du Hunger? Hast bestimmt nicht richtig gegessen, oder?«

Sudi schüttelt nur den Kopf.

Barbo hakt nach: »Soll ich dir eine Dose Sar­dellen aufmachen, mit Honig?«

Sudi schaut Barbo eine Weile sehr entsetzt an. »Igitt, das ist eklig!!!«, schreit sie, muss aber bei dem Gedanken selber schmunzeln.

»Ja, das ist es«, sagt Barbo, »Aber du hast ge­schmunzelt. Das ist doch schon mal was.«

»Oh Mann, und ich hab ihm noch gesagt, es wäre eine gute Idee, über den Markt zu gehen. »Wenn doch bloß schon morgen wäre.« Sudi schüttelt immer wieder den Kopf.

»Mach dir keine Vorwürfe. Warte erst einmal ab, was passiert ist.« Trisch versucht, Sudi zu be­ruhigen.

Trisch streichelt Sudis Schulter und Barbo baut das Nachtlager für Sudi. Der Abend geht noch eine ganze Weile und wechselt Ängste, Mei­nungen, Befürchtungen und Tränen immer wie­der aufs Neue ab. Aber irgendwann, als Barbo mit dem Betten-Bauen längst fertig ist, hebt Trisch Sudis Kopf hoch und sagte: »Heute Abend, blauer Himmel, Schäfchenwolken und Engel, die auf Geigen spielen, und du schläfst gut und träumst etwas Schönes. Hörst du? Du denkst nur noch an DAS heute Abend, Okay?«

Sudi wischt sich ein paar Tränen aus dem ver­heulten Gesicht und nickt. Trisch drückt sie noch mal und dann begeben sich alle zu Bett.

4.3 Freitag

»Guten Morgen Sudi«, sagen Trisch und Barbo nacheinander, fast gleichzeitig, aber im Wohn­zimmer regt sich nichts.

»Sudi?« Trisch kniet am Bett und streicht ihr sanft über die Schulter. »Wollen wir mal schauen, wie es Rod geht?«, fragt Trisch und auf einmal ist Sudi hellwach, geradezu hektisch.

»Na klar, wie lange habe ich geschlafen. Ich muss los, ich darf nicht zu spät kommen, ich…«

»Halllloooooo!« Trisch streicht Sudi abermals über die Stirn.

»Es ist kurz nach sechs Uhr Kleines. Du hast noch massig Zeit. Am besten, du duschst erst ein­mal. Wir frühstücken dann, Okay?« Trisch schaut fragend und Sudi setzt sich aufs Bett und reibt sich den Schlaf aus den Augen.

Kurze Zeit später sitzt Sudi mit den beiden in der Küche am Frühstückstisch, mit einem heißen Pott Kaffee.

Barbo: »Milch dabei? Zucker?«

»Habt ihr Süßstoff?«, fragt Sudi.

»Nein, nur Zucker«, sagt Barbo.

»Gut dann ein Teelöffel Zucker. Den werde ich brauchen, schätze ich.« Sudi nimmt den heißen Kaffee in beide Hände und pustet. Dann nimmt sie einen Schluck und schließt die Augen. »Boah«, sagt Sudi.

Trisch und Barbo gucken.

»Der erste Schluck Kaffee morgens kann was, das können die anderen Schlücke nicht mehr. Wisst ihr, was ich meine?« Sudi schaut beide nacheinander an?

Trisch nickt und Barbo sagt ebenfalls nickend »Ouuuu Jaaahhhh«.

»Willst du eine Scheibe Brot? Ein Ei? Irgend­was?« Trisch schaut Sudi an.

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, Kaffee reicht völlig. Nachher vielleicht.«

Dann sitzt Sudi in Gedanken versunken mit dem Kaffee in der Hand da und hat wieder diesen leeren Blick.

»Das mit dem Krankenhaus … Wir würden dich gerne begleiten«, sagt Barbo. »Nur für den Fall, dass du Hilfe brauchst, bei irgendwas.«

Sudi blickt auf und lächelt. »Das ist wirklich süß von euch, danke«, sagt sie fast etwas verle­gen, in jedem Fall aber erleichtert.

»Wir schauen halt erst einmal, was überhaupt ist. Dann sehen wir weiter, okay?« Trisch klingt, als wüsste sie, wo es langgeht.

»Wir sollten uns langsam fertig machen«, sagt Barbo und Sudi stellt hektisch den Kaffeepott auf den Tisch, rennt in den Flur, Schuhe, Jacke, Ta­sche: »Können wir los?«

»Du, ich hab seit Jahren so eine dumme Ange­wohnheit.« Barbo legt den Kopf leicht schräg. »Immer wenn ich aus dem Haus gehe, ziehe ich mir Schuhe an, ganz komisch.« Barbo sieht Sudi prüfend an.

Sudi nickt. Normalerweise wäre jetzt von ihr ein Spruch fällig, aber Sudi ist nicht danach.

Trisch kommt fertig angezogen aus dem Schlafzimmer. »Von mir aus können wir.«

Barbo sitzt noch immer im Flur auf einem Schemel und bindet sich die Schuhe zu.

»Werden wir es denn irgendwie hinbekommen Herr Chavall?«, erkundigt sich Trisch, mit spitzer Zunge.

Sudi muss nun doch schmunzeln.

»So, wir können«, springt Barbo auf. Sudi öff­net die Wohnungstür und sie verlassen nachein­ander die Wohnung.

Es ist kurz vor acht Uhr, als sie am Kranken­haus ankommen.

»Wir wollen ins Haus 42, Zimmer 212«, erklärt Sudi dem Pförtner.

»Die machen gleich auf. Gehen Sie man schon mal rein« Der Pförtner winkt sie durch.

Trisch und Barbo grüßen den Pförtner nickend und folgen Sudi, die ja weiß, wo sie hin muss. Am Fahrstuhl in den zweiten Stock fällt Trisch ein: »Wir haben nun gar nichts mitgebracht. Blumen oder so.«

»Mmmh, na, das wird er verkraften, schätze ich. Da kommt er drüber weg« Sudi lächelt.

Sie klopfen an die Tür und von drinnen hört man einen kräftigen Singsang. »Es ist offen.«

Sudi ist sichtlich erleichtert. Er ist wach, hat eine kräftige Stimme und offenbar seinen Humor wieder. Das ist ein gutes Zeichen. Schnurstracks geht Sudi forschen Schrittes auf Rods Bett zu und eröffnet sogleich wütend das Dauerfeuer: »Kannst du mir mal sagen, was du hier machst? Wieso warst du nicht bei Trisch und Barbo? Wir waren verabredet, dann kommst du abends nicht nach Hause. Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich musste bei Trisch und Barbo schlafen.«

Barbo meint aus Spaß: »Als wenn es schlim­mer nicht kommen könnte.«

Sudi holt Luft und Rod nutzt die Pause und springt ein: »Ich freue mich auch, dich zu sehen. Ich hatte einen Unfall auf dem Marktplatz.«

Sudi nimmt Rod ganz fest in den Arm, drückt und küsst ihn. Tastet an ihm herum. Schaut, wo was nicht in Ordnung ist. Küsst ihn wieder.

»Möchtet ihr lieber allein sein?« Barbo rollt gespielt mit den Augen.

Sudi, die sich kurz unverstanden fühlt, sagt: »Was? Nee, ich guck nur. Ach mennooooo. Trisch hau ihm mal eine rein.«

Alle lachen und so langsam löst sich die Span­nung wieder.

»So nun mal der Reihe nach. Was ist passiert?«, will Sudi wissen und Trisch kommt nä­her an Sudi heran.

»Also ich ging so über den Marktplatz und plötzlich löste sich ein Fass und rollte von einem Transporter und ...« Rod erzählt genau, was ge­schehen ist, beziehungsweise an was er sich erin­nern kann.

»Und nun ist wohl irgendwie mein Fuß gebro­chen«, schließt Rod vorerst seine Erklärung ab.

Sudi nimmt die Decke hoch und Rod mokiert sich: »Sudi! Decke runter, ich bin doch so ge­nant.«

»Das ist nun doof«, stellt Sudi für alle Beteilig­ten nicht wirklich überraschend fest. »Und was ist mit ...«

»Wir werden einiges klären müssen«, fällt Bar­bo ihr ins Wort.

»Okay«, meint Trisch, »wie lange wird das hier dauern? Hat man dir irgendwas gesagt?«

Rod, schüttelt den Kopf. »Beim Röntgen mein­te ein Arzt zum anderen, das es wohl übel ausse­hen würde. Was immer das heißen mag.«

Sudi meint: »Okay, du entspannst dich mal, guckst 'n bisschen Fernsehen. Das ist erst mal Strafe genug« Sudi grinst, »Und wir kümmern uns um alles andere. Wir werden den Karren schon irgendwie aus dem Dreck ziehen.«

Sudi verabschiedet sich von Rod und küsst ihn noch einmal.

»Brauchst du noch irgendwas? Was zum Le­sen, oder so?«

»Nein danke, alles okay so, Schatz.«

»Okay, dann werden wir mal wieder los und die Sache regeln«, sagt Sudi.

Rod meint: »Danke, dass ihr da wart. Nun ist mir viel wohler.«

Und Sudi kann es nicht lassen: »Und rasier´ dich mal du Fusel, du kratzt.«

Trisch verabschiedet sich. Sie nimmt Rod in den Arm und sagt: »Lass es dir hier gut gehen. Gute Besserung. Wir schauen wieder nach dir, so­bald wir können.«

Barbo verabschiedet sich anschließend: »Okay, alles senkrecht Alter, wir kümmern uns um alles, halt durch, wir sehen uns.«

Alle verlassen das Zimmer und dann ist wieder Stille im Raum.

Draußen vor dem Krankenhaus beratschlagen die drei, was nun zu tun ist.

»Wir müssen nochmal dorthin, wo dieser Dr. Jayanta arbeitet und Bescheid sagen, dass wir später kommen. Dass sich Rod einen Fuß gebro­chen hat und wir den Termin nächste Woche Dienstag nicht einhalten können«, meint Sudi.

»Das ist, denke ich, auch die einzig gute Idee. Sonst wüsste ich auch nicht, was man tun könn­te«, sagt Trisch.

»Okay, dann auf zu Dr. Jayanta«, legt Barbo fest.

»Habt ihr eure Armreifen und Ausweise da­bei?« Sudi macht sich plötzlich Sorgen.

»Ja, haben wir. Die haben wir komischerweise, seit wir sie haben, ständig bei uns. Man könnte sie ja mal gebrauchen«, sagt Trisch.

»Wir nehmen wieder einen PRT, oder?«, fragt Sudi.

Trisch und Barbo nicken und die drei mar­schieren zur nächsten Station.

-*-

Als sie die Empfangshalle der Firma, von der sie immer noch nicht wissen, wie sie eigentlich heißt, betreten, fällt wieder diese Stille in der Eingangshalle auf.

Sudi stellt sich beim Empfang vor und der Pförtner entgegnet: »Ah verstehe. Haben Sie ihren Ausweis dabei?«

»Ja«, sagt Sudi und gibt ihm den Ausweis.

»Warum sind sie zu dritt?«, will der Pförtner wissen.

Trisch gibt sofort deren Ausweise dem Pfört­ner und dieser stellt augenblicklich fest: »Ach, Sie kennen sich. Was für ein Zufall.«

»Es geht um folgendes«, sagt Sudi. »Mein Mann hatte einen Unfall und liegt im Kranken­haus und wir würden gerne nächste Woche diese Reise antreten, aber können hier deshalb noch nicht weg.«

»Oh, wie außerordentlich unerfreulich«, stellt der Pförtner fest, während er ein paar Knöpfe drückt. »Warten Sie bitte da vorne. Sie werden gleich abgeholt.«

»Danke«, sagt Sudi und die drei gehen in den Wartebereich.

Noch bevor sie Platz nehmen, fordert sie eine sehr elegant gekleidete Dame auf, ihr zu folgen. Wieder geht es in den Fahrstuhl und einige Eta­gen rauf, durch lange Flure in das Büro von Dr. Jayanta.

»Aha, hier war ich schon mal«, erinnert sich Sudi.

»Dr. Jayanta hat gleich Zeit für Sie«, sagt die Dame.

»Kann ich Ihnen noch etwas anbieten?«

»Ein Wasser wäre nett«, sagt Sudi und schaut zu Trisch und Barbo.

»Für mich auch«, sagt Trisch und Barbo nickt nur.

»Nehmen Sie doch schon mal Platz. Dr. Jayan­ta kommt sofort«, sagt die Dame und verschwin­det.

Einen Moment später geht die Tür wieder auf.

»Frau Seva, ich freue mich, Sie zu sehen. Was kann ich für Sie tun?«, klingt seine Stimme zu­nächst etwas zurückhaltend. Er stutzt, weil Sudi in Begleitung ist.

»Sie sind nicht allein hier?«

»Nein, Dr. Jayanta, das sind K'TrischaFenya und Barbotis Chavall, Freunde von mir und wir trafen uns zufällig, nach dem Film vor dem Kino. Wir wissen voneinander. Ja…«

»Ach, Sie sind auch … na ja dann …« Dr. Jayan­ta lächelt. »Was kann ich für Sie tun?«

Plötzlich klopft es und sofort öffnet sich die Tür. Die Dame bringt die Getränke herein und verschwindet wortlos.

»Nun, es ist so. Mein Mann, Rodreon Seva, hatte einen Unfall und liegt nun im Krankenhaus 92. Distrikt, Haus 42, Zimmer 212 und er hat wohl eine Fraktur am rechten Fuß. Das Dumme ist nun, das wird wohl bis nächste Woche nicht heilen und wir würden so gerne diese Reise ma­chen.«

»Eine Fraktur, sagen Sie?« Dr. Jayanta schaut auf seinen Monitor und macht einige Eingaben auf der Tastatur.

»Ah, aha, Mmm, soso...« Er stammelt unver­ständliche Worte vor sich hin.

Sudi, Trisch und Barbo schauen sich an und verstehen gerade nicht genau, was los ist.

»Was sehen Sie da?«, fragt Sudi.

»Nun, ich habe mir gerade die Röntgenbilder von ihrem Mann angesehen. Das sieht schlimmer aus, als es ist.«

»Wie meinen sie das?«, fragt Sudi.

»Ich habe gerade veranlasst, dass er in eine unserer Kliniken überführt wird. Die Sache ist in ein paar Tagen aus der Welt. Ihrer Reise dürfte somit nichts im Wege stehen.«

»Was? Wie das? Man hatte mir gesagt, es wür­de mindestens drei Monate dauern, wenn es je wieder richtig zusammen wachsen sollte.« Sudi kann es nicht fassen.

Dr. Jayanta erwidert: »Wenn Sie einen Schlachter fragen, sind alle Tiere todkrank. Der Pförtner wird Ihnen die Adresse geben, wo Sie ihren Mann besuchen können. Kann ich sonst noch etwas für sie tun?« Dr. Jayanta schaut in drei fragende Gesichter.

»Wie haben sie das, ääähh ... ich ...« Sudi bringt vor Freude keinen Ton raus.

»Erinnern Sie sich, als ich zu Ihnen sagte, dass wir ein sehr guter Freund sein können? Ich danke Ihnen, dass Sie uns die Gelegenheit gegeben ha­ben, dies auch zu zeigen, wenn Sie mich jetzt ent­schuldigen würden.« Dr. Jayanta steht auf und ist so schnell weg, wie er gekommen war.

»Das, dizz, des...äääh...« Sudi ist sprachlos.

»Komm Schatz«, sagt Trisch, »wir haben ein neues Ziel zu erkunden.«

Die Dame von vorhin, kommt noch einmal her­ein und bietet an: »Wenn ich Ihnen den Weg zei­gen darf.«

»Ja, natürlich«, sagt Barbo und deutet eine leichte Verneigung an.

»Wenn die Damen dann auch soweit wären.« Barbo klingt übertriebenst vornehm.

»Ja, Schatz!«, sagt Trisch und sie hat wieder dieses Funkeln in den Augen.

»So, nun wieder die drei F's«, sagt Sudi lä­chelnd.

»Drei F's?«, fragt Trisch.

»Welche drei F's meinst du?«, hakt Barbo nach.

»Flure, Fahrstuhl, Förtner.« Sudi lacht.

»Pförtner schreibt man mit Pf, um Gottes Wil­len«, sagt Barbo.

»Nu sei doch nicht so kleinlich«, sagt Sudi. Die drei lachen und auch die Dame kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Unten angekommen erklärt sie dem Pförtner noch einmal: »Ich bin Sudenia Seva. Dr. Jayanta sagte, Sie hätten eine Adresse für mich?«

»Oh, ja natürlich, ich habe die Unterlagen hier schon ausgedruckt. Bitteschön. Die Adresse, die Wegbeschreibung, und die Zutrittsgenehmigung für Sie und Ihre Freunde«, sagt der Pförtner.

»Zutrittsgenehmigung?«, fragt Sudi erstaunt.

»Ja!«, fährt der Pförtner fort. »Das ist kein öf­fentliches Krankenhaus, sondern eins der Firma. Deshalb brauchen Sie eine Zutrittsgenehmi­gung.«

»Ach so, alles klar. Haben Sie vielen Dank. Ei­nen schönen Tag noch.«

Sudi, Trisch und Barbo verabschieden sich und sind wieder draußen.

»Auf ein Neues«, sagt Barbo.

Sudi steht in der Mitte und zieht Trisch und Barbo an sich heran und sagt: »Ich bin so froh, dass ihr bei mir seid. Das könnt ihr euch gar nicht vorstellen.«

Trisch schaut zu Sudi auf, die gut einen halben Kopf größer ist als sie: »Jetzt nur nicht sentimen­tal werden, Kleines.«

Die drei lachen. »Ja, genau!« Sudi stellt sich wieder stramm aufrecht hin.

»Dann wollen wir mal«, sagt Barbo.

-*-

Einige Zeit später stehen sie vor einem großen Tor. Wieder keine Aufschrift. Von Außen völlig neutral.

»Na, gehen wir mal rein«, schlägt Barbo vor.

Gleich hinter der Toreinfahrt ist ein Pförtner.

»Guten Tag, wir wollen jemanden besuchen«, sagt Sudi.

»Sie haben eine Zutrittsgenehmigung?«, fragt der Pförtner routiniert.

»Ja, Ääähh.. Moment. Da, bitte«, sagt Sudi und legt dem Pförtner die Genehmigung vor.

Der Pförtner schaut, wer wer ist.

»Sie sind K'TrischaFenya Chavall?« Der Pfört­ner ist wohl mit den Zetteln durcheinander ge­kommen.

»Nein, Trisch ist sie. Ich bin Sudenia Seva.«

»Aber Barbotis Chavall sind Sie, nicht wahr?«, er schaut zu Barbo rüber.

Er nickt. »Ja, genau.«

»Schön, okay, Sie wollen zu Rodreon Seva, richtig?«, vergewissert sich der Pförtner und Sudi beugt sich leicht vor. »Wo liegt er denn?«

»Am besten, Sie gehen ins Haus vier, Parterre, Zimmer 32.«

»Haben Sie vielen Dank«, sagt Sudi und winkt den beiden, ihr zu folgen.

»Kommt, schauen wir mal, was da los ist«, sagt Sudi.

Irgendwann aber … »Zimmer 26, 28, 30, 32! Da ist es.« Sudi klopft.

»Ja Schatz, komm rein.« Sudi öffnet vorsichtig die Tür.

»Woher hast du gewusst, dass ich es bin?«

»Weil die Schwestern hier nicht klopfen und wer sollte es sonst sein?«

Oh, ach so denkt Sudi.

»Hi Trisch, Hi Barbo, schön euch zu sehen.«

Beide nehmen Rod nacheinander in den Arm. Sudi steht ein bisschen unschlüssig da. Natürlich ist es gut, dass Rod nun in einem besseren Kran­kenhaus ist, aber es ist immer noch ein Kranken­haus.

»Was haben die Ärzte gesagt. Wird das wieder werden?«, erkundigt sie sich.

»Die Ärzte hier sind spitze. Sie machen so et­was wie eine Laser-Stimulations-Rekonstruktions-Irgendwas-BliBlaBlubber, keine Ahnung, sehr, sehr kompliziert. Ich konnte es mir nicht merken. Komplizierter Trümmerbruch fast aller Fußkno­chen. In ein paar Tagen soll ich wohl wieder auf dem Damm sein.« Rod klingt sehr zuversichtlich, zumal damit klar ist, dass er die Reise antreten kann.

»Echt?« Sudi ist von den Socken.

»In ein paar Tagen?«, meldet Trisch Zweifel an.

»Komm her und lass Dich drücken.« Sudi nimmt Rod jetzt fest in den Arm und küsst ihn, und küsst ihn.

»Komm Trisch, lass mal in die Cafeteria gehen. Das mit den Beiden kann dauern«, sagt Barbo.

»Was, nee? Huch!«, sagt Sudi.

»Brauchst du irgendwas hier drin, mein Herz?«, fragt Sudi noch einmal.

»Nein«, sagt Rod. »Sieh bitte nur zu, dass dem Anfang der Reise nichts im Wege steht. Du musst wohl nun für zwei denken. Alles klar?«

»Natürlich, mein Herz. Mache dir keine Sor­gen. Es wird riesig werden«, sagt Sudi und ver­sucht, ihre Unsicherheit zu überspielen.

Plötzlich geht die Tür auf.

»Ich bin Dr. Bharadh Chaudhri, der behandeln­de Arzt Ihres Mannes, guten Tag, Frau Seva«, geht er gleich auf Sudi zu. »Auch Ihnen einen schönen Tag. Sie müssen Frau und Herr Chavall sein, stimmt's?« Es klingt niedlich, mit indischem Akzent.

Er scheint gut informiert und die beiden ni­cken, dann gibt er beiden nacheinander die Hand.

»Sehen Sie«, fängt er an, zu erklären, »was wir hier haben, ist vereinfacht ausgedrückt ein Trümmerbruch des rechten Fußes. Nun könnten wir beigehen und alle Fragmente im Fuß wieder richten und hoffen, dass es wieder zusammen wächst, aber das dauert uns zu lange.«

Er schaut in die Runde, ob ihm alle so weit fol­gen können.

»Wir haben eine Therapie entwickelt«, fährt er nicht ohne einen gewissen Stolz fort, »welche die Knochenfragmente selbstständig wieder in ihre Ausgangslage zurückversetzt und durch externe Stimulation den Knochenaufbau anregt, sodass der Fuß in ein paar Tagen wieder voll belastbar sein wird«, sagt Dr. Chaudhri und er klingt, als würde er das in einem Hörsaal Studenten erklä­ren und nun einen Beifall erwarten.

»Das hört sich ja ganz fantastisch an«, sagt Sudi und schaut noch einmal auf sein Namens­schild »Herr Dr. Chaudhri.«

»Wie ist das möglich? Ich meine, warum geht das hier so schnell und da draußen nicht?«, hakt Barbo nach.

»Da draußen?«, Dr. Chaudhri macht eine et­was abfällige Geste. »Da draußen sind die Ärzte nicht an Ihrer Heilung interessiert. Solange Sie krank sind, können sie Geld mit Ihnen verdienen. Das ist hier anders. Wir geben Ihnen diese Be­handlung kostenlos, also wollen wir die Kosten für uns auch so gering wie möglich halten. Des­halb sind wir an einer besonders effizienten und nachhaltigen Heilung interessiert.«

Barbo nickt: »Ah verstehe, ja klar, das macht Sinn.«

»Ihr Mann, Frau Seva, hat noch ein paar Be­handlungen vor sich, aber in ein paar Tagen ist die Sache ausgestanden«, sagt Dr. Chaudhri und Sudi lächelt.

»Haben Sie vielen Dank«, sagt Sudi.

»Wird er dann direkt von hier aus ins Camp gebracht, oder kommt er vorher noch einmal nach Hause?«, erkundigt sich Sudi.

Dr. Chaudhri sieht Rod an. »Wie Sie mögen. Sollten wir einen Tag früher als geplant fertig werden, können Sie hier bleiben und von hier aus ins Camp. Ihre Entscheidung. Eine warme Mahl­zeit werden wir gerade noch irgendwie zusam­men bekommen« Dr. Chaudhri grinst Rod an.

»Ich würde es schön finden, wenn du noch mal nach Hause kommen könntest, bevor wir zusam­men ins Camp fahren. Wir könnten uns dann ›von allem noch einmal gemeinsam verabschieden‹, wenn du weißt, was ich meine«, Sudi streicht Rod über die Stirn.

»Natürlich mein Herz.« Rod weiß genau, was sie meint und auch Trisch und Barbo müssen grinsen.

»Wenn Sie keine Fragen mehr haben«, fängt Dr. Chaudhri an, sich zu verabschieden, »würde ich Sie anrufen, wenn Sie Ihren Mann abholen können, Frau Seva.«

Sudi lächelt ihn an. »Das wäre wundervoll, ha­ben Sie vielen Dank, Dr. Chaudhri. Ich werde na­türlich dennoch nach ihm sehen.«

Dr. Chaudhri nickt: »Das steht ihnen selbstver­ständlich frei. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« Abschließend verlässt er den Raum.

Sie unterhalten sich dann noch über dies und das und die Zeit vergeht wie im Fluge, was auch gut so ist, denn währenddessen heilt Rods Fuß.

»Hör zu Alter«, sagt Barbo, »wenn du irgend­was brauchst, Koks, Waffen, Mädels, irgendwas, du weißt, wo du mich findest.«

Trisch stößt Barbo kräftig in die Seite.

»WAS!!!«, pikiert sich Barbo, »kann ich nicht mal 'n alten Kumpel aufmuntern?«

Sudi und Rod müssen lachen und Rod hat plötzlich wieder Schmerzen.

»Tut es immer noch weh, Schatz?«

»Na ja, ich sollte nicht lachen, dann geht’s«, antwortet Rod.

»Okay, ich komme morgen wieder«, sagt Sudi.

»Mache dir bitte mal Gedanken, was ich noch für dich tun kann. Für den Fall, dass du doch nicht mehr nach Hause kommen kannst. Viel­leicht möchtest du, dass ich noch irgendwas erle­dige. Dann kannst du mir das morgen sagen, okay mein Herz?«

Rod, nickt. »Ich freue mich auf dich, auf euch alle. Bis morgen«, sagt Rod. Und Sudi drückt ihm noch tüchtig einen auf. Auch Trisch und Barbo verabschieden sich und die drei fahren nach Hau­se.

»Möchtest du noch mit zu uns kommen, Sudi?«, will Trisch wissen.

»Nein, ich will baden, mir andere Klamotten anziehen und ein bisschen allein sein«, sagt Sudi.

»Aber wenn was ist, rufst du an, okay?«, sagt Barbo.

»Ihr seid lieb ihr beiden, Küsschen«, sagt Sudi und geht die paar Meter zu Fuß nach Hause, während Trisch und Barbo in die andere Richtung nach Hause gehen.

4.4 Samstag

Das Flugzeug hat sein Ziel gleich erreicht. Auf etwa einem Drittel der Strecke zwischen Neu Ka­ledonien und den Fidschi-Islands liegt Aneityum, ein knapp 160 Quadratkilometer kleines Eiland mit tropischem bis subtropischem Klima, mitten im Pazifik. Es ist einer der letzten Flecken dieser Erde, an denen man sich noch ohne Schutzmaß­nahmen draußen aufhalten kann. Die Insel wurde im Jahre 3114 von den letzten Siedlern aufgege­ben, da die Meere ein Überleben nicht mehr si­chern konnten. Im Jahre 3180 übernahm die Fir­ma das Eiland und gestaltete es zum Ausbil­dungslager um. Eine kleine vorgelagerte Insel ist Mystery Island. Auf ihr ist der kleine Flughafen von Aneityum beheimatet, den wir im Anflug ge­rade vor uns sehen.

»Wenn Sie sich bitte anschnallen würden, Dr. Janssen. Wir werden gleich landen. Sie wissen, es ist eine sehr kurze Landebahn. Es wird etwas ru­ckeln«, sagt Katrice Bordelon zum Chef der Fir­ma.

»Nehmen Sie doch Platz Katrice. Ich finde es immer süß, wie Sie immer so besorgt um mich sind. Wir werden das schon hinbekommen«, sagt Dr. Janssen zuversichtlich nickend.

Katrice nimmt auf der anderen Tischseite Platz.

»Sie werden sich umziehen müssen«, schlägt Dr. Janssen vor. »Es wird recht drückend und heiß werden, wenn wir aussteigen.«

»Ich habe entsprechende Kleidung dabei, Dr. Janssen«, entgegnet Katrice.

»In etwa 20 Sekunden wird es recht unruhig«, ruft der Pilot aus dem Cockpit. »Halten Sie sich lieber fest.«

Dr. Janssen und Katrice halten sich an den seit­lichen Griffen fest, behalten aber einen entspann­ten Gesichtsausdruck.

»Drei, zwo, eins, Touchdown«, sagt der Pilot und instant wird es turbulent.

Trotz der Vertiefungen im Tisch, fällt ein Glas runter, das ist dann aber auch schon alles. Das Flugzeug rollt noch eine Weile aus, bis es dann die Landebahn am Ende verlässt und zum Aus­steigen anhält.

Katrice begibt sich zur Tür, um sie zu öffnen. Der Pilot macht seine Checks und Dr. Janssen steht auf, um das Flugzeug zu verlassen. »Boah ist das eine Waschküche hier«, meint er.

Katrice lenkt ein: »Da haben Sie sich doch sonst auch immer schnell dran gewöhnt. Das wird nicht so schlimm.«

Dr. Janssen verlässt das Flugzeug über die in­zwischen runter gefahrene Gangway und einige Helfer beginnen, das Gepäck zu entladen, nach der Bereifung zu sehen und das Flugzeug wieder aufzutanken. Katrice sieht von oben, das Dr. Jans­sen einige Anweisungen bezüglich des Gepäcks und weiterer Verfahrensweisen gibt. Dann kommt auch sie herunter.

»Na, dann wollen wir mal«, schlägt Dr. Janssen vor und Katrice folgt ihm zum alten Bootsanleger.

»Warum fahren wir eigentlich mit diesem alten Fischerboot? Sie könnten doch jede Yacht haben, die Sie wollen«, stellt Katrice fragend fest.

»Wir haben doch Zeit und ich mag diese alten kleinen Fischerboote. Es erinnert mich an Zuhau­se, die Nordsee und daran, dass es mal eine Zeit gab, in der man nach den Rhythmen der Natur gelebt hat und nicht versucht hat, der Natur un­seren Rhythmus aufzuzwingen.«

Katrice himmelt ihn an. Sie ist eine der ganz wenigen, denen gegenüber sich Dr. Janssen gänz­lich offen zeigt, wie er privat wirklich ist. Eben als Mensch und nicht als Geschäftsmann. Tief einatmend und mit ausgebreiteten Armen steht Dr. Janssen mit zerzausten Haaren in den böigen Winden und sagt: »Es hat irgendwas damit zu tun, dass sich die großen Kontinentalbauten, die Blöcke, auf der nördlichen Halbkugel befinden. Hier ist eine andere Klimazone, das tauscht sich wohl nicht so schnell aus. Außerdem ist es das Meer. Es säubert die Luft, ist das nicht herrlich?«

Jetzt nimmt auch Katrice einen kräftigen Atem­zug. »Ja, die Luft schmeckt salzig«, stellt sie fest.

»Wir werden zuerst das bisschen Gepäck hin­auf bringen und dann mal im Camp nachschauen, oder?«, fragt Dr. Janssen.

Katrice nickt. »Ich würde mir vorher gerne et­was Bequemeres anziehen, wenn das Okay ist.«

Dr. Janssen lächelt sie an. »Das ist eine gute Idee, also erst einmal ins Haus.«

Es ist ein großes Haus aus rötlichem Holz, grob, in Pilzform. Es ist im Prinzip rund. Na ja, es hat schon Ecken, aber eben echt viele, wobei kei­ne symmetrischen Abstände der Ecken zueinan­der erkennbar sind. Im Haus gibt es nur einen einzigen wirklich großen Raum. Mit spartani­schen Wänden teilen sich einzelne Räume ab. Es gibt verschiedene Badezimmer, Schlafzimmer, eine große Küche, einen noch größeren Wohn­raum mit Esstisch und Kamin, aber alles eben un­ter einem Dach. Und die einzelnen Räume, die abgeteilt sind, sind nach oben hin offen, sodass es dann doch wieder nur ein einziger großer Raum ist.

Katrice verschwindet in einem abgeteilten Raum und Dr. Janssen im anderen. Einige Zeit später hört man Duschen aus beiden Abteilungen.

-*-

Zur gleichen Zeit bei Sudi:

Sudi ist die halbe Nacht wach und hat die bei­den Reisetaschen auf dem Bett stehen. Was nimmt man mit? Was muss hierbleiben? Was soll in jedem Fall hierbleiben? Passt überhaupt alles rein? Würde sie für Rod auch die richtigen Ent­scheidungen treffen? Was würde er einpacken?

Sie packt ein, legt zusammen, nimmt wieder raus, sortiert noch mal neu und um und … Boah, ist das schwierig. Sie hat ja noch nie ihr ganzes Leben aufgegeben und weiß auch nicht genau, auf was sie sich eigentlich eingelassen hat.

Alles was sie weiß, ist, dass es dort paradie­sisch sein muss und sonst nichts. Sudi setzt sich auf das Bett und überlegt noch mal. Kleidung und die Dinge für den täglichen Gebrauch wird es dort geben, denkt sie und die Tasche ist für den Umzug eines ganzen Lebens doch ein räumlich wirklich sehr begrenzter Fall. Also auf was kann man auf gar keinen Fall verzichten?

Und wie sie so alles Mal in die Hand nimmt und wieder weglegt, wird ihr klar, dass man das Meiste wirklich nicht braucht. Sie hat dann und wann mal von Rod etwas Schmuck bekommen, der ist ihr wichtig. Eine gepackte Kulturtasche für die Hygiene, dann packt sie für sich ein paar Teile Unterwäsche, Jogging-Anzug, Jeans und T-Shirt ein. Wer weiß, was noch kommt. Turnschu­he wären noch gut. Wenn man sonst alles dort be­kommt, was soll der Ballast?

Sudi stellt die Tasche auf das Bett und setzt sich.

»Pfffffff, ob das nun alles so richtig ist?«, mur­melt sie vor sich hin. Und nun noch für Rod? Sie weiß ja selber nicht, was sie mitnehmen will. Wie soll sie das für Rod entscheiden? Das ist alles sehr sehr schwierig.

Auch Rods Tasche räumt sie mehrfach ein und wieder aus, und wieder ein.

»Puuh«, ein Stoßseufzer.

»Ich weiß es nicht«, murmelt sie vor sich hin. »Ich werde mal Trisch und Barbo anrufen. Mal sehen, was die mitnehmen.«

»Chavall« tönt eine Männerstimme aus dem Hörer.

»Hi Barbo, hier ist Sudi, wie geht’s euch?«, fragt Sudi ganz direkt.

»Danke, wir sind gerade dabei, die Taschen zu packen und wissen eigentlich nicht genau, was wir mitnehmen sollen«, meint Barbo.

»Das geht mir genauso. Deshalb rufe ich an. Ich dachte, ihr hättet einen Plan«, sagt Sudi.

»Wir nehmen ein paar Fotoalben mit, als Erin­nerung an eine Zeit, die mal war. Das Problem werden meine Musikinstrumente werden. Die passen ja schlecht in die Tasche«, stellt Barbo fest.

»Oh Mist, ja, was machst du damit? Ich mei­ne, auf deine Musik zu verzichten, geht ja mal gar nicht, oder?« Sudi klingt besorgt.

»Wir müssen morgen noch mal zu dieser Firma und fragen, was mit solchen Dingen ist. Ich mei­ne, ich brauche ja keinen Möbellaster, aber den Bass und die Gitarre würde ich schon gerne mit­nehmen.« Barbo nickt, als er das sagt. Sudi spürt das.

»Schmuck, Kleines!«, wirft Trisch von hinten ein.

»Ja, Schmuck habe ich eingepackt, der nimmt ja nicht so viel Platz weg«, entgegnet Sudi.

»Tatsächlich bleibt da nicht viel, wenn man ein neues Leben anfängt. Es ist ein bisschen, wie sterben«, sagt Barbo und Sudi ist ganz entsetzt.

»Sterben? Wie meinst du das?«, fragt sie.

»Du kennst doch den Spruch, das letzte Hemd hat keine Taschen. Es ist so, weil du nichts mit­nehmen kannst. So wie jetzt auch. Alles was du wirklich brauchst, wirst du erhalten. Im Paradies, wenn du so willst«, erklärt Barbo.

»Oh.« Sudi wird plötzlich sehr nachdenklich, aber er hat recht. Hier in dieser Welt werden wir sterben, nicht mehr da sein! Das stimmt schon, denkt sie.

»Lass uns morgen noch mal telefonieren, be­vor ihr wegen der Musikinstrumente zu Dr. Jayan­ta geht. Vielleicht fällt mir noch etwas ein, okay?«, fragt Sudi.

»Na klar Sudi, kein Ding«, sagt Barbo.

Sudi entgegnet: »Okay, dann bis morgen und Grüße an Trisch, bye.«

»Richte ich aus, bye.« Klack, aufgelegt.

-*-

Wieder auf Aneityum.

»Ich bin neugierig«, sagt Katrice und rubbelt sich die Haare trocken, als sie nur mit einem Handtuch bekleidet aus der Dusche kommt.

Dr. Janssen sitzt bereits in einer, an hawaiiani­sche Mode erinnernde, Freizeitkleidung auf der Couch.

»Wie ist sie so, diese Insel hier? Dr. Janssen«, will Katrice wissen.

Dr. Janssen steht auf und geht Katrice Finger wedelnd entgegen. »Bitte sagen Sie Jo zu mir, we­nigstens so lange wir hier sind. Jochen klingt ir­gendwie komisch, habe selber den Namen nie ge­mocht, und Dr. Janssen ist nun wirklich zu offizi­ell. Bei förmlichen Kontakten ist das okay, aber hier bitte einfach nur Jo, okay Katrice?«

Sie lächelt ihn an und nickt. Das hat aber ge­dauert, denkt sie.

»Diese Insel? Mmmh … Sie sind neugierig? Auf was denn?«, fragt Jo.

»Ich habe diese Insel bisher nur in Plänen ge­sehen und bin nun zum ersten mal hier. Es muss sehr aufregend hier sein, oder?«

Katrice legt den Kopf leicht schräg und hofft, dass Jo irgendetwas sagen wird, aber er dreht sich nur um und geht zum Telefon. Er drückt ein paar Tasten und verschwindet nach draußen auf die Veranda mit dem Hörer. Katrice versteht nicht, was gesprochen wird.

Na ja, denkt sie, dann ziehe ich mich wohl bes­ser mal an, und verschwindet in ihrem Schlafzim­mer.

»Hast du feste Schuhe und einen Pulli mit?«, will Jo plötzlich wissen.

»Ja, habe ich.«

»Ziehe das besser an, es wird windig werden.« Jo schaut geheimnisvoll. »Folge mir einfach. Bist du so weit?«

»Einen Moment bitte, noch Schuhe anziehen.« Katrice zieht sich schnell die Schuhe an und dann geht es los.

Sie gehen von der Anhöhe auf der Klippe, auf der das Haus gebaut ist, runter in die Bucht. Der Weg nach unten ist aus Steinen und Geröll. Man muss vorsichtig gehen. Aber nach etwa zehn Mi­nuten sind sie am Wasser.

»Ein ULF«, sagt Jo.

»Ein ULF?«

»Ja, ein ULF. Ein Ultra-Leicht-Flugzeug, kurz ULF.«

»Ah, und das fliegt?« Katrice schaut skeptisch.

»Na ja, setze dich mal rein.«

Beide nehmen Platz und Jo lässt den Motor an. Dann wird es sehr laut und zugig.

»Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob ich das schön finde, Jo«, brüllt Katrice gegen den Propel­lerlärm an.

»Warte, bis wir in der Luft sind, dann wird der Schall vom Propeller weggeblasen. Den hörst du dann gar nicht mehr.« Jo nickt und Katrice macht einen ziemlich verunsicherten Gesichtsausdruck.

Das ULF setzt sich in Bewegung und wird auf seinen Kufen im Wasser immer schneller. Dann hebt es ab.

»Na? Immer noch zu laut?«, will Jo wissen.

Katrice lächelt wie ein kleines staunendes Kind. »Es ist ja fantastisch, Jo!«

»Wir werden mal etwas Höhe gewinnen, dann schalte ich den Motor für eine Zeit ganz ab«, meint Jo.

Katrice vertraut darauf, dass er weiß, was er tut und nickt nur. Kreisend über der Insel gewin­nen sie an Höhe und dann passiert es.

Es wird sehr still. Ganz leise hört man den Wind am Ende der Segeltragfläche zischelnd ab­reißen, aber sonst ist es still. Sie schweben über den grünen Bergen, den Tälern und Katrice hat bisher nur in einem dieser Kontinental-Blöcke ge­wohnt. Und nun, mit einem Mal diese Freiheit. Sie ist über alle Maßen begeistert und fasziniert.

»Da, ein Wasserfall«, ruft sie.

»Der wird unseren Bewohnern noch einiges abverlangen. Na ja, weniger der Wasserfall, aber die Schlucht, die er gegraben hat«, erklärt Jo.

»Warum denn?«, will Katrice wissen.

»Er ist ein Teil der Ausbildung unserer neuen Bewohner, ein Test sozusagen«, fährt Jo fort.

Und Katrice ist ganz aufgeregt. »Da guck mal, eine Lichtung. Flieg mal weiter runter, ich sehe ja gar nichts.«

Katrice gewöhnt sich offenbar schnell an das »Du« mit ihrem Chef und Jo lenkt den Drachen zur Lichtung runter.

Sie fliegen eine ganze Zeit herum und sehen sich die Insel von allen Seiten an, aber irgend­wann sagt Jo: »Lass uns mal langsam zurück. Landen nach Sonnenuntergang, ohne Sicht, ist nicht so prickelnd. Wir sollten uns für ein schönes Abendessen zurückziehen, was meinst du?«

Katrice nickt: »Ja, das wäre zauberhaft. Wobei ich noch stundenlang hier mit dir herumfliegen könnte.« Ihre Stimme hat etwas Säuselndes. Oder war das nur der Wind?

Der Rest des Abends, der Beiden wollen wir aus Gründen der Diskretion verschweigen.

4.5 Sonntag

Jo holt die Brötchen aus dem Ofen und hat den Tisch gedeckt, wie Katrice ebenfalls aufsteht und gähnend zu Tisch kommt. Aus seinem Zimmer!

Nachdem Jochen nur noch Jo heißt und Katrice nun nur noch Kat, ist dem aufmerksamen Beob­achter nicht entgangen, dass da irgendwie was läuft. Ein Knistern liegt in der Luft.

»Nimm Platz Kat, ich hab Frühstück gemacht«, sagt er liebevoll lächelnd.

Katrice steht, nur mit einem Herrenhemd und Slip bekleidet, in der Tür und räkelt sich noch mal.

»Ich möchte erst duschen, okay?«

»Natürlich Sch…« Das Wort bleibt ihm noch im Hals stecken.

Ist es schon so weit? Soll oder darf er schon »Schatz« sagen? Jedenfalls verschwindet sie in ihrem Zimmer. Lässt wieder einmal tüchtig Dampf aufsteigen und kommt frisch geduscht und gut gelaunt nach kurzer Zeit wieder heraus.

»Wir müssen uns heute die Unterkünfte und die medizinische Versorgung im Ausbildungslager ansehen und Commander Warwick will dich spre­chen«, fasst Katrice den Tagesplan zusammen.

Sie hat plötzlich wieder einen recht professio­nellen Ton angeschlagen, aber sie lächelt dabei.

»Selbstverständlich, das sollten wir«, lächelt Jo zurück. »Aber nun lass uns erst einmal frühstü­cken.«

Derweil im Ausbildungslager:

»Das muss hier alles noch viel schneller gehen!!!« Commander Warwick befielt in kräfti­gem Tonfall, was dem muskelbepackten Hünen sehr viel Aufmerksamkeit einbringt. Seine Eltern sind Amerikaner, doch haben sie eine afrikani­sche Abstammung, was man auch Warwick deut­lich anmerkt. »So viel fleischgewordene Inkompe­tenz hab ich noch nicht erlebt.«

Er war früher einmal beim Militär, wechselte dann aber zur Firma und nimmt dort den Platz des Sicherheitschefs ein. Seinem Tonfall tat das allerdings keinen Abbruch. »Wenn Dr. Janssen kommt, will ich, dass er vom Boden essen und aus dem Klo trinken kann, ist das bei jedem angekom­men?«

Als ob das irgendwie hätte missverständlich sein können.

»Sie brauchen nicht so zu schreien«, sagt ein Mutiger von hinten. »Sie sind nicht mehr beim Militär.«

Schnellen Schrittes geht Commander Warwick auf den Schlauberger zu und brüllt: »Ach, und das würdest du wohl gerne mal ausdiskutieren, oder was? Sollen wir hier schon mal einen Stuhl­kreis bilden?«

Es gibt nur zwei Leute auf der Welt, von denen er einen Widerspruch hinnimmt. Dieses Subjekt gehört nicht dazu.

»Chef anwesend«, sagt plötzlich einer derer, die am Putzen sind und alle stehen auf und dre­hen sich zum Eingang. Es ist kein militärisches »Still gestanden«, aber irgendwie doch eine Art Achtung.

»Wollen Sie hier drin eine Party feiern, Com­mander Warwick?«, beginnt Dr. Janssen scherz­haft die Unterhaltung und geht auf Commander Warwick zu.

»Nein, es ist nur so, dass Sauberkeit der Ge­sunderhaltung dient und an gesunden Teilneh­mern bin ich sehr interessiert, Dr. Janssen.«

»Selbstverständlich«, sagt Dr. Janssen und schmunzelt. Seinen Sicherheitschef in der Toilet­te zu begrüßen, entbehrt nicht einen gewissen Humor.

Jo und Katrice verlassen die Toilette und Com­mander Warwick brüllt »weitermachen« und mar­schiert den beiden hinterher.

»Na Jeff, lass dich ansehen. Hast du zugenom­men?«, will Dr. Janssen von Commander Warwick wissen.

»Ja, in trainiere täglich. Es dürften etwa 5 Kilo sein, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Aber dass sie das sehen, erstaunt mich.« Jeff ist fast verlegen.

»Das ist Katrice Bordelon, meine innere Stim­me und gute Fee. Katrice, du kennst Commander Jefferson Warwick?« Jo macht eine einladende Geste und Katrice gibt Commander Warwick die Hand.

»Jeff, nennen sie mich einfach Jeff«, sagt Com­mander Warwick zu Katrice mit warmer, fast wei­cher Stimme.

Katrice ist erstaunt darüber, dass der Mann, den sie gerade als Brüllaffen kennengelernt hat, so liebevoll und warmherzig klingen kann. »Katri­ce, nennen sie mich einfach Katrice.«

Jeff nickt.

»Wo stehen wir?«, will Dr. Janssen wissen. »Sind wir im Zeitplan?«

»Die 26. Ausbildungsgruppe ist bereits im Training, noch zu früh, um etwas Genaueres über den Ausgang zu sagen. Etwa 2/3 gehen wieder nach Hause«, beginnt Jeff zu erklären.

»Oh, schade das zu hören, warum, was sind die Gründe?«, fragt Dr. Janssen.

»Mangelndes Vertrauen«, sagt Jeff.

»Bitte?«, hakt Katrice nach.

»Ja, sie haben ein paar Bilder gesehen und ei­nen Film, der zwar gut gemacht war, aber so wirklich keine Wahrheiten ans Tageslicht brach­te, meinen die. Etwa ein Drittel ist nicht bereit, sich diesem Stress hier zu unterziehen, wenn sie nicht wissen, warum.« Jeff schaut nacheinander Dr. Janssen und Katrice an.

»Okay, das hatten wir aber erwartet, Quertrei­ber können wir nicht gebrauchen. Und das ande­re Drittel?«, erkundigt sich Dr. Janssen.

Jeff schaut Dr. Janssen an.

»Einem Drittel geben wir die Möglichkeit, sich wieder nach Hause zu begeben. Sie haben Ängs­te, außer Kontrolle geratene Gelüste, zum Teil ag­gressive Tendenzen, oder einfach nur abnormalen Diskussionsbedarf.

Leute, die gar nicht zu einem Ergebnis kom­men wollen, die einfach nur gerne diskutieren. Andere finden sich besonders witzig, wenn sie überall streit anfangen. Nicht, dass ihnen das be­wusst wäre, oder dass sie es ins Bodenlose trei­ben, aber es nervt einfach nach ein paar Tagen. Solche Menschen wieder auf den rechten Weg zu bringen, ist wohl nicht unsere Aufgabe«, erklärt Jeff.

»Nein, natürlich nicht.« Dr. Janssen klingt sehr bestimmend.

»Aber gehören sie nicht auch zu einer Gesell­schaft dazu?«, will Katrice wissen. »Es gibt sie doch, oder?«

»Ja!«, sagt Dr. Janssen. »Aber was wir hier ma­chen, ist etwas, das die Natur auch immer macht: eine Auslese, eine Selektion. Wir tun diesen Men­schen ja kein Unrecht oder bestrafen sie für das, was sie sind oder tun. Wir nehmen sie nur einfach nicht mit, das ist alles. Die, die auf die Reise ge­hen, sollen mit großer Wahrscheinlichkeit irgend­wo anders erfolgreich menschliche Kolonien gründen, die Menschheit im All verbreiten. Wer ein Gefahrenpotential für den Erfolg dieser Missi­on darstellt, kann auf diese Unternehmung nicht mitgenommen werden. Dafür ist sie einfach zu teuer, als dass sie am Ende scheitert, nur weil ein paar geistige Tiefflieger gerade ihren Egotrip ausleben müssen. Wir wachsen, wir entwickeln uns weiter, aber wir sind kein Auffanglager für Problemfälle. Ihre Probleme müssen diese Men­schen erst einmal für sich selber lösen. Das ist nicht unsere Baustelle«, erklärt Jo und Katrice nickt verständnisvoll.

Jeff fährt fort: »Als vor über 50 Millionen Jah­ren die Dinosaurier ausgestorben sind, fanden die das auch echt blöd. Die hatten einen verdammt miesen Tag, ehrlich, aber es ermöglichte uns, uns zu dem zu entwickeln, was wir heute sind. Selek­tion eben.«

Jeff schaut in die Runde und fühlt, etwas sehr Wichtiges gesagt zu haben. Jo nickt und Katrice lächelt Jeff an. »Gehen wir weiter«, sagt Jo.

Und so sehen sie sich den ganzen Tag die An­lage an, diskutieren über Sinn und Unsinn der ganzen Unternehmung und essen gemütlich bei Katrice und Jo, mit Jeff auf der Veranda zu Abend…

Ich will nicht sagen, dass der Wein in Strömen fließt, aber er sorgt durchaus für eine gelöste Zunge. Die Sonne ist längst untergegangen und Katrice wird es etwas frisch an den Schultern, wie sich Jeff für den zauberhaften Abend bedankt, sich verabschiedet und den beiden noch einen wunderschönen Abend wünscht.

Was Katrice und Jo noch an diesem Abend ma­chen, ist nicht genauer belegt.

4.6 Montag

»Morgen Schatz.« Trisch schlurft, gerade auf­gestanden und im Halbschlaf im Morgenmantel, durch den Flur. »Willst du Frühstück oder nur Kaffee?«, ruft Trisch in Richtung Badezimmer.

»Was?«, ertönt es von innen.

»Ob du Frühstücken möchtest oder nur einen Kaffee?«, fragt Trisch nochmal und steht inzwi­schen direkt an der Badezimmertür.

Von drinnen kommt die klare Entscheidung: »Ja!!«

»Ja, was?« Trisch rollt mit den Augen.

»Du machst das schon«, sagt Barbo von der Dusche aus. Trisch schüttelt den Kopf: »Tzz, Män­ner.«

Trisch hat gerade ein kleines Frühstück aufge­deckt und ist dabei, den Kaffee umzurühren, wie Barbo nackig durch den Flur flitzt, um sich im Schlafzimmer etwas anzuziehen.

»Hast du das Jeans-Hemd gesehen?«, ruft Bar­bo aus dem Schlafzimmer.

»Liegt im Schrank, oberstes Regal, gleich obenauf«, antwortet Trisch.

»Nein, das ist das mit den Knöpfen, ich meine das mit den Nieten«, hakt Barbo nochmal nach.

»Das ist in der Wäsche, das sind silberne Knöp­fe, so groß ist der Unterschied nicht, dass Dr. Ja­yanta ihn bemerken wird.«

»Aber ich bemerke den Unterschied«, sagt Barbo und Trisch lacht.

»Ich weiß manchmal nicht, ob du eher ein Rockstar bist, oder ne Diva.«

»So etwas von beidem, schätze ich. Hast n Kaffee fertig?« Barbo setzt sich zu Trisch in die Küche.

»Hier, pass auf, ist heiß.« Trisch reicht ihm den Kaffee und Barbo ist schon am Pusten.

»Ich muss unbedingt Dr. Jayanta dazu bringen, dass ich meine Instrumente mitnehmen kann. Ich wüsste sonst nicht, was ich bei dieser ganzen Un­ternehmung machen soll.« Barbo wirkt sehr unru­hig. Die Ungewissheit nagt an ihm.

»Das wird schon werden. Wir wissen zwar nicht, wo es hingeht, aber die werden doch Musik dort haben oder machen wollen. Da wird es doch irgendwas, wie Kultur geben. Ich meine, da wird es doch auch Leute geben, die Malen, Schreiben, Gedichte, Poesie, Philosophen, schätze ich mal. Das sah mir nicht nach einer Welt aus, an der alle nur am Schuften sind. Die werden nichts gegen deine Instrumente haben, denke ich.« Und wäh­rend Trisch recht zuversichtlich klingt, ist Barbo immer noch verunsichert.

»Na, wir werden sehen. Ich ziehe mir schon mal Schuhe an, wir müssen gleich los. Willst du nicht Duschen vorher?«, fragt Barbo.

»Ja, kleinen Moment, nur eben austrinken.« Trisch steht auf und nimmt den letzten Schluck im Stehen. Dann geht auch sie Duschen.

Etwas später steht Trisch fertig und stadtfein in der Küchentür. »Können wir?«

»Oh ja, natürlich.« Barbo legt eine alte Zeitung weg. Sie gehen zur nächsten PRT-Station und sind wenig später in der Firma, bei Dr. Jayanta.

-*-

Rod, ruft Sudi Zuhause vom Krankenhaus aus an und sagt: »Hallo Schatz.«

»Hi Knuddel, wie geht es dir, wird es langsam besser? Ich komme dich gleich noch besuchen.«, sagt Sudi mit so einem Trällern vor Freude in der Stimme.

»Nee, brauchst du nicht, ich werde nachher entlassen und nach Hause gefahren.«

»Das ist ja fantastisch. Das ging ja schnell, kei­ne 3 – 4 Monate, wie die anderen Ärzte sagten«, stellt Sudi freudig fest.

»Ist denn schon wirklich alles wieder total ver­heilt?« Sudi klingt ungläubig und Rod versichert: »Es tut nirgends mehr weh. Ich kann laufen, alles ist bestens.«

»Wow, das ist ja klasse. Kann ich dir noch mit irgendetwas eine Freude machen, wenn du kommst?«, fragt Sudi.

»Sei einfach nur da. Alles andere findet sich dann schon, hehehe, ganz sicher.« Sudi lächelt und weiß genau, was er meint.

-*-

Währenddessen …

Trisch und Barbo stehen in der Firma am Emp­fang.

»Guten Tag, wir müssen noch einmal zu Dr. Ja­yanta«, sagt Barbo zum Portier.

»Sie sind?« Der Portier schaut die beiden fra­gend an.

»Das ist meine Frau K'TrischaFenya, ich bin Barbotis Chavall. Hier, unsere Ausweise.«

»Ja, mmmh, Ah-ja.« Der Mann mustert die Aus­weise und schaut die beiden noch einmal prüfend an.

»Haben Sie einen Termin?«, will der Mann von den Beiden wissen.

»Nein, es ist nur so, dass wir Dr. Jayanta be­züglich der ausgewählten Gepäckstücke für die Reise, noch einmal sprechen müssen«, sagt Bar­bo nickend.

Der Portier nickt: »Bitte nehmen Sie da vorne einen Moment Platz, ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.«

Trisch und Barbo machen andeutungsweise ei­nen Diener und verschwinden auf Geheiß im War­tebereich.

»Das wird nichts!«, befürchtet Barbo. »Die las­sen mich niemals meinen Bass mitnehmen.«

»Nun warte es doch erst mal ab, denn ›nein‹ hat bisher noch keiner gesagt«, sagt Trisch beru­higend.

»Sie wollen zu Dr. Jayanta?« Eine gutausse­hende Dame kommt adrett gekleidet in den War­tebereich und Trisch nickt.

Die schöne Frau macht eine Geste. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«

Beide tragen inzwischen ihre Armreifen und folgen der Dame in den Fahrstuhl. Barbo fällt ebenfalls dieser unglaubliche Hüftschwung auf, sagt aber nichts. Trisch guckt nur streng. Und wieder, der Fahrstuhl und lange Flure.

»Nehmen Sie schon mal Platz. Dr. Jayanta hat gleich Zeit für Sie«, sagt die entzückende Dame, deren sonstige Aufgabe im Dunkeln bleibt.

Die beiden sehen sich gerade noch im Büro et­was um, wie auch schon die Tür aufgeht.

»Ich grüße Sie, was kann ich für Sie tun?« Dr. Jayanta geht forschen Schrittes auf die beiden zu, begrüßt sie mit Handschlag, macht eine einladen­de Geste und nimmt am Schreibtisch Platz.

»Sehen Sie«, Barbo schaut erst nach unten, dann Trisch prüfend an, »es geht um die Gepäck­stücke. Man sagte uns, wir könnten mitnehmen, was in die Tasche passt, die wir nach der Film-Vorstellung erhalten haben.«

Nickend erklärt Dr. Jayanta: »Eine Maßnahme, die wir für sehr wichtig halten, da Sie dort ein völlig neues Leben beginnen und nach Möglich­keit so wenig wie möglich mitnehmen sollten. Was immer Sie benötigen werden, wird es dort geben oder es wird dort hergestellt.« Dr. Jayanta stützt sich mit seinen Ellenbogen auf den Schreibtisch.

»Sehen Sie, es ist so«, führt Barbo seinen Ge­danken fort, »ich bin eigentlich kein Arbeiter, sondern Musiker und ich würde gerne meine In­strumente mitnehmen. Ich denke, dass meine Musik dieser Welt, wo immer sie sein mag, etwas geben könnte. Gute Laune zu Feierlichkeiten, so etwas wird es dort doch geben, oder nicht? Ich meine Musik ist alles, universell. Alles ist in Schwingungen, im Fluss, alles verändert sich und fügt sich zu größerem zusammen. Menschen wer­den doch Theaterstücke aufführen und mit Musik geht es noch mal so gut. Musik beflügelt die Men­schen und sorgt für neue Ideen, drückt Gefühle aus. Musik führt Menschen zusammen. Musik ist doch….« Barbo kommt mächtig in Fahrt.

»Ja, Ja, Ja, ist ja gut, ist ja gut.« Dr. Jayanta schmunzelt ein wenig.

»Ihre Instrumente können Sie nicht mitneh­men«, sagt Dr. Jayanta und Barbos Gesicht wird lang und länger. »Aber das brauchen Sie auch nicht«, sagt Dr. Jayanta und Barbo schaut fra­gend.

»Wir haben hier«, Dr. Jayanta tippt kurz auf der Tastatur herum und dreht den Monitor so, dass die beiden mit reinsehen können, »wir ha­ben hier ein Lager mit einer Auswahl von Musik­instrumenten für die verschiedensten Stilrichtun­gen. Für Stücke der klassischen Musik, Jazz, Blues, Rock, Pop, Reggae und elektronische In­strumente für Trans und Hiphop, indianische, afrikanische, indische und asiatische Musik. Für alles haben wir Instrumente dabei und Sie wer­den völlig neue Stilrichtungen für uns entwickeln.

Wir werden an Punkt null anfangen und«, Dr. Jayanta schmunzelt etwas, »wir würden uns freu­en, wenn Sie mit ihren musikalischen Fähigkeiten unsere Welt bereichern könnten, in Form von Mu­sik, die sie machen werden, aber auch in Form von Unterricht. Musik muss natürlich an interes­sierte beziehungsweise begabte Kinder weiterge­geben werden. Ihnen kommen wichtige erzieheri­sche Aufgaben zu.« Dr. Jayanta dreht den Monitor zurück.

»HA!!!«, ein Ausruf von Barbo, »und ich mach mir Gedanken. Ist ja riesig Dr. Jayanta. Wenn das so ist ... Kein Problem! Ich freue mich darauf.« Barbo nimmt Trisch in den Arm.

»Wir werden Unterricht geben, ist das nicht klasse?« Barbo bekommt sich gar nicht mehr ein.

»Wenn ich bei Ihnen bin, ist immer alles so ein­fach«, sagt Barbo, der seine Freude nicht mehr im Zaum halten kann.

»Diese Welt, in die Sie einziehen wollen, ist seit über 10 Jahren vom Rest der Welt hermetisch abgeriegelt und funktioniert zu unserer vollsten Zufriedenheit. Glauben Sie allen Ernstes, Sie sind der Erste, der dort Musik machen will?«

Barbo schaut fast etwas schüchtern nach un­ten, während Dr. Jayanta fortfährt.

»Was immer Sie an Hobbys haben, ob hand­werklich oder sportlich, der Kultur oder Wissen­schaft betreffend, wir haben uns in den letzten zehn Jahren, so gut wir konnten, darauf vorberei­tet. Natürlich wird es Dinge geben, die es dort nicht gibt. Wenn dem so sein sollte, werden wir prüfen, ob man ohne auskommt, oder sie dennoch herstellt.« Dr. Jayanta lehnt sich sehr zufrieden zurück und nickt »Aber die Basics sind drin, zwei­fellos!«

»Jetzt Dr. Jayanta«, Trisch schiebt sich leicht nach vorne, »bin ich restlos überzeugt, dass wir dort hin wollen, wo immer das ist. Das ist zwar schon komisch, nicht zu wissen, wohin es geht, aber wir werden es machen, oder?« Trisch boxt Barbo in die Seite.

»Absolut!«, unterstreicht Barbo.

»Wenn das alles wäre?« Dr. Jayanta schaut fra­gend in die Runde. »Wenn Sie mich jetzt ent­schuldigen würden? Ich lasse gerade eine Konfe­renz auf mich warten.«

Trisch und Barbo stehen auf, geben nacheinan­der Dr. Jayanta die Hand und verabschieden sich.

Im selben Moment macht die Dame von vorhin die Tür auf und Barbo schaut lächelnd.

»Ich bringe Sie zum Fahrstuhl«, sagt die junge Schöne.

Ein Moment, in dem Barbo fast seine gute Kin­derstube vergessen hätte, aber nur fast. Er dreht sich rasch zu Trisch um: »Purzel, kommst du?«

»Worauf du dich verlassen kannst«, entgegnet Trisch, die Barbos Blick wohl gesehen hat und geht zwei, drei Meter voraus, um Barbo zu zei­gen, dass sie ebenfalls einen wunderschönen Hüftschwung hat.

»Ich liebe dich, mein Goldstern«, sagt Barbo zu Trisch und beide küssen sich im Fahrstuhl. Die junge Dame schaut dabei sehr diskret, und über­prüft akribisch die Etagenanzeige im Fahrstuhl.

Ping. Die Fahrstuhltür öffnet sich.

Beim Verlassen sagt Trisch: »Wir bedanken uns bei Ihnen und wünschen Ihnen einen schönen Tag.«

Auch Barbo macht andeutungsweise einen Die­ner.

»Kommen Sie gut nach Hause«, sagt die Dame. Winkend verlassen Trisch und Barbo das Gebäude.

-*-

Sudi hat sich für die Rückkehr von Rod richtig sexy zurechtgemacht und freut sich ganz gewal­tig darauf, dass er gleich kommen wird. Schnell noch etwas Parfüm auflegen, den Lidstrich über­prüfen. Sie steht im Badezimmer vor dem Spie­gel, wie es plötzlich an der Haustür klingelt.

»Ich komme schon«, schallt es trällernd aus dem Bad.

Doch dann stockt sie und fragt sich, warum Rod klingelt. Er könnte doch so rein, er kennt doch die Zutrittscodes.

»Mmmh, wer das wohl ist«, murmelt Sudi bei sich selbst.

»Ich bin Horst Krämer, von der Nordischen All­gemeine. Ich bin sicher, Sie haben sich bereits Gedanken über ihre Zukunft gemacht«, platzt es dem Mann vor der Tür gleich beim Öffnen her­aus.

»Sie müssen«, nun kommt er etwas ins Strau­cheln. Den Anblick, einer so wunderschönen Frau, hat er nicht erwartet. Fängt sich aber schnell wieder und bleibt professionell, »Sie müs­sen sich doch auch schon mal gefragt haben, wie es weiter geht, wie es werden wird, wenn Sie äl­ter werden. Haben Sie für die Zukunft vorge­sorgt?«, will der Versicherungsvertreter wissen.

Sudi antwortet mit einem gespielt nachdenkli­chen Blick, denn ihre Zukunft soll mit diesem Le­ben ja wohl nicht mehr viel gemein haben.

»Nein, aber ich fürchte, dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Haben Sie einen schönen Tag.« Sudi will gerade die Tür schließen.

Der Mann hat inzwischen schon eine Ahnung, dass es hier schwierig wird, zu einem Vertragsab­schluss zu kommen, aber aufgeben kann er auch noch nicht. Schließlich ist er Vertreter. Allerdings gleitet sein Blick immer an dieser schönen Frau herunter.

Er setzt noch einmal an: »Wir von der Nordi­schen Allgemeine wollen, dass Sie eine glückliche Zukunft haben und sich als unser Mitglied jeder­zeit an dem Zusammenhalt einer starken Gemein­schaft erfreuen können. Gesundheitlich und na­türlich auch finanziell.«

Sudi bemerkt natürlich sofort, dass der Mann, um ihr in die Augen zu sehen, etwa 30 cm zu tief schaut. Sie bringt ihr Dekolleté noch mehr zur Geltung und fragt fast hauchend: »Und Sie sind der Richtige, dem ich meine Zukunft anvertrauen sollte?«

Horst glaubt sich nun doch wieder auf der Sie­gesstraße und sagt: »Wenn wir kurz reingehen könnten? Ich würde ihnen gerne die Größe«, er stockt kurz, »unserer Gesellschaft zeigen und ich bin sicher, wir werden da zu einem Abschuss, ähhh Abschluss«, wieder muss der Mann sich dazu zwingen, Sudi ins Gesicht zuschauen, »kom­men können, der für Sie von Vorteil sein wird.«

Sudi findet das Spielchen mit dem Speichelle­cker nun nicht mehr unterhaltend und zieht den Mann an seiner Krawatte an sich heran und hauchte ihm ins Ohr: »Ich bin aber«, plötzlich steht sie mit dem spitzen Absatz auf seinem Fuß und brüllt ihm ins Ohr »nicht interessiert! Wäre ihr Angebot auch nur halbwegs ehrenhaft, würde ihr Verein mir ein schriftliches Angebot schicken, welches ich in Ruhe prüfen kann und nicht so ei­nen Fußabtreter wie dich, der sein Spielbein nicht unter Kontrolle hat. Ferkel!«

Bamm, ist die Tür zu.

Das mit dem Absatz tut weh. Leicht humpelnd zieht Horst seiner Wege.

Sudi muss gleich hinter der Tür laut loslachen. »Das ist ja mal wieder klasse gelaufen«, feixt sie sich einen.

-*-

Trisch ist gerade dabei, den Tisch im Wohn­zimmer zu decken. Sie wird mit Barbo gemein­sam zu Abend essen. Kein gewöhnliches Abend­brot, nein, ein Dinner wird es werden. Mit Ker­zenschein, leiser Musik und einer Video-Disk mit Kaminfeuer. Trisch und Barbo haben sich bereits chic angezogen, nur für sich selbst. Es gibt kei­nen offiziellen Anlass, sie tun es einfach, weil sie es wollen. Und, weil sie morgen diese Welt verlas­sen werden. Es ist ein Abschied im Stillen, könnte man sagen.

Barbo ist gerade dabei, die Gläser auf dem süß gedeckten Tisch, mit alkoholfreiem Sekt zu fül­len, wie Trisch mit zwei Tellern hereinkommt und diese abstellt. Barbo nähert sich Trisch von hin­ten, und berührt sie mit seinen warmen Händen an ihren unbedeckten Schultern. Das Kleid schmiegt sich champagnerfarben an Trischs dunkle Haut und am Rücken ist es tief ausge­stellt, aber vorne hochgeschlossen, zu ihrem lan­gen schlanken Hals hin mit Spitze verziert.

»Du siehst wunderschön aus«, haucht Barbo ihr ins Ohr. »Wenn es eine göttliche Kraft im Uni­versum gibt, dann ist sie mir durch dich offenbar geworden«, sagt Barbo und Trisch dreht sich um und berührt seine Schultern. »Ich fühle, wenn wir zusammen sind, kann uns nichts passieren, weil meine Liebe zu dir, uns wie ein Schild beschützt«, fährt Barbo fort. »Ich liebe dich Trisch und manchmal«, er schaut schüchtern zu Boden, »manchmal denke ich, ich hab dich gar nicht ver­dient.«

Trisch lächelt ihn an, hat ein Funkeln in den Augen und sagt: »Ich werde dich immer lieben.« Und dann küsst sie ihn hingebungsvoll.

Brrrrrrrrrriiiiing, Brrrrrrrrrrriiiiiiinnnng. »Ich geh ran«, sagt Trisch, muss sich aber erst kurz sammeln. Der Kuss hat sie fast umgehauen. Trisch nimmt den Hörer ab. »Chavall.«

»Bist du es Kindchen?«, fragt eine reife Da­menstimme.

»Oh ja, grüß dich, wie geht es dir?«, fragt Trisch eher rhetorisch.

Ohne wissen zu wollen, wie es den beiden geht, geht die Dame gleich ins Detail.

»Na ja, ach es geht. Es ist nur der Rücken. Er tut immer wieder mal weh. Eher so ein ziehender Schmerz. Die Ärzte haben ja alle keine Ahnung. Wir müssen wohl…«

»Verliere mal dein Wort nicht, Moment.« Trisch hält die Hand vor die Sprechmuschel des Hörers. »Barbooooo! Kommst du mal, es ist deine Mutter«, ruft Trisch ins Wohnzimmer.

»Hab ich ein Glück«, brummt Barbo beim Auf­stehen zu sich selbst und wirft die Stoff-Servierte wieder auf den Tisch.

»Sie muss zu einem neuen Arzt, sei lieb zu ihr«, sagt Trisch und hält Barbo den Hörer hin.

Er nickt: »Hallo Mom, alles klar bei dir?«, be­ginnt Barbo das Gespräch zu übernehmen.

»Ja... ach so… - … Oh ha, - oh ehrlich? - Na, das ist ja… - nein ich denke - ja, natürlich, … nein das würde ich auch nicht – Hast du denn mal… ? - Das hat er gesagt? - Ich bewu… - Ja genau.«

In diesem Stil geht das Telefonat noch ganze eine Weile, bis Trisch die Notbremse zieht und laut von hinten ruft:

»Schatz kommst du bitte? Das Essen wird doch kalt.«

»Bin gleich bei dir, Schatz«, erwidert Barbo ru­fend.

»Ach, ihr wollt essen? Na, dann sagt doch was, ich kann auch morgen wieder anrufen«, bietet Barbos Mutter an.

»Das kannst du natürlich. Ich weiß nur nicht, ob wir Zuhause sein werden. Mutter, ich muss nun essen. Trisch wartet.«

»Wieso seid ihr nicht Zuhause? Wo wollt ihr denn hin?«

Arrrrg, nun wird es ernst, denkt Barbo.

»Wir werden vielleicht etwas wegfahren und wissen noch nicht, wann wir wieder kommen«, sagt Barbo.

Er kann ihr ja nun nicht die volle Wahrheit auf­tischen. Das würde ja gegen die Abmachung mit der Firma verstoßen und das Gespräch mit Mut­ter unnötig in die Länge ziehen.

»So? Wo geht es denn hin?«

»Mom, das Essen wird kalt. Ich sollte jetzt wirklich zu Trisch gehen. Mach es gut Mom, tschüss.«

»Nun fährst du weg, sagst mir nicht wohin, oder wie lange!! Das kannst du mir nicht antun. Das hätte ich von dir nicht erwartet, aber lass mal, iss schon gut.« Eine besondere Schwingung des Wehklagens und des Leids, versucht ein Schuldgefühl bei Barbo zu verbreiten. Eigentlich hätte sie nun den Hörer aufknallen müssen, aber sie wartet noch, was Barbo machen wird.

Aber Barbo bleibt sich treu. »Mutter, ich muss jetzt auflegen. Trisch wartet, Tschüss.«

Dann legt er auf.

Trisch: »Das wird hart für sie.«

»Sie hat die letzten 40 Jahre immer wegen ir­gendwas gelitten. Die hat da Übung drin. Die schafft das, vertrau mir«, sagt Barbo.

»Dein Optimismus in Gottes Gehörgang, kön­nen wir nun Essen?«

Trisch drückt im Vorbeigehen Barbo einen Kuss auf, setzt sich und Barbo tut es ihr gleich. Beide beginnen mit dem ersten Bissen.

»Ach nöööö, nun ist es kalt. Verdammt. Der letzte Abend läuft ja prächtig.« Barbo ist nun et­was angesäuert.

»Ich stelle es noch zwei Minuten in die Mikro­welle, dann geht’s, okay?« Trisch nimmt die Tel­ler und verschwindet damit in der Küche, um we­nig später wieder mit dem heißen Essen zu er­scheinen.

»Hier Schatz, lass es dir schmecken.« Trisch setzt sich wieder und nun kann es endlich losge­hen.

Barbo nimmt das Glas Sekt in die Hand und bekommt so einen festlichen Blick. »Trisch ich liebe dich, weil du verrückt bist.«

Trisch schaut ihn nun recht fordernd an. Sie will, dass er nun etwas sagt, was sie wirklich um­hauen würde.

Barbo fährt fort: »Wir wissen von dieser Firma gar nichts. Wir haben keinen Namen, keine Tele­fonnummer, kennen nur drei Leute: den Portier, die Dame vom Fahrstuhl und Dr. Jayanta, und wir haben einen zugegebenermaßen echt gut ge­machten 3D-Kinofilm gesehen. Man hat uns mehr oder weniger gezwungen, zu schweigen, sogar zu lügen, wenn es darauf ankommt.

Die Vorstellung, dass sie schwangere, gesunde Paare, Anfang 20 suchen und wir diese Kriterien erfüllen, lässt uns glauben, dass wir dort hingehö­ren könnten, aber auch die Kostenübernahme der Firma ist real. Also irgendetwas wird schon dran sein. Dennoch ist das bislang ein sehr gewagtes Spiel und du spielst es mit mir zusammen.

Du bist die Eine, der ich immer vertrauen wer­de. Du bist der Halt in meinem Leben. Wenn du da bist, habe ich Vertrauen in alles, was wir ge­meinsam tun. Trisch, ich liebe dich und werde al­les für dich tun, dich niemals verlassen.«

Trisch kullert eine kleine Freudenträne aus dem Auge. »Wow, das ist das Schönste, was je ein Mensch zu mir gesagt hat. Ich hoffe, ich werde dich nicht enttäuschen. Denn ich liebe dich eben­so und ich möchte unser Kind in eine bessere Welt gebären, wo Liebe und Mitgefühl eine ent­scheidende Rolle spielen und nicht Geld und Macht. Ich möchte mit dir Berge versetzen, alles erreichen und mit den drei Monaten Zeltlager fangen wir an. Wenn du bei mir bist, kann nichts Schlimmes passieren. Egal was passiert. Egal was, hörst du?«

Während sie das sagt, stehen beide noch ein­mal auf. Barbo stellt sich hinter Trisch. Dann neh­men sie sich in den Arm und drücken sich, glück­lich einander zu haben, küssen sie sich und dann... irgendwann, nehmen sie wieder Platz, um zu essen…

»Nu ist es wieder kalt«, sagt Barbo gespielt frustriert und Trisch lacht laut los.

-*-

Etwa zeitgleich bei Sudi …

Jemand macht sich an der Wohnungstür zu schaffen und Sudi geht schnell sehen, wer das ist. Natürlich ist es Rod, und sie fallen sich sehnsüch­tig in die Arme.

»Hi, Schatz, komm rein. Ich hab Essen fertig«, sagt Sudi, mit liebevoller Stimme, und geht in die Küche, während Rod seine Jacke im Flur an die Garderobe hängt.

»Hast 'n Bier da, Schatz?« Rod fühlt sich kom­plett dehydriert, der Kamillentee im Krankenhaus war nicht ganz so sein Fall.

Wenig später sitzen beide beim Essen zusam­men.

»Ich bin so froh, dass es dir wieder besser geht. Ich habe mir große Sorgen gemacht. Aber Trisch und Barbo waren immer da.« Sudi lässt den Blick noch einmal über den süß gedeckten Tisch schweifen und Rod ist dabei, die Kerzen an­zuzünden.

»Sie haben mir geholfen, einen klaren Kopf zu behalten. Weiß nicht, was ich ohne sie gemacht hätte«, sagt Sudi, während sie den Servietten-Ring abstreift.

Rod steht auf und begibt sich hinter Sudi, die schnell noch einmal die Serviette aus der Hand legt, ebenfalls aufsteht und Rod erwartungsvoll in die Augen schaut.

»Mein Herz?« Rods Stimme klingt leise, fast gehaucht. »Du siehst fantastisch aus. Ich danke dir dafür. Und für das Essen, aber vor allem, für das, was wir nun tun werden. Noch nie habe ich über etwas so wenig gewusst, wie darüber, was wir nun tun werden. Und noch nie war ich mir so sicher, dass es das Richtige ist, wie das, was wir nun tun werden. Ich liebe dich für immer und von ganzem Herzen und könnte mit dir zu den Ster­nen reisen.« Rod, nimmt Sudi in den Arm und küsst sie.

Sudi krault Rod den Nacken und sagt: »Ich bin bei dir immer im Himmel auf Erden, egal wo wir sind.« Dann küsst sie ihn noch einmal. Anschlie­ßend macht Sudi eine Geste, die Rod einen Platz anbietet.

Beiden setzen sich wieder.

»Was hast du alles für mich eingepackt?«, will Rod wissen.

»Eigentlich nur deine Kulturtasche und ein paar ganz normale Klamotten. Nur damit man et­was an hat, wenn man mal etwas braucht. Sonst sollen wir ja dort alles erhalten.« Sudi nimmt den nächsten Bissen.

Einige Zeit später. »Was hast du alles mit?«, hakt Rod nach.

»Nur Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Nichts Extravagantes. Na ja, dann etwas zum Waschen, kleines bisschen Schminke und etwas Schmuck. Die Kette, die ich von dir hab, mit den vier Stei­nen drin. Die finde ich sehr schön.«

»Mmmh, Schmuck, ja.« Rod denkt nach.

»Stimmt etwas nicht?«, fragt Sudi.

»Doch, doch, es ist nur, ich würde auch gerne etwas mitnehmen, irgendwas, als Erinnerung an hier«, denkt Rod laut nach.

Sudi nickt.

Einige Zeit später sind beide fertig mit dem Abendessen und Sudi fragt: »Noch ein Dessert?«

»Was hast du denn?«, will Rod mit verschmitz­tem Lächeln wissen.

»Ich hab eine Dose Früchtecocktail aufge­macht, mit Schlagsahne. Magst du etwas?« Sudi schaut erwartungsvoll.

»Ja, ich würde mich freuen. Warte, ich helfe dir abdecken.« Rod, steht auf und schnappt sich ein paar Sachen vom Tisch und folgt Sudi in die Küche.

»Setzt dich einen Moment. Ich mach das hier fertig, ich komme gleich«, sagt Sudi und Rod geht mit einem Lappen in der Hand wieder ins Wohnzimmer.

Anschließend setzt er sich auf die Couch und wartet auf Sudi. Er mustert die Pokale, die er mit Sudi zusammen gewonnen hat. Sein Blick birgt eine gewisse Trauer. Viel Zeit, Schweiß, Konzen­tration und Mut hat er in diese Pokale investiert und nun soll das alles hierbleiben? Das ist kein leichter Abschied von einem wesentlichen Teil seiner selbst.

Dann steht er auf und geht zu den Pokalen, um sie ein letztes Mal so richtig zu betrachten, sie zu berühren, ihnen Lebewohl zu sagen. Ein letztes Mal, sich an ihnen zu erfreuen.

Auf die Reise kann er sie nicht mitnehmen. Sie sind zu groß, zu schwer und erfüllen keinen prak­tischen Nutzen. Aber für seine Seele bedeuten sie Friede und das Glück auf Erden.

»Kommst du, Schatz?« Sudi kommt mit dem Nachtisch rein. »Alles klar bei dir? Du schaust traurig aus.«

Dann trifft Rod eine Entscheidung und setzt sich. »Hier schau mal Schatz. Das werde ich als Andenken mitnehmen.« Rod, hält eine kleine Öl­lampe in der Hand. »Das ist das Erste, was mich an den Sport im Dojo erinnert. Das Erste, das mir mein erster Meister geschenkt hat, zur Meditati­on. Es soll auch weiterhin unser Licht in eine un­bekannte Zukunft sein. Diese Öllampe würde ich gerne mitnehmen«, sagt Rod und ist sich ganz si­cher in dieser Entscheidung.

Sudi nimmt die Lampe in die Hand, betrachtet sie und nickt: »Das ist eine gute Wahl.« Dann stellt sie die Lampe wieder auf den Tisch und streichelt Rod über den Handrücken.

»Etwas Sahne, Schatz?«

Rod, nickt.

Nachdem die beiden mit dem Nachtisch fertig sind und das Geschirr in die Küche gebracht ha­ben, fragt Sudi noch einmal sicherheitshalber Rod: »Kannst du bitte noch mal schauen, ob ich deine Tasche richtig gepackt habe? Nicht das noch etwas fehlt, was da mit reinmuss.«

»Ja, klar. Wo steht die Tasche denn?«

»Auf dem Bett«, sagt Sudi.

»Auf dem Bett?«, fragt Rod noch einmal grin­send nach.

»Ja, auf dem Bett«, wiederholt Sudi lächelnd, wohl wissend, was Rod meint.

4.7 Dienstag

Knurrend reckt sich Sudi beim Wachwerden, als Rod sie an der Schulter berührt und ihr einen Guten-Morgen-Kuss aufdrücken will.

»Wie spät ist es?«, fragt Sudi beim Umdrehen.

»Es ist genau die richtige Zeit aufzustehen, um mit mir noch ein letztes Mal in die Stadt zu ge­hen«, schlägt Rod vor.

»Du hast ´n Knall.« Sudi dreht sich um und zieht sich wieder die Bettdecke über den Kopf.

»Ok, ich stehe schon mal auf«, sagt Rod und geht ausgiebig duschen.

Als Rod im Bad ist, kommt Sudi wieder unter der Decke hervor und schaut sich im Schlafzim­mer um.

Es ist ein furchtbarer Anblick - eigentlich! Es ist nicht die Wohnung an sich. Alles ist sauber und ordentlich. Nein, nein, das ist es nicht. Es ist der Gesamteindruck. Alles hat dieses giftig gelbli­che Licht. Die tragende Konstruktion des riesigen Kuppel-Daches der Stadt draußen wirft überall seine Schatten. Alles ist, na ja, eben häss­lich. Und das ist nur die Welt innerhalb der Kup­peln. Wie es wohl erst außerhalb aussieht? Sudi will gar nicht darüber nachdenken.

Nein, sie wird diese Welt wirklich nicht vermis­sen, wenn sie dort lebt, wo es der Film gezeigt hat.

Die Badezimmertür öffnet sich, als Rod im Bad fertig ist und Sudis Köpfchen verschwindet aber­mals rasch unter der Decke, wie sie sich wieder schlafend stellt.

»Ach, so Duschen? Ist das nicht herrlich? Ach, ist das herrlich!« Rod versucht, so zu klingen, als hätte er im Paradies geduscht, und wedelt mit dem Handtuch etwas eingetragenen Duft zu Sudi herüber, die sich aber noch nichts anmerken lässt.

Rod, der durchaus weiß, dass Sudi unter der Decke lächelt, philosophiert mal etwas herum: »Ich hab ja schon mal darüber nachgedacht«, sagt Rod, als er sich aufs Bett setzt, um sich die Socken anzuziehen, »wie diese Welt wohl werden wird, wenn wir weg sind. Ich meine, nicht dass uns diese Welt vermissen wird, aber ob alles noch viel schlimmer wird. Was meinst Du?«

Rod dreht sich zu Sudi um und beobachtet die Bettdecke, die sich mit jedem Atemzug auf und ab bewegt. Was immer da drunter liegt, es ist noch nicht tot, denkt Rod kopfschüttelnd und lä­chelnd. »Sudi mein Herz? Lebst du noch?«

»Nein!«, kommt Sudis Antwort, wie aus der Pistole geschossen und gespielt unwirsch.

»Ach, das ist jetzt doof. Ich fand Dich eigent­lich ganz nett«, kommt es aus Rod etwas scharf­züngig, aber grinsend über die Lippen.

GANZ NETT? Sudi muss ebenfalls grinsen.

»Mach Kaffee!«, tönt es kräftig aber dumpf un­ter der Decke hervor. »Dann reden wir nochmal über ›ganz nett‹!«

Rod macht sich, während er aufsteht, die Hose zu und geht zur Tür, als er sich das T-Shirt über­zieht. Sudi schaut ihm nach und freut sich über diesen muskulösen Oberkörper. Er ist so sexy, nicht übermäßig mit Muskeln bepackt eher sport­lich, aber zäh und drahtig. Sudi hat Kopfkino, will ganz andere Sachen mit Rod zu machen und Rod spürt Sudis Blicke und dreht sich noch einmal um. Sudis Köpfchen verschwindet wieder blitzar­tig unter der Bettdecke. Er schüttelt andeutungs­weise den Kopf, lächelt, geht dann in die Küche, um Frühstück zu machen.

Es ist das Gurgeln der Kaffeemaschine, das Sudi den Startschuss gibt. Sie setzt sich auf die Bettkante und Ihre Füße suchen nach Ihren Häs­chenschuhen. Dann verschwindet ein pinkfarbe­ner Morgenmantel mit Häschenschuhen im Bad.

»Schatz, die Aufbackbrötchen sind abgelaufen, ich geh schnell runter und hol frische«, ruft Rod vor der Badezimmertür.

»Ach so nee, lass doch, ein Brot tut es auch, die Brötchen sind so teuer«, gibt Sudi zu beden­ken.

»Was meinst Du mit teuer? Ab heute Abend wird Geld keine Rolle mehr spielen.«

»Auch wieder wahr. Für mich nur die Besten!«, ruft Sudi über das Rauschen der Dusche hinweg.

»Selbstverständlich, Schatz, möchtest Du sonst noch irgendwas? Einen Pudding oder so? Einen Salat vielleicht?«

Eine Weile ist es, bis auf das Rauschen der Du­sche, still im Bad.

»Versuch mal, ob Du richtigen Orangensaft be­kommst«, sagt Sudi von innen, die genau weiß, dass das nur den ganz Reichen verkauft wird, in solche Läden kommen Leute wie Sudi und Rod gar nicht rein.

»Okay Schatz, ich schau mal, was sich machen lässt.«

Dann geht er los und schließt hinter sich die Wohnungstür. Als Erstes mal zur Bank, denkt er.

Es ist nicht nur, das Glas der Dusche im Eis-Dekor, sondern auch, des vielen Dampfes wegen, vom heißen Wasser, der die Absauganlage völlig überfordert und den Blick auf Sudis wohlgeform­ten Körper vernebelt. Nach einiger Zeit stellt sie die Dusche ab und schiebt die Tür der Dusche auf. Natürlich ist es wie immer aussichtslos, im wahrsten Sinne des Wortes, zu glauben man wür­de im Spiegel irgendetwas erkennen. Sie trocknet sich ab und zieht sich erst einmal an, lässt aber die Tür vom Bad offen, damit der Dampf abziehen kann. Ihren Bademantel hat sie dabei ganz ver­gessen.

Sie nimmt sich einen Kaffee und setzt sich an den Küchentisch. Sie sieht die Zeitung, die da liegt und beginnt, darin zu lesen, bis sie über sich selber schmunzeln muss.

Die Zeitung liegt da seit über einer Woche, denkt sie. Wie lange die da wohl noch liegen wird, wenn wir erst mal weg sind? Vielleicht wird mal in 10.000 Jahren ein wichtiger archäologi­scher Fund daraus. Sudi muss bei dieser Idee über sich selber lachen und schaltet das Radio ein. Anschließend trinkt sie schon mal Ihren ers­ten Kaffee.

Es läuft Musik. Na ja, was man so dafür hält. Dieser Synthetik-Sound klingt immer irgendwie gleich, produziert, unehrlich, eben fabrikgerecht. Es sind keine Künstler, die sich und ihr Herzblut zum Ausdruck bringen. Es sind Musikfabriken, in denen schöne Welten zum Verkauf produziert werden. Es geht nicht um das, was man sieht oder hört, es geht wie immer und bei allem nur ums Geld und um nichts anderes. Sudi schaltet gleich wieder aus, geht mit Ihrem Kaffee ins Wohnzimmer und macht den Fernseher an.

»Über 24.900 Nationalsozialisten lieferten sich gestern Abend einen Stadtteil weiten Bürgerkrieg gegen den nach offiziellen Schätzungen 28.600 Radikal-Autonomen, der durch eine Front Islamis­tischer-Extremisten, die ihrerseits mit etwa 22.100 Personen vertreten war, zunächst zu ins­gesamt 12.800 Toten an allen Fronten führte. Die Auseinandersetzung konnte jedoch durch 8.000 Befriedungsroboter unter Kontrolle gebracht wer­den. Weitere 59.000 Personen aller beteilig­ten Gruppen wurden zur Ruhe gebracht. Man geht von 3248 zum Teil stark verwundeten Überleben­den aus. Verluste aufseiten der Staats­sicherheit hätte es nicht gegeben, so eine offiziel­le Stellung­nahme der ›staatlich Selbstständigen Befried­ungseinheit SS-BE11‹« erklingt die sachli­che Stimme des Nachrichtensprechers. Es ist bi­zarr, wie kalt man eine solch grausame Informati­on vermitteln kann. Die Bilder im Fernsehen zei­gen dazu Wut, Zerstörung und Hass.

›Was für ein Wahnsinn‹, denkt Sudi. »Die hat­ten doch bloß eine eigene Meinung! Wie sich al­les so entwickelt hat.«

Überall steigt Qualm auf, Häuser brennen. Es ist eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes, aber gemessen an 42 Milliarden Erdenbürgern ist das nicht einmal 0,1 Promille der Weltbevölke­rung. Also statistisch gesehen, und so sieht die Regierung das nun mal, ein akzeptabler Verlust. So wurden aus Menschen, Gefühlen und Schick­salen plötzlich Zahlen und Statistiken.

-*-

Rod ist nach seinem Bankbesuch inzwischen bei einem Feinkostladen angekommen und fragt darin den Verkäufer nach echtem Orangensaft.

»Pssstttt, sind sie wahnsinnig, Mann?« Der Verkäufer scheint extrem verunsichert.

»Wieso, was ist, ich möchte doch nur…«

»Kein Wort weiter«, unterbricht der Verkäufer und schaut sich prüfend um, ob sie bestimmt von niemandem gesehen werden, was natürlich quatsch ist, da der ganze Laden mit Video über­wacht wird. »Nicken Sie, tun Sie so, als würde ich etwas erklären«, sagt der Verkäufer.

»Wieso, was ist los?«, erkundigt sich Rod.

»Hören Sie zu, wenn ich Ihnen helfen soll, ver­lassen Sie umgehend diesen Laden und gehen um das Haus herum. Sie kommen nach hinten an die Laderampe, dort können wir Reden.«

»Okay«, sagt Rod etwas verwirrt und geht.

Das war ja wie im Drogenkrimi, denkt er, dabei ging es doch nur um Orangensaft.

Rod verlässt den Laden und geht um das Haus herum, wie er darum gebeten wurde. Hinten, an der Laderampe angekommen, steht der Verkäufer schon da.

Rod beginnt: »Hören Sie, meine Frau und ich haben etwas zu feiern und ich will den Tag mit et­was Orangensaft etwas festlicher gestalten.«

Der Verkäufer reibt sich im Kopf schon die Hände. »So?«, fragt er und scheint plötzlich et­was überheblich. »Was sind Sie denn bereit aus­zugeben?«, will er wissen.

»Es kommt drauf an, was es kostet«, spielt Rod den Ball wieder zurück.

»Nun, wir haben keine Halbeliter Dosen oder ein 1-Liter Tetra Pak, wir haben nur fünf Liter Ka­nister«, sagt der Verkäufer. »Kleinere Mengen ge­ben wir nicht ab.«

Rod, nickt. »Ah okay, und was wird mich ein Kanister kosten?«, will Rod wissen, der nun einen dreistelligen Betrag erwartet.

»Ich mag Sie, deshalb mache ich Ihnen einen Sonderpreis und gebe Ihnen die fünf Liter für 2.800 Kredits.«

Jetzt muss Rod wirklich zusehen, dass er bei Atem bleibt. Das erscheint ihm für 5 Liter Oran­gensaft dann doch etwas heftig. »Sehen Sie, ich mag Sie ebenfalls«, entgegnet Rod grinsend, »ge­rade auch, weil Sie ein wirklich guter Kaufmann sind und wissen, dass die Nachfrage den Preis re­gelt. Ich vertraue auf Ihre Berufskenntnisse und darauf das Sie wissen, dass 1.000 Kredits weit mehr als ausreichend sind.«

Rod findet den Preis zwar immer noch un­glaublich, aber für Sudi und den letzten Tag mit Geld ist es ihm dann doch wert. Er hätte auch die 2.800 bezahlt, aber erst mal will er den Preis noch drücken.

»Hören Sie, ich habe fünf Kinder zu ernähren und die Ladenmiete, die vom Staat kalkuliert wird, ist auch kein Pappenstiel, was glauben Sie, warum ich das hier überhaupt mache, aber ich bin nicht Ihr Feind, Ich komme Ihnen auf 2.000 Kredits entgegen.«

Der Verkäufer hofft, nun den Zuschlag zu er­halten. Er muss zwar selber ein Vermögen dafür bezahlen, es überhaupt anbieten zu können, aber es ist auch nicht grenzenlos haltbar und muss weg.

»1.500 Kredits und wir bleiben Freunde«, sagt Rod.

»1.750 Kredits und wir reden nicht mehr drü­ber.«

»Deal!«

»Deal!«

Rod, holt die Brieftasche heraus und bezahlt den Mann. Dann geht er mit fünf Litern Orangen­saft, die er zusätzlich in einer Tüte verbirgt, wie­der nach Hause.

»Bin wieder dahaaaa«, trällert Rod beim Rein­kommen.

Sudi kommt ihm im Flur entgegen: »Hast Du was Schönes mitgebracht?«

Er geht in die Küche und stellt die Tüte auf dem Tisch ab.

»Schau hier, Brötchen. Die Guten, etwas Auf­schnitt, Käse, einen synthetischen Krabbensalat und hier, der Hammer!«

Neugierig auf die Reaktion dreht er sich zu Sudi um.

Mit festlicher Stimme sagt er: »Einen fünf Li­ter Kanister original handgepressten Orangen­saft. Taaadaaaaaaa!!«

»Hahaha, Du bist ja völlig irre. Ein Glas hätte ich ja schon Wahnsinn gefunden, aber ich will doch nicht darin Baden«, sagt Sudi lachend.

»Soll ich ihn wegschütten?«

»Nein! Um Gottes Willen«, ruft Sudi.

»Den werden wir schön austrinken. Mmmhhh, wird das lecker.«

Beide nehmen am gedeckten Küchentisch zum Frühstück Platz.

»Hast Du noch einen Kaffee?«, fragt Rod und Sudi springt gleich noch mal auf, ihn zu holen.

»Orangensaft, ich fasse es nicht.« Sudi schüt­telt immer noch Ihr süßes Köpfchen.

Sudi wird dann doch nachdenklich. Zögerlich geht sie zur Kaffeemaschine und holt die Kanne, dreht sich langsam wieder um und schenkt Rod den Kaffee ein. Bedächtig stellt sie die Kanne wieder an Ihrem Platz ab und setzt sich.

»Sag mal«, beginnt Sudi neugierig, »wie viel hast Du noch im Portemonnaie?«

Rod, meint: »Mmh? Keine Ahnung, etwas über 2.100 Kredits sind es wohl noch, wieso?«

»Ich habe gerade überlegt, dass wir das Geld ja nicht mehr brauchen. Und Du erinnerst Dich doch an die Obdachlosen, die mich gleich so vor­behaltlos aufgenommen haben, oder?«

»Ja, was ist mit denen?« Rod ahnt schon, was jetzt kommt.

»Ich dachte, dass die das Geld viel nötiger brauchen würden als wir und wir es ihnen geben sollten. Wir werden es nicht mehr ausgeben kön­nen und es sollte hier nicht verrotten, oder? Wie siehst Du das?« Sudi schaut Rod fragend an.

»Na ja«, stammelt Rod und druckst herum, »im Prinzip hast du recht.« Dann schaut er über den gedeckten Tisch, um etwas auf Zeit zu spie­len. »Ich habe viel und lange dafür gearbeitet. Es einfach wegzugeben, fällt mir nicht leicht. Gib mir eine Minute, okay?« Rod steht auf, geht ins Schlafzimmer und setzt sich auf das Bett.

Sudi richtet die Küche wieder.

Als er wieder reinkommt, fragt er: »Und Du bist Dir ganz sicher, dass das, was wir da machen wollen, eine gute Idee ist und dass wir das Geld nie mehr brauchen werden, ja?«

Sudi schaut Rod an. »Ich weiß es nicht, Schatz. Aber wenn wir diesen Trip machen, ist das Geld hier über und wenn wir wieder kommen, werden wir schon irgendwie wieder auf die Beine kommen. Das Geld würde ihnen helfen, warm durch den nächsten Winter zu kommen. Vielleicht braucht mal einer Medizin. Ich weiß es nicht, aber wir werden es nicht mehr brauchen und un­sere Familie wird unsere Lebensversicherungen kassieren. Das Geld ist über und wir können ih­nen damit helfen.«

Aber Rod gibt zu bedenken: »Du kannst ihnen damit nicht helfen, das System ist falsch. Wenn Du ihnen jetzt 2.000 Kredits gibst und sie es sich redlich teilen, ist das Geld in ein paar Wochen weg und geändert hat sich gar nichts.«

»Doch, eines hat sich geändert«, sagt Sudi.

»Und was?«

»Sie haben Hilfe und somit Hoffnung erhalten. Hoffnung, die ihnen helfen kann, weiter durchzu­kommen, sich besser zu fühlen. Hilfe, die ihnen sagt, dass sie Menschen sind, denen man Respekt zollt. Es wird sie als Personen noch bestärken, wenn das Geld längst weg ist. Es ist die Geste, die zählt, nicht das Geld. Geben wir es ihnen, ver­suchen wir ihnen damit Hoffnung und neuen Le­bensmut zu geben. Sie können ihn gebrauchen.« Sudi klingt recht ernst und Rod denkt noch kurz nach, nickt dann aber.

Rod willigt ein: »Okay, Du hast recht. Es ist eine Hilfe, die wir leicht geben können. Wir soll­ten es tun.«

Es geht sehr schnell, dass Sudi Ihre Jacke und Schuhe anhat. Auch Rod geht in den Flur, sich seine Jacke überziehen.

»Dann gehen wir mal in die Stadt«, sagt Sudi und Rod küsst sie kurz, dann verlassen beide die Wohnung.

-*-

Etwas später kommen sie an die Stelle, an der Sudi die Obdachlosen kennengelernt hat. Aber es ist niemand da.

»Mmh, wo sind sie hin?«, fragt Sudi.

»Gehen wir mal um das Haus herum, vielleicht ist da ein Hinterhof oder so«, sagt Sudi und Rod folgt Ihr.

Und tatsächlich, einige Behausungen aus Well­pappe sind da. Die beiden gehen drauf zu und fra­gen die Anwesenden nach Sudis Bekanntschaf­ten.

»Har Har Har Har Haaarrrr die Stimme kenne ich doch«, kommt es unter einer der Wellpappen hervor. Sudi dreht sich gleich zu ihm.

»Hätte nicht gedacht, Dich noch mal wieder zu sehen«, sagt der Mann und zieht sich den dicken Mantel zurecht.

»Hi«, sagt Sudi, fast ein wenig verlegen.

»Wir wollten mal nach Euch sehen. Das ist mein Mann, Rod«, sagt Sudi.

»Hi Rod«, sagt ein Anderer.

Und Sudi fährt fort: »Es ist nur so, dass …«

»Ach, hier steckt das ganze faule Loser-Pack«, unterbricht der Anführer einer plötzlich nahen­den Skinhead-Bande lautstark.

Eine Gruppe von zwölf Leuten, der Aufma­chung und dem Haarschnitt nach sind es wohl rechte Radikale, kommen ebenfalls in den Hinter­hof, manche schlagen andeutungsweise und dro­hend Baseballschläger in die Hand.

Der Anführer brüllt: »Würdet Ihr Mal verre­cken, würde es uns allen besser gehen.«

»Wir haben nichts, lasst uns in Ruhe«, sagt ei­ner der Obdachlosen.

»Ihr nehmt uns hier Platz weg, und wir wollen abkassieren. Aber was könntet Ihr schon bezah­len. Außer Würmer und Flöhe habt Ihr ja nichts«, kotzt sich der Typ weiter aus.

Sudi schaut wütend und auch in Rod kommt es langsam hoch.

»Hey, bist Du hier das Stadtteilarschloch?«, will Rod plötzlich wissen. Und legt mal eine Schippe Kohlen auf.

»Du gehörst hier nicht her, mit Dir haben wir kein Problem«, meint der Anführer.

»Ich aber mit Dir!«, unterstreicht Rod.

Sudi zieht sich schon mal die Jacke aus und gibt sie einem der Obdachlosen. »Hier, pass mal drauf auf.«

Dann geht sie in einem Bogen um die Gruppe herum.

»Kostet das eigentlich Geld, sich das Hirn va­kuumieren zu lassen?«, fragt Rod neugierig.

»Vaku-was? Auf'e Fresse kanns'su kriegen«, blubbert es aus einem der Skinheads heraus.

»Das ist so ein Grundschema bei Dir, oder? Keine Ahnung haben und dann Gewalt anwen­den.« Rod stichelt noch etwas, bevor es zur Sa­che geht.

»Mach 'ne Flatter Alter«, der Anführer kommt nun ganz dicht an Rod heran und Rod zieht seine Jacke aus und wirft sie dem zu, der auch schon Sudis Jacke hat.

»Boah, hast Du Mundgeruch, verwest Du in­nerlich schon?« Kaum hat Rod seine Frage auspo­saunt, geht es los.

Der Typ holt aus, doch Rod geht in die Knie, dreht sich einmal um sich selbst und der Schlag des Typs landet im Gesicht seines Kumpels, wäh­rend Rod ihm, aus der Hocke heraus, die Beine wegtritt.

Was jetzt geschieht, ist sehr brutal, dauert eine Weile und Sudi mischt von hinten kräftig mit. Eine ganze Zeit später merken die Skinheads, dass Sudi das Feld von hinten aufräumt. Manch­mal stehen Sudi und Rod Rücken an Rücken und decken sich gegenseitig, manchmal schlägt Rod die Leute so hart und weit, das Sudi ihnen den Rest gibt.

Doch dann passiert etwas Furchtbares und Sudi stellt sich an den Rand des Geschehens. Rod, macht den Rest alleine fertig und als alle so weit bedient sind und sich von selbst zurückzie­hen, eilt Rod zu Sudi.

»Was ist Schatz, bist Du verletzt?« Rod ist sehr in Sorge.

Sudi lässt Ihren Kopf nach unten sinken: »Es wird schon gehen« Sie klingt dabei klagend, kraftlos, mit einer atemlos hauchenden Stimme, als wären es die letzten Worte, die sie je sagen würde.

»Bitte, sag mir doch, was Du hast.« Rod ist aufgeregt und hat ebenfalls ein Zittern in der Stimme.

»Ich hab mir den Nagel eingerissen«, sagt Sudi mit einem zuckersüßen Schmollmund, der jedes Unbehagen vertreibt.

»Ach, mein Herz!« Rods Spannung fällt augen­blicklich ab. »Ich hab mir Sorgen gemacht«, mault er.

»Ich liebe Dich auch, alles gut«, sagt Sudi und ist erleichtert, dass die Sache für sie so glimpflich ausgegangen ist.

»Na, dann wollen wir mal! Also ich bin Rod, ei­nige kennen bereits meine Frau Sudi«, beginnt Rod zu erklären.

Zwei Angsthasen kommen nun auch unter Ih­rer Wellpappe hervor, beide nicken.

Einer sagt: »Ja, diese Frau kenne ich, sie hat uns mal sehr nett behandelt. Und was Ihr da eben für uns getan habt, war klasse. Vielen Dank. Ich hoffe die werden nicht so schnell wieder kom­men.«

»Eine kleine Aufwärmübung, nicht der Rede wert«, spielt Rod die Sache kopfschüttelnd herun­ter.

»Es ist so, wir würden Euch gerne helfen«, führt Rod weiter aus, »und wir dachten an eine kleine Finanzspritze von 2.000 Kredits.«

Nun kommen auch die letzten aus Ihrer Behau­sung, um auf keinen Fall zu verpassen, was nun kommt.

»Warum das? Uns hat noch nie einer was ge­schenkt«, lenkt einer der Obdachlosen ein.

»Sagen wir einfach, das Geld ist über und sucht nun einen würdigen neuen Besitzer«, sagt Sudi.

»Wir würden Euch das Geld gerne schenken. Wir möchten aber, dass Ihr darüber nachdenkt, wie Ihr das Geld einsetzen werdet. Ihr könnt das Geld unter Euch aufteilen und jeder erhält«, Sudi schätzt kurz die Runde ab, »vielleicht 30 Kredits. Das wären zwei Flaschen Schnaps und die Sache ist erledigt. Wir würden es jedoch begrüßen, wenn Ihr das Geld nicht aufteilt, sondern dann benutzt, wenn es einem von Euch mal wirklich schlecht geht und Ihr eine Arztrechnung bezah­len müsst.«

»Ihr könnt sicher sein, dass wir das Geld sinn­voll nutzen werden«, sagt einer, den Sudi schon in der Stadt getroffen hat, und der irgendwie ei­nen Plan zu haben scheint.

Rod, der sich seine Jacke inzwischen längst wieder angezogen hat, greift in die Innentasche und holt einen Umschlag hervor.

»Ich übergebe Euch hiermit die Möglichkeit, jemandem von Euch in Not zu helfen«, und über­gibt dem, der Sudi am nächsten steht den Um­schlag.

Er öffnet den Umschlag und schaut rein, dann kommen ihm die Tränen. Er schluchzt vor Glück und Freude und steht einfach nur da und kann es nicht fassen. Er nimmt nacheinander Sudi und Rod weinend in den Arm. Und auch alle anderen kommen und nähern sich dankbar und respekt­voll, als wären Sudi und Rod Heilige.

Sudi und Rod verneigen sich andeutungsweise und gehen dann wortlos nach Hause.

Zuhause fragt Sudi: »Hast Du seine Freude ge­sehen, diesen glücklichen Blick, als würde alle Last dieser Welt für diesen kleinen Moment von seinen Schultern genommen?«

»Ja!«, antwortet Rod, »vom Herzen her sind es fantastische Menschen. Sie haben nur einfach kein Geld und da können sie nicht mal etwas für.«

»Na ja, jetzt haben sie jedenfalls erst mal et­was. Nicht viel, aber immerhin. Ich hoffe, sie wer­den es sorgsam einsetzen«, sagt Rod. »Es war schwer erarbeitet und lange angespart.«

Sudi steht nahe bei Rod und sagt: »Ich liebe Dich über alles mein Schatz.«

»Ich Dich auch«, entgegnet Rod und nimmt sie fest in den Arm.

»Noch n O-Saft?«, fragt Rod.

Trisch und Barbo sind noch einmal in die Gara­ge gegangen. Barbo hat dort seine Instrumente und Verstärker und er will sich von ihnen verab­schieden. Für beide fühlt es sich an wie der letzte Weg auf einem Friedhof.

In der Garage sitzt Barbo da und spielt seit Stunden, aber er spielt traurigen Blues. Gedan­kenversunken starrt er vor sich hin und spielt und spielt und spielt. Es fällt ihm schwer, ohne seine Musikinstrumente. Da wird ihm wirklich et­was fehlen.

»Du weißt doch noch, was Dr. Jayanta uns ge­zeigt hat, was es dort für musikalische Möglich­keiten gibt, oder?« Trisch versucht, ihn gedank­lich wieder auf die Bahn zu bringen.

Aber es ist sein Herz, was gerade den Abflug macht, nicht der Verstand. »Weißt Du?«, erinnert sich Barbo. »Ich habe auf diesen Instrumenten geübt, jeden Tag, stundenlang über Jahre. Mir ha­ben die Finger geblutet. Ich habe mit ihnen auf der Bühne gestanden. Sie haben mir zu einem ge­wissen Erfolg verholfen. Sie waren immer für mich da, haben mich niemals im Stich gelassen. Sie sind wie Freunde. Und nun lasse ich sie im Stich.« Barbos Stimme klingt beladen.

»Du kannst nur jemanden im Stich lassen, dem auch bewusst werden kann, dass Du ihn im Stich lässt. Instrumente haben aber kein Bewusstsein. Sie werden Dir nicht böse sein oder traurig. Sie werden auch nicht wollen, dass Du ihretwegen hierbleibst, Dir Deine Zukunft für sie versagst. Sie haben Dich zu dem gemacht, der Du bist, da­mit Du sein kannst, wer Du bist. Glaube mir, sie würden sich freuen, wenn sie könnten, wenn Du in eine schöne Zukunft reisen würdest.« Trisch hofft, Barbos Kummer etwas weggeblasen zu ha­ben.

»Meinst Du?«, fragt er.

Trisch setzt sich neben ihn und nimmt ihn in den Arm. »Wir werden jetzt aufstehen. Du wirst Dich von ihnen verabschieden, Dir einen Ruck ge­ben und dann gehen wir. Hier noch ein paar Stun­den Trübsal zu blasen, bringt nichts. Du musst das tun. Du weißt das.«

Trisch klingt einerseits bestimmend, anderer­seits besorgt. Was, wenn er jetzt umkippen wür­de? Was, wenn er die ganze Sache abbläst?

»Ich werde diesen Moment niemals vergessen, aber Du hast recht: Wir werden jetzt gehen.«

Barbo steht auf und Trisch tut es ihm gleich. Trisch öffnet die Seitentür, durch die sie herein­kamen und Barbo und Trisch nehmen unweit der Tür eine feierliche Haltung ein. Sie bleiben einen Moment stehen, dann drehen sie sich um, und verlassen ein allerletztes Mal die Garage und Barbo schließt die Tür.

Wortlos gehen beide Arm in Arm nach Hause.

-*-

Auf Aneityum ist es bereits mitten in der Nacht als Katrice in den Armen von Dr. Janssen liegt und er fragt: »Kat, Du musst das nicht machen. Wenn Du irgendwelche Bedenken hast, diese Rei­se zu machen, solltest Du hierbleiben. Ich hab keine Wahl, Du schon.«

Jo schaut ernst, aber Katrice lächelt. »Ich habe in den letzten 15 Jahren immer alle Deine Reisen mitgemacht. Daran wird sich auch heute nichts ändern. Thema durch?«

Jo lächelt, nimmt sie noch einmal fester in den Arm, dann hören beide wieder den Grillen zu.

-*-

Rod, geht seit einiger Zeit in der Wohnung auf und ab. »Dieses Warten auf deren Anruf, und ob sie uns abholen, macht mich ganz verrückt«, sagt Rod und Sudi nimmt ihn in den Arm.

»Es ist nicht mehr lange hin, nur noch einige Minuten. Erinnere Dich, was Dein Meister Dich gelehrt hat, und übe Dich in Geduld«, beschwich­tigt Sudi.

Plötzlich klingelt, wie erwartet, das Telefon.

»Seva«, meldet sich Rod.

»Wenn Sie die Reise antreten wollen, sind Sie in zehn Minuten Abreise bereit. Wir holen Sie ab. Werden Sie die Reise antreten?«, fragt die Stim­me und Rod sagt »Ja.« Klack, aufgelegt.

»Mmh, das war ja komisch«, sagt Rod. »Hat sich nicht gemeldet, dann einfach aufgelegt. Selt­sam.«

Bing Bong, klingelt es an der Tür.

»Oh! Das ging ja fix«, stellt Rod fest.

»Na, dann wollen wir mal«, sagt Sudi.

Beide schnappen sich Ihre Taschen und öffnen die Tür.

»Sudenia und Rodreon Seva?«, fragt einer der Männer im schwarzen Anzug, mit Sonnenbrille.

»Ja«, sagt Sudi.

»Wenn Sie uns begleiten würden? Wir haben die Aufgabe, Sie zum Flugplatz zu bringen.«

»Ääh, ja, ja natürlich«, sagt Sudi und schaut Rod an.

Rod nickt Sudi zu, dann schließt Rod ein aller­letztes Mal die Tür und alle vier gehen zu einem schwarzen VAN mit schwarzen Fenstern. Die hin­tere Tür öffnet sich und die beiden werden zum Einsteigen aufgefordert. Rod und Sudi nehmen auf den Rücksitzen Platz. Während einer der schwarzen Anzüge vorne einsteigt und der ande­re hinten das Gepäck verstaut, um dann auf der Fahrerseite einzusteigen. Ein Mann im weißen Kittel sitzt bereits im Wagen, als sie ankommen.

»Frau und Herr Seva, ich begrüße Sie«, sagt der weiße Kittel. »Die kommenden drei Monate werden für Sie eine bestimmte Anzahl von Aus­stiegsmöglichkeiten von diesem Projekt mit sich bringen, an dessen Entscheidungen immer eine Konsequenz gebunden ist. Ist das so weit für Sie verständlich?«, will der Mann im weißen Kittel wissen.

Sudi und Rod nicken. »Ja sicher«, sagt Rod.

»Die erste Entscheidung ist die, ob Sie nun wieder aussteigen oder weiter machen?« Der Weißkittel schaut in zwei erwartungsvolle Gesich­ter.

»Wenn Sie weiter machen, werde ich Sie gleich medizinisch untersuchen und Sie werden, sobald das Ergebnis vorliegt, gefragt werden, ob ich Ihnen ein Implantat implantieren darf. Dieses Implantat aus Nanobots wird sich über das Rü­ckenmark mit dem Großhirn, Zwischenhirn, Kleinhirn und Stammhirn verbinden. Sie werden anschließend sämtliche Sprachen lesen, schrei­ben, sprechen und verstehen können. Auch Ihr Verständnis für Kunst, Philosophie und Wissen­schaft wird davon positiv beeinflusst. Soweit zu Ihren Vorteilen.«

Sudi und Rod lächeln und zeigen sich schwer beeindruckt.

»Ein Nachteil könnte sich ergeben, sollten Sie die Unternehmung verlassen und vor Ablauf von zwei Jahren darüber irgendwelche Informationen preisgeben. Sie verpflichten sich damit zur Ver­schwiegenheit. Das Implantat wird merken, so­bald Sie geschützte Informationen preisgeben und Sie werden zu Anfang eine leichte Übelkeit verspüren, die sich rasch steigert. Fahren Sie fort, geschützte Informationen preiszugeben, werden Sie sterben. Scheiden Sie, aus welchem Grund auch immer, aus dem Projekt aus, werden sich die Nanobots nach Ablauf von zwei Jahren, oder im Falle Ihres Todes, augenblicklich selbst­ständig auflösen. Ein Nachweis wird nicht mög­lich sein.«

Sudi und Rod schauen sich an.

»Wir werden alle Sprachen und so sprechen können?« Rod, kann es nicht fassen.

Der weiße Kittel antwortet: »Ja, Sie werden mit einer Vielzahl von Menschen aus allen Teilen der Welt zu tun haben und wir können Sie nicht erst einmal alle Sprachen lernen lassen.«

»Das mit der Übelkeit und dem Tod trifft nur zu, wenn wir aus dem Projekt ausscheiden und Informationen, das Projekt betreffend, weiter ge­ben, oder?«

Der Mann mit dem weißen Kittel nickt mit vä­terlichem Gesichtsausdruck.

»Da ist keine Möglichkeit eingebaut, es als Druckmittel gegen uns zu nutzen, oder? Kontrolle auszuüben. Ich meine, wenn wir etwas tun sollen, was wir nicht wollen? Damit man uns zwingen kann?«, fragt Sudi besorgt.

»Wir haben uns, glaube ich, bisher sehr fair Ih­nen gegenüber verhalten und Ihnen großen Spiel­raum gegeben. Auch die Kostenübernahme Ihres bisherigen Lebens bis zum Abschluss der kom­menden drei Monate würden wir wohl kaum tun, würden wir es nicht ehrlich mit Ihnen meinen. Wir nehmen Ihnen jedes Risiko ab. Wenn Sie am Ziel angekommen sind, werden Sie augenblick­lich verstehen, warum das gerade jetzt für Sie eine notwendige Prozedur ist. Ist das verständlich für Sie?« Der weiße Kittel wird nun ein bisschen ungehalten.

Sudi und Rod schauen sich an.

»Wir sind nicht so weit gegangen, um nun ei­nen Rückzieher zu machen. Packen wir das?«, will Rod von Sudi wissen.

»Wo immer Du hingehst Schatz, ich werde an Deiner Seite sein.«

Beide schauen anschließend den weißen Kittel an und nicken.

»Gut, dann können wir beginnen«, sagt der Weißkittel und fährt fort: »Ihre Sitze werden sich gleich in eine liegende Position bewegen und Sie werden kurz fixiert. Das löst sich in ein paar Mi­nuten selbstständig wieder. Sie werden hier und da einen Nadelstich verspüren. Ihnen werden verschiedene Körperflüssigkeiten zur Analyse entnommen, anschließend werden Sie gescannt. Die Zeit über wird Ihr Gesicht auf meinem Moni­tor angezeigt und aufgezeichnet. Sind alle Werte in Ordnung, werde ich Sie abschließend beide fragen, ob der Einsatz des Implantats Ihre Zu­stimmung findet. Antworten Sie dann deutlich mit den Worten ›Ja, ich will.‹«.

Sudi muss schmunzeln. Den Satz kennt sie schon.

Der weiße Kittel fährt fort: »Daraufhin werden Sie im Nacken einen Einstich verspüren. Einen Augenblick später, werden Sie das Gefühl haben, es würde Ihnen kalt den Rücken herunterlaufen. Nach einigen Sekunden verschwindet das Gefühl wieder, und Sie werden alle Sprachen dieser Welt verstehen und sprechen können. Können wir mit der Prozedur beginnen?«

Sudi und Rod sehen sich tief in die Augen. Dann nicken beide und Rod sagt: »Ja, fangen Sie an.«

Aus den beiden Sitzen im Van kommen plötz­lich Gurte heraus geschossen, die die beiden fi­xieren.

»Bleiben Sie einfach ruhig liegen, es geschieht Ihnen nichts«, sagt der weiße Kittel.

Überall öffnen sich Klappen und eine Reihe medizinisch-technisches Gerät kommt zum Vor­schein. Es pikst hier und surrt da. Eine grüne la­serartige Lichtquelle scheint einen Strich auf dem Körper zu zeichnen, was aussieht wie ein Scanner. Aus dem Dach fahren vier Monitore aus. Es geht blitzschnell und der Van hat sich innen in ein Labor verwandelt. Nach einigen ssst ssst und anderen Geräuschen, kommen die ersten Ergeb­nisse auf den Schirm.

»M-Mmmhh… ja… Ah! …. Oh! …. Sehr schön...«, sagt der weiße Kittel.

»Ich bin sehr zufrieden. Sie sind beide kernge­sund. Ihre Blutwerte sind hervorragend, Muskel­tonus ist gut, Sehschärfe ist gut, Trommelfell ist auch gut. Gewebe ist, ach, das Übliche. Die Welt da draußen ist keine Wellnessfarm, aber das gibt sich mit der Zeit. Ah, beide Nichtraucher, sehr gut. Doch, doch, ich bin sehr zufrieden.«

Dann bekommt der weiße Kittel eine etwas tie­fere Stimme. »Und nun möchte ich Sie fragen: Sind Sie mit dem Einsatz der Nanobots einver­standen, so antworten sie langsam und deutlich mit ›Ja, ich will‹.«

»Ja, ich will!«, bringen es beide gleichzeitig zu Gehör.

Augenblicklich sticht beiden etwas, was ein­deutig dicker ist als eine herkömmliche Spritze, in den Nacken. Dann wird es kalt, wie er gesagt hat. Es verzieht sich aber schneller wieder, als beide erwarten. Die Monitore verschwinden wie­der in der Deckenverkleidung. Die Sitze richten sich auf, die Gurte verschwinden rasch wieder und plötzlich ist es wieder ein ganz normaler Van.

Der Mann auf dem Beifahrersitz dreht sich um, nimmt seine Sonnenbrille ab und fragt: »Kouman ou ye?”, und Rod schaut Sudi an, die sofort ant­wortet: »Mèsi poutèt ou, pi bon pase mwen te es­pere”. Und der weiße Kittel stellt fest: »Govorijo jezik Haitiju.”

»Ja, das Erste war Haitianisch, aber das Zwei­te war doch slowenisch, oder?«, erkundigt sich Rod.

Der weiße Kittel nickt beinahe amüsiert, dann lachen Sudi und Rod zusammen.

»Haben Sie Ihre Zugangskarten für Ihre Woh­nung und so weiter? Personalkarte, Kreditkarte, Krankenversicherung und so weiter?«, will der weiße Kittel wissen.

»Ja, alles hier.« Rod, gibt dem Mann den Beu­tel.

»Sie wissen, das Sie ohne jede Konsequenz ei­nes Nachteils aussteigen und wieder in Ihr altes Leben zurückgehen können. Einzig und Allein zu unserem Schutz bleiben die Nanobausteine zwei Jahre von nun an aktiv. Was Sie anschließend auch immer erzählen, wird keine Rolle mehr spie­len. Auch für den Fall, dass sie jetzt aussteigen wollen, wollen wir Ihnen nichts Böses, und wir werden Sie nicht weiter behelligen, aber wir müs­sen sicherstellen, dass Sie von der Unterneh­mung niemandem erzählen, für den Fall, dass Sie jetzt aussteigen, zumindest nicht in den nächsten zwei Jahren. Bleiben Sie bei uns, werden Sie spä­ter noch erfahren, warum das so sein muss.«

»Na ja okay, Sie wollen sich nicht Verscheißern lassen?«, denkt Rod laut.

Der weiße Kittel antwortet: »So könnte man es auch ausdrücken.«

»Sie werden nun zu einem firmeneigenen Flughafen gebracht, von dem aus Sie die Reise antreten werden. Es wird ein recht langer Flug. Versuchen Sie, zu schlafen, wenn möglich. Sie ha­ben nach der Ankunft einen langen Tag vor sich«, erklärt der weiße Kittel.

»Wie lange werden wir in der Luft sein?«, will Rod wissen.

»Es werden etwas über vier Stunden Flugzeit sein. Das mag Ihnen erst einmal lang vorkom­men, wenn sie jedoch wüssten, wo es hingeht, wären Sie überrascht, dass man so schnell dort hinkommen kann. Das Flugzeug macht bis zu sechsfache Schallgeschwindigkeit. Früher brauchten die Flugzeuge zwei Tage und fünf Stunden dort hin. Wir schaffen es in nicht einmal vier Stunden.« Ein gewisser Stolz ist bei dem Mann unverkennbar.

»Sie wissen, wo es hingeht oder?«, fragt Sudi.

»Ja, weiß ich«, sagt der Mann.

»Können Sie es uns verraten?«, fragt Sudi ganz lieb.

»Die Insel, auf der Sie landen werden, heißt Mystery-Island, das ist eine kleine Insel, diese ist Aneityum vorgelagert. Mystery-Island ist bloß der Flughafen. Aneityum ist die eigentliche Insel, um die es geht.«

»Und dort ist dann die Welt aus dem Film?« Sudi platzt vor Neugier.

»Nein, das ist der Ort, an dem wir uns besser kennenlernen. Denn nicht nur Sie haben das Recht, jederzeit wieder nach Hause zu gehen, sondern wir auch das Recht, Sie jederzeit nach Hause zu schicken. Ihr Leben hier läuft ununter­brochen weiter, solange Sie nicht da sind. Und kehren Sie zurück, ist alles beim Alten. Aber das sagte man Ihnen ja bereits mehrfach«, erklärt der weiße Kittel.

»Kennenlernen? Für was?« Sudis Neugier kennt keine Grenzen mehr.

»Das wird man Ihnen dort erzählen.«

Der weiße Kittel scheint nun ein wenig ver­stockt und der Van erreicht auch ein Gelände, welches hoch eingezäunt ist. Fast wie ein Militär­gelände. Der schwarze Van wird durchgewunken, offenbar sind Ausweiskontrollen nicht erforder­lich. Man kennt den Van. Sudi und Rod haben ein Abreiseterminal erwartet, große Schilder, irgend­welche Durchsagen, aber der Van fährt direkt auf das Rollfeld und setzt die beiden unmittelbar vor der Gangway zum Flugzeug ab.

»Wow, ist das n Vogel.« Rod ist begeistert.

»Schau Dir die Form an, Schatz.« Rod entfernt sich etwas vom Flugzeug, um einen besseren Blickwinkel zu haben.

»Wenn Sie bitte hier über die Gangway zustei­gen würden, Herr Seva?« Der schwarze Anzug vom Van ist sehr darauf bedacht, das Sudi und Rod möglichst schnell in das Flugzeug einsteigen.

»Ja, ach natürlich.«

»Um das Gepäck brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Das wird verladen und fliegt mit Ih­nen«, sagt der schwarze Anzug. »Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Flug.«

Sudi und Rod deuten einen Diener an und ge­hen die Gangway hinauf und sehen sich im Flug­zeug um.

Sofort kommt eine Stewardess an und geleitet die beiden zu Ihren Plätzen. »Es sind noch nicht alle da. Sie sind eine der Ersten. Es wird viel­leicht noch einige Minuten dauern, bis alle hier sind«, sagt die Stewardess. »Kann ich Ihnen so lange etwas zu trinken anbieten, haben Sie Hun­ger? Oder möchten Sie etwas Lesen?«

»Nein danke, im Moment noch nicht. Wir gu­cken erst noch. Wenn wir in der Luft sind gerne«, sagt Sudi.

»Gerne«, erwidert die Stewardess lächelnd und geht weiter.

Draußen kommt ein Van nach dem anderen an und in einem davon sitzen Trisch und Barbo. Sudi sieht sie auf dem Monitor, der draußen das Um­feld zeigt und winkt plötzlich ganz hektisch, egal ob sie es sehen können oder nicht.

»Guck mal Schatz, Trisch und Barbo kom­men.« Sudi klingt sehr aufgeregt.

»Stewardess?«, ruft Rod. »Da kommen Barbo­tis und K'Trischa Fenya Chavall, wäre es möglich, das sie sich zu uns setzen können?«, will Rod von der hübschen Stewardess wissen.

»Ach so, Sie kennen sich? Das wusste ich nicht. Ja, natürlich. Ich werde mich sofort darum kümmern.«

Wenig später sitzen die vier in einer Reihe.

»Hey Alter, alles hochkant?«, versucht Barbo seine Nervosität, zu überspielen.

»Hi Trisch«, sagt Sudi.

Nachdem jeder jeden begrüßt hat, sagt Sudi plötzlich. »Habt Ihr auch so n Ding in den Nacken bekommen?«

»Ja«, antwortet Trisch. »War nur kurz kalt, dann war alles wieder normal, und ich kann jetzt alle Sprachen sprechen, hat er gesagt. Bin ge­spannt, wann ich das Bemerken werde«, sagt Trisch.

»Das wirst Du wahrscheinlich gar nicht bemer­ken, weil Du die Sprache ja kannst und es dir völ­lig normal vorkommt, Dich mit einem Hawaiianer zu unterhalten«, sagt Sudi.

Die vier lachen laut los. »Ja, genau«, sagt Bar­bo.

Draußen geht es zu wie im Taubenschlag. Im Sekunden-Takt kommen Vans an und jeder ent­lädt zwei Passagiere. Immer eine Frau und einen Mann. Nach erstaunlich kurzer Zeit verschwin­den alle Vans wieder und die insgesamt zwölf Gangways werden hochgefahren.

Es dauert noch etwas. Man sieht im Monitor, wie draußen die Klappen bewegt werden. Die Triebwerke laufen hoch. Dann ein Ruck und alles scheint sich irgendwie zu bewegen.

»Guck mal, wir fahren«, stellt Sudi nicht als Einzige fest.

Rod, der noch nie geflogen ist, denkt nur: Na, wenn das Mal gut geht, sagt aber nichts.

Und tatsächlich sind die Bewegungen des Flugzeugs gerade derart behäbig, das schwer vorstellbar ist, dass der Vogel gleich abheben wird. Langsam rollt das Flugzeug zur Startpositi­on und hält noch einmal an. Und steht, und steht, und steht. Aber dann!

Startfreigabe! Boah, das geht ab. Die Trieb­werke haben einen brachialen Schub und es presst einen brutal in die Sitze. Zügig hebt das Flugzeug ab und gewinnt an Höhe. Plötzlich hö­ren manche nichts mehr. Eine Stewardess erin­nert sich, dass die meisten sich wohl einen Flug hätten niemals leisten können, und macht eine Durchsage:

»Der Druck auf den Ohren ist völlig normal und vergeht schnell wieder. Sie können Kaugum­mi kauen oder sich die Nase und den Mund zu­halten und gleichzeitig durch Ausatmen einen Ge­gendruck erzeugen. Dann geht es schneller. Kein Grund zur Beunruhigung.«

»Was hat sie gesagt?«, fragt Barbo mit sehr lauter Stimme.

»Dass Du gleich wieder normal hörst«, brüllt Trisch ihn an.

»Was schreist Du so?«, will Barbo wissen.

»Ich denke, Du hörst nichts«, sagt Trisch.

»Nanu, ach egal«, sagt Barbo.

Dann raschelt es abermals in der Lautspre­cheranlage.

»Ich bin Kapitän Sven Södenbröd und darf Sie auf das Herzlichste an Bord der Garuda willkom­men heißen«, erschallt es aus den Bordlautspre­chern.

»Die Garuda, nach dem indischen Götterboten benannt, ist ein Passagier-Überschallflugzeug mit einer Spitzengeschwindigkeit von Mach 6. Wir fliegen aber nur gemütliche Mach 5, wir haben ja Zeit.

Wir fliegen mit 1217 Passagieren an Bord auf vier Decks verteilt, in etwas über 35.000 Metern Flughöhe um die halbe Welt und werden voraus­sichtlich in etwa vier Stunden auf Mystery-Island, der Flughafeninsel von Aneityum, landen.

Bedenken Sie bitte die Zeitzonen. In vier Stun­den haben Sie es gerade zwei Uhr in der Nacht, während es dort bereits 14 Uhr am Nachmittag ist. Wundern Sie sich bitte nicht, wenn Sie am Tage müde sind. Das ist der Jet-Lag, der vergeht nach ein paar Tagen von selbst.

Auf den Monitoren über Ihnen können Sie ent­weder der Route und den Flugdaten folgen, oder sich einen Spielfilm ansehen. Schauen Sie einfach ins Menü, und wählen Sie nach Ihrem Geschmack einen Film aus.

Sollten Sie irgendeinen Wunsch haben, so wer­den unsere Stewardessen versuchen, ihn von Ihren Augen abzulesen, sollte das mal nicht gelin­gen, fragen sie einfach.

Gleich folgt noch eine Einweisung bezüglich des Gebrauchs der Schwimmwesten, für den un­wahrscheinlichen Fall, dass wir in einer Flughöhe von 35.000 Metern einen unvorhergesehenen Wasserschaden haben oder Notwassern müssen.

Man gab mir außerdem den Tipp, Ihnen zu sa­gen, dass es eine gute Idee wäre, wenn Sie etwas schlafen würden. Es würde wohl ein anstrengen­der Tag vor Ihnen liegen. Ich wünsche Ihnen ei­nen angenehmen Flug«, sagt der Pilot.

Es folgt die Einweisung bezüglich der Schwimmwesten und dann kommen die Stewar­dessen nochmal mit dem kleinen Versorgungswa­gen durch die Gänge. Es gibt etwas zu essen, dann wird abgedeckt, und so langsam fallen Sudi und Trisch auch die Augen zu. Auch Barbo und Rod legen mal den Kopf etwas zur Seite. Wer weiß, was noch kommt.

Man ist auf dem Weg.

5 Das Camp

Das Camp

5.1 Der Geist

Der Geist

5.1.01 Die Ankunft

Der Flug ist ruhig. Die Uhr zeigt 1:45 Uhr in der Nacht, Rod kann nicht schlafen und auf den Monitoren sieht man, dass es draußen bereits hell ist.

»Sind wir schon da?« Sudi reibt sich die Augen und schaut sich prüfend um. Fenster gibt es kei­ne, nicht bei so schnellen Flugzeugen.

»Wir werden planmäßig in einigen Minuten auf Mystery Island landen«, hört man eine freundliche Frauenstimme etwas blechern aus dem Lautsprecher sagen.

»Bitte stellen Sie die Sitze in eine aufrechte Position und schnallen Sie sich an. Die Lande­bahn ist recht kurz. Es wird bei der Landung et­was unruhig werden. Das ist kein Grund zur Sor­ge. Ist das Flugzeug zum Stillstand gekommen, sind wir gerne beim Aussteigen behilflich. Ihr Ge­päck wird Ihnen selbstverständlich sofort ausge­händigt. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug.«

Bis 1217 Personen ein Flugzeug verlassen ha­ben, dauert es eine Weile. Alles geht in Ruhe sei­nen Gang. Mehrere Gangways führen auf beiden Seiten aus unterschiedlichen Etagen aus dem Flugzeug heraus. Plötzlich stehen draußen so vie­le Menschen, dass man sich unweigerlich stau­nend fragt, ob die wirklich alle in diesem einen Flugzeug waren. Man geht die Gangway herun­ter. Bei strahlendem Sonnenschein ist es sehr warm.

Trisch und Barbo bleiben stehen, und Sudi und Rod hinter ihnen notwendigerweise ebenfalls.

Trisch und Barbo atmen tief durch. »Riecht Ihr das?«, will Trisch wissen.

»Es riecht salzig«, stellt Sudi fest.

»Ja, und nicht so stickig, wie in der Stadt«, sagt Rod. »Ich hätte nicht gedacht, dass es auf der Erde noch solche Orte gibt. Das ist fantas­tisch hier.«

Sie steigen in einen der vielen bereitstehenden Busse und fahren auf die große Insel Aneityum.

»Hörst Du einen Motor? Ich meine, warum fah­ren wir eigentlich?«, fragt Sudi.

Rod, zuckt mit den Schultern.

Barbo meint: »Ich schätze, dass es ein Elektro­motor ist, oder so was Ähnliches, fast lautlos. Ich spüre eine ganz leichte Schwingung, aber die Windgeräusche sind lauter.«

»Ja, der Bus ist toll«, sagt Trisch. »Und so ge­räumig, das müssen doch mindestens 100 Fahr­gäste sein, oder? Was meint Ihr?«

Barbo und Rod schauen sich um und nicken. Sudi zählt, nein sie erfasst spontan, die Sitze pro Reihe und multipliziert mit der Anzahl der Rei­hen, plus einzelner Mittel- Seiten- und Klappsitze.

»108!« Schießt es aus Sudi heraus.

Die drei schauen sie an.

»Woher weißt du das?«, will Trisch wissen.

»Hab es ausgerechnet. Muss wohl an dem Im­plantat liegen. In der Zeit hätte ich normalerwei­se die Reihen nicht einmal zählen können«, sagt Sudi.

Die anderen staunen nicht schlecht.

Sie fahren in Ruhe über die Insel zu ihrer Un­terkunft. Es sind einige Kilometer und jeder Me­ter erschließt ein neues Stück mit prächtig üppi­ger Flora bewachsenem Land. Die Vegetation ist erstaunlich reichhaltig und abwechslungsreich. Trisch und Barbo sprechen fast gar nicht wäh­rend der Fahrt. So ein fantastischer Anblick. Sie können es einfach nicht fassen.

Auch Sudi, die am Fenster sitzt, zeigt nur hier und da mal mit dem Finger an die Scheibe und hat dabei den Mund halb auf. Rod, nimmt Sudi in den Arm und lächelt.

Immer weiter bohrt sich unaufhörlich der Bus in die Insel. Kurve um Kurve, mal am Ozean, mal im Inneren der Insel, durch den tropischen Ur­wald. Es dauert gut eine halbe Stunde, doch dann kommt der Bus an einem ziemlich großen Zeltla­ger an und hält.

Über Lautsprecher sagt die Stimme des Fah­rers: »Herzlich willkommen im Zeltlager von An­eityum. Sie werden gleich von ihrem Sergeant be­grüßt. Er wird Ihnen die weiterführende Prozedur erklären. Lassen Sie sich gleich nach Verlassen des Busses ihre Sachen geben. Ich wünsche Ih­nen einen angenehmen Aufenthalt.«

Aus den Lautsprechern kommt noch ein Kna­cken, aber das geht in den Geräuschen der aufge­henden Türen unter. Alle stehen auf und der Mit­telgang füllt sich spontan. Jeder muss etwas war­ten, bis der Weg nach draußen frei ist.

Gleich nach dem Aussteigen nehmen Trisch und Barbo, Sudi und Rod ihre Taschen entgegen, wie sie auch schon einen Mann in Uniform be­merken, der auf irgendetwas zu warten scheint. Am Bus gibt es das übliche Gedränge. Jeder hat zunächst natürlich die falsche Tasche in der Hand, fragt, wessen Tasche das ist, nicht alle können etwas sehen, dann fragt jemand nach. Aber nach einiger Zeit hält jeder seine Tasche in Händen.

Der Mann in Uniform tritt vor.

»Dreierreihe bilden!«

Alle schieben sich hin und her, bis sie es dann irgendwie schaffen, etwas einer Dreierreihe Ähn­lichem zu bilden.

»Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anrei­se?«. Er beginnt mit deutlich militärischem Ton­fall und fragendem Blick in die Runde zu schau­en. Ein leichtes Gemurmel ist plötzlich hörbar. Dann wird es wieder still.

Mit einem kräftigen, militärischen Kasernen­ton fügt er hinzu: »Mein Name ist Sergeant Brad­ley Hudson a.D., das bedeutet außer Dienst. Ich werde Sie in Zukunft mit »Bürger« ansprechen. Ihre Anwesenheit hat im Wesentlichen mit drei Dingen zu tun.

Erstens: Die Firma hat Sie wegen der Erfül­lung bestimmter Grundvoraussetzungen rekrut­iert und Ihnen ein besseres Leben verspro­chen. Ihnen wird ihr altes Leben drei Monate wei­ter im Voraus bezahlt und alle Voraussetzungen ge­schaffen, dass Sie jederzeit wieder in ihr altes Le­ben zurückkehren können, sollte das von Ihnen bzw. von uns gewünscht werden. Dann hat man sie nach einer ersten Untersuchung hierher ge­bracht.

Zweitens: Sie haben einen Film gesehen, in dem Ihnen versprochen wurde, in eine bessere Welt zu ziehen. Diesem Angebot sind Sie gefolgt und Sie werden weiterhin alles geben, um dort hinzukommen.

Und drittens: Es ist meine Aufgabe, Sie gege­benenfalls davon zu überzeugen, dass Sie hier falsch sind, da ich feststellen werde, ob Sie die weiteren Voraussetzungen mitbringen. Erfüllen Sie die weiteren Anforderungen nicht, ist ihr Ur­laub hier als bald zu Ende. Sie werden die restli­chen Tage in einem Hotel untergebracht und mit der nächsten Maschine in ihr Land zurückgeflo­gen.

Fragen dazu?«

Spontan bricht ein Gemurmel aus, welches nach kurzer Zeit wieder verstummt.

»Auch wenn ich nicht mehr im Dienst bin, so weiß ich einen militärischen Tonfall durchaus zu schätzen«, fährt Sgt. Hudson fort. »Deshalb wer­den Sie mich von nun an mit >Sir< anreden und wenn Sie ihr Anliegen, Frage, oder eine Antwort vorgetragen haben, ebenfalls mit >Sir< abschlie­ßen. Ist das klar?«

Alle antworten noch etwas widerwillig: »Sir, ja, Sir.«

Die frisch angereisten Bürger haben offenbar noch etwas Zeit nötig, sich an diesen militäri­schen Tonfall zu gewöhnen.

Sgt. Hudson holt wieder Luft und ruft militä­risch abgehackt: »Sie sind mir zu einsilbig. Sagen Sie nicht nur >Ja<, sondern >Jawohl<. Verstan­den?«

Immer noch etwas müde kommt von der Trup­pe dann die Antwort: »Sir, Jawohl, Sir.«

Sgt. Hudson schaut zu Boden und murmelt »Dass das ausgerechnet mir passieren muss.«

Er sieht wieder auf und erhebt erneut die Stimme: »Nehmen Sie nun ihr Gepäck auf und wir laufen zu ihrem Zelt. Dieses oder ein ver­gleichbares Zelt wird für die nächsten drei Mona­te ihr Zuhause sein. Sie legen Ihr Gepäck unter das Bett und sorgen dafür, das Sie die Armreifen und den Ausweis bei sich führen. Dann kommen sie anschließend sofort wieder aus dem Zelt. Wir laufen dann zur Kleiderkammer, in der Sie für die nächsten drei Monate eingekleidet werden. Wenn ich sage >im Laufschritt<, beginnen Sie auf der Stelle zu laufen. Nach dem Kommando >Marsch< geht es los. Alles klar?«

Hudson schaut neugierig in die Runde und be­kommt zur Antwort: »Sir, Jawohl, Sir.«

»Da hat meine Oma ja kräftigere Blähungen. Nochmal!« Sgt. Hudson ist etwas aufbrausend, aber die Truppe bemüht sich.

»Sir, Jawohl, Sir!«

»Aus-bau-fähig!« Hudson schüttelt den Kopf. »Im Laufschriiiiiiiiiit. Marsch!«

Dann setzt sich der Trupp, mit den Taschen am langen Arm, Richtung Zelt in Bewegung. Hudson muss sich ein Grinsen verkneifen, denn die ange­reisten Damen und Herren sind in Zivil und hät­ten seine Befehle gar nicht ausführen müssen und beim Laufschritt fehlt ihm das Geräusch der schweren Stiefel. Aber das wird schon werden, denkt er.

Nach einiger Zeit kommen sie am Zelt an.

»Abteilung halt. Rechts um.« Hudsons Stimme ist bestimmend, aber nicht laut.

Na, es geht doch, denkt er.

»Sie werden nun ihr Gepäck in das Zelt brin­gen und unter ihrem Etagenbett verstauen, an­schließend herauskommen und denken Sie an die Armreifen und ihren Ausweis. Sie haben 60 Se­kunden Zeit. Haben das alle verstanden?«, will Sgt. Hudson wissen.

»Sir, Jawohl, Sir«, kommt die Antwort schon etwas zackiger.

»Ausführung!«

Die Anreisenden lösen die Formation auf und bringen ihre Habseligkeiten ins Zelt. Schnell und ausgiebig wird sofort lautstark darüber disku­tiert, wer nun welches Bett bekommt.

»Das hab ich mir aber ganz anders vorge­stellt«, sagt Sudi. Trisch, Barbo und Rod nicken.

»Ja, läuft irgendwie nicht so, wie ich dachte«, sagt Trisch.

Barbo lässt sich auf das Bett fallen und meint: »Oh, Mann, sind die hart.«

Rod, nickt. »Nun sind wir schon mal hier und den Kopf abreißen wollte uns auch noch keiner. Wir sollten erst mal abwarten was passiert.«

Hudson betritt das Zelt: »Die Frauen schlafen oben, ihre Männer unten. Ist das klar? Weiterma­chen!«

Nach einer Weile ruft er von draußen wieder: »Noch 15 Sekunden, Herrschaften. Das ist hier keine Kaffeefahrt.« Sgt. Hudson macht Dampf.

»Ganze Abteilung in Dreier-Reihe antreten!«, brüllt Sgt. Hudson.

Und obwohl es niemand bisher mit dem Militär zu tun hatte, klappt es überraschend gut, für Zivi­listen.

»Ich werde Ihnen nun die Kleiderkammer zei­gen. Wir werden Sie für die nächsten drei Monate mit Kleidung und allem Versorgen, was Sie hier zum Leben brauchen. Haben Sie das verstanden?«

Die Frage von Sgt. Hudson ist eher rhetori­scher Natur. So schwer ist das ja nicht.

»Sir, jawohl, Sir«, kommt immer noch mit leichtem Echo die Antwort der Anreisenden.

»Folgen Sie mir, ohne Tritt Marsch!«, sagt Hudson und so setzt sich der Trupp Richtung Kleiderkammer in Bewegung.

»Ohne Tritt? Wie soll das denn gehen?«, flüs­tert Trisch Barbo zu.

Rod erklärt: »Also nicht im Gleichschritt. Das meint er damit.«

Trisch nickt: »Ach so.«

Nach einem gar nicht so langen Marsch kommt der Trupp an der Kleiderkammer an.

»Abteilung stillgestanden! Links um. Hier er­folgt nun Ihre Einkleidung!«, sagt Hudson. »Rüh­ren!«

5.1.02 Die Inspektion

Mitten im All, weit hinter dem Mond, nähern sich Katrice Bordelon und Dr. Jochen Janssen in einer Raumfähre mit dem Namen ›Namid‹ dem Ziel ihrer kleinen Expedition.

»Schau!«, sagt Dr. Janssen: »Das ist das Gene­rationen-Raumschiff, die Habitat I. Sie ist etwa 189 km lang und rund wie ein Zylinder und hat einem Durchmesser von 13 km, was einem Um­fang von etwa 40 km entspricht. Würde man Norddeutschland vom Süden von Hamburg, bis an die dänische Grenze der Länge nach halbie­ren, wäre es das etwa.« Katrice staunt nicht schlecht.

»Zum Schutz besteht die Außenhaut aus zehn Meter dickem Mondgestein« fährt Jo fort: »Wel­ches in einem besonderen Spritzgussverfahren auf die Carbyne verstärkte Skelett-Konstruktion aufgebracht wurde.

Die innere Röhre hat ebenfalls eine zehn Me­ter dicke Außenwand, dazwischen ist die ganze Technik für das Leben im Inneren unterge­bracht.« Katrice ist zwar sehr beeindruckt, aber was das bedeutet, ist ihr gegenwärtig noch nicht klar. Die Fähre nähert sich den Andockschleusen.

Wild zeigend erklärt Dr. Jannsen voller Stolz weiter: »Da sich das Raumschiff immer im leeren Weltraum befindet, sind verständlicherweise Fenster nicht vonnöten. Allerdings gibt es vorne drei Bereiche, an denen man Ausschau halten kann.

Unten die Brücke, in der Mitte ein Antigravita­tions-Vergnügungs-Deck...«

»Oh, da ist man dann richtig schwerelos?«

»Ganz genau. Dort können wir völlig schwere­los herumschweben. Aber Vorsicht, manchen wird beim ersten Mal schlecht, aber das bekommen wir schon hin«, sagt Jo und nimmt Kat noch ein­mal fester in den Arm.

»Und oben, unter einer Kuppel ist eine schöne kleine Landschaft mit dem Blick in die Sterne«, fährt Jo fort.

»Das ganze Raumschiff rotiert. Ganz vorne, die nicht rotierende Brücke und die Landschaft zur Entspannung sind mit künstlicher Schwerkraft ausgestattet, die aber nur eingeschaltet ist, wenn sich jemand darin befindet. Ansonsten ergibt sich die Schwerkraft aus der Rotation um die Längs­achse der Röhre selbst.

Das Einzige, was das Raumschiff von außen in­teressant macht, sind die unglaublichen Haupt­schub-Triebwerke und jede Menge Steuerdüsen, Manövriertriebwerke und Parktriebwerke.«

Für Kat sind das nun etwas viele Triebwerke, aber sie liebt es, ihm beim Schwärmen zuzuhö­ren.

»Ebenfalls in der Außenhülle angebracht, je­doch nicht sichtbar, ist die gesamte Sensorenpha­lanx sowie Funk und Navigation, Astrometrie, Sensorik und so weiter. Von Außen ist es eine schmucklose graue Röhre aus gespritztem Mond­gestein. Aber innen!!!«, Jo bekommt sich kaum noch ein, muss sich nun aber um die Landung kümmern.

Die Fähre kommt wenig später zum Stillstand und Katrice Bordelon und Dr. Jochen Janssen wer­den an der Gangway, in der Landebucht, von Dr. Nikita Vasudha und Dr. Ramesh Chander erwar­tet.

»Ich hoffe, ihr hattet einen angenehmen Flug?«, begrüßt Dr. Vasudha die beiden lächelnd an der Gangway und gibt ihnen die Hand.

»Schön, dass ihr bei uns seid.« Auch Dr. Chan­der reicht den beiden die Hand.

Die Landebucht ist riesig und eindeutig von Technikern designt. Ganz sicher hat alles seinen Sinn und seine Funktion und sieht unglaublich technisch aus, aber schön ist das nicht.

»Wie kommt ihr damit voran, mein Geld auszu­geben?«, fragt Dr. Janssen mit einem verschmitz­ten Lächeln.

»Wir stehen fünf Tage vor dem Zeitplan. Mit was möchtest du die Besichtigung beginnen?«, will Dr. Chander wissen.

»Den ganzen technischen Kram könnt ihr so­wieso besser beurteilen. Mich interessieren als Erstes die Unterkünfte und anschließend, gehen wir einfach mal ein bisschen spazieren«, sagt Dr. Janssen.

Dr. Chander weist mit einer Geste den Weg.

Einen Augenblick später fahren die vier be­reits mit einem Lift auf eines der Aussichtsdecks, direkt im Innern des Schiffes.

»Von hier hast du einen fantastischen Ausblick auf eines der Dörfer«, sagt Nikita.

Tatsächlich schaut Jo eher nach oben. Es war irgendwie komisch, zu sehen wie die Landschaft in der Ferne links und rechts nach oben weiter­geht und oben sogar auf dem Kopf steht.

»Ist das nicht fantastisch?«, fragt Dr. Janssen und drückt Katrice dicht an sich heran.

»Okay, gehen wir runter. Nun will ich sehen, wie unsere neuen Einwohner wohnen werden. Bisher habe ich nur Pläne und Kostenaufstellun­gen gesehen, nun will ich auch wissen, was dabei herausgekommen ist.« Dr. Janssen klingt sehr zu­frieden und Nikita geht vor.

Einen Fahrstuhl später öffnet sich die Tür wie­der und die vier betreten einen Marktplatz, mit einem Brunnen in der Mitte und kleinen Geschäf­ten drumherum. Man kann kaum glauben, in ei­nem Raumschiff zu sein. Die Architektur erinnert an das alte Griechenland, jedoch ist es bunter, ge­radezu farbenfroh, aber nicht kitschig. Weiß und Schwarz dominieren eindeutig das Bild, aber Tü­ren, und Fenster sind in grün, rot, blau, ocker und braun gehalten. Dezent, aber sehr verschie­den.

»Ah, ein Schuster. Wie wird der arbeiten?«, will Katrice wissen, die sich natürlich um ihren Nachschub an Schuhen sorgt.

»Gehen wir einmal hinein?«, fragt Nikita.

»Ja!«, trällert Katrice mit glänzenden Augen und öffnet die Tür.

Pall Limm Pall Limm.

Dr. Chander fängt an, zu erklären: »Hier an dem Bildschirm werden die Schuhe an einem 3D-Programm entworfen und bearbeitet. Anschlie­ßend werden sie auf den SuBaMoSy als 3D Druck ›ausgedruckt‹. Das geht aber nur für Dinge glei­cher Materialien und Eigenschaften. Zum Bei­spiel muss bei einem Schuh Obermaterial und Sohle als Handwerk zusammengebaut werden. Es gibt hier einen 3D-Scanner, sodass der Schuh im­mer als Maßanfertigung für einen bestimmten Fuß erstellt wird. Grundsätzlich werden keine Schuhe hergestellt, die nicht auch gebraucht werden. Also einen vollen Schuhladen wird es hier nicht geben.«

Jo nickt: »Das ist klar. Aber man könnte doch auch die Schuhe fertig entstehen lassen, bei Nah­rungsmitteln geht das doch auch.«

»Das ist wahr«, sagt Nikita leise und nickt, »Aber dabei gibt es eine soziale Komponente. Man erkennt den Wert einer Sache besser, wenn man die Sache selbst hergestellt hat. Man wird gefragt, wie der Schuh aussehen soll. Es ist ein Entstehungsprozess, den man mit dem Schuh verbindet. Würde alles wie im Schlaraffenland aus dem Automaten sprudeln, was technisch übri­gens kein Problem wäre, würden die Leute unter Umständen 100 Paar Schuhe am Tag herstellen, die sie eigentlich gar nicht brauchen und das schafft einen erhöhten, aber unnötigen Energie­bedarf. Ebenso wie ein überhöhtes Recycling-Vo­lumen. Außerdem würden sich Schuhmacher, die keine Schuhe mehr machen brauchen, weil es ein Automat für sie tut, schlecht fühlen – unge­braucht, überflüssig. Das sind negative Gefühle, die wir unbedingt vermeiden müssen«, sagt Niki­ta.

Dr. Chander fügt hinzu: »So wird es bei allen Berufen gemacht. Da wo die Materialbeschaffung schwierig wäre, kommen unsere SuBaMoSy's zum Einsatz, aber den Rest müssen die Leute schon selber machen.«

Katrice nickt. »Was ist ein SuBaMoSy?«

Dr. Chander lacht: »Das ist eine gute Frage und gar nicht so leicht zu beantworten. SuBaMo­Sy ist ein Kunstwort und entstand aus dem Be­griff Subatomarer Molekular-Synthesizer, quasi ein Energie-Material Sequenzer, bzw. gibt es das auch umgekehrt, weil wir ja keinen Müll produ­zieren dürfen. Da werden dann Dinge wie­der in Energie verwandelt. Also resequenziert und wie­der gespeichert. Rein technisch – damit sollten wir uns den Tag nicht vermiesen.«

»Sehr schön«, sagt Dr. Janssen, als er wieder draußen ist und zeigt sich beeindruckt. »Schauen wir mal weiter?«

»Gern«, sagt Nikita, »Da drüben zum Beispiel, das ist unsere Kultur-Schule.«

Nikita zeigt draußen über den Platz, eine klei­ne Straße hinauf. Und die vier spazieren neben­einander, es ist ja genug Platz da.

»Hier rechts ist der Eingang. Drinnen geht es rechts zur musikalischen Früherziehung, im Mit­telblock dann der Unterricht für Musik, Theater und Tanz in den verschiedenen Stilen. Im Keller ist der Übungsbereich für die »Schall erprobten«, aber auch Blues, Reggae und Jazz. Weiter hinten gibt es auch neuere Musikrichtungen und experi­mentelle Musik, und links geht es zur Multifunkti­onsaula.« Man merkt, dass Nikita sich sehr wohl­fühlt bei all den Möglichkeiten, sich kulturell zu betätigen.

»Mit ein paar Knopfdrücken ist aus dem Rock­kessel ein Opernhaus geworden, je nachdem was man braucht. Für Sportveranstaltungen gibt es da drüben noch ein Stadion, welches auch für Openair-Anlässe benutzt werden kann. Die bil­denden Künste wie Malen, Skulpturen, Bildhaue­rei, Töpfern, Teppiche knüpfen und vieles andere mehr ist im Nachbar-Gebäude«, sagt Dr. Nikita Vasudha.

Nikita ist eigentlich immer wieder selbst be­eindruckt über die vielen Möglichkeiten, obwohl es, oder gerade weil es ein Raumschiff ist.

»Und nun zeige ich euch die Unterkünfte«, schlägt Dr. Chander vor. Und die Anderen folgen ihm gespannt.

5.1.03 Die Einkleidung

Der Trupp ist an der Kleiderkammer angekom­men.

»Abteilung HALT!«, befiehlt Hudson. »Links um!«

Alle brauchen einen Moment, bis sie glauben, sich korrekt ausgerichtet zu haben.

»Sie werden sich bis auf die Unterwäsche aus­ziehen und ihre derzeitige Kleidung geordnet auf den Boden legen. Anschließend gehen Sie in Vie­rergruppen nacheinander in dieses Gebäude. Sie werden Ihren Ausweis, den Sie erhalten haben, zusammen mit dem Armreif tragen. Ihre Daten werden darauf gespeichert werden.

Dort wird man Sie wiegen, vermessen und ih­nen Kleidung, Ausrüstung und Gerät für die nächsten drei Monate aushändigen. Sie ziehen die Stiefel, schwarze Hose und das weiße Shirt an und kommen mit allem, was Sie erhalten ha­ben, wieder heraus. Dann packen Sie Ihre Sachen vom Boden in Ihren Rucksack, den Sie erhalten werden und machen sich wieder abmarschbe­reit«, instruierte Sgt. Hudson die Truppe. »Alles klar?«

»Sir, jawohl Sir«, kommt es schon kräftiger, aber immer noch mit leichtem Echo von der Trup­pe und Sgt. Hudson schmunzelt andeutungswei­se: »Ausführung!«

Der ganze Trupp beginnt, sich bis auf die Un­terwäsche auszuziehen. Einen Augenblick später stehen alle fast nackt da und Sgt. Hudson schickt die Ersten rein.

»Der Vorgang wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Sie dürfen sich auf den Boden setzten.« Sgt. Hudson glaubt nun recht väterlich zu wirken, was allerdings, man erkennt es an der allgemein widerwilligen Miene, bei den Meisten irgendwie missverstanden wird.

Leise erkundigt sich Trisch: »Was soll denn das hier werden?«

»Ja, von Militär-Ausbildung hatte keiner was gesagt«, stellt Barbo klar.

»Sudi und ich haben während der Kampf­sportausbildung so etwas wie Disziplin, Befehl und Gehorsam praktiziert. Möglicherweise fällt es uns deshalb leichter«, sagt Rod.

Aber Sudi lenkt ein: »Unerwartet ist das hier allerdings schon.«

»Das ist menschenverachtend, was sie hier mit uns machen«, meint von hinten plötzlich jemand. »Sie haben nicht das Recht, uns derart zu demüti­gen.«

Sgt. Hudson geht ganz in Ruhe auf den, der sich für die Menschenrechte einsetzt, zu und fragt mit beinahe leiser Stimme: »Sie fühlen sich hier ungerecht behandelt?«

Der Typ schaut nach oben und muss blinzeln, weil Sgt. Hudson fast genau vor der blendenden Sonne steht.

»Ja, ich meine hier in Unterhose herumzusit­zen ist nicht wirklich schön. Was soll das? Das ist menschenunwürdig!«, legt der junge Mann noch einmal nach.

Auf einmal brüllt Hudson ihn an: »Stehen Sie auf, wenn ich mit Ihnen rede!«

Sploink! Wie eine Sprungfeder steht der Typ plötzlich eingeschüchtert kerzengerade stramm da.

»Wie ist Ihr Name Bürger?« Wenn Hudson ei­nes kann, dann brüllen.

»Sir, Barber, Jacob Barber, Sir«, kommt, mit zittriger Stimme, eingeschüchtert, die Ant­wort.

»Sie mögen keine Bärte? Mr. Barber? Von nun an sind sie Privat Pfirsich. Gefällt Ihnen das?«

»Sir, das würde mir nicht gefallen, Sir.« Aber Sgt. Hudson brüllt weiter. »Privat, sie wissen ge­nau, was sie nicht wollen. Das bewundere ich an Ihnen aufrichtig. Sicher werden Sie verstehen, dass es auch andere gibt, die wissen was sie nicht wollen.«

Nase an Nase stehen sich die beiden gegen­über und Hudson sorgt für reichlich Gegenwind.

»Wenn Sie sich hier unfair behandelt fühlen, Bürger, glauben, dass man ihnen zu wenig Re­spekt entgegenbringt, wenn Sie glauben, dass man nicht nett zu Ihnen ist, kurz, wenn Sie Ihre Mutti vermissen, können Sie jederzeit zu Ihr zu­rückkehren. Aber verschonen Sie mich mit Ihren Belehrungen. Haben Sie mich verstanden?« Sgt. Hudson klingt sehr, sagen wir ungehalten.

Die Antwort klingt etwas genervt: »Ja, Sir.«

»Bitte? Ich habe mich wohl gerade verhört!«, brüllt Sgt. Hudson Privat Pfirsich an.

»Sir, jawohl Sir«, wiederholt der Bürger seine Antwort sehr viel kräftiger.

»Na also! Privat Pfirsich, setzen! Sie werd ich mir merken.« Sgt. Hudson dreht sich um, geht ins Haus, um die Fortschritte der Einkleidung zu be­urteilen.

Währenddessen kommen bereits die ersten fer­tig eingekleidet wieder heraus und beginnen Ihre »Zivil-Kleidung« im Rucksack zu verstauen.

»Ich meine, die kleiden hier über 100.000 Menschen aus aller Welt ein. Das ist schon eine logistische Meisterleistung, oder?«, erkundigt sich Rod.

Aber Trisch, Barbo und Sudi schauen ihn et­was überrascht an. Mit dieser Feststellung hat nun keiner von ihnen gerechnet.

»Wie viele Kleiderkammern es wohl insgesamt gibt? Ich meine, das kann sich unter Umständen noch Wochen hinziehen, oder?« Rod, klingt etwas besorgt.

Rod, will den »Einstellungstest« so schnell wie möglich anfangen und erfolgreich zu Ende brin­gen.

»Das werden die sich schon überlegt haben, denke ich mal.« Trisch versucht, etwas Beruhi­gendes zu sagen.

»So! Die nächsten vier! Barbotis und K'Trischa Fenya Chavall und Sudenia und Rodreon Seva«, ruft Sgt. Hudson. Die vier betreten spärlich be­kleidet und barfuß das Haus.

»Draußen, der Sand war ja warm, aber die Fliesen hier drin sind eiskalt«, motzt Sudi und Rod versucht, durch eine kleine Stichelei, die Stimmung etwas zu heben.

»Wenn man jetzt rosa Häschenschüchen hät­te.«

Nicht wirklich doll, aber anscheinend mit vol­lem Körpereinsatz schlägt Sudi Rod auf den Ober­arm.

»Du doof, Du!« Alle lachen leise, aber dann….

»Waage!«, kommt für jeden der vier der Be­fehl.

Es sind vier Waagen aufgestellt, sodass alle vier gleichzeitig dran sind. Als sie fertig sind, wird Maß genommen, Größe, Brust- und Taillen­umfang, Schrittlänge und so weiter.

Die Angestellten machen einige Eingaben in Ihre Computer.

»Geben Sie mir Ihren Armreif und Ihre Ident-Karte«, werden die Freunde aufgefordert.

Ein paar Töne aus dem Computer und die Kar­ten verschwinden in den dafür vorgesehenen Schlitzen und kommen wieder heraus. Der Arm­reif wird auf ein Gerät gelegt und ist wenig spä­ter wieder einsatzbereit. Unsere Freunde erhal­ten beides zurück.

»Gehen Sie nun durch die Tür dort. Sie wer­den dort passend eingekleidet«, sagt einer von ih­nen. Und die Kadetten nicken und machen sich auf den Weg.

Im nächsten Raum gibt es einen echt langen Tresen, der am Ende des Raumes noch einmal zur Seite weiter geht. Hier gibt es nun nacheinan­der alle Kleidungs- und Ausrüstungsgegenstände. Der Eine gibt nur Hosen aus, der nächste nur Ja­cken, ein Weiterer nur, na bis eben alles zusam­men ist, was so gebraucht wird – die ganze Aus­rüstung.

Am Ende des Tresens angekommen, bekom­men unsere Freunde jeder einen kleinen Compu­ter, ein Tablet, mit nach vorne klappbarer Tasta­tur und Touchscreen.

»Oh, wozu ist der?«, will Rod wissen.

»Sie werden zu einem späteren Zeitpunkt eine Einweisung erhalten. Tun Sie damit bis dahin am besten gar nichts«, ist zunächst die Antwort.

Rod und die anderen nicken zustimmend.

»Gar nichts machen, kann ich am besten«, sagt Barbo und grinst schelmisch.

Trisch erwidert das Grinsen. »Ja, ich weiß!«

Und die frisch Eingekleideten lachen mal wie­der. So langsam scheint sich die allgemeine Be­sorgnis darüber, wie hier alles laufen wird, zu verflüchtigen.

Wieder draußen angekommen, verstaut jeder seine Kleidung im Rucksack, heftet den Ausweis wieder am Shirt fest, überprüfen noch einmal den Sitz des Armreifs und nimmt zum Warten einge­reiht wieder Platz.

Die ganze Einkleidung hat gerade mal 10 Mi­nuten gedauert, es sind allerdings 108 Menschen, die eingekleidet werden müssen, mit kleineren Verzögerungen soll das immer noch knapp fünf Stunden dauern. Eine lange Zeit, die ausschließ­lich mit warten erfüllt ist.

Es heißt, sich in Geduld zu üben. Trisch, Sudi, Barbo und Rod beginnen erste Kontakte zu knüp­fen und unterhalten sich mit den anderen Warten­den.



5.1.04 Die Unterkünfte der Habitat I

»Oh, das ist hier aber schön geworden. Das ge­fällt mir«, sagt Dr. Janssen und auch Katrice zeigt sich angenehm überrascht.

Große, helle Räume und die verwinkelten Wän­de machen Türen überflüssig. Das Schlafzimmer­fenster gibt einen herrlichen Blick über das Dorf frei. Der Kamin im Wohnzimmer ist nur hologra­fisch, aber gut gemacht. Eine kleine Sitzecke für sechs Personen, ein Essbereich und natürlich vollständige sanitäre Einrichtungen: Dusche, Waschbecken und WC.

»Es gibt kein Klopapier?«, fragt Katrice etwas besorgt.

»Nein, das würde zu Problemen in der Wieder­aufbereitungsanlage führen. An den vier Reglern steuert man Wasserstrahl, Bürste, Seife und Föhn. Was außerdem viel hygienischer ist, als Pa­pier«, sagt Nikita.

»Oh, da bin ich gespannt«, Katrice hat plötz­lich so eine Vorstellung, merkt aber schnell, dass sie ihren eigentlichen Satz nicht zu Ende bringen sollte und korrigiert, »wenn ich das, dass erste Mal ausprobiere.«

»Auch die Duschen«, fährt Nikita fort, »können auf zwei Arten benutzt werden, normal mit Was­ser, wenn man es mal braucht, aber eigentlich reicht die Ultraschalldusche.«

»Ich verstehe«, sagt Katrice.

»Was haben wir noch?«, will Dr. Janssen wis­sen.

»Ja, hier draußen einen Multifunktionsbild­schirm. Er ermöglicht den Austausch sämtlicher speicherbaren Informationen, multimediale Er­eignisse, Bibliothek, buchen von Tickets, was auch immer. Wissensdatenbank, Infothek aller Art. Hier wird der Abruf eingegeben.« Dr. Chan­der streicht mit der Hand über die Oberfläche. »Außerdem wird hier am Bildschirm gekocht.« Dr. Chander lässt das erst mal etwas sacken.

»Ah ja, verstehe, die SuBaMoSy's, schon klar.« Dr. Janssen nickt, als wäre das ein ganz alter Hut, dabei sind die erst vor einigen Monaten in Serie gegangen.

»Wie funktioniert das eigentlich genau?« Katri­ce entspannt die Situation.

»Nach Vorgaben, die ein SuBaMoSy vom Rech­ner bekommt«, beginnt Dr. Chander seine Aus­führung, »erstellt er aus Energie Material. Erst einmal so ganz allgemein. In diesem Fall hier ist die Synthetisierung von Nahrungsmitteln vorge­sehen.« Ein gewisser Stolz in seiner Stimme ist unverkennbar.

»Einfache Säfte, Wasser, Kaffee, Tee und ein­fachste Lebensmittel werden kostenlos herge­stellt«, führt er weiter aus.

»Dazu gehört auch mal ein Keks zum Tee als Beispiel, oder ein Zwieback. Unter Aufwendung der Bordwährung kann man sich auch ein opulen­tes Dinner für zwei Personen zaubern, das kostet allerdings auch eine Stange Geld.«

Dr. Vasudha schmunzelt ein wenig.

»Diese Regelung soll unterstützen, dass Bä­cker, Müller, Meier, Metzger und so weiter ihren Job behalten und sich die Gesellschaft im Allge­meinen als nützlich ansieht, und von- und fürein­ander lebt. Da wir keine Tierhaltung haben, wer­den Bauern Käse, Eier, Fleisch und Fisch mit dem SuBaMoSy herstellen können, die anderen nicht.«

Dr. Chander schaut prüfend in die Runde, ob ihm noch alle zuhören. »Die Anderen werden es kaufen können. Was wie viel kostet, wird vom Computer genau festgelegt. Die Preise dienen dazu, den Handel aufrecht zu erhalten und die Ware so billig wie möglich anzubieten, jedoch nur so, dass sich niemand bereichern kann. Reichtum ist nicht mehr die treibende Kraft auf der Habitat I. Ebenso wird es keinen Zins geben. Niemand wird Kapital aus dem Nichts schöpfen können«, erklärt Dr. Chander.

»Was ist, wenn alle motivationsschwach wer­den und sich mit sehr wenig zufriedengeben? Also nur Dingen, die es sowieso kostenlos gibt?«, will Dr. Janssen wissen.

Dr. Chander erklärt sofort: »Dann sparen wir viel Energie. Aber von drei bis vier Keksen am Tag wird man nicht lange gesund bleiben. Irgend­wann kommt jeder an einen Punkt, wo er mal Schuhe braucht, eine Jacke, einen Pulli, und das bekommt er von Leuten, die auch mal Hunger ha­ben. Der Schneider wird Geld haben wollen, also muss man selber Geld verdient haben und das kann man nur dadurch, das man das tut, wofür man Geld bekommt. Wie in der Natur auch wird Hunger ein Antrieb sein.«

Nickend fährt Nikita fort: »Wenn alle das ma­chen, was sie machen müssen, damit es allen gut geht, haben sie immer noch weit mehr Freizeit und Möglichkeiten der kreativen Gestaltung ihres Lebens, als sie es je erahnt hätten. Das Prinzip ist darauf ausgelegt, das es allen gut geht, und nicht ganz wenigen sehr gut.«

»Ab wann geht es jemandem gut?«, will Katri­ce wissen. »Ich meine, wer legt das fest? Die Mei­nungen darüber, was gut ist und was schlecht, gehen ja zuweilen stark auseinander.«

Auch Jo nickt zustimmend und ist auf die Ant­wort sehr gespannt.

»Grundlage der Berechnung dessen, was je­mand benötigt, ist das Implantat«, erklärt Nikita. »Es liefert uns die notwendigen Daten, zur Be­rechnung des Kalorienbedarfs. Jeder bekommt also die Menge, die ihm entsprechend seiner Ar­beit zustehen muss. Ist jemand mit stark körperli­cher Arbeit beschäftigt, ein Sportler, oder auch im Theater, wenn man auf der Bühne steht, ist die erforderliche Nahrungsmenge größer, als bei je­mandem, der zum Beispiel ein Gedicht schreibt.«

»Was ist mit Schmagedutzis?«, fragt Katrice.

»Mit was?« Nikita schaut Katrice an, unsicher, ob sie wirklich verstanden hat, was sie meint.

»Schmagedutzis«, Katrice setzt noch einmal nickend nach. »Mal ein Stück Schokolade, Bon­bons, Lakritze. Also Dinge, die man einfach gerne mal isst oder trinkt. Ein Sekt, ein Bier, so etwas eben. Nicht was nach irgendeiner Kalkulation dran oder erforderlich ist, sondern, weil es lecker ist und Gaumen, Herz und Seele erfreut.«

»Selbstverständlich gibt es immer auch Tole­ranzen und solche ›Schmagedutzis‹ sind natürlich mit eingerechnet.« Dr. Vasudha nickt. »Es gibt immer einen momentanen Wert und einen Lang­zeitwert, der über Monate gerechnet wird. Natür­lich kann man kurz mal über die Stränge schla­gen. Das ist doch selbstverständlich. Aber wer glaubt, dass ihm langfristig acht Spaceburger und eine doppelte Loca zum Frühstück einen gu­ten Start geben, um mittags, nachmittags, abends und vor dem Schlafengehen in diesem Stil weiter­zumachen, der wird schnell feststellen, das man sich hier nicht krankessen kann. Der SuBaMoSy macht dann dicht.«

»Krankessen ist gut, hehehe.« Katrice lacht.

»Wir haben hier eine Mission zu erfüllen und müssen unnötigen Energieaufwand minimieren. Wer zum Abspecken drei Monate im Krankenhaus liegt, um seine Körperfunktionen wieder auf Vor­dermann zu bringen, muss von der Gesellschaft mit getragen werden. Das ist zwar eine Selbstver­ständlichkeit, jedoch nach Möglichkeit nur, wenn es wirklich erforderlich ist«, meint Dr. Chander.

»Das wird eine fantastische Reise. Davon bin ich jetzt schon überzeugt«, schwärmt Katrice.

»Nicht so voreilig«, mahnt Dr. Chander und fährt fort.

»Wir wissen nicht, was da draußen ist. Der Weltraum ist sehr groß, sehr kalt und sehr leer. Und in dieser Leere lauern Gefahren noch und nöcher. Und gegen vieles sind wir völlig macht­los. Nehmen wir an, wir kommen an einem roten Riesen vorbei. Wir wissen nicht, ob er gleich zur Supernova wird oder erst in 1.000 Jahren. Und wenn ein roter Riese zur Supernova wird? Boom, ultraharte Gammastrahlung. Dann ist die Mission gescheitert, das kann ich schon mal sagen. Aber was ist, wenn wir durchkommen? Unsere Genera­tion Nachwuchs bekommt und die kommen an ei­nem Planeten an, der erdähnlich ist. Und was, wenn diese unsere Kinder das, was wir hier prak­tiziert haben, als Grundlage für eine neue Gesell­schaftsform nehmen? Dann haben wir den Grund­stein dafür gelegt, dass sich die Mensch­heit ausbreitet im ganzen Universum. Geht das schief, haben wir es wenigstens versucht.«

Katrice schmiegt sich an Jo an und flüstert: »Ich kann es immer noch nicht fassen, dabei sein zu dürfen.«

Und Jo streichelt ihr über die Schulter.

5.1.05 Nach der Einkleidung

Anders als erwartet vergeht die Zeit dann doch schneller und Sgt. Hudson gibt wieder den Ton an.

Hudson brüllt: »Abmarschbereitschaft herstel­len! Nicht so lahm hier! Sie sind hier nicht auf ei­ner Wellnessfarm.«

Eine Erkenntnis, der bereits eine gewisse Vor­ahnung vorausgeht. Vom langen Sitzen, auf dem harten Boden, tun die Beine weh. Nach ein paar Lockerungsübungen verflüchtigt sich der Schmerz aber zügig.

Alle sind damit beschäftigt, sich den schweren Rucksack auf den Rücken zu schnallen, und neh­men, inzwischen ohne das jemand etwas sagen muss, wieder Formation ein.

»Abteilung links um, folgen, ohne Tritt, Marsch.« Sgt. Hudson geht wieder zurück zum Zeltlager und alle folgen ihm.

Als der Trupp am Zelt ankommt, kommt der Befehl: »Abteilung halt!«

Die schweren Stiefel, die nun jeder trägt, las­sen in den Ohren von Sgt. Hudson Marschmusik erklingen und er lächelt etwas. »Links um!«

»Als Nächstes werden Sie Ihre Ausrüstung ebenfalls unter Ihrem Bett verstauen und mit dem Tablet wieder herauskommen. Sie haben 60 Sekunden. Wegtreten.«

Alle hasten in Ihr Zelt, nehmen das Tablet aus dem Rucksack und verstauen den Rucksack an­schließend, wie befohlen, unter dem Bett. An­schließend eilen alle mit dem Tablet wieder ins Freie.

»Ganze Abteilung Achtung! Richt- Euch!« Sgt. Hudson hat einen neuen Befehl benutzt und ist erstaunt, dass er offenbar intuitiv verstanden wird. Jedenfalls von den Meisten.

»Wenn ich sage Richt- Euch, dann bedeutet das, dass Sie sich in einer Reihe, an einer gedach­ten Linie, aufzustellen habt. Ich will an den Fuß­spitzen Lineale eichen können. Haben das alle verstanden?«

»Sir, jawohl, Sir«, kommt es schon ziemlich synchron von allen.

»Sie alle haben diesen Tablet-Rechner bekom­men. Um ihn in Betrieb zu nehmen, müssen Sie ihn nicht nur einschalten. Sie müssen zusätzlich Ihre Ident-Karte seitlich in den dafür vorgesehe­nen Schlitz stecken und gleichzeitig Ihren Arm­reifen tragen. Nur in der Kombination wird das Tablet Sie erkennen und mit der Prüfung fortfah­ren. Überall auf der Insel sind Geräte installiert, die Sie mit dem zentralen Computer der Insel vernetzen. Er wird Sie mit Fragen versorgen.

Von der Art und der Menge Ihrer Antworten wird abhängen, ob Sie nach einem Monat noch hier sind oder nicht.

Viele Fragen werden Ihnen banal vorkommen, andere werden Sie nicht verstehen, wieder ande­re lösen bestimmte Reaktionen aus. Antworten Sie intuitiv. Der Zentral-Computer wird feststel­len, wie lange Sie brauchen, eine Frage zu lesen und er wird feststellen, wie viel Bedenkzeit Sie dann für eine Antwort in Anspruch nehmen. Den­ken Sie nicht all zu lange auf einer Antwort her­um. Antworten Sie so spontan wie möglich.

Manch angebotene Antwort wird nicht so sein, wie Sie tatsächlich antworten würden, dann neh­men Sie das, was am wenigsten von Ihrer Ant­wort abweicht. Gibt es dazu fragen?« Sgt. Hud­son schaut in die Runde.

»Dürfen wir Hilfsmittel benutzen? Einen klei­nen Rechner aus der Uhr als Beispiel?«, will einer wissen.

»Der Test soll Sie testen, nicht Ihren Rechner. Also sind keine Hilfsmittel erlaubt«, erklärt Sgt. Hudson.

»Wieso?«, flüstert Sudi Rod zu. »Wir haben doch den Chip im Nacken. Wozu noch ein zusätz­licher Rechner?«

»Pssst!«, flüstert Rod zurück.

Ein Anderer fragt: »Wenn ich etwas nicht weiß, was ist dann?«

»Dann gehen Sie zur nächsten Frage über. Es wird niemandem gelingen, alle Fragen zu beant­worten. Und es sind wirklich genug da. Glauben Sie mir.« Hudson geht vor der Gruppe auf und ab.

Auf einmal tritt Hudson an einen der Bürger dicht heran.

»Was ist mit Ihnen? Sie sehen so ängstlich aus. Sind Sie ängstlich?«

»Sir, nein Sir.«

»Warum gucken Sie dann so?«

»Sir, es ist nur eine gewisse Ungewissheit. Sir.«

»So, dann haben Sie also Zukunftsängste?«, will Sgt. Hudson wissen.

»Sir, ein bisschen, Sir«, sagt der Bürger und Hudson wendet sich an die ganze Abteilung.

»Herrschaften, seien Sie offen und ehrlich mit uns« und zeigt auf ihn »So wie dieser Bürger. Dann werden Sie hier sehr gut durchkommen. Fahren Sie einen anderen Kurs, werden Sie schnell merken, wohin der führt. War das deut­lich?«

Sgt. Hudson schaut wieder interessiert in die Runde.

»Sir, jawohl, Sir!«, kommt es von der ganzen Abteilung inzwischen ohne Echo, wie aus einem Hals, schmetternd frei heraus.

»Sehr schön, in 30 Minuten gibt es Abendbrot. Wir werden das erste Mal gemeinsam essen, da­mit Sie anschließend wissen, wie das läuft. Sie haben 30 Minuten Freizeit und dann folgt die Un­terweisung. Wegtreten.« Sgt. Hudson nickt zu­frieden.

Er denkt, das ist ja soweit ganz ordentlich ge­laufen. Alle verschwinden in die Zelte und begin­nen, sich am Tablet zu versuchen.

»Mal sehen was der alles kann?«, murmelt Sudi vor sich hin und fingert als erste aufgeregt am Tablet herum. »Der muss doch irgendwo an­gehen.« Sudi dreht das Tablet in alle Richtungen.

Rod, meint: »Schau hier hinten, ist ein Schie­beschalter.«

»Ah da, richtig, danke«, entgegnet Sudi schiebt Ihre Ident-Karte ein und beide beschäfti­gen sich mit Ihrem Tablet.

»Wir erkunden mal die nähere Umgebung. Mal sehen, wo hier was ist«, sagt Trisch. »So Kleinig­keiten wie Toiletten, Duschen und so, vielleicht gibt es hier auch Freizeitangebote. Eine Kneipe, oder Billard, wer weiß.«

»Ah, gute Idee«, meint Sudi.

Barbo will Trisch auf keinen Fall alleine lassen. »Ich gehe mal mit. Vier Augen sehen mehr als zwei«, meint Barbo nickend.

Rod ruft hinterher: »Schau mal, ob es hier ir­gendwo ein Bier gibt.«

»Sir, jawohl, Sir«, sagt Barbo mit gespielt strenger Mine. Alle lachen, dann verschwindet er mit Trisch.

5.1.06 Das Tablet

»Du schau mal«, sagt Sudi und tippt weiter en­thusiastisch auf Ihrem Tablet herum »Es gibt hier so Untermenüs und so…. Hier steht…. Trainings-Level. Ich klick da mal. Oder?«

Rod dreht sich so, dass er ebenfalls auf den kleinen Bildschirm schauen kann. »Gehe mal mit dem Mauspfeil drüber, vielleicht kommt ein Kon­textmenü«, lenkt Rod zunächst ein.

»Nee, kommt nicht, ich klick mal«, sagt Sudi und schon ertönt eine Damenstimme.

»Sie befinden sich im Trainings Level. Dieses Level können Sie so oft wiederholen, wie Sie wollen. Gehen Sie erst weiter, wenn Sie das Prinzip der Aufgabenstellun­gen verstanden haben. Haben Sie Frage-Level eins einmal begon­nen, können Sie nicht in das Trai­nings-Level zurück. Haben Sie Le­vel zwei erreicht, steht Ihnen Le­vel eins nicht mehr zur Verfü­gung. Und so fort. Es geht also nur wei­ter, nicht zurück. Solange Sie ein Level nicht abgeschlossen haben, können Sie innerhalb die­ses Le­vels vor und zurückgehen. Beden­ken sie jedoch, dass sich das nega­tiv auf Ihre Antwortzeiten aus­wirkt. Die Richtigkeit Ihrer Ant­worten, also die Qualität, ist uns ebenso wichtig wie die Menge Ih­rer Antworten, also der Quanti­tät.

Wir werden Sie mit Filmen kon­frontieren, nach denen Sie das Ende des Films beurteilen sollen. Oder es wird Fragen geben, wie dieser Film Ihrer Meinung nach weiter geht bzw. weiter gehen sollte. Wir werden Ihre Persönlich­keitsmerkmale und Ihre Intelli­genz auf die Probe stellen. Wir werden Ihr Leistungsvermögen und Ihre Reaktionszeit überprü­fen. Es wird Fragen zu Ihrer sozia­len Kompetenz geben, ebenso wie zu ihrer Fachkompetenz. Wir wer­den Ihre Lern- und Gedächtnisfä­higkeit ebenso überprüfen wie Ihre Kreativität. Nach Abschluss dieser Disziplinen werden wir den Test ausweiten, auf Ihre bilden­den, musikalischen und sportli­chen Fähigkeiten. Kurz gesagt: Wir werden Sie gründlich unter die Lupe nehmen.

Wir haben eine Vorauswahl von etwas über einhunderttausend Menschen gemacht und wollen nun sehen, wer mit uns geht. Wir brauchen zehntausend!

Das bedeutet, dass neunzig Prozent wieder nach Hause fahren werden. Wir wissen nur noch nicht, wer genau das sein wird. Um das herauszufinden, sind Sie hier. Paare fahren immer gemein­sam nach Hause, ungeachtet des Testergebnisses des jeweiligen Partners.

Sie wissen, dass Sie jederzeit in Ihr altes Leben zurückkönnen. Da­für haben wir gesorgt.

Wenn ich Ihnen abschließend einen Rat geben darf. Wir suchen nicht die perfekten Super­menschen, die völlig fehlerfrei sind. Die gibt es nämlich nicht. Alle Tests sind so ausgelegt, dass wir dadurch auch erfahren, ob Sie offen und ehrlich mit uns sind. Bei vielen Antworten gibt es kein rich­tig oder falsch, wie zum Beispiel bei Geschmacksfragen.

Außerdem wird Ihnen auffallen, dass Ihnen Fragen gestellt wer­den, deren Antworten Sie unmög­lich wissen können. Den­noch ha­ben Sie plötzlich das Ge­fühl, die Antwort zu kennen. Beantworten Sie diese Fragen dann trotzdem, auf die Gefahr hin, dass es falsch ist. Bedenken Sie, dass Sie über diverse Zusatzfähig­keiten durch das Implantat verfü­gen und das ziehen, einer zwölften Wurzel aus einer dreißig stelligen Zahl im Kopf kein wirkliches Pro­blem für Sie darstellt. Mit solchen Fragen überprüfen wir, ob die Arbeitsweis­e des Implantats er­wartungsgemäß ist.

Nun schlage ich vor, beginnen Sie mit dem Trainings-Level. Viel Erfolg.«

»Ui!« Sudi faltet Ihre Hände in einer betenden Haltung vor Mund und Nase zusammen. »Die ma­chen hier ein riesiges Fass auf.«

»Hoffentlich bringt Barbo ein Bier mit. Das muss ich erst mal herunterspülen. Ist ja echt ein Hammer, was die hier auffahren«, sagt Rod, der es ebenfalls kaum fassen kann.

»Ja, wollen wir mal anfangen?« Sudi ist kaum zu bremsen.

»Nein warte, lass uns zusammen mit Trisch und Barbo anfangen. Wir sollten immer darauf achten, dass wir zusammen bleiben, egal was passiert.« Rod, schaut Sudi sehr ernst in die Au­gen.

»Du hast recht Schatz. Zusammen, egal was passiert.«

Rod nimmt Sudi in den Arm, um sie zärtlich zu küssen.

5.1.07 Sanitär

»Okay, das sind wohl die Duschen. Oh, Mann!! Ist ja eher ein Bretterverhau«, stellt Barbo fest.

»Aber groß. Wie viele das wohl sind?«, fragt Trisch eher rhetorisch.

»120«, kommt es von Barbo wie aus der Pisto­le geschossen.

Trisch dreht sich zu Barbo um. »Ganz sicher?«

Barbo weiß nicht genau, warum er das wusste, aber ja, als er in Ruhe nachzählt… Es sind 120. »Ja, sicher.« Barbo kratzt sich nachdenklich am Kinn. »Dieses Implantat wirkt wieder was. Anders kann ich mir das nicht erklären. Wir waren im Bus 108, das hat Sudi auch einfach so rausgehau­en. Also können alle aus dem Bus hier gleichzei­tig duschen. Okay, das macht Sinn.« Barbo schaut sich weiter um.

»Sieh mal hier, das sind wohl die Waschbecken und Klos.« Trisch rümpft leicht die Nase. »Na ja, ich will hier ja nicht ewig wohnen.«

»Okay, lass uns mal das nähere Umfeld an­schauen. Mal sehen, was hier sonst noch so geht«, meint Barbo. Trisch nickt und sie verlas­sen die sanitären Anlagen.

5.1.08 Knutschen

Sudi und Rod haben bereits ihre Tablets zuge­klappt und sie auf die Nachbarpritsche geworfen und liegen immer noch knutschend und eng um­schlungen da. Die vier Paare in dem Zelt stehen auf und schauen ungläubig, was die beiden da machen.

»Mrrr rrrhhh«, räuspert sich einer der Herren, jedoch bleibt irgendeine Reaktion der beiden Lie­benden völlig aus. »Wenn wir stören, ich meine wir …«

Es ist naiv, anzunehmen, Sudi und Rod hätten nicht gehört, dass sie angesprochen wurden. Sie wollen nicht reagieren.

Ein erhobener Zeigefinger meint vorsichtig: »Äh, tschuldigung?!!«

Die vier Paare stehen nun um die Pritsche von Rod herum und starren die beiden Liebenden an.

Rod tippt mit dem Finger zärtlich an Sudis Wange und die Beiden trennen sich langsam. Rod dreht sich um und bellt gespielt genervt in die Runde: »Was?«

Fast nicht wahrnehmbar machen die acht ei­nen halben Schritt zurück.

»Es ist nur so, dass wir auch noch da sind, und es ist irgendwie unangenehm, wenn ihr daliegt und knutscht«, konstatiert der Fingerwedler.

Schwungvoll dreht sich Rod aus dem Bett und steht blitzartig vor dem Fingerwedler, legt eine Hand auf seine Schulter und meint mit außeror­dentlich ruhiger und freundlicher Stimme: »Du musst ein außerordentlich reicher Mensch sein, oder?« Rod legte den Kopf etwas zur Seite.

»Nein, wie kommst Du darauf?«, fragt der Fin­gerwedler.

»Du bist so verklemmt, Du steckst Dir einfach ein Stück Kohle in den Arsch und hast wenig spä­ter 'n Diamanten.«

Der Fingerwedler ist daraufhin stocksauer, will gerade zum Schlag ausholen, doch Sudi steht in­zwischen günstig und hält ihm den Arm fest.

»Ich heiße Rod und das ist meine Frau Sude­nia. Und nun versuchen wir, erst einmal Freunde zu werden, denn wir müssen hier im Idealfall drei Monate oder vielleicht sogar länger miteinander auskommen. Deshalb entspannen wir uns alle mal wieder. Darf ich fragen, wie Ihr heißt?«

Rod legt einen souveränen Auftritt hin und Sudi findet das unglaublich sexy, wenn er so ist. Sie lässt den Arm des Fingerwedlers wieder los und die Streitigkeiten sind umgehend geschlich­tet.

»Ich bin Yeho'ash Iachin und das ich meine Frau Zibiah Biljana.«

Zibiah tritt einen Schritt vor und bietet Rod die Hand an. Erst jetzt nimmt Rod die junge Schöne aus dem Orient wahr. Er staunt über ihr vollendetes Aussehen. Besonders ihre kaffeebrau­nen Augen wirken wie ein Strudel, in dem er droht, zu versinken, würde er die Augen zu lange betrachten. Er bekommt den Mund kaum zu und erwidert vorsichtig den Händedruck. Sudi geht auf Yeho'ash zu und bietet ihm ebenfalls die Hand an, der sie zögernd, dann aber nickend annimmt. Anschließend wenden sich alle den Anderen zu.

»Ich bin Liadan Flanagon, das ist mein Mann Ronan«, erklärt eine kleine, aber sehr stämmige Frau.

»Wir kommen eigentlich aus Irland, aber das gibt es ja schon lange nicht mehr. Mein Mann ar­beitet als technischer Zeichner und Statiker. Ich komme aus einer Familie von Schafhirten und bin hier in einer Agrarfabrik untergekommen. Bin mehr so die Frau fürs Grobe. Er ist der Bleistift­anspitzer.«

Liadan hat eine recht burschikose Art, wäh­rend Ronan in jedem Fall zurückhaltend, beinahe schüchtern wirkt.

»Was hast Du gemacht, Biljana?«, fragt Sudi.

»Meine Familie nennt mich Zibiah, aber Bilja­na ist auch okay. Meine Familie hat ein Geschäft für Kleidung und Schuhe für Männer und Frauen. Ich habe Stoffe zugeschnitten und genäht.«

Zibiah ist es fast peinlich, weil sie glaubt, das ist keine so tolle Tätigkeit, jedenfalls nicht so, wie ein technischer Zeichner.

»Was habt Ihr vorher gemacht?«, will Yeho'ash wissen.

Sudi beginnt zu erzählen: »Ich habe als Lehre­rin und Trainerin in einer Kampfschule gearbei­tet.« Sie schaut sich kurz die Reaktionen an und muss schmunzeln. »Leider ging das Geschäft nachher nicht mehr so gut und ich musste aufhö­ren. Rod hat dann allein das ganze Geld mit nach Hause gebracht.«, sagt Sudi.

Nun schauen alle Rod an. »Ich habe Sudenia auf einem Markt kennen gelernt und später in ih­rer Schule trainiert. Sie hat mich unterrichtet, sie hat mir all das beigebracht, was ich heute kann. Beruflich bin ich aber in einer Schmiede tätig ge­wesen. Wir haben viel Krach gemacht, den gan­zen Tag auf Metall eingedroschen. Funken sprü­hen und so. War sehr laut und anstrengend.«

»Ähm, ich möchte«, Yeho'ash neigt den Kopf nach unten und wendet sich Sudi und Rod zu, »Euch um Entschuldigung bitten. Ich habe da vielleicht etwas überreagiert.«

Sudi nimmt ihn kurz »männermäßig« in den Arm und Rod rubbelt eine Kopfnuss an seine Stirn.

»Ich weiß nicht, wovon Du sprichst.« Sudi klingt wirklich ahnungslos, in diesem Moment und alle lachen wieder recht entspannt.

»Und wer seid Ihr?« Sudi schaut weiter nach hinten zu den zwei anderen Paaren.

»Ich bin Alexander Soucek, das ist meine Frau Danica. Wir kommen aus Tschechien. Unsere Fa­milien haben früher ein Weinanbaugebiet in Süd­mähren gehabt, aber das gibt es ja auch schon lange nicht mehr. Wir haben in einer Abfüllanlage für synthetischen Wein gearbeitet.«

Und Danica ergänzt: »Ich habe versucht, ein Gasthaus zu führen, aber es kommt keiner mehr. Die Gegend war nicht mehr schön und die Anrei­se zu teuer. Es gab keinen Grund mehr, zu uns zu kommen.«

Man merkt, wie die beiden an Ihrer alten Hei­mat hängen, aber ihnen ist auch schmerzlich be­wusst, dass es sie nicht mehr gibt. Das motiviert sie, nach neuen Zielen Ausschau zu halten.

»Ich bin Jahid Amjad, das ist meine Frau Jalia. Wir kommen aus Saudi-Arabien. Jalia arbeitete als Sekretärin in einer Bank und ich bin Tiefbau-Ingenieur. Ich habe Baustellen geleitet, die Tun­nel gebohrt haben nach der NATM-Methode«, sagt Jahid.

»Was ist die NATM-Methode?«, will Ronan, der technische Zeichner, wissen.

»Es ist eine Abkürzung, es bedeutet >New Austrian Tunneling Methode< kurz NATM. Eine Methode, die in Österreich entwickelt wurde und nun auf der ganzen Welt eingesetzt wird. Sie be­zieht die Bergwände als statische Einheit mit ein. Rein technisch, nicht so wichtig«, wiegelt Jahid ab.

Auch diese vier werden nun von allen mit Handschlag begrüßt, wie plötzlich das Zelt auf­geht und Trisch und Barbo wieder hereinkom­men. »Wir haben die Duschen und die Klos gefun­den«, sagt Barbo, als er sich beim Betreten des Zeltes in einer der Schnüre verfängt. »Was ist denn hier los?«, will er wissen.

»Wir haben uns gerade bekannt gemacht«, sagt Sudi und beginnt, zu erklären: »Das sind Alexander und Danica Soucek aus der Tschecho­slowakei.«

»Es muss Tschechien heißen«, verbessert Alex­ander. »Es ist nur ein Teil der zerfallenen Tsche­choslowakei.«

»Ah, okay.« Sudi nickt ihm zu. »Und das sind Ja­lia und Jahid Amjad aus Saudi-Arabien.«

Und das Händeschütteln nimmt kein Ende.

»Ich bin Yeho'ash Iachin, und das ist meine Frau Zibiah Biljana. Aber Zibiah reicht. Wir kom­men aus dem Iran. Meine Frau hat Kleidung für Damen und Herren genäht und ich, na ja… Ich bin, Schlachter. Ich habe dafür gesorgt, dass Fleisch und Wurst auf den Tisch kam«, sagt Ye­ho'ash.

»Wie es aussieht, kommen wir aus sehr ver­schiedenen Regionen und Berufen. Das wird si­cher noch spannend«, sagt Liadan. »Ich bin Lia­dan Flanagon und das ist mein Mann Ronan. Ich komme aus der Landwirtschaft und er ist techni­scher Zeichner und Statiker«, schlug Liadan Bar­bo auf die Schulter.

»Und wer seid Ihr?«, will Liadan wissen.

»Ja, dann will Ich uns auch mal vorstellen«, sagt Barbo und zeigt auf seine Frau. »Das ist K'Trischa Fenya und ich bin Barbotis Chavall. Wir haben ebenfalls, wie man deutlich sehen kann, eine afrikanische Abstammung, kam allerdings aus den Staaten in den europäischen Block, wo wir uns kennenlernten.

Trisch stellt sich ebenfalls vor: »Ich war vorher so etwas wie eine Krankenschwester in verschie­denen Abteilungen. Kinder, Pflege, Alte, Intensiv, wo immer es brannte. Die Mittel für das Kranken­haus wurden gestrichen und ich bekam nur noch einen Job in der Medikamentenausgabe, bis ich den schließlich auch noch verlor. Barbo ist Musi­ker. Er hatte immer wieder Auftritte, mit denen wir uns ganz gut hielten, was auch immer weni­ger wurde.« Trisch schaut betrübt zu Boden.

»Schatz, nun sind wir ja hier.« Barbo nimmt Trisch beruhigend in den Arm. Sie fängt sich rasch wieder und schaut auf.

»Ja, und ich habe einen tierischen Kohldampf. Muss die frische Luft hier sein«, vermutet Trisch.

Zibiah räumt ein: »Na, wenn es nur das wäre.«

»Was meinst Du?«, hakt Trisch nach.

»Na ja, wie alle Frauen hier, wirst auch Du schwanger sein, oder?«, fragt Zibiah.

Trisch nickt: »Ja, ach so, das meinst Du. Ja, na­türlich, wir müssen ja für zwei essen.«

Rod und Sudi beginnen einen Kreis zu bilden, Trisch und Barbo haken sich mit ein und nehmen die anderen mit.

»Hey, kommt zusammen, wir werden es ge­meinsam schaffen die Neue Welt zu beflügeln, ganz sicher.« Barbos Stimme strotzt vor Überzeu­gung.

Sie stehen nun in einem Kreis mit den Armen um die Schultern des jeweils nächsten und schwören, sich zu helfen und zu unterstützen, wo immer es geht.

»Oh, warte, warte, wir haben etwas verges­sen!« Barbo klingt sehr aufgeregt und besorgt.

»Was ist denn?«, fragt Sudi.

»Wir brauchen … Wir brauchen ein Symbol! Ich schlage den Phönix vor. Wir hatten es alle sehr schwer in dem, was wir taten und steigen nun auf zu neuen Höhen. Der Phönix trifft es am besten, was meint Ihr?« Barbo schaut in die Run­de, alle stimmen zu.

»Ja, warum nicht, der Phönix aus der Pfeife.« Sudi weiß natürlich, dass das falsch ist.

»Asche, um Gottes Willen, Asche!!!« Rod schaut Sudi gespielt böse an.

Alle lachen aber Liadan und Ronan schauen et­was verwirrt. Die abendländische Mystik ist in Ir­land offenbar nicht angekommen. Dort kennt man den Phönix aus der Asche wohl nicht.

»Ist ein tolles Symbol, echt!«, wendet sich Yeho an Liadan und Ronan.

Ronan schaut zu Liadan, die nickt ansatzweise und er sagt »Okay, Phönix, klasse Zeichen für uns.«

»Ja, Phönix ist super«, sagt Liadan.

»Sprecht mir nach«, sagt Barbo.

»Abgebrannt, total am Ende,

wird die Asche langsam kalt.

Doch ist das der Punkt der Wende,

wo der Aufstieg Donner hallt.



Neu erstrahlen wir, voller Glanze,

Feuerschwingen, ganze Pracht,

Wir erkennen unsere Chance,

erleuchten hell, finsterste Nacht.



Das Ziel ist nun mal festgelegt,

wenn ich des Feuers nasche,

in Schneisen bahnen wir den Weg,

wie der Phönix aus der Asche.«

»Und nun aus vollster Kraft: Shiori

Mai! Mai! Mai!«, sagt Barbo.

»Und alle >>Shiori<<?«

»Mai! Mai! Mai!«

»Noch einmal mal: Shiori?«

»Mai! Mai! Mai!«

»Noch einmal mal: Shiori?«

»Mai! Mai! Mai!«



»HA!! Wir sind die Gewinner!!!« Barbo scheint das zu wissen.

»Was bedeutet das?«, fragt Zibiah und Barbo schaut Ihr sehr ernst in die tief dunklen, braunen, mandelgroßen Augen.

»Das bedeutet gar nichts! Aber wir geben die­sen Worten eine Bedeutung, und das bedeutet für uns alles, was zählt. Wir haben eine Bedeutung. Alles klar?«

Zögerlich nickt Zibiah, weil sie unsicher ist, ob sie in voller Gänze verstanden hat, was Barbo Ihr gerade erklärt hat. Dann löst sich der Kreis lang­sam wieder auf.

»Nun könnte es auch Abendbrot geben, oder?«, erkundigt sich Trisch.

5.1.09 Das erste Abendbrot

»Abteilung antreten!«, brüllt draußen Sgt. Hudson und alle folgen sofort seinem Aufruf. Schnell bildet sich eine Dreierreihe. »Ich werde Ihnen nun zeigen, wie Sie in den kommenden drei Monaten an Nahrungsmittel herankommen. Fol­gen Sie mir. Rechts um. Ohne Tritt, Marsch!«

Am Ende der Zeltreihe gibt es weitere Zelte, in denen niemand zu wohnen scheint. Dort ange­kommen holt Hudson wieder militärisch abgehakt aus: »Abteilung halt, links um. Da drüben ist das Kommando- und Sanitätszelt. Wenn irgendein Problem auftaucht: Dort werden Sie es melden und Hilfe bekommen. Hier«, er deutete mit einer kräftigen Handbewegung auf die andere Seite, »ist das Versorgungszelt. Neben einigen anderen Dingen, die möglicherweise benötigt werden könnten, finden Sie darin einen SuBaMoSy. Einen Subatomaren Molekular-Synthesizer. Oder kurz: Er macht Ihnen Essen. Obgleich er technisch in der Lage wäre, alles herzustellen, was man sich Vorstellen kann, ist er hier auf Nahrungsmittel und medizinische Ausrüstung spezialisiert. Man­gelt es an irgendetwas und ist gleichzeitig be­triebsrelevant, werden Sie es hier bekommen.

Jede Benutzung ist nur mit Ihrer Ident-Karte in Kombination mit Ihrem Armreif möglich. Auf die­se Weise wird personalisiert, wer was gebraucht hat, der Bedarf ermittelt und so die Versorgung gesichert. Die Menü-Steuerung sollte kein Pro­blem darstellen. Wenn Sie Fragen haben, ist jetzt der geeignete Zeitpunkt.« Hudson schaut prüfend in die Runde.

»Macht der auch Bier?«, will Rod wissen.

»Genau«, bestätigt Barbo Rods Frage mit Nachdruck.

»Es gibt nach Dienstschluss eine kleine Aus­wahl alkoholfreier Getränke, darunter Bier, Wein und Sekt. Wundern Sie sich nicht darüber, welche Mengen Sie offenbar plötzlich vertragen. Der Al­koholgehalt geht im Hinblick auf die Schwanger­schaften gegen null.

Harte Alkoholika sind nicht im Angebot. Glä­ser, Teller, Näpfe und Besteck werden nach dem Essen wieder in den SuBaMoSy gestellt und auf Recycling gedrückt. Haben das alle verstan­den?« Sgt. Hudson schaut fragend die ganze Abteilung an. »Hinter diesem Zelt finden Sie Ti­sche und Bänke im Freien an denen Sie Essen können. Noch Fragen?«

Niemand wusste in diesem Moment etwas zu fragen.

»Schön, dann in einer Reihe Aufstellen und fertig machen zum Essen fassen. Mahlzeit.« Sgt. Hudson ist selbst hungrig, stellt sich aber, wie alle anderen, hinten an.

Nacheinander bringt jeder dem Automaten bei, was er bzw. sie gerne zu Abend gegessen hät­te. Das dauert ziemlich lange, da jeder erst ein­mal lesen muss, was es überhaupt gibt, bevor man sich entscheidet. Hat man seine Wahl ge­troffen, erscheint ein Tablett, mit allem darauf, sodass man sich für die Mahlzeit an den Tisch setzten kann.

Die Reihen füllen sich langsam. Auch Sgt. Hud­son, der einer der Letzten ist, nimmt Platz.

Nach einer ganzen Weile steht Sgt. Hudson noch einmal auf: »Es ist natürlich immer ratsam, essen zu gehen, wenn es am SuBaMoSy gerade leer ist, um sich die Wartezeit zu ersparen. Sie werden einen langen, aber lockeren Dienstplan haben, in dem sie sich Ihre Pausen selbst eintei­len können. Gehen Sie dann in kleinen Gruppen zu den Mahlzeiten.« Sgt. Hudson kontrolliert kurz die Gesichter, ob dazu Fragen aufkommen. Das ist nicht der Fall und er setzt sich wieder.

»Endlich ein Bier.« Barbo ist wirklich dankbar für die kühle Erfrischung.

Auch Rod lässt sich die ersten Schlucke zügig über den Knorpel spülen. »Boooaaaahhhhh…. Für alkoholfrei und künstlich gar nicht mal schlecht.« Rod gelingt es nicht ganz, einen amtlichen Rülp­ser in unhörbare Bahnen zu lenken.

Barbo und Rod sind begeistert, während Trisch und Sudi viel vornehmer mit Ihrem alko­holfreien Sektglas anstoßen und gespielt pi­kiert schauen. Mit abgespreiztem kleinen Finger neh­men die Damen den ersten Schluck mit gespitzt­en Lippen. Dann müssen sie über Ihre Albernheit­en selber lachen.

Es bleibt nicht bei dem einen Bier und auch die Damen sind noch durstig. Nachdem das Essen aufgegessen und der Tisch wieder abgeräumt ist, unterhalten sich die sechs Paare noch eine ganze Weile, bis es dunkel ist und gehen dann zu Bett. Es ist ein langer Tag und die Nacht soll früh zu Ende sein…

5.1.10 Erster Diensttag

Pamm Pamm Pamm Pamm Pamm !!! Sgt. Hud­son lässt um Punkt 6 Uhr am nächsten Morgen ein griffiges Stück Vierkantholz durch einen der Blecheimer rotieren. Der Krach hätte Tote ge­weckt.

»AUF – STEH – HEN! Zeigen Sie mir Ihre Be­geisterung für den Tag!«

Sgt. Hudson geht immer wieder Blech trom­melnd an den Zelten vorbei. Rod und Barbo schei­nen ganz gut aus dem Bett zu kommen, aber in der ersten Etage macht sich etwas Antriebs­schwäche breit.

»Würden Prinzessin Seva sich möglicherweise geneigt zeigen, diesen herrlichen Tag mit Freude mit uns zu teilen?« Rod hat so einen schwülstigen Singsang in der Stimme.

Sudis dicker Kopf pocht, unter dem Krach, der Blechtrommel. »Halt die Fresse!«, murmelt sie entnervt und schiebt sich die Bettdecke hartnä­ckig über das noch fast schlafende Gesicht.

Es stellt sich heraus, dass dieser synthetische Kram zwar nicht betrunken macht, aber durchaus fähig ist, einen gehörigen Kater zu fabrizieren.

Rod, erkennt: Notfallplan A! Handlungsbedarf. Stracks marschiert er zügig zum SuBaMoSy und repliziert einen heißen Pfefferminz-Tee und 2 Kopfschmerztabletten und kommt mit annähernd Lichtgeschwindigkeit zu Sudi zurück. Sudi schaut auf und merkt, Engel eilen herbei.

»Du bist ein Schatz«, sagt sie etwas gequält. Sudi nimmt die beiden Tabletten und spült sie mit dem frischen Pfefferminztee herunter.

»Schatz, geh mal duschen. Das hilft«, sagt Rod besorgt und Sudi setzt sich auf, bevor sie sich von der oberen Etage heruntergleiten lässt. Sie geht, wie sie ist, mit einem Handtuch zur Dusche.

»Wo wollen Sie hin?« Sgt. Hudson steht drau­ßen herum und beobachtet das Treiben.

»Ich brauche eine Dusche«, erklärt Sudi.

»Machen Sie schnell. In 10 Minuten werden wir Frühsport machen.«

»Ich beeile mich«, murmelt sie immer noch verkatert vor sich hin und verschwindet in den Duschen.

Trisch ist offenbar weniger angeschlagen und meint beim Aufstehen nur: »Ich hab noch Jet-Lag.«

»Natürlich, Schatz, ganz sicher.« Barbo bietet helfende Hände beim Aufstehen an, aber Trisch verzieht das Gesicht zu einer Mimik, die deutlich macht: Das kann sie alleine.

Einen Moment später kommt Sudi wieder rein. »Hab ich was verpasst?«

»Nein, alles bestens. Wir laufen gleich los. Du solltest Dir etwas anziehen, Schatz«, macht Rod seiner Besorgnis Luft.

Und gar nicht so wie sonst, hat Sudi ganz schnell Ihre Klamotten an.

»Ganze Abteilung antreten!«, brüllt Sgt. Hud­son draußen herum. Und alle stellen sich in einer Dreierreihe auf.

»Durchzählen!«, befielt Hudson.

Und nacheinander zählt jeder einen mehr als sein Vorgänger.

»Eins«, »Zwei«, »Drei«, »Vier«, »Äh was? Sechs!«

»Das darf ja wohl nicht wahr sein. Verdammt nochmal!«, brüllt Hudson und wieder beginnen die Zahlen mit unterschiedlichen Stimmen von Neuem zu ertönen…

……. »106«, »107«, »108«

»Ausgezeichnet! Alle da! Dann können wir ja. Rechts um, ohne Formation im Laufschritt, ohne Tritt, Marsch!!!« Sgt. Hudson gibt die Richtung vor und alle joggen hinterher.

Nach einigen Metern haben sie das Ende des Zeltlagers erreicht und sind nun in der wunder­schönen Landschaft des Dschungels. Mal sind es Wege, mal geht es »quer Feld ein«, immer wieder tauchen andere Gruppen auf, die ebenfalls am Joggen sind. Die Luft riecht etwas moderig, aber trotzdem lebendig und frisch. Nicht so stickig wie Zuhause. Wasserfälle krachen geräuschvoll in die Seen des Dschungels. Lange Lianen verzieren die Bäume, als wären sie Schmuck. Die Leute können von der schönen Natur gar nicht genug bekom­men, weil sie das ja so gar nicht kennen und Sudi muss immer wieder tief durch die Nase einatmen. Riechen, mit allen Sinnen genießen, was sich hier bietet.

Während fast alle wortlos nebeneinander her joggen, vergeht die Zeit wie im Fluge. Und schon erreichen sie wieder das Zeltlager. Auf einmal brüllt Hudson.

»Ganze Abteilung halt, ganze Abteilung links um!« Sie sind bereits 45 Minuten gelaufen und niemand hat das Gefühl, dass es anstrengend war. Es hatte eher etwas Beruhigendes.

»Sie können nun Duschen, sich umziehen und Ihre dreckige Wäsche in den Wäschebeutel pa­cken, der Ihre Ident-Nummer trägt. Bedenken Sie, dass der Beutel nur zur Hälfte gefüllt sein darf. Nehmen Sie, wenn nötig zwei. Werfen Sie den Beutel im Versorgungszelt in die Box. Nach der Wäsche werden Sie den Beutel mit sauberer Kleidung auf Ihrem Bett vorfinden. Ich wünsche Ihnen guten Appetit beim Frühstück. Lassen Sie sich Zeit. Wir treffen uns um neun Uhr wieder hier. Dann mache ich Sie mit den Tests vertraut. Wegtreten.« Sgt. Hudson geht ebenfalls zum SuBa­MoSy um zu frühstücken.

Während einige sich sofort zu den Duschen be­geben, sind andere zunächst am SuBaMoSy um sich zu stärken. Wieder andere haben erst etwas im Zelt zu richten. Auf diese Weise verkürzen sich die Warteschlangen gewaltig.

Um neun Uhr lässt Sgt. Hudson wieder antre­ten und gibt den Startschuss für die Prüfungsfra­gen am Tablet. Er empfiehlt, dass alle sich ir­gendwo auf der Insel ein schönes Plätzchen su­chen und die Fragen dort in aller Ruhe nachein­ander beantworten.

Und so stellt sich ein gewisser Tagesablauf ein. Morgens um sechs Uhr raus aus den Federn, Frühsport, Duschen, Frühstücken und dann ir­gendwo in die Gegend setzen und Fragen beant­worten. In dieser Zeit wird wenig miteinander ge­sprochen, da alle konzentriert bei den Prüfungs­fragen sind. Kurze Absprachen gibt es schon, be­züglich der Pausenplanung zum Beispiel.

Und so vergehen die Tage und manche Bezie­hungen festigen sich, während sich andere als mühsam erweisen. Nach einigen Tagen steigt die Spannung an, weil der erste Monat bald um ist. Wer wird bleiben? Wer wird gehen wollen oder müssen? Die Beziehung zu Yeho und Zibiah ist in­zwischen erheblich freundschaftlicher als am An­fang, aber was heißt das schon? Niemand weiß so recht, was der Andere wo geantwortet hat, oder wie das bewertet wird.

5.1.11 Die erste Entscheidung

Der erste Monat ist absolviert, und der Tag der ersten Entscheidung gekommen. Die Truppe geht nach dem Aufstehen ganz normal zum Joggen, wie an jedem Morgen, doch als sie wieder kom­men… Tja da…

»Ganze Abteilung halt! Links um!« Sgt. Hud­son wartet einen Augenblick, bis er sich der vol­len Aufmerksamkeit sicher ist. »Wie Sie wissen, ist heute der Tag der ersten Entscheidung, an dem uns Bürger verlassen werden. Wenn Sie gleich ins Zelt, zu Ihrem Bett gehen, werden Sie darauf möglicherweise einen roten Umschlag vor­finden. Darin enthalten ist Ihr Heimreise Ticket. Wer einen roten Umschlag erhalten hat, für den heißt es: »Abmarschbereitschaft herstellen!« Das bedeutet, dass Sie Ihre Ausrüstung und Ihr Pri­vat-Gepäck aufnehmen und sich in 30 Minuten zum Abmarsch einfinden. Alle anderen haben den Rest des Tages frei. Wegtreten!«

Sgt. Hudson erklärt das, als würde es sich um Lotterielose handeln.

Doch die allgemeine Nervosität sprengt jede Skala.

Barbo, Trisch, Rod und Sudi rennen so schnell wie möglich ins Zelt um… Ja, um… Ein leeres Bett vorzufinden. Puuhhhh…

Keinen roten Umschlag! Sudi bricht vor Freu­de in Tränen aus und Rod nimmt sie gleich in den Arm. Auch Trisch und Barbo hätten die Spannung kaum länger ausgehalten und küssen sich.

Zibiah und Yeho sind ebenfalls voller Freude darüber, keinen roten Umschlag erhalten zu ha­ben.

Aber Danica und Alexander aus Tschechien und Jalia und Jahid aus Saudi-Arabien haben nicht so viel Glück. Auch Ronan und Liadan müs­sen Ihre Sachen packen.

Die Hälfte der Zeltbewohner, die das Zelt mit Sudi und Rod und Trisch und Barbo teilten, reist ab. Und das ist vergleichsweise ein guter Schnitt. Insgesamt, also die ganze Insel betreffend, wer­den bereits jetzt schon fast 70% der Anwesenden die Insel verlassen.

Für sie endet die Unternehmung an dieser Stelle. Auch Jalia beginnt zu weinen, jedoch sind das keine Freudentränen und mit sehr langsa­men, schwerfälligen Bewegungen, packen die sechs Ihre Sachen zusammen. Lustlos, enttäuscht und ein Stück weit auch etwas wütend schmeißt jeder seine Sachen in die Tasche.

Dann verabschieden sich alle, ohne viele Wor­te. Für sie ist der Traum an dieser Stelle geplatzt. Man kannte sich erst einen Monat und wusste be­reits mehr über einander, als von Leuten mit de­nen man jahrelang zusammen gearbeitet hat.

Barbo, Trisch, Rod und Sudi freuen sich dar­über, dass Yeho und Zibiah geblieben sind. Das hat schon am besten gepasst.

Liadan und Ronan, Danica und Alexander und Jalia und Jahid nehmen Ihr Gepäck auf, drehen sich ein letztes Mal zu den drei Paaren die blei­ben, nicken einmal ohne etwas zu sagen und ver­lassen das Zelt.

Für einen Moment ist es so, als würde dort am Zelteingang plötzlich ein Stück Raumzeit fehlen. Ein Loch. Ja, sie hinterlassen trotz allem eine Lü­cke.

Zibiah und Yeho sind dann aber doch schnell dabei, Ihr Bett gegen ein freigewordenes zu tau­schen, welches dichter bei Sudi und Rod ist. Rod und Barbo geben sich ein High-Five und Barbo stellt unverblümt fest: »Wir sind die Obermacker! Wir sind die Obermacker!!«

Trisch bekommt einen spitzen Mund und nickt sehr langsam, als würde sie sagen wollen: »Na­tüüüüüüürlich.«

Zu Tränen gerührt vor Freude über den Aus­gang des ersten Monats nimmt Trisch Sudi in den Arm. Dann werden Zibiah und Yeho anvisiert und zum Knuddeln gezwungen.

Sudi stellt eine Frage in den Raum. »Wen wir jetzt wohl hier ins Zelt bekommen?«

»Das werden Leute sein, die hier ebenfalls Freunde gefunden und wieder verloren haben. Wer weiß?«, überlegt Trisch laut. Sudi nickt nachdenklich.

»Klar ist mal, die haben bereits eine Menge richtig gemacht, sonst wären sie nicht mehr hier«, stellt Barbo fest.

»Ja, das ist alles echt spannend«, sagt Trisch.

»Was machen wir heute noch?«, erkundigt sich Sudi: »Ich meine wir haben frei, kein Dienst. Wir können hier machen, was wir wollen! Wa? YEAH !!«

Alle nicken und Rod dreht sich zu Zibiah und Yeho um: »Was meint Ihr? Strand und dann Par­ty? Mal den SuBaMoSy ins Schwitzen bringen?«

»Hahahha !« Alle lachen.

»Ja, coole Idee!«, bekräftigt ihn Barbo, auch Trisch sieht sehr glücklich aus.

Sudi schlägt vor: »Komm Zibiah, wir gehen mal gucken, wo man am Stand am besten Party machen könnte.«

Zibiah nickt und beide verlassen das Zelt.

»Na, wohin denn so schnell des Weges, die Da­men?«, fragt Sgt. Hudson plötzlich mit sehr zivi­lem Unterton.

Freunde strahlend drehen sich die beiden Hudson zu. »Wir wollen am Strand eine Party fei­ern und suchen einen geeigneten Platz dafür. Sie kennen sich doch hier besser aus. Haben Sie ei­nen Tipp?«, will Sudi, vom Sergeant wissen.

»Wenn ich Ihnen einen Vorschlag machen darf, ich würde heute nicht am Strand feiern wollen, denn ich werde gleich noch eine Ansage ma­chen.«

»Ach, was denn für eine Ansage?«, fragt Zi­biah, der Ihre Neugierde zur Überraschung aller einfach so herauspurzelt.

Auch Sudi schaut interessiert: »Ja, was denn für eine Ansage?«

»Sie werden es gleich erfahren«, sagt Hudson mit einem väterlichen Lächeln. Sudi und Zibiah nicken zustimmend. »Okeeeeeyyyyyy…..«

Mit Schwung öffnet Sudi das Zelt und kommt mit Zibiah rein. Ein Windstoß begleitet sie. Die Sonnenstrahlen bringen den aufgewirbelten Staub zum Funkeln und Rod muss gleich wieder an die schlechte Luft Zuhause denken, aber das ist ja vorbei. Zumindest hofft er das.

»Gleich macht Sgt. Hudson eine Ansage. Es geht um heute Abend. Wir sollten besser keine Strandparty machen, meint er. Es würde wohl schon etwas Anderes vorbereitet.«

»Klasse, die lassen sich den Spaß was kosten. Alle Achtung«, sagt Yeho.

»Abteilung angetreten!«, brüllt Sgt. Hudson von draußen. Und in Windeseile stehen 28 Übrig­gebliebene in einer Dreierreihe, wie gewohnt da, nur sieht das jetzt etwas komisch aus, wo so viele weg sind.

»Die Firma hat entschieden, dass unsere Ab­teilung bestehen bleibt und mit Gewinnern der ersten Stufe aus anderen Abteilungen aufgefüllt wird. Wir werden also heute Abend wieder 108 Bewerber sein. Andere Abteilungen, die mehr Ab­reisende hatten, werden aufgelöst.

Weil die Einschätzung für Sie, und für die, die zu uns kommen werden, bis hier hin gut gelaufen ist, wird es heute Abend eine Party geben.

Die Firma hat sich etwas einfallen lassen. Da morgen ein Tag dienstfrei ist, können wir es heu­te mal richtig krachen lassen. Für Speis´ und Trank ist gesorgt, glauben Sie mir.

Wir haben einige Musiker unter uns, wenn Sie Interesse haben, den Abend musikalisch zu berei­chern, lassen Sie es mich wissen. Für Instrumen­te werde ich dann sorgen. Heißen Sie unseren Abteilungszuwachs willkommen. Wir sehen uns heute Abend. Wegtreten.« Sgt. Hudson zieht sich ins Versorgungszelt zurück.

»Hey, Musik, heute Abend ist ja genau mein Ding.« Barbo ist Feuer und Flamme. »Ich geh mal rum, durch die anderen Zelte, und frag mal, wer mitmachen würde. Da bauen wir schnell 'ne Band zusammen. Ich kann ja schlecht mit dem Bass al­leine auf die Bühne.« Barbo ist aufgeregt wie ein kleines Kind, dem man Schokolade in Aussicht stellt.

»Endlich wieder, die Bretter, die die Welt be­deuten«, sagt Trisch und schon ist Barbo nicht mehr zu halten.

»Ist er nicht süß?« Trisch legt den Kopf leicht zur Seite und beginnt zu träumen. »Wenn er sei­ne Musik wieder hat, ist er ganz obenauf.«

Zibiah und Yeho nehmen sich in den Arm und stupsen ihre Nasen zusammen, dann küssen sie sich. Sudi nimmt Trisch in den Arm. Die küssen sich aber nicht.

Rod kommt sich gerade vor, wie das fünfte Rad am Wagen: »Ich geh' mal frische Luft schnap­pen.«

Sudi und Trisch kichern, und Barbo?

Ja, Barbo klappert die Zelte ab, um Musiker für den heutigen Abend zu finden.

Und er findet welche.

5.2 Körper

Körper

5.2.01 Vorbereitung zur ersten Party

Zibiah wendet sich Trisch zu: »Trisch, kannst Du mir helfen?«

»Natürlich!« Trisch schaut sie mit neugierig geweiteten Augen an. »Um was geht es denn?«

»Meine Mutter hat mich gelehrt, wie man Stoffe färbt und ich dachte, für heute Abend, wir könnten ein paar medizinische Mull-Tücher neh­men und sie bunt einfärben und so unser Ausse­hen etwas fröhlicher gestalten«, sagt Zibiah.

»Das ist eine fantastische Idee.« Trisch nickt und lächelt Ihrer neuer Freundin entgegen. »Viel­leicht nehmen wir Sudi mit. Sie könnte uns hel­fen«.

»Ja, das wäre wunderbar, ich habe mich nur noch nicht getraut, sie zu fragen.« Zibiah schaut mit schrägem Kopf zu Boden und bewegt Ihre Schultern drehend hin und her.

»Sudi!«, ruft Trisch, »Kannst Du bitte kurz zu uns kommen?«

Sudi dreht sich um. »Ja, natürlich. Ich stelle nur gerade die Bänke da vorne ab, um was geht es denn?«

Trisch erklärt Sudi die Lage und die drei ver­schwinden in der Botanik.

-*-

Derweilen am Festzelt:

»Nein Barbo, wenn Du am liebsten Bass spielst, solltest Du das auch heute Abend ma­chen. Vincent am Schlagzeug und ich am Piano. Mensch es muss doch verdammt noch mal jeman­den geben, der Gitarre spielen kann. Den Gesang könnte ich unter Umständen machen, hab da ein paar ganz gute Songs drauf«, meint Steven Lyn­wood motiviert. Er ist ein sehr schmaler, aber hochgewachsener Engländer, mit sehr schlanken Fingern.

»Ich geh' noch mal los, schauen, wer noch da ist«, sagt Barbo und verschwindet erst einmal wieder. Steven nickt zustimmend und wendet sich wieder Vincent und den anderen zu.

-*-

Im Tropischen-Regenwald:

Trisch, Zibiah und Sudi sind in den Wäldern unterwegs. Üppiges Grün wächst scheinbar völlig chaotisch und doch strahlt es eine unbeschreibli­che Harmonie aus.

»Aneityum ist eine Vulkaninsel, die aus zwei Vulkanen entstanden ist«, erklärt Zibiah und Sudi und Trisch schauen sich verwundert an.

»Ah okay, und was bedeutet das?«, fragt Trisch.

»Das bedeutet, dass es hier irgendwo Einsch­lüsse im Vulkangestein geben könnte, die wir zu Farbpigmenten verarbeiten können«, erklärt Zi­biah, als ihr bewusst wird, dass Trisch und Sudi das nicht wissen. »Wir müssen nach geometri­schen Formen suchen, dann haben wir höchst­wahrscheinlich einen Basalt gefunden. Der ist hart und kann scharfkantig zu einem guten Werk­zeug geschlagen werden«, erklärt Zibiah.

Sudi und Trisch staunen nicht schlecht.

Wenig später finden die drei, was sie gesucht haben und beginnen, an den Hängen Gestein ab­zutragen, um zu sehen, was darunter ist.

Sudi kraxelt an der Felswand herum und kommt schließlich an einen winzigen Vorsprung, der sie direkt hinter einen kleinen Wasserfall führt. Sie folgt dem Vorsprung und betritt eine kleine Höhle. In dem Gewölbe gibt es eine kleine Mulde, die jemand mit Blättern und anderem Polsterungen ausgestattet hat.

»Wer es sich da wohl schon bequem gemacht hat?«, denkt Sudi und grinst über beide Backen und kann sich einiger heißer Vorstellungen nicht erwehren. »Richtig«, murmelt sie vor sich hin, »Seit fast 4.000 Jahren soll diese Insel bewohnt gewesen sein, hatte Hudson anfangs gesagt, da bin ich bestimmt nicht die Erste, die diese Höhle findet.«

Sudi schaut sich um, findet jedoch nicht, wo­nach sie sucht und verlässt die kleine Höhle wie­der. Doch weiter oben findet sie doch etwas pas­sendes Gestein.

Dann fliegt ein Flugzeug vorbei. Das ist unge­wöhnlich, denn so ein kleines Flugzeug kann nicht zur Firma gehören, jedenfalls glauben das die drei. Die Firma hat diese riesengroßen Din­ger, die mehrfach Überschall fliegen, nicht so ein kleines Sport-Flugzeug, in das vielleicht sechs Leute hineinpassen, oder so. Das Flugzeug fliegt nicht besonders hoch über der Insel hinweg und verliert offenbar etwas. Irgendwas ist da herun­tergefallen.

Na ja, aber weiter, die Mineralien suchen, die müssen doch irgendwo hier sein.

Sudi klopft etwas Stein ab und dahinter treten Einschlüsse von Farbpigmenten zutage.

»Ich hab was«, ruft Sudi nach unten.

»Kannst Du bitte etwas davon mit runterbrin­gen?«, fragt Zibiah.

»Ja klar, hier sind noch andere Farben«, ruft Sudi.

»Die auch, das können wir alles gebrauchen«, ruft Zibiah hoch.

»Okay!«, ruft Sudi wieder runter.

Nun noch schnell etwas davon in den Beutel und so finden sie Stück für Stück verschiedene Gesteinsfarben und bringen sie mit nach Hause, wenn man das Zelt nun so nennen darf.

-*-

Rod hat sich derweilen beim Aufbau der Fest­lichkeiten nützlich gemacht und trägt Tische und Stühle, während er sich auf die Feierlichkeiten freut. Überall rennen beschäftigte Leute umher und die Damen haben inzwischen damit zu tun, die Mineralien zu feinem Steinmehl zu verarbei­ten.

»Wir brauchen Mehl, das man auch zum Ba­cken nimmt«, erklärt Zibiah. »Als Bindemittel und etwas Wasser.«

Trisch erstellt am SuBaMoSy 500 Gramm Mehl, Sudi holt Wasser.

-*-

Die Band hat indes gleich zwei Gitarristen ge­funden. Marianita und Juan Esparanza aus Spani­en. Beide spielen Flamenco-Gitarre. Das ist zwar etwas völlig anderes, als das was Barbo spielt, aber alle sind sehr gespannt, was dabei heraus­kommt.

Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren und was jedem hier schon aufgefallen ist: Es gibt so gut wie keine Dämmerung. Wenn es dunkel wird, dann fällt die Nacht, als hätte der liebe Gott das Licht mit einem Schalter ausgemacht. Zack, ist es dunkel. Das muss an der Äquator-Nähe liegen.

»Sir, Sgt. Hudson, Sir?« Sudi hetzt hinter dem Sergeant her, der im Hinblick auf das hervorra­gende Voranschreiten der Vorbereitungen guter Dinge ist und sich mit väterlicher Gestik Sudi zu­wendet. »Sgt. Wir brauchen Tücher. Mull-Tü­cher aus der medizinischen Versorgung. Wir ha­ben Farben vorbereitet und würden sie gerne bunt einfärben, um den Abend etwas bunter zu gestal­ten«, sagt Sudi.

Sgt. Hudson unterstützt die Idee, nickt, und geleitet Sudi zum SuBaMoSy. »Folgen sie mir«, weist er sie an. »Wie viele brauchen sie denn?«

»Wir dachten, wenn jeder zwei hat, sollte das ausreichen.« Sudi hofft, dass 216 Tücher nicht zu viel sind.

»Ich gebe ihnen 250 Tücher, das wird hoffent­lich reichen«, sagt der Sergeant, zwinkert Ihr freundlich zu und Sudi lächelt zurück.

»Danke Sergeant.«

Am SuBaMoSy angekommen, steckt der Ser­geant seine Ident-Karte in den Automaten und macht ein paar Eingaben. Wenig später sind die 250 Tücher da.

»Wenn Sie sonst noch etwas benötigen, lassen Sie es mich wissen.« Er schaut sie fast väterlich an.

»Danke Sir«, sagt Sudi und es bereitet Ihr eini­ge Probleme, alle Tücher auf einmal zu greifen, aber dann schafft sie es doch. Anschließend fär­ben die Mädels die Tücher bunt.

Es gibt noch viel zu tun… Und die Zeit ist knapp.

5.2.02 Die Party

Es ist schon lange dunkel, alle haben sich chic gemacht und finden sich auf der Festwiese ein.

Natürlich hat jeder die Kleidung an, die er von der Firma bekommen hat, aber es sind immer die saubersten Sachen. Die Haare sind frisch gewa­schen und gekämmt, es sind die Kleinigkeiten und es sind die vielen bunten Tücher.

Manche nutzen sie als Kopftücher, andere als Armbinden, wieder andere als Halstücher, man­che sogar als Krawatte, kurz: Es wird bunt und jeder hat ein Andenken, an diesen Abend. Die Festwiese ist hergerichtet mit Tischen, Bänken und Lampions. In der Mitte, die große Tanzfläche und durch die Zugereisten, wieder vollzählige 108 Party-Hungrige, die ihr weiter kommen Fei­ern wollen.

Pung, Pung, Pung… Der Sergeant steht auf der Bühne und klopft auf das Mikrofon, schaut noch ein Mal zur Seite und holt Luft:

»Ladys und Gentlemen, im Namen der Firma möchte ich Sie in der zweiten Runde herzlich willkommen heißen. Von etwas über 100 Tausend Teilnehmen sind bereits fast 70.000 auf dem Heimweg. Sie sind nicht dabei.

Ein Grund zum Feiern, würde ich meinen. Heu­te Abend werden alle Reglements für den SuBa­MoSy außer Kraft gesetzt. Was immer Sie Essen oder Trinken wollen, wird kein Problem sein, aber, in Ihrem eigenen Interesse, übertreiben Sie es nicht.

Es wird heute Abend auch alkoholische Ge­tränke geben, die wir ja sonst nicht anbieten. Wer einen Cognac oder einen Tequila haben möchte, ist von der Firma herzlich eingeladen.

Neben Musik aus der Konserve konnte Barbo­tis Chavall eine kleine Band zusammenstellen. Ab 21:30 Uhr werden uns die Dschungel-Busters tüchtig einheizen. Und nun wünsche ich guten Appetit und viel Vergnügen. Das ist ein Befehl!« Es schwappt tüchtig drüber, als Sgt. Hudson sein Glas hebt und alles zuprostet.

Unter frenetischem Applaus verlässt der Ser­geant die Bühne und die Party kommt voll in Gang.

»Gut siehst Du aus«, sagt Sudi zu Rod und spielt mit dem Tuch herum, welches sich Rod um den Oberarm gebunden hat.

Die beiden Umarmen sich.

Sudi löst die Umarmung etwas und schaut Rod tief in die Augen. »Was ist los? Du bist so still. Stimmt etwas nicht?«

»Na, ach ... Es ist nur … «, druckst Rod her­um. »Ihr wart alle so schön mit den Vorbereitun­gen beschäftigt, so fleißig, und ich konnte gar nichts dazu beitragen. Hab hier nur Tische und Bänke geschleppt.« Rod ist etwas bedrückt.

»Ja, das ist nun wirklich ein Problem.« Sudi macht ein wirklich wichtiges Gesicht und nickt. Sie kann sich ein Lachen gerade noch verkneifen. »Und was willst Du nun tun?«

»Ich weiß nicht genau«, antwortet Rod.

»Dann werden wir die Sorgenfalten mal schnell Wegküssen. Ich liebe Dich auch als Ti­sche-Schlepper«, sagt Sudi beherzt und küsst Rod, der sich Ihres Charmes nicht entziehen kann.

»Würden es denn Frau Seva möglicherweise in Betracht ziehen, mit einem Tische-Schlepper zu tanzen?«, fragt Rod übertrieben vornehm.

»Na!! Das weiß ich noch nicht«, sagt Sudi ge­spielt schnippisch, dreht sich um, behält Rod an der Hand und schwebt mit ihm im Schlepptau zur Tanzfläche. Sudi legt Ihren Arm über seine brei­ten Schultern und presst sich eng an ihn.

»Führe mich ins Land Deiner Träume«, haucht Sudi Rod ins Ohr und schließt die Augen.

-*-

»Hi, das ist ziemlich klasse, die Idee mit den Tüchern. Einfach, aber es gibt ein Gefühl der Ver­bundenheit«, sagt Tammy lächelnd, wie sie an­fangs etwas unsicher mit den Fingern in ihren Löckchen herumspielt.»Ich bin Tammy Flannery und das ist mein Mann Vincent. Wir sind aus ei­nem aufgelösten Block zu euch gekommen. Was habt ihr schon zusammen erlebt? Dürfen wir uns setzen?«, fragt die zierliche Blonde.

»Ja, natürlich nehmt Platz«, antwortet Trisch und deutet auf den freien Platz Ihr gegenüber.

»Das ist Zibiah und ich bin Trisch.«

»Habt Ihr keine Männer?«, will Tammy wissen.

»Doch, einen«, erklärt Trisch, »die sind nur ge­rade irgendwie beschäftigt. Er wird nachher noch auf der Bühne spielen und ist dahinten, um ir­gendwas zu klären. Männerkram eben und Rod tanzt mit Sudi, die sind gar nicht mehr in dieser Welt und Yeho, Zibiahs Mann, ist dabei, sich den SuBaMoSy genauer anzusehen«, sagt Trisch grin­send mit einer einladenden Geste.

»Wir haben Barbo kennengelernt«, sagt Tam­my und fährt fort, »Meiner wird nachher mit ihm zusammen auf der Bühne stehen. Vince spielt die Drums«, sagt Tammy stolz.

»Oh, großartig….. Jetzt nehmt schon Platz Ihr zwei.« Trisch lächelt.

Yeho kommt mit einem Tablett voller Getränke zurück und meint: »Dieser SuBaMoSy ist echt `ne Wucht, kommt raus, was Du willst. Oh, wir sind mehr geworden, das wusste ich nicht.«

»Das ist Yeho, mein Mann«, sagt Zibiah.

»Ich hol schnell noch etwas, was wollt ihr trin­ken?«, will Yeho wissen.

»Bring uns zwei Bier und wir werden Freun­de«, sagt Tammy und Yeho verschwindet noch einmal…..

-*-

Zwischen zwei kleinen Berggipfeln in einer Talsenke, unsichtbar für die Partygäste, sitzen Is­htar LaVay und Ihr Mann Eldritch an einem klei­nen Lagerfeuer, wortlos, mit finsteren Minen.

»Wann willst Du es machen?«, fragt Ishtar.

»In der Pause, wenn die Band eine Pause macht. Ich denke dann werden sich alle hinset­zen, dann geht es am besten, oder?« Eldritch ist zuversichtlich, und Ishtar nickt.

Der Abend schreitet voran.

-*-

»Ach hier steckst Du, ich suche Dich überall«, sagt Zibiah zu Yeho und nimmt ihn in den Arm.

»Du weißt, mir liegt es nicht so, wenn zu viele Menschen auf einen Haufen sind. Ich ziehe mich dann lieber etwas zurück«, meint Yeho schmun­zelnd und zieht Zibiah dichter heran um sie zu küssen.

»Das weiß ich doch«, sagt Zibiah und nickt.

Die Grillen zirpen und der Mond scheint alles in ein unwirkliches Licht zu tauchen. Sie stehen an einem Vorsprung, unweit vom Camp und lau­schen der dumpfen Musik im Hintergrund. Es ist ein fantastischer Ausblick auf das schillernde Meer.

-*-

Pung, Pung, Pung, klopft Sgt. Hudson erneut auf das Mikrofon. Es bildet sich augenblicklich eine massiv jubelnde Traube dicht an der Bühne.

»Ladys and Gentlemen, wir kommen zum Hö­hepunkt des Abends. Das ist nicht selbstverständ­lich und umso mehr freue ich mich, dass es ge­klappt hat. Bitte begrüßt mit mir am Schlagzeug Vincent Flannery, Applaus!!! Und die Menge tobt. »Und an der Gitarre aus Ystad, Schweden Helge Vanja!!! HeyHey! Dann, sehr interessant, als Mi­schung ebenfalls an den Gitarren: Das spanische Flamenco - Duo Marianita und Juan Esparanza. HeyHey !!! Am Piano, aus England Steven Lyn­wood, Applaus!« Der tosende Applaus lässt nicht nach. »Am Bass, aus Deutschland, der Initiator des Band Barbotis Chavall, HeyHey !!! Und am Mikrofon die fantastische Ronda Lynwood.«

Der Applaus tut Barbos Seele gut. Das hat er lange nicht mehr gehört und wie er soeben fest­stellen muss, schmerzlich vermisst.

»Zusammen sind sie die Dschungel-Busters… HeyHey!!!!«, ruft Sgt. Hudson, der sich als Party-Ansager prächtig macht, was alle in tiefe Verwun­derung stürzt, aber auch schwer beein­druckt.

Ronda entpuppt sich als zügellose Rockröhre und beginnt den Auftritt mit einigen Klassikern. Barbo und Vincent liefern ein solides Fundament und die anderen stimmen mit ein. Dafür, dass sie noch niemals zusammen geübt haben, ist der Auf­tritt fantastisch.

Trisch steht zusammen mit Kaja, Gina und Tammy an der Backstagetür und himmeln ihre Männer an.

-*-

Sudi und Rod haben sich derweil mal abge­setzt und sind im Dschungel verschwunden.

»Ja… Nicht einfach, die Höhle wiederzufin­den. Mit Licht sah das hier alles ganz anders aus«, er­klärt Sudi.

Einiges Geäst knackt unter Ihren Stiefeln.

»Ja, ich glaube, da vorne ist sie schon.« Sudi ist kaum zu bremsen und Rod hat Mühe An­schluss zu behalten.

»Was tun wir hier?«, will Rod wissen, der in­zwischen so eine Ahnung bekommt.

»Ach es ist nur so… Als ich vorhin mit den Mä­dels los war, hatte ich eine kleine Höhle gefun­den, die will ich dir zeigen«, schwärmt Sudi.

Rods Augen weiten sich vor Vorfreude: »Oh, eine Höhle?«

Sudi: »Ja, eine Höhle!« Prustend beginnt sie zu lachen.

»Ah, eine Höhle.«

»Wir müssen da die Wand rauf«, sagt Sudi und beginnt, hinauf zu klettern. Rod hinterher. »Schau, da ist ein Vorsprung, presse Dich dicht an die Wand, wir müssen unter dem Wasserfall durch.« Sudi deutet mit Ihrem Finger nach vorne.

Rod genießt es, dass Sudi sich auskennt.

»Und das machst Du, während ich Tische schleppe?«

Sudi grinst zu Rod runter, der etwas tiefer an der Wand hängt.

»Wir sind gleich da«, sagt Sudi.

Dann betreten beide die kleine Höhle.

»Ich dachte, wir können den Abend auch noch etwas … ehm ... individueller gestalten«, sagt Sudi und Rod nimmt Sudi in den Arm, küsst sie innig und spürt, wie die Hitze der Nacht in Ihr, aber auch in ihm selbst aufsteigt und beim Aus­ziehen… Rod zieht Sudi das Shirt aus, aber über dem Gesicht macht er eine Pause.

Das halb ausgezogene T-Shirt fesselt sie für den Moment und Sudi ist bewegungsunfähig. Sudi hat die Arme fast senkrecht nach oben und ist Rod wehrlos ausgeliefert. Dann sind Ihre Küs­se erst zaghaft, fast nur ein Hauchen. Doch das Feuer der Leidenschaft und des Verlangens ist entfacht und sie brennen kurz darauf lichterloh. Beide lassen sich auf das bereits angelegte Blät­terbett gleiten.

-*-

Währenddessen auf der Festwiese:

Die Jungs hatten schon eine Stunde gespielt und Ronda braucht ein Bier.

»Wir machen mal eine kurze Pause, ich brauch was zu trinken. In etwa 15 Minuten geht es wei­ter. Bis gleich.« Tobender Applaus, als die Band für eine Pause von der Bühne geht.

Die Tanzfläche leert sich und alle nehmen an den Tischen Platz. Etwas leise Musik aus der Kon­serve läuft so lange weiter, aber es werden auch vereinzelnd andere, zumeist Trinklieder ange­stimmt. Es ist eine sehr ausgelassene Stimmung, wohin man auch schaut. Es gibt viel zu lachen und zu grölen.

Die Damen haben bereits für Getränke ge­sorgt, als sie Ihre Männer am Hintereingang der Bühne wieder an sich reißen.

-*-

Auch Rod hat bereits seit einiger Zeit einen Hintereingang gefunden und Sudi stützt sich an der schillernden Felswand ab, während sich Ihre Oberweite zum Sklaven der Rhythmik macht. Mit inzwischen kräftigen Stößen pumpen sich die Bei­den der Extase immer näher. Und beide schreien gewaltig auf, als der Moment berstender Gefühle den Körper zur Explosion bringt.

Doch genau in diesem Moment, ist von drau­ßen ebenfalls eine gewaltige Explosion zu hören. Ein tiefer, dumpfer, lauter Knall, der eindeutig nicht von einem Feuerwerkskörper stammt, auch nicht von einem Großen. Er ist dunkel und auch nicht kurz, er hallt nach. Nein, das ist mehr und die Stimmung ist augenblicklich dahin.

Sudi klingt sehr aufgeregt, nur hat das leider nichts mit dem Moment von eben zu tun. »Schei­ße, was war das denn?«

»Ich weiß es nicht, komm, zieh Dich an, wir müssen nachsehen.« Rod, behält den kühlen Kopf und nimmt die Zügel in die Hand.

Hektisch wird die Kleidung wieder angezogen und aus der Höhle geklettert. Durch den Früh­sport der letzten Wochen sind beide erstaun­lich fit und schnell wieder bei den Anderen, aber was sie da sehen. Oh Mann! So eine Scheiße.

Überall zerrissene Kadaver. Leichen und Lei­chenteile so weit das Auge reicht.

»Wo sind Trisch und Barbo?«, brüllt Sudi hek­tisch als Erstes. Ihr Blut pumpt sich pochend durch den Gehörgang. Der Atem ist kurz, der An­blick Grauen erregend. Sudi wird schlecht, aber sie reist sich zusammen.

»Wir suchen sie. Ich schau als erstes hinter der Bühne nach«, fassungslos steht Rod da und hat Mühe seine hektischen Blicke im Zaun zu hal­ten.

»Hier sind sie!«, ruft er wenig später.

Sudi kommt sofort angerannt.

»Ist Euch etwas passiert?«, fragt Rod und Sudi nimmt Trisch in den Arm.

»Nein, ich glaube nicht, es ist nur so furchtbar. Sie haben getanzt und gefeiert und waren lustig und nun schau Dir die Scheiße an, Mann. Überall Blut, überall liegen Leichenteile ´rum. Oh Mann was soll das, was soll so was. So eine Scheiße Mann. Es muss doch …«

»Schschschschschschsch«, macht Sudi, und drückt Trisch fester an sich. »Schschschschschsch«.

Zibiah und Yeho kommen vom Berg herunter.

»Was ist los? Wir haben einen… Ach Du Schei­ße… Oh, das ist … boah.« Zibiah wird schlecht, dreht sich um und muss spucken und Yeho ver­sucht beruhigend auf Zibiah zu wirken und war­tet noch kurz, was die anderen sagen.

Alle Musiker und Ihre Frauen sind offenbar un­versehrt.

»So, okay, okay, okay… Jetzt erst mal einen kla­ren Kopf kriegen. Wo ist Sgt. Hudson?«, fragt Rod, der versucht, die Lage irgendwie zu ordnen.

»Ihr solltet vielleicht erst einmal ins Zelt ge­hen, hier draußen könnt Ihr nichts mehr tun, und sich das immer wieder anzusehen, macht es nicht besser.« Yeho nickt und versucht, alle zusammen mit ins Zelt zu bekommen.

Mit einem gehörigen Zittern in der Stimme sagt er: »Kommt, wir gehen ins Zelt und warten, was passiert. Mehr können wir im Moment nicht tun, kommt.«

Yeho versucht ruhig zu wirken, um jeden Preis, obwohl er selbst unter Schock steht. »Also, wer ist bei uns?«

Barbo stellt die Anwesenheit fest.

»Die Lynwoods?«, »Anwesend.«

»Vanja?«, »Anwesend.«

„Flannery?«, »Anwesend.«

»Esparanza?«, »Anwesend«

»Ok, dann hat die Band die Bombe komplett überlebt«, sagt Barbo.

»Rod? Was meinst du? Können wir ein Doppel­bett aus einem anderen Zelt mit bei uns rein stel­len, dann kommen alle in einem Zelt unter?«, schlägt Barbo vor.

Rod stimmt zu, ist ebenfalls noch wie betäubt. »Wenn der Sergeant nichts dagegen hat, meinet­wegen gerne. Oder?« Seine verzweifelten Blicke suchen die von Barbo, der ihm zunickt.

»Ich gehe mal nicht davon aus, das mir das ir­gendwer erklären kann, oder?«, übernimmt Sgt. Hudson die Gesprächsführung.

Rod: »Ah, Sergeant, gut, dass sie da sind.«

»Da sind wir wahrscheinlich geteilter Auffas­sung. Wie ist das passiert?«

Barbo schaut der Reihe nach in die Gesichter der anderen. Sie nicken, erteilen ihm stumm die Zustimmung, zu erzählen. »Wir waren mit dem ersten Teil fertig und wollten eine Bier-Pause ma­chen. Alle Musiker verließen die Bühne und die Leute setzten sich auf die Bänke, an die Tische. Die Tanzfläche war weitestgehend leer. Auch die Bühne war leer. Es gab einige, die hinten am SuBaMoSy waren, denen ist auch nichts passiert. Aber alle, die sich am Rand hingesetzt haben, sind ... nun … Na ja ... Sie sehen es selbst … Rie­senschweinerei …« Barbo ist fassungslos und zit­tert immer noch wie Espenlaub am ganzen Kör­per.

»Okay, ich brauche ein Dutzend Männer, die mir helfen, die Leichenteile zu sortieren? Freiwil­lige vor.« Alle versuchen sich vor Ekel abzuwen­den, was sich als schwierig erweist, da überall Lei­chenteile liegen. Einige spucken einfach ihr Abendbrot wieder ins Gebüsch. Sgt. Hudson geht zum SuBaMoSy und baut ihn etwas um. Mit sei­ner Ident-Karte kann er offenbar auch die Form des SuBaMoSys ändern. Das Teil, wo sonst das Mittagessen herauskommt, steht nun völlig frei Richtung Boden gerichtet. Sgt. Hudson macht ei­nige Eingaben auf dem Paneel und plötzlich be­ginnt der SuBaMoSy Zink-Särge auf den Boden zu stellen.

»Hier, schaffen Sie das mal weg, wir brauchen hier Platz.« Sgt. Hudson scheint zwar gefasst, aber sehr gereizt. Er hat den Vorfall gemeldet und es kommen Truppen mit schwerem Gerät.

Ein Fingerwedler betritt die Szene: »Hier pas­siert erst einmal gar nichts.« Ein Mann, der einen weißen Overall trägt, beginnt Befehle zu geben.

»Alles absperren, dahinten auch! Dass mir hier nicht mal ein Kinderfurz rauskommt, ist das klar? Spurensicherung! Einsatz!«

Rasch werden Scheinwerfer aufgestellt und die ganze Szenerie ist taghell beleuchtet. Nicht, dass es nun besser aussieht, nein wirklich nicht, aber man kann besser arbeiten.

»Hudson!?! Sie ziehen Ihre Leute erst einmal zurück, bis ich das Gelände wieder freigebe«, sagt der weiße Chef-Overall.

Dem Sergeant läuft eine Träne über die Wan­ge, er hat nur ein Winken übrig, der gewohnte Kasernen-Ton bleibt aus.

Viele weiße Overalls sind gegenwärtig damit beschäftigt, Grashalm für Grashalm der Szenerie auf den Kopf zu stellen, in der Hoffnung, irgend­einen Hinweis auf die Täter, bzw. das Tat-Motiv zu erhalten.

Einige gehen mit Metall-Detektoren herum, andere pinseln irgendwelches Puder irgendwo drauf um Fingerabdrücke zu nehmen, wieder an­dere sind mit UV-Lampen unterwegs und wieder andere machen hier und da Abstriche und ferti­gen Laborproben zur späteren Analyse an. Außer­dem fliegen pausenlos solche Drohnen durch die Gegend und scannen den Bereich, nach allem Möglichen. Dann sind welche mit sehr ungewöhn­lichem Gerät unterwegs und scannen nach Mole­kül großen Zellrückständen. Kurz, es wird wirk­lich gar nichts ausgelassen, um ein möglichst lü­ckenloses Bild vom Tatort zu zeichnen.

Irgendwann, der Morgen graut bereits, ist ei­ner der weißen Overalls damit beschäftigt, das Trassenband wieder zu entfernen und der Chef-Overall wendet sich an den Sergeant. »Sie kön­nen nun die Leichenteile einsammeln und zuord­nen, wir sind hier fertig. Halten Sie Ihre Leute in den nächsten Tagen für Befragungen bereit.«

»Ja, Sir«, kommt es knapp vom Sergeant.

Die weiße Overall–Truppe ist so schnell ver­schwunden, wie sie gekommen ist und der Ser­geant muss nun dafür sorgen, dass die Leichent­eile in die Zinksärge kommen.

Er verteilt Blutmessgeräte, mit deren Hilfe man besser zuordnen kann, was zu wem gehört. Es ist eine Drecksarbeit. Einige müssen die Zink­wannen mit Schildern beschriften, denn man muss schließlich wissen, welche Teile zu wem ge­hören, was manchmal gar nicht einfach ist, da auch alle die gleiche Kleidung tragen. Man kann auch nicht davon ausgehen, dass Leichenteile, die nahe beieinander liegen, auch zusammenge­hören. Die Aufräumarbeiten dauern bis weit in den Tag hinein.

Als alle Leichenteile in beschriftete Zinksärge verfrachtet sind, und zum Abtransport bereitste­hen, steht der Sergeant da und meint: »Regen wäre nun gut, den ganzen Mist hier erst mal weg­spülen.«

Aber der Blick nach oben zeigt einen tief dun­kelblauen Himmel, ohne auch nur die kleinste Wolke.

»Ich sehe schon, wohin das führen wird. Ich werde Schläuche und eine Pumpe bestellen, wir müssen dann Süßwasser vom Wasserfall abzie­hen. Können hier ja kein Salzwasser hinschüt­ten.« Hudson dreht sich zu den Zelten um.

»Ganze Abteilung antreten!«, kommt von Sgt. Hudson der Befehl und die wenigen Überleben­den treten wie gewohnt in Dreierreihe an.

»Ich werde nun nacheinander Ihre Namen vor­lesen, die anwesend sein sollten. Ist Ihr Name da­bei, sagen sie laut und deutlich HIER. Wir müs­sen feststellen, wer noch da ist«, sagt der Ser­geant und beginnt die Namensliste von oben nach unten durchzugehen.

Von 108 Teilnehmern haben 18 überlebt. Es sind, wie schon erwartet, 90 Tote. Unglücklich ist ebenfalls, dass es eine Frau erwischt hat und Ihr Mann nun alleine da ist, und einmal kommt es umgekehrt. Für die beiden ist der Traum einer schöneren Welt nun auch zerplatzt.

»Für den Rest des Tages ist Freizeit befohlen, halten Sie sich jedoch für etwaige Befragungen des Kommissariats zur Verfügung«, sagt Sgt. Hudson »Wegtreten.«

Es kommen von der Firma auch Leute, die die Bühne wieder abbauen, Bänke und Tische, soweit sie noch zu gebrauchen sind, wieder wegräumen und sich um den Schrott kümmern. Die Pumpe wird geliefert und die ganze Fläche gereinigt. Am spä­ten Nachmittag ist wieder alles so, als wäre nichts passiert. Nicht einmal eine Party.

5.2.03 Nach der Party

Die kommenden Tage sind geprägt von schlechter Laune. Alle sind mit den Nerven zu Fuß. Auf einfache Fragen bekommt man patzige Antworten. Nicht das jemand wirklich unfreund­lich sein will; es stellt sich nur heraus, das Freundlichkeit mehr Energie benötigt, und die hat momentan niemand mehr übrig. Nacheinan­der wird jeder vom Kommissariat befragt. Irgend­wann ist auch Rod dran.

»Nehmen Sie Platz, gefällt es Ihnen hier?«, er­öffnet der Kommissar das Gespräch.

Rod verunsichert diese Art der Fragestellung zunächst. Er versteht die Frage nicht. Natürlich gefällt es ihm hier, schließlich ist er ja freiwillig hier. »Ja, es gefällt mir hier.« Der Kommissar stu­diert währenddessen, ohne aufzuschauen, einge­hend die vor ihm liegende Akte.

»Sie sind also … Herr Seva?«, fragt der Kom­missar und schaut beiläufig auf und Rod in die Augen. Rod, nickt und er blättert weiter in seinen Unterlagen. »Was haben Sie gestern Nachmittag gemacht?«, will der Kommissar wissen und schaut Rod eindringlich an.

Rod erzählt in allen Einzelheiten, dass er mit dem Herrichten des Festplatzes beschäftigt war, wie er Lampions, Bänke und Tische aufgestellt hat.

An der Stelle wird der Kommissar neugierig. »Beschreiben Sie mir den Vorgang. Wie kam es dazu, dass ein Tisch aufgestellt wurde?«, fordert der Kommissar Rod heraus.

Rod erklärt genau, wie und warum er das ge­macht hat.

»Tatsächlich haben wir viele DNA-Spuren von Ihnen an den Tischen und Bänken gefunden. Ist Ihnen sonst noch irgendetwas aufgefallen? War der Vorgang des Aufstellens bei allen Tischen und Bänken gleich, oder haben sie Abweichungen be­merkt?«

Rod erklärt, dass alles normal verlief und es keinerlei Schwierigkeiten beim Aufstellen gege­ben hat. »Was war denn mit den Tischen und Bänken nicht in Ordnung?«, erkundigt sich Rod.

Der Kommissar schüttelt nur andeutungsweise den Kopf. »Wir gehen nur jeder Spur nach. Wo waren Sie zum Zeitpunkt der Explosion?«

Rod schmunzelt verschmitzt und sein Blick fällt auf die Seite, vorbei am Kommissar: »Sehen sie ... Es ist so. Man hat hier wirklich nicht viel Privatsphäre und Sudenia, meine Frau, und ich hatten mal das Bedürfnis für uns allein zu sein, wenn sie verstehen, was ich meine«, sagt Rod in der Hoffnung, nicht weiter ins Detail gehen zu müssen. »Jedenfalls zeigte meine Frau mir eine kleine Höhle, die sie am Nachmittag fand, wo wir ungestört sein konnten. Das waren wir auch bis zur Explosion.«

»Das heißt«, setzt der Kommissar nach, »Sie haben für die Tatzeit kein Alibi. Außer Ihrer Frau hat Sie niemand zum Tatzeitpunkt gesehen. Ist das richtig?«

Rod fühlt sich in die Ecke gedrängt. Antwortet schließlich wahrheitsgemäß. »Ja, in dem Moment, in dem es geknallt hat, waren Sudi und ich in der Höhle.«

Der Kommissar nickt: »Haben Sie vielen Dank, das wäre vorläufig alles. Wenn Sie mir jetzt bitte Ihre Frau hereinschicken würden?…«

Rod steht auf, macht andeutungsweise einen Diener und verlässt den Raum wieder.

»Sudi?« Rod, nickt einmal zur Seite »Du bist dran.«

Sudi steht auf und Rod nimmt sie noch einmal kurz in den Arm, dann geht Sudi in den Verhör­raum.

»Sie sind Frau Sudenia Seva?«, will der Kom­missar wissen.

»Ja, bin ich.«

»Bitte nehmen Sie Platz. Gefällt es Ihnen hier?«, fragt der Kommissar erst mal routiniert, um Sudi aufzulockern.

Doch Sudi ist wegen der Frage ein wenig ver­unsichert. »Ja, danke. Es gefällt mir hier.« Etwas karg, aber immerhin eine ehrliche Antwort, denkt Sudi.

»Wo waren Sie zum Zeitpunkt der Detona­tion?«, fragt der Kommissar und Sudi senkt verle­gen Ihren Blick.

»Ich war …« Sudi muss schlucken. »Ich war mit Rodreon, meinem Mann, in einer Höhle.«

»Das heißt, Sie haben an dem Fest nicht teilge­nommen?«, hakt der Kommissar nach und Sudi lenkt ein.

»Doch, doch. Wir waren die meiste Zeit dort, aber als die Band mit dem Konzert dran war, dachten Rod und ich, wir könnten uns mal für eine Weile sehr – privaten Dingen zuwenden. Die Privatsphäre ist hier nämlich echt knapp. Verste­hen sie?«

»Nein, tue ich nicht. Was genau meinen Sie mit >privaten Dingen<?«

»Wir sind zu einer Höhle gegangen, um uns dort näherzukommen, als das hier normalerwei­se möglich ist.«

»Sie meinen, Sie hatten Verkehr?« Der Kom­missar fragt sehr direkt.

»So ist es.«

»Woher kannten sie die Höhle? Sie ist ja vom Boden aus gar nicht zu sehen«, konfrontiert der Kommissar sie mit den Tatsachen.

Sudi erklärt: »Wir drei Mädels, Zibiah Iachin, Trisch Chavall und ich waren auf der Suche nach Mineralien. Zibiah weiß, wie man daraus Textil­farben herstellt. Wir haben dann die bunten Tü­cher gemacht. Nun liegen die Steine mit den ge­suchten Einschlüssen nicht auf dem Boden her­um, man muss sie schon suchen. Deshalb bin ich da oben rauf geklettert, und dabei habe ich per Zufall die kleine Höhle entdeckt. Habe aber nie­mandem davon erzählt, weil ich sicher gehen wollte, abends mit Rod alleine und ungestört zu sein.«

Der Kommissar nickt. »Ich verstehe. Und sonst ist Ihnen nichts weiter aufgefallen?«

Sudi überlegt eine Weile, doch dann… »Doch, da war ein kleines Flugzeug. Das ist mir noch auf­gefallen.«

»Ein Flugzeug?«, der Kommissar schaut inter­essiert auf. »Was denn für ein Flugzeug?«

Sudi schaut nach unten und schüttelt leicht den Kopf. »Ich kenne mich mit Flugzeugen nicht aus, es war so eine kleine Maschine. Drei Räder unten dran. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich kann Ihnen aber zeigen, wo es lang geflogen ist.«

»Das würde mich interessieren«, sagt der Kommissar. »Wir gehen gleich los.«

Er steht auf und geht zur Tür. Die Hand be­reits an der Klinke dreht er sich noch einmal zu Sudi um. »Würden Sie mich begleiten, ginge es schneller.«

»Ja, natürlich.« Sudi ist etwas überrascht. Sie hat einen so plötzlichen Aufbruch nicht erwartet.

-*-

Kurze Zeit später erreichen Sudi und der Kom­missar die Stelle, an der Sudi das Flugzeug gese­hen hat.

»Ich wollte gerade diese Wand hinauf klettern, da hörte ich so ein leichtes Brummen in der Luft, schaute hoch und sah das kleine Flugzeug.«

»Bitte stellen Sie sich genau dort hin, wo Sie es zuerst gesehen haben«, bittet der Kommissar.

Sudi schaut sich noch einmal um, geht zwei Schritte zurück, überlegt einen Moment, noch zwei Schritte rückwärts. Sie nickt. Dann glaubt sie, richtig zu stehen. »Etwa hier war es«, sagt Sudi.

»Sehr gut, und nun zeigen Sie mit dem Finger in die Richtung, in der Sie das Flugzeug zuerst gesehen haben.« Der Kommissar hat auf einmal ein Gerät in der Hand. »Sehr schön, bleiben sie genau so!«, instruiert er Sudi und er macht mit dem Gerät eine Aufnahme.

Es ist kein Fotoapparat, aber etwas ähnliches. »Stellen Sie sich nun so hin, das Sie in die Rich­tung zeigen können, wo Sie es zuletzt gesehen haben.«

Sudi folgt der Anweisung und der Kommissar macht eine weitere Aufnahme. »Ich danke Ihnen. Das war möglicherweise ein sehr interessanter Hinweis«, sagt der Kommissar, als er das Aufnah­megerät wieder wegpackt.

»Ich verstehe nicht, ich habe doch nur in eine Richtung gezeigt«, sagt Sudi, die hofft ein paar Antworten zu bekommen. Aber der Kommissar hält es für verfrüht, irgendetwas preiszugeben.

»Wir müssen die Daten erst auswerten, dann kann ich mehr sagen«, sagt der Kommissar, der zu ahnen scheint, dass Sudi neugierig ist und sie nickt.

»Wenn wir hier fertig sind, gehen wir dann zum Zelt zurück?«, fragt Sudi.

»Bitte nach Ihnen.« Der Kommissar macht eine weisende Handbewegung.

Während der Kommissar seine Befragungen fortsetzt, geht Sudi ins Zelt, in dem die Anderen bereits ungeduldig warten.

»Na, wie war´s? Wo ward ihr?«, will Rod wis­sen.

»Wir waren dort, wo wir Mädels gestern an der Felswand geklettert haben. Ich hatte da ein kleines Flugzeug gesehen, fand es aber erst mal nicht so wichtig. Der Kommissar sah das ganz an­ders und machte Aufnahmen von mir.«

»So ein Ferkel«, sagt Barbo mit einem sarkas­tisch versauten Unterton, der Sudi und die ande­ren für kurze Zeit zum Schmunzeln bringt.

»Nicht solche Aufnahmen!« Sudi zieht die Stirn in Falten und boxt Barbo kurz in den Arm. »Ferkel!«

Der Kommissar befragt einen nach dem Ande­ren, lässt niemanden und gar nichts aus. Auch mit Ishtar und Eldritch geht er los, um etwas zu überprüfen. Anschließend sind Zibiah und Yeho dran, auch mit ihnen geht er an die Stelle, an der sie zum Zeitpunkt der Explosion gewesen sind.

Der Tag vergeht und es wird dunkel. Der Kom­missar verabschiedet sich für heute und dankt für die Kooperation. Am nächsten Tag kommen wie­der weiße Overalls und untersuchen genau die Orte, an denen sich Sudi und Rod, Zibiah und Yeho, Ishtar und Eldritch zum Zeitpunkt der De­tonation aufgehalten haben.

Durch die 3D-Aufnahmen von Sudi kann unge­fähr die Strecke bestimmt werden, die das Flug­zeug geflogen sein muss. Und wenn dieses Flug­zeug etwas abgeworfen hat, dann ist der Bereich, in dem man es finden sollte, eingegrenzt. Denn unklar ist vor allem, wie die Täter an den hochef­fizienten Sprengstoff gelangt sind. Und da ist das Flugzeug der beste Hinweis.

Mehrere hundert Mann durchkämmen das in­frage kommende Gelände, doch finden sie zu­nächst Nichts. Zumindest nichts Konkretes. Sie finden eine tiefe Delle im Boden. Es sieht aus wie ein Einschlag. Als wäre etwas heruntergefallen und dort aufgeschlagen. Die weißen Overalls sperren den Bereich weiträumig ab und setzen Ihre Untersuchungen mit allem Gerät, das sie ha­ben, fort.

Sie finden Fußspuren, die sie genau vermes­sen. Das Profil ist das, das alle Kampfstiefel auf­weisen und hilft nicht weiter, aber aus der Boden­konsistenz und der Tiefe der Spuren kann man auf das Gewicht des Hinterlassers schließen, ebenso ist dadurch die Schuhgröße bekannt, das kann den Kreis der Verdächtigen eingrenzen.

Auch stellt man fest, dass die Spuren von der Einschlagstelle wegführen. Nähere Untersuchun­gen zeigen, dass diese Spuren tiefer sind, als die Spuren, direkt an der Einschlagstelle. Und dass es zwei verschiedene sind, denn sie sind unter­schiedlich tief. Größe und Tiefe lassen die Vermu­tung zu, dass es sich dabei möglicherweise um Mann und Frau handelt, aber das beweist natür­lich gar nichts. Es besteht die Annahme, dass dort aus einem Flugzeug etwas abgeworfen wur­de, was von zwei Leuten gefunden und weggetra­gen wurde. Die Frage ist nun: Was? Von wem und wo­hin? Die Weißkittel folgen den Spuren.

Die Spuren führen zu einer weiteren Höhle. Ei­ner der weißen Overalls gibt zu bedenken, dass es sicherer ist, hier schon zu stoppen.

»Alles Halt! Wir brauchen ein Kampfmittel­räumkommando. Die Höhle könnte vermint sein«, sagt der kommandierende weiße Overall und schnell gibt ein anderer die Anweisung an die Zentrale weiter.

»Die Mannschaft ist unterwegs, aber bis sie hier im unwegsamen Gelände eintreffen, kann das eine halbe Stunde dauern«, sagt der Mann mit dem Funkgerät.

»Schön, dann müssen wir, solange Pause ma­chen. Genießen Sie das schöne Wetter, vielleicht das einzige, was wir auf der Welt noch haben«, sagt der Chef-Overall, »Wir warten!«, fügt er ge­nervt und breit gesprochen hinzu. Dann setzt er sich.

-*-

Im Zelt sagt Rod: »Ich muss mal an die Luft. Wenn alle im Zelt sind, wird es doch schnell sti­ckig.«

Er geht raus und atmet tief durch.

»Sir, Sergeant, Sir?« Er geht auf Sgt. Hudson zu.

Der dreht sich direkt um und fixiert Rod. »Ja?«

»Wie wird das hier nun weiter laufen, ich mei­ne, war es das jetzt oder sehen Sie einen Weg, die Prüfung fortzusetzen und zu Ende zu brin­gen?«

»Sehen Sie Seva, da haben Sie mich auf dem ganz falschen Fuß erwischt. Für gewöhnlich gebe ich den Ton an und weiß und sage, wo es lang geht. Aber im Moment bin ich meines Komman­dos vorübergehend entbunden, bis ge­klärt ist, wie die Explosion von wem verübt wur­de. Ich hänge genauso durch wie Sie«, erwidert der Ser­geant genervt.

»Verstehe. Darf ich vorschlagen, Sir, zumin­dest die täglichen Trainingseinheiten wieder auf­zunehmen. Ich bin der Meinung, das wird viel­leicht die Verbliebenen etwas entspannen und die Situation erträglicher gestalten? Sir!«, schlägt Rod vor.

»Mir gefällt Ihr Vorschlag, doch habe ich der­zeit keine Befehlsgewalt«, sagt der Sergeant.

»Sir, wenn Sie erlauben, Sir, könnte ich versu­chen, die Leute zum Antreten und Zuhören zu bringen. Dann wäre es nicht Ihr Befehl«, sagt Rod.

Der Sergeant lächelt Rod an und lässt den Zei­gefinger auf und ab wippen und sagt nickend: »Mir gefällt, wie Sie denken. Mal sehen, was sie drauf haben.«

Rod, kommt ins Zelt zurück: »Okay, Leute. Wir spielen jetzt alle mal Antreten. Offiziell ist hier derzeit gar nichts, aber wo wir schon mal hier sind, sollten wir die Zeit nutzen und uns anhören, was der Sergeant vorzuschlagen hat. Er darf uns nur nicht raus befehligen, da er vorübergehen, während die Ermittlungen laufen, von seinem Dienst suspendiert ist. Also treten wir freiwillig draußen an. Seid ihr dabei?«

Dann passiert etwas Lustiges!

Ohne das es abgesprochen ist, oder vorher ir­gendjemand diesen Gedanken geäußert hat, kommt es laut und deutlich von allen gleichzeitig.

»Sir, ja wohl, Sir.«

Rod, schaut etwas verlegen. »Kommt einfach mit raus, okay?«

Dass Rod auf einmal so eine Respektsperson ist, ist unerwartet und er spürt, wie eine leichte Scham in ihm aufkeimt.

Alle verlassen das Zelt und schauen in den an­deren Zelten nach, ob da noch jemand ist.

»Hi Ishtar, Hi Eldritch, wir wollen einmal drau­ßen freiwillig antreten, kommt Ihr mit raus?«, fragt Zibiah, die ins Zelt kommt.

Dann, mit beinahe unheimlicher Stimmlage, sagt Ishtar: »Wir schätzen unsere Privatsphäre.«

»Okay, okay«, sagt Zibiah und verschwindet wie­der. »Puuh, die sind ja drauf«, stöhnt sie im Raus­gehen vor sich hin.

Alle stehen nun zum Antreten da, als wäre al­les ganz normal und Rod tritt vor die Gruppe. Das hat er noch nie gemacht. »Sind alle anwesend?« Rods Stimme klingt zackiger als gewöhnlich und vor allen Dingen kräftiger, als er sich in diesem Moment, als Redensführer vor versammelter Mannschaft, vor seinen Freunden und Liebsten, stellt.

Zibiah sagt: »Sir, nein Sir, Ishtar und Eldritch sind noch im Zelt, Sir.«

Der Sergeant staunt nicht schlecht. Die Leute reagieren inzwischen auch ohne sein Zutun er­wartungsgemäß.

»Der Sergeant ist derzeit vom Dienst befreit und hat somit derzeit keine Befehlsgewalt. Ich möchte aber, dass diese Prüfung für uns erfolg­reich abgeschlossen wird. Darum schlage ich vor, damit wir unsere Leistungsfähigkeit nicht einbü­ßen, vielleicht sogar erweitern können, dass uns der Sergeant nach wie vor zu Trainingseinheiten anführt. Gibt es dazu Meinungen, die diesem Plan entgegenstehen?«, eröffnet Rod die Ansprache. Erst im Nachhinein bemerkt er, dass die Art, wie er sich ausgedrückt hat, keinen Widerspruch zu­lässt und dass seine Frage am Ende doch eher rhetorischer Natur war.

Die ganze Abteilung bleibt ruhig, keine Wider­worte zu hören, nicht einmal Gemurmel. Ledig­lich die sanfte Brise rauscht durch die Blätter des umliegenden Urwaldes.

»Okay, dann ist es entschieden«, sagt Rod und dreht sich zum Sergeant um. »Sergeant, die Gruppe bittet Sie, auf einer freiwilligen Basis, in den aktiven Ausbildungsdienst zurückzukehren. Nehmen Sie diese Aufforderung an, Sir?«

Es kommt kein Sir, ja wohl, Sir vom Sergeant, denn das hält er nun wirklich für zu übertrieben, aber er sagt in ruhigen Worten: »Ja, das tue ich. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen«, sagt er in sanfter Stimme, bevor sich seine Tonlage wieder dem altbekannten Befehlston widmet. »Seva! Ein­reihen.«

Rod, reiht sich ein. »Okay, dann geht es wohl wei­ter«, flüstert er Sudi zu.

»Ja, das wird auch Zeit«, entgegnet sie etwas genervt.

Sudi hat dieses ewige Befragen satt, immer wieder das Gefühl zu haben, verdächtig zu sein, sich immer wieder rechtfertigen zu müssen, sich zu überlegen, wie man seine Unschuld beweisen könnte, wenn man es müsste. Immer neue Leute, die Befehle geben und vor allem, alles, was über­haupt nichts damit zu tun hat, weshalb sie hier ist. Es geht einfach nicht weiter.

Die Tage vergehen und der Tagesablauf hat sich einigermaßen eingependelt. Man steht mor­gens auf, macht etwas Frühsport, geht Duschen, danach Frühstücken, aber dann, ja, dann ist der Tag lang und leer, denn die Tests gehen nicht weiter. Man kann sogar Mittagsschlaf machen und vor dem Abendbrot kommen noch einmal ei­nige Power-Einheiten Sport dran, damit man das Gefühl hat, sich wenigstens das Abendbrot ver­dient zu haben.

Am vierten Tag, kurz vor dem Frühstück, er­hält Sgt. Hudson eine Mitteilung über Funk. Er hält kurz inne, geht dann allerdings einem Robo­ter gleich aus dem Lager, durch die beiden Dop­pelfelsen am Eingang hindurch, dann links ins Gehölz.

»Okay, Hudson, ich will, dass das hier ganz sau­ber abläuft«, erklärt der Kommissar.

»Was ist passiert?«, will Hudson wissen.

»Wo genau befinden sich derzeit Ishtar und Eldritch LaVay?«, fragt der Kommissar.

»Die werden in Ihrem Zelt sein, haben wenig Kontakt zu anderen und kommen selten raus. Zu den Mahlzeiten manchmal«, erklärt Hudson.

»Okay, sind sie heute schon gesehen worden?«, fragt der Kommissar.

»Nein, nicht das ich wüsste«, sagt der Ser­geant.

»Sie tun nun Folgendes.« Der Kommissar flüs­tert fast. »Sie gehen ins Lager zurück und sorgen dafür, das außer Ishtar und Eldritch alle aus der Schusslinie kommen. Gehen Sie mit Ihnen nach hinten, Frühstücken Sie, erzählen Sie Witze, ma­chen Sie irgendwas, das alle von den Zelten weg­kommen, so viele sind das ja nicht mehr.« Der Kommissar schaut Hudson eindringlich an.

»Und was passiert dann, ich meine, was wird das werden?«, fragt Hudson.

Der Kommissar antwortet: »Wir nehmen die beiden fest, nur würde ich das, wenn möglich, gerne unblutig über die Bühne bekommen.«

»Ich verstehe, okay, dann geben Sie mir zehn Mi­nuten, dann sollte ich alle nach hinten ge­schafft haben«, sagt der Sergeant und kehrt ins Lager zurück.

»Seva, kommen Sie mal her«, sagt der Ser­geant und erklärt ihm leise die Situation.

»Sir, ja wohl, Sir.«, sagt Rod.

Der Sergeant macht »Pssssstttt…. Nicht so laut. Schaffen Sie alle Leute nach hinten außer Is­htar und Eldritch LaVay, die lassen Sie im Zelt, wo sie sind. Sie sind doch im Zelt, oder?«

»Ja, sind sie. Wieso, was ist los?«, will Rod wis­sen.

»Sie werden gleich festgenommen. Sie werden verdächtigt, die Anschläge während der Veran­staltung verübt zu haben.«

»Ui, das ist heftig. Und das weiß man ganz ge­nau?«, fragt Rod.

»Na ja, man weiß es so genau, dass es für eine vorläufige Festnahme reicht. So, und nun los, sie haben noch fünf Minuten.« Hudson macht Dampf.

Rod flitzt von Zelt zu Zelt um zu kontrollieren, dass auch alle nach hinten, zu den Frühstücks­plätzen, gegangen sind. Nur Zelt sieben lässt er unberührt. Als er sicher ist, alle aus der Schussli­nie gebracht zu haben, hebt er die Hand. Auch der Sergeant hebt die Hand und der Kommissar befiehlt: »Zugriff.«

Eingreiftrupp in Stellung. Waffen im Anschlag. Leise. Rasend schnell. Sekunden später. Beide in Handschellen. Liegen auf dem Boden. Gesicht nach unten.

Eldritch brüllt herum. »Sie werden Euch ent­führen, sie werden Euch ausbeuten und verskla­ven!!! Ihr werdet Eure Freiheit verlieren!«

Ishtar setzt keifend ein: »Wir haben Euch die Freiheit gebracht! Wir haben die anderen in den Himmel zu Gott geschickt!«

»Die werden Euch alle kriegen«, zetert Eldritch weiter. »Die Prüfungen Gottes sind nicht immer leicht, aber Ihr wollt vor ihnen fliehen. Das ist nicht richtig, das werden wir verhindern. Ihr sendet die falsche Botschaft. Ihr macht etwas ver­kehrt, Ihr sollt verdammt sein!«

Eldritch ist kaum zu halten, aber der Kommis­sar winkt nur: »Abführen.« Und Ishtar und Eldritch pöbeln noch eine Weile weiter, bis sie im Gefängnisbus verschwinden.

Dann erklärt der Kommissar: »Sergeant, mit sofortiger Wirkung sind Sie wieder im aktiven Dienst. Aber warten Sie mit der Fortführung der Tests bis morgen. Es werden morgen bei Tages­anbruch weitere Überleben­de zu Ihnen kommen. Ihre Gruppe wird wieder aufgestockt. Insgesamt haben die beiden 398 Menschenleben auf dem Gewissen. Ihre Gruppe hat es zwar am schlimms­ten getroffen, sie war aber nicht die einzige.«

»Verstehe Sir. Ich danke Ihnen für die zügige Aufklärung. Dann werde ich mich mal um meine Schäfchen kümmern. Viel Erfolg. Auf Wiederse­hen.« Der Sergeant schlägt die Hacken zusam­men, grüßt, dreht sich um und geht.

Einige Zeit später hetzt Rod hinter dem Ser­geant her: »Sir, Sgt. Hudson, Sir?«

»Ja, Seva, was gibt es denn?«, fragt er Rod, während er sich umdreht.

»Sir, es ist so, Sir. Die Meisten haben bis mor­gen nichts zu tun, wir dachten, wir könnten einen Tag am Strand verbringen, mal die Seele etwas baumeln lassen, nach all dem hier, Sir. Ich möch­te Sie um Erlaubnis bitten, Sir!«

»Zuerst räumen wir auf und erweisen den To­ten die letzte Ehre, dann sehen wir weiter. Die Ausrüstung muss zurückgeführt und die privaten Gegenstände der Verstorbenen müssen beschrif­tet und zur Abholung bereitgestellt werden. Bet­ten machen, einmal Durchfegen. Die, die uns morgen erreichen, wollen ganz sicher ein saube­res Bett vorfinden«, überlegt Hudson laut.

»Sir, ja wohl, ich werde mich darum kümmern, Sir!«, sagt Rod, macht auf dem Absatz kehrt und verschwindet.

Er findet die Anderen hinten bei den Tischen für die Mahlzeiten. »Okay, im Prinzip spricht wohl nichts dagegen, dass wir zum Strand gehen, aber wir müssen vorher aufräumen. Ausrüstung der Verstorbenen zur Abholung bereitlegen, die per­sönlichen Gegenstände beschriften und auch mit dazu legen, abschließend einmal gründlich sau­ber machen. Wenn die Anderen morgen kom­men, soll es hier nicht aussehen wie in einer Müllpres­se. Wir werden uns in Vierergruppen aufteilen, dann stehen wir uns nicht gegenseitig im Weg. Danach werden wir antreten und den Verstorbe­nen die letzte Ehre erweisen. Dazu Fra­gen?« Rod schaut in die Runde, doch keiner wi­derspricht. »Dann Ausführung.«

Alle gehen den Aufräumarbeiten nach. Wie gut das klappt, erstaunt Rod schon sehr und er lässt lächelnd seinen Kopf einmal zur Seite nicken.

Das Aufräumen und Saubermachen geht ver­gleichsweise schnell, da es alle hinter sich brin­gen wollen und bestrebt sind, wieder Normalität in den Alltag zu bringen. Überall sind die Zelte of­fen, und es fliegen hier und da Sachen raus und wieder rein, bis alles wieder ordentlich ist. Als al­les für den Einzug der neuen Bewerber fertig ist, geht es zum schwersten Teil dieser ganzen Mise­re.

Sergeant Hudson lässt die Verbliebenen in Dreierreihe vor den Zinksärgen, die zur Abholung bereitstehen, antreten.

»Achtung! Still gestanden!«, ruft Hudson, »Präsentiert!« Das ist ein Befehl, den er bisher nicht geben musste, aber zu diesem Anlass scheint es ihm angemessen und alle nehmen die rechte Hand an die Schläfe. Man könnte denken, der Trupp hätte zuvor geübt, dem ist aber nicht so. Sie folgen einfach.

Es liegen 90 Zinksärge in 3 Schichten in der prallen Sonne übereinander. Die Sonne schillert auf der metallischen Oberfläche.

»Haaaaaaaand ab! Bürger!«, beginnt Sgt. Hud­son seine Ansprache. »Das so etwas hätte gesche­hen können, daran hat man im Vorfeld gedacht, nur hat niemand erwartet, dass es wirklich pas­siert. Hier treten nun 90 Bürger vorzeitig ihre Heimreise an und wir wollen ihnen die letzte Ehre erweisen. Hat jemand ein paar Worte, die er über die Opfer sagen möchte?«, will Sgt. Hudson wissen.

»Sir, ich möchte ein paar Worte sagen, Sir«, meldet sich jemand von hinten, klein beinahe un­scheinbar.

Hudson sagt: »Treten Sie vor, Bürger.«

Der Schmächtige tritt vor die Gruppe.

»Die Gefühle unserer Erinnerung und unseres Herzens sind bei den Angehörigen dieser Men­schen. Aber unser Mitgefühl gilt auch jenen, die bereits einige Zeit zusammen gelebt haben, mit den Verschiedenen. Wir haben nicht nur die Last zu tragen, dass wir Menschen unseres Schlages verloren haben, sondern auch vor der quälenden Frage stehen, warum es ausgerechnet sie getrof­fen hat.

Und so wollen wir einem Wunsch aus der Bibel folgen, aus dem ersten Buch Moses, Kapitel 24, Vers 56, in dem es heißt: Haltet mich nicht auf, denn der Herr hat Gnade zu meiner Reise gege­ben.

All unsere Freunde haben sich bereits durch einzigartige Leistung verdient gemacht.

Wir kannten sie nur kurz, aber wir haben uns gegenseitig geholfen die Klippen der Prüfung zu umschiffen und uns schätzen gelernt. Wir haben uns Kraft gegeben und wir waren füreinander da. Sie hatten wie wir die zweite Stufe des Tests er­reicht und hätten diese vielleicht auch erfolgreich abschließen können, aber wie dem auch sei ...

Ich erinnere mich an Schüttersdorf. Er hatte immer einen lockeren Spruch drauf, hat viel gute Laune verbreitet. Oder Bärbel, sie dachte immer viel ans Essen. Ich weiß noch, als wir einmal zum Mittag anstanden, ich hatte fast 15 Minuten war­ten müssen, um mir dann endlich Essen replizie­ren zu können. Und was machte sie? Sie kam an, ging an der ganzen Schlange vorbei, nahm mir lä­chelnd das Tablet aus der Hand und sagte freund­lich danke. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Und alle lachten und ich stand da wie ein begossener Pudel. Jetzt bedauere ich, dass sie nicht mehr unter uns weilt.

Alle Verstorbenen haben mit Ihrem Wesen, Ihrem Herzen und Ihrem Wissen, uns alle verän­dert und bereichert. Dem wollen wir immer ge­denken.

Und obwohl wir uns nur kurz kannten, wird je­der von ihnen in unserem Herzen eine Lücke hin­terlassen, die nur die Zeit langsam schließen las­sen kann, aber vergessen werden wir sie niemals. Was bleibt, ist die Freundschaft, Erinnerung und Dankbarkeit, diese Menschen kennengelernt zu haben. Für Ihre Angehörigen, unser tief empfun­denes Mitgefühl. Sie werden niemals vergessen werden. Schließen möchte ich mit einigen Zeilen, die ich selbst zu diesem Anlass geschrieben habe.

»Eure Körper mögen endlich sein, Eurer We­sen ist es nicht.

Auf der Fahrt in unser aller Ewigkeit seid ihr das Licht.«

So schließt der Schmächtige und tritt zurück in die Reihe.

»Präsentiert!«, übernimmt Hudson wieder die Führung und wartet einen Moment. »Haaaannndddd ab! Abteilung links um, im Gleichschritt Marsch.«

Und so geht es zurück zu den Zelten.

»Abteilung halt! Links um!«, befielt Hudson. »Für den Rest des Tages ist Freizeit befohlen. Die anderen Teilnehmer werden im Laufe des Nach­mittags kommen. Ab Morgen ist wieder normaler Dienstplan angesagt. Wegtreten.«

Als alle drei Stunden später am Strand liegen bemerkt Sudi ein merkwürdig zufriedenes Lä­cheln bei Rod. »Was hast Du?«, fragt sie.

Er antwortet: »Na ja es ist nur … ääääähh … also, dass mit dem Befehle geben, und so. Mich wundert, dass die Leute es dann auch tun. Einer­seits freue ich mich natürlich drüber. Wiederum andererseits frage ich mich, was passieren wür­de, würden sie es einmal nicht tun.«

»Mache Dir deswegen keine Sorgen«, sagt Sudi, als sie sich dichter an Rod herankuschelt und ihn so beruhigen will.

»Bah!! Du pikst«, sagt Rod.

»Waaaaassss? Das ist normalerweise Dein Fachgebiet.« Sudi hat Augen und Mund weit of­fen.

»Ja, Du bist ganz sandig. Ich fürchte, wir müs­sen Dich einmal untertauchen.« Rod springt auf und versucht, Sudi ins Wasser zu bekommen. Na­türlich wehrt sie sich, aber nicht so stark, dass sie nicht doch irgendwann im Wasser landen und gemeinsam eng umschlungen tauchen und sich küssen.

»Du bist still geworden seit dem Ereignis. Lass mich der Balsam Deiner Seele sein«, haucht Bar­bo Trisch ins Ohr.

Sie wendet sich ihm zu und lächelt. »Ich habe mir nicht einmal Filme angesehen, in denen es solche Szenen hätte geben können und nun so was. Ich komm da echt nicht mit klar«, sagt Trisch, die immer noch gelegentlich ansatzweise mit dem Kopf schüttelt, während sie Figuren in den Sand zeichnet.

»Schschschschsch«, macht Barbo und nimmt sie fester in den Arm. »Aber uns ist nichts pas­siert, darüber musst Du doch glücklich sein.«

Trisch zieht den rechten Mundwinkel ganz leicht nach oben, schaut ihn an und nickt, doch antwortet sie nicht.

»Lass Dir etwas Zeit, das wird schon wieder. Muss es ja, oder willst Du den Rest Deines Le­bens Trübsal blasen?«, fragt Barbo leicht ne­ckisch, doch nur, um seine Sorge zu überspie­len, was ihm nicht besonders gut gelingt.

Trisch schaut ihn an, und obwohl sie weiß, dass er recht hat, ist sie noch nicht so weit, alles zu vergessen. Nein, die Bilder sitzen zu tief und wenn sie die Augen schließt, ist alles wieder da. Auch wenn nun alle Spuren wieder beseitigt sind, so hat die Insel nun einen blutgetränkten Boden. Nein, so bald wird Trisch die Sache nicht verges­sen können.

Zibiah sitzt schon eine ganze Weile wortlos da, und schaut gedankenverloren auf das Meer. Yeho, sitzt neben Ihr und auch er sagt nichts.

Doch plötzlich sagt Zibiah: »Ich hätte die Tü­cher nicht machen dürfen.«

»Warum das denn?«, hakt Yeho nach.

»Sie sind nun zu einem Symbol des Todes ge­worden. Es wäre besser gewesen, wenn sie nicht da gewesen wären. Die vielen Toten, die Familien Zuhause, das ist doch alles nicht richtig«, macht sich Zibiah Luft.

»Aber die Tücher können doch nichts dafür«, sagt Yeho. »Wenn die Tücher etwas dafür könn­ten, kann auch der SuBaMoSy etwas dafür, weil der war auch da. Dann könnten alle Sachen etwas dafür, die da waren. So kannst du das nicht se­hen. Außerdem war es eine fantastische Leistung, so viele Tücher in so kurzer Zeit zu färben. Das war einmalig. Du bist einmalig.« Yeho lächelt Zi­biah an.

Sie erwidert es und schaut ihm tief in die Au­gen. »Wenn du meinst.«

»Ja, meine ich.«

Langsam geht die Sonne unter.

5.2.04 Die Rückkehr

Ein neuer Tag beginnt auf der Habitat I.

»Aaaahhhh …. Am liebsten würde ich jetzt schon hierbleiben.« Katrice räkelt sich nach dem Aufstehen in der Küche. Sie ist mit nichts, als ei­nem von Jos Hemden und einem Slip bekleidet.

Jo ist schon aufgestanden und macht gerade Frühstück. »Beeile dich bitte, Schatz, wir haben viel vor heute«, schlägt Jo vor. »Wir müssen heu­te zum Camp runter auf die Erde, und den Test mitmachen.«

»Ich komme gleich«, ruft sie zurück, während sie im Bad verschwindet.

Kurze Zeit später sitzt sie am Frühstückstisch.

»Wann geht die Maschine?«, will sie wissen.

»Wenn wir am Flugdeck ankommen, aber wir sollten nicht zu spät da sein. Das macht einen schlechten Eindruck und das wollen wir doch ver­meiden«, gibt Jo lächelnd zu bedenken.

Drei-vier Bissen und zwei kräftige Schlucke Kaffee später steht Katrice auf und holt ihre klei­ne Tasche.

»Viel mitzunehmen ist ja nicht«, stellt sie fest, »Können wir los?«

Innerhalb von Minuten, in denen Jo noch nicht einmal aufgestanden ist, steht Kat in Kampfstie­feln, weißem Shirt und schwarzer Hose in der Kü­che. Jo kann sich ein Schmunzeln nicht verknei­fen, weil sie so schnell fertig ist, und zieht sich noch eben selbst die Stiefel an. Er trägt ebenfalls diese schwarz-weiße Kleidung. Kurz darauf sind sie auf dem Landedeck der Habitat I und betreten das Flugzeug.

»Willkommen an Board Madame Bordelon, Dr. Janssen. Bitte nehmen Sie Platz. Wir starten so­fort«, sagt der Pilot der Maschine und begibt sich ins Cockpit.

Katrice und Dr. Janssen nehmen Platz und schon beginnt sich dieses riesige Teil von Flug­zeug in Bewegung zu setzen.

Immer wieder faszinierend, sich vorzustellen, dass es ein Zehntel der Lichtgeschwindigkeit er­reichen kann. Unglaublich für ein Flugzeug, wel­ches eigentlich für Mach 6 innerhalb der Atmo­sphäre gebaut ist. Nun braucht es natürlich für diese Geschwindigkeit seine Zeit der Beschleuni­gung, und abgebremst soll ja schließlich auch noch wieder werden. Aber nach zwei Stunden landen Dr. Janssen und Katrice sicher auf Myste­ry Island, eilen direkt ins Zeltlager und hoffen, dass die Tarnung nicht auffliegt.

Dr. Janssen will auf keinen Fall, dass Katrice oder er selbst eine Sonderbehandlung bekommen und auch nicht, dass irgendwer herausfindet, wer die beiden tatsächlich sind. Er will die Leute ge­nauso kennenlernen, wie sie sich jedem gegen­über verhalten würden und nicht speziell ihm ge­genüber, in der Hoffnung womöglich irgendeinen Vorteil daraus ziehen zu können.

Das einzige, was seine Tarnung möglicherwei­se auffliegen lassen könnte, ist sein Alter. Auch wenn Dr. Janssen fantastisch aussieht, 45 Jahre ist schon deutlich älter als der Durchschnitt. Das lässt sich nicht so einfach unter den Teppich keh­ren. Wie ganz normale Bürger geben die beiden sich als Herr und Frau Janssen aus, damit auch niemand Verdacht schöpft.

»Sir, Katrice und Jochen Janssen melden sich zu Dienst, Sir«, sagt Dr. Janssen, der dem Ser­geant eine Mappe mit Anweisungen und Unterla­gen übergibt.

Sgt. Hudson schaut rein und nickt, kann sich ein Grinsen gerade noch verkneifen. Hudson ist eingeweiht. In der Mappe stehen Befehle, die bei­den zu behandeln, als wären sie ganz normale Be­werber.

Jo ist es wichtig, zum einen zu sehen, wie sich die Bewerber tatsächlich entwickeln. Er will nicht nur Ergebnisse sehen, Zahlen, Fakten, statisti­sche Auswertungen, er will vor allem auch die Menschen, ihr Handeln und ihre Reaktionen erle­ben. Und da irgendwann der »Schwindel« natür­lich auffliegen wird und auch soll, will er, dass je­der weiß, dass er ebenso im Dreck gelegen hat wie alle anderen auch.

»Sie können das Zelt da vorne nehmen. Sind gute Leute drin«, sagt der Sergeant und deutet mit dem Finger in Richtung des Zeltes von Sudi, Rod, Trisch und Barbo.

»Sir, ja wohl, Sir«, entgegnet Jo und geht mit Katrice ins Zelt.

Jo hält Katrice die Zelttür auf und begrüßt nach dem Betreten die Anwesenden. »Hallo, das ist meine Frau Katrice und ich bin Jo«, stellt Dr. Janssen Katrice und sich vor. Beide tragen ihre Taschen am langen Arm.

»Hi ihr beiden. Kommt rein. Die hinteren Bet­ten sind belegt, aber sonst habt ihr die freie Aus­wahl. Einige sind in ein anderes Zelt gezogen. Ur­sprünglich waren wir 14 Leute hier drin, das war zu viel, nicht wegen des Platzes, sondern auf­grund der Luft. Ich bin Barbo«, sagt er und gibt Jo die Hand. »Das ist meine Frau Trisch«, sagt Barbo und Trisch steht auf, um den beiden eben­falls die Hand zu geben.

»Freut mich sehr, hier zu sein«, sagt Kat.

»War in eurem Lager auch ein Anschlag?«, will Trisch wissen.

»Nein, wir haben davon gehört, aber selbst nichts mitbekommen, wir sind auf eigenen Wunsch hier zu euch gekommen«, sagt Kat.

»Wir haben gehört, der Sergeant sei ziemlich gut in Ausbildung und Prüfung«, wirft Jo ein.

»Ja, das stimmt. Immer fair und ab und zu auch mal ein Lächeln auf den Lippen«, sagt Bar­bo, dann bilden sich leichte Falten auf seiner Stirn, und er macht ein ernstes Gesicht, doch lä­chelt er. »Natürlich nicht offiziell!«

»Nein, natürlich nicht«, sagt Jo und alle la­chen.

Rod, öffnet von außen die Zelttür. »Kommt ihr gleich zum Früh…«, bleibt Rod das Wort im Hals stecken.

»Wer ist das denn?«, will er wissen.

»Meine Frau Katrice, und ich bin Jo. Hallo, freut mich, dich kennenzulernen«, begrüßt ihn Jo und nimmt Rod so den Wind aus den Segeln.

»Hallo, freut mich auch, ich bin Rod«, sagt er, schaut kurz etwas überrascht und gibt dann bei­den zur Begrüßung die Hand.

»Schatz, kommst du mal«, ruft Rod Sudi zu, die gerade auf das Zelt zuläuft.

»Was ist denn?« Sudi wollte eigentlich gerade zum Frühstück gehen.

»Wir haben Zuwachs bekommen«, sagt Rod und Sudi wundert sich.

»Jetzt schon? Die Schwangerschaften sind doch alle noch frisch«, meint Sudi, »Und die Bus­se mit den Neuen kommen doch erst nachher, wieso sind die schon da?«

»Kat und Jo sind auf eigenen Wunsch hin hier­her versetzt worden«, erklärt Rod.

»Ach so«, sagt Sudi inzwischen in normaler Lautstärke, weil sie das Zelt erreicht hat.

»Hallo, ich bin Sudenia Seva, aber alle nennen mich Sudi. Freut mich.« Sudi gibt zuerst Kat und dann Jo die Hand.

»Ihr seht etwas älter aus als wir, was habt ihr vorher gemacht? Ich meine beruflich.« Sudi lag Subtilität noch nie und fällt mit der Tür ins Haus.

Eine brenzliche Situation, denn die Wahrheit kann er nicht sagen und lügen will er auch nicht.

»Ich war in einer Computerfirma, und man sagte mir, man könne mich hier gebrauchen«, sagt Dr. Janssen.

Sudi nickt. »Ja, gute Leute braucht man eben. Und du?« Sudi schaut Kat an und die Blicke der Anderen folgen ihrem.

»Ich war im Sekretariat. Habe Dinge geschrie­ben, Termine gemacht, Sitzungen geplant. So was eben.«

Jo lenkt gleich ab und fragt Barbo, was er vor­her gemacht hat, und dann Trisch und so wei­ter. Die sechs unterhalten sich angeregt und draußen kommen die ersten Busse an. Das Lager füllt sich wieder.

Die Leute kommen zu Fuß von der Straße hoch, durch die Zwillingssteine, an den Särgen vorbei, die heute noch abgeholt werden und mel­den sich dann beim Sergeant. Ein Bus nach dem anderen kommt nun an und alle verteilen sich auf die freien Zelte.

»Ich werde mich in Zukunft etwas zurückhal­ten, was neue Kontakte angeht«, sagt Trisch.

»Warum?«, will Kat wissen.

»Ständig lernst du hier neue Leute kennen und wenn die nicht mehr da sind, ist kurz vorher et­was Furchtbares passiert«, sagt Trisch, die sich immer noch nicht von den Bildern losreißen kann. Eine Träne ist im Begriff, sich von ihrem Lid zu lösen, doch sie kann sie noch wegatmen. »Da vor­ne stehen 90 Särge. 90! Und in keinem davon ist eine vollständige Leiche. Alles nur Hackfleisch. Das ist eklig, richtig widerlich!«, bricht es in dem Moment, in dem die Bilder vor ihrem inneren Auge wieder auftauchen, aus Trisch heraus.

Barbo nimmt Trisch zur Seite. »Schschschsch Schatz, das vergeht wieder. Komm, wir gehen mal raus an die Luft«, flüstert er Trisch zu.

Trisch nickt und die beiden gehen nach drau­ßen.

»Trisch hat es wohl ziemlich mitgenommen, was?«, erkundigt sich Kat.

Sudi antwortet: »Trisch war Krankenschwes­ter, hat immer geholfen, wo sie nur konnte, weiß genau wie sich Leidende fühlen und fühlt sehr stark mit. Aber bei so etwas ist nicht nur sie über­fordert, das hättet ihr sehen sollen, oder besser auch nicht.«

»Hoffentlich wird es nun ruhiger«, sagt Jo mit einfühlender Stimme und Rod nickt.

5.2.05 Die Neuen

Inzwischen sind alle Neuen angekommen, ha­ben sich ein Bett geschnappt und ihr Gepäck ver­staut. Ohne Zeit, sich auszuruhen oder sich ge­genseitig kennenzulernen, lässt Sergeant Hudson Antreten.

»Ganze Abteilung stillgestanden! Ganze Abtei­lung richt- euch. Augen ge-ra-de-aus! Das ist für die Neuen von euch bestimmt. Wenn hier jemand glaubt, Mr. Höchstpersönlich zu sein, oder eine eigene Meinung zu verkünden hat, dem tret ich achtkantig in den Arsch. Der kann gleich die Hand heben und sich sein Ticket für die Heimrei­se abholen. War das verständlich?« Sergeant Hudson schlägt einen raueren Ton an, um die Neuen gleich mal in die Spur zu bringen.

»Sir, ja wohl, Sir!« In der Gruppe zeigt sich Ei­nigkeit.

»Euch wird in den folgenden Wochen auffallen, dass der Kindergarten vorbei ist. Von nun an wird hier Leistung gezeigt. Ihr werdet Blut und Wasser schwitzen und Ihr werdet Kotzen vor Anstren­gung und wenn Ihr glaubt, es geht nicht mehr weiter, dann werde ich Euch schinden bis ihr die Vögel auf den Bäumen Eure Nationalhymne pfei­fen hört. Haben das alle verstanden?«

»Sir, ja wohl, Sir!«

Einer in der ersten Reihe lacht. Hudson mar­schiert schnurstracks auf ihn zu, seine Augen zu Schlitzen verengt, die Lippen so stark aufeinan­der gepresst, dass sie sich nurmehr erahnen las­sen. »Sie finden das komisch? Sie glauben, hier in einer Comedyshow zu sein? Auf den Boden mit Ihnen! 100 Liegestütze, aber zügig, wir werden schließlich alle älter.«

Hudson beobachtet das Fortschreiten seiner Anweisung. Mit verschränkten Armen steht er über dem keuchenden Mann, der sich mit hochro­tem Kopf immer wieder hochstemmt, und ver­zieht keine Miene. Jeder Liegestütz dauert ein wenig länger, doch der Mann gibt nicht auf – das muss man ihm lassen.

»Wird es denn werden Bürger? Wir haben hier nicht ewig Zeit!«, brüllt er einschüchternd. »97, 98, 99, 100! Stehen Sie auf Mann, kommen Sie hoch«, brüllt Hudson ihn an.

»Seva? Den Mann, einmal um den See. Im Laufschritt!«

»Sir, ja wohl, Sir!« Und weg waren sie.

»Sie haben heute Nachmittag noch einmal Freizeit. Genießen Sie sie, es ist nicht sicher, ob Sie anschließend noch irgendetwas genießen kön­nen. Ich verspreche Ihnen, Ihr ganzer Körper wird um Gnade winseln. Sie werden sich nun an­sehen, was ab morgen auf Sie zukommt. Ganze Abteilung rechts um, folgen Sie mir, ohne Tritt Marsch!« Sgt. Hudson marschiert vorweg und alle anderen folgen ihm.

Nach etwas über einer halben Stunde errei­chen sie ein Tal, in dem offenbar schon massiv gebuddelt wurde. Auf der einen Seite sind inzwi­schen frei geschlagene Wände aus porösem Lava­gestein. Das Tal beherbergt viele Hindernis-Bah­nen nebeneinander, alle auf gleiche Weise aufge­baut. Ziel ist es, so viel Energie wie möglich aus dem Körper zu holen.

»In den nächsten Wochen werden Sie hier mit Ihrem Partner zusammen arbeiten«, beginnt der Sergeant zu erklären. »Im stündlichen Wechsel wird der männliche Part auf der rechten Seite des Tals Stein abtragen und zu sehr kleinen Steinen zerschlagen. Diese werden dann in den Rucksack gefüllt und über die Hindernisbahn zur Partnerin geschafft.

Dort schütten sie den Inhalt des Rucksacks auf das Lochblech und beginnen von vorne. Ihre Part­nerin wird dann versuchen, den Inhalt so weit zu zerkleinern, dass er durch das Lochsieb passt.

Bedenken Sie, dass sie zwar drei große Bro­cken mit herüberbekommen, Ihnen dann aber die Zeit fehlt, sie hier klein zu schlagen, bis die nächsten drei Brocken da sind. Auch hier gilt: Weniger ist mehr.

Da jeder unterschiedlich groß und stark ist, werden wir die transportierten Mengen mit ihren Körpermaßen verrechnen. Natürlich muss eine 1,50 Meter große Frau sich nicht mit einem mus­kulösen Kerl von zwei Metern messen, das ist klar. Außerdem gibt es einen zusätzlichen Schwangerschaftsindex, der den Frauen zuge­sprochen wird, mit Rücksichtnahme auf ihre Schwangerschaften.

Schaffen Sie die Menge, die Sie schaffen, das aber kontinuierlich. Viele Ups and Downs erge­ben unter dem Strich erfahrungsgemäß ein weni­ger gutes Ergebnis.

Sie machen das eine Stunde, und haben dann eine Stunde Pause. Nach der Pause wechseln die Partner die Aufgaben und es geht von vorne los. So können zwei Paare zeitversetzt an einer Bahn arbeiten. Gibt es dazu Fragen?« Sgt. Hudson schaut streng in die Runde.

»Das hab ich gemeint im ULF, das Tal, was uns noch viel abverlangen wird«, flüstert Jo Kat ganz leise zu.

»Sir, ich habe eine Frage, Sir«, sagt einer aus der hinteren Reihe.

»Ja, Bürger?«

»Warum müssen wir das machen? Ich meine Steine kloppen? Was soll das bringen? Ich verste­he den Sinn dieser Aufgabe nicht«, sagt der Bür­ger.

»Sie werden möglicherweise den Sinn dieser Aufgabe im Verlauf derselben selbst erkennen. Zu wünschen ist es Ihnen. Seien Sie jedoch si­cher, dass auch diese Aufgabe ihren Sinn hat«, sagt der Sergeant daraufhin. Flammen scheinen aus seinem Mund zu züngeln.

»Gibt es weitere Fragen?« Der Sergeant fragt das so, als wäre es nun besser, keine weiteren Fragen zu stellen, was seine Wirkung nicht ver­fehlt. Keiner meldet sich mehr.

»Schön«, sagt der Sergeant, »dann werden wir morgen mit dieser Prüfung anfangen. Wir gehen nun ins Camp zurück, danach ist Dienstschluss für heute. Ruhen Sie sich aus, ab morgen werden harte Tage auf Sie zukommen, ganz sicher. Rechts um, ohne Tritt Marsch.«

Und die ganze Abteilung setzt sich in Bewe­gung.

Als der Trupp im Camp ankommt, begrüßt Rod seine Mitbürger mit rudernden Armen und nervös geweiteten Augen. »Wo seid ihr gewesen?«

»Wir waren an einer Kieskuhle«, sagt Sudi und lächelt ihn beruhigend entgegen.

»Ach und ich?« Rod ist ein bisschen sauer. Ihn den Frechdachs um den See schleifen lassen und ihm dann wichtige Informationen vorenthalten. Das findet Rod nun gar nicht gut. »Sir, Sergeant, Sir?«, spricht er Hudson draußen an, als sie kurz ungestört reden können.

»Ja Seva, was ist?« Hudson dreht sich um.

»Sie haben die Einführung ohne mich ge­macht, warum?«

»Weil Sie keine Einführung brauchen. Sie kön­nen das auch so«, lobt Hudson. »Ihre Frau wird es Ihnen morgen in zwei Sätzen erklären. Es ist wirklich ganz einfach. Im Prinzip eine Art >Spiel ohne Grenzen<, wenn Sie so wollen«, erklärt der Sergeant Rod inzwischen beinahe väterlich. Ja, das Verhältnis hat sich gefestigt und ist freund­schaftlicher geworden.

»Na, wenn Sie meinen, wir werden sehen. Ha­ben Sie vielen Dank«, sagt Rod, der das Vertrau­en spürt und macht sich auf zu Sudi.

»Na Schatz…. Wie ist es?« Rod, nimmt Sudi in den Arm und drückt ihr einen sanften und den­noch verführerischen Kuss auf die Lippen.

»Ach,«, sagt Sudi, »langsam geht es wieder. Es kommt frischer Wind in die Sache, das ist gut. Neue Leute, neue Aufgaben. Ich denke, das wird doch noch etwas.« Sudi klingt ruhig und wieder richtig optimistisch.

»Und was war in der Kieskuhle?«

»Wir haben uns die Aufgabe für morgen ange­sehen. Wirklich ganz einfach. Da ist ein Stein­bruch. Dort schlagen wir Steine ab und bringen sie auf die andere Seite. Dort müssen sie so klein geschlagen werden, damit sie durch ein Sieb pas­sen. Man schafft mehr, wenn man bereits auf der Steinbruchseite, die Steine klein zerschlägt, dann geht mehr in den Rucksack.« Und Sudi erklärt haarklein alles, was der Sergeant gesagt hat.

»Okay, lass uns nach draußen gehen, ans Feu­er. Es wird bald dunkel und ich möchte noch et­was zu Abend essen«, sagt Rod und Sudi beglei­tet ihn.

Am Lagerfeuer sitzen 120 Leute. Davon ken­nen Sudi und Rod gerade mal ein Dutzend. Aber der Wunsch, neue Leute kennenzulernen, die man dann doch wieder verliert, ist angesichts der jüngsten Ereignisse im Moment eher gedrückt.

Sudi und Rod haben sich bereits Abendbrot vom SuBaMoSy geholt, sitzen am Lagerfeuer und schauen in die Flammen, die ihre Gedanken zum Tanzen bringen.

Auch Katrice und Jo machen es sich am Lager­feuer gemütlich und genießen die letzte freie Zeit.

5.2.06 Der Steinbruch

Nach dem inzwischen eingespielten Ritual, morgens aufstehen, Frühsport, Joggen, Duschen und Frühstück, sind nun alle mit ihren leeren Rucksäcken angetreten, um erneut in den Stein­bruch zu gehen.

Als sie ankommen, gibt Sergeant Hudson letz­te Anweisungen: »Herrschaften sie haben 20 Mi­nuten Zeit sich auf den Parcours vorzubereiten. Oft hilfreich ist es, die Stiefel fester zu schnüren. Es hat sich herausgestellt, dass kurze Shorts praktischer sind als lange Hosen. Für die Damen, man kommt mit einem Sport-Top besser zurecht­kommen als mit einem T-Shirt. Überprüfen Sie genau die Bahnen, um abzuschätzen, wo sie ihre Kraft investieren. Bis in 20 Minuten, wegtreten.«

Anschließend verteilen sich die Anwärter auf die verschiedenen Bahnen und stellen die Prü­fungsbereitschaft her, für den schwersten aller hier möglichen Tage, aber das wissen sie im Mo­ment noch nicht.

Trisch und Sudi haben bis auf Top und Hös­chen alles ausgezogen und auch Rod und Barbo haben sich allem entledigt, was nicht hilfreich ist, denn es ist warm und die Klamotten würden nur unnötig schwer am Körper kleben und die Bewe­gung behindern.

Arm in Arm spazieren Sudi und Rod an die Sei­te der Hindernisbahn, um sie mal in ganzer Län­ge Überblicken zu können.

»Schau mal«, sagt Rod und zeigt auf den An­fang, »Es geht zunächst eine Schräge rauf und anschließend gleich wieder runter. Die Schräge wird glatt werden, je mehr Matsch darauf kommt und man muss mit etwas Anlauf hinauf laufen und darf auf der anderen Seite, auf dem Weg nach un­ten, nicht ausrutschen.«

Sudi nickt: »Da schau, eine Leiter, sie führt senkrecht, etwa 5 Meter hoch. Oben auf der Plattform geht es, wie an einer Liane schwingend, an einem Seil weiter. Dann nach unten durch eine lange Schlamm-Box. Robben! Das wird sicher ex­trem eklig. Hoffentlich sind da keine Tiere drin, Würmer oder so ein Zeug.«

Rod ergänzt: »Schau dann eine Wand, die gut 20 Meter hoch ist. Man muss drüber hinwegklet­tern. So ist das kein Problem, aber wenn wir das ein paar Tage gemacht haben und dann mit den Steinen. Es zeichnet sich jetzt schon ab, dass wir es ruhig und gleichmäßig angehen sollten. Was meinst du?«

Sudi nickt zustimmend: »Das Feld da, ist mit Seilen überspannt. Warum beschleicht mich das Gefühl, da drunter durch Robben zu müssen? Das wird auch eine extrem schlammige Angelegen­heit. Bin ich froh, dass du zuerst dran bist.« Sudi lächelt Rod an und küsst ihn kurz.

»Da muss man über Stämme gehen, die an Sei­len schwingend aufgehängt sind, und man hat Schlamm am Stiefel, das wird auch sehr rutschig werden«, stellt Rod fest: »Dann, sich an Seilen hängend, weiter hangeln. Auf der anderen Seite wieder runter und den Berg hinauf.«

»Hudson meinte, da steht eine Pike. Mit der dann Steine aus der Wand schlagen. Die Brocken lösen sich dann. Diese müssen mit einem fünf Kilo Hammer klein geschlagen und in den Ruck­sack geschippt werden, hat er gesagt«, erinnert sich Sudi. »Hudson meinte auch, man solle den Rucksack nicht vollmachen, da er dann zu schwer wird und auf der anderen Seite die Zeit fehlt, die Steine durch das Lochblech zu kloppen. Eine we­niger große Menge, die aber kontinuierlich, wür­de bessere Ergebnisse erzielen, hat er gesagt«, fügt Sudi hinzu.

»Entzückend!« Und Rod nickt. »Und wieder geht es über die Hindernisbahn zurück, diesmal mit vollem Rucksack.«

Hudson lässt wieder antreten: »Herrschaften, jetzt wird es ernst. Ich hoffe, sie haben alle situa­tionsadäquat gefrühstückt. Es werden immer 2 Paare an einer Bahn im Wechsel arbeiten. Wäh­rend das zweite Paar mit einer Stunde Pause be­ginnt, ist das erste Paar dran. Nach einer Stunde wird gewechselt. Ist das erste Paar ein zweites Mal dran, steht der Mann am Lochblech und die Damen sind auf der Bahn. Für die jeweils zweite Gruppe der Bahn gilt anschließend das Gleiche. Gibt es dazu fragen?« Sgt. Hudson blick in die Runde.

»Dann Herrschaften begeben sie sich an die Startpositionen« Kurze Zeit später beginnt Hud­son einen Revolver für den Startschuss in die Luft zu halten.

»Achtung >> auf die Plätze >> fertig >> LOS!!!« Und mit lautem Knall löst sich ein Schuss aus der Pistole.

Rod beginnt ruhiger als von anderen erwartet, er will sich die Kraft einteilen und lieber am Schluss noch mal Gasgeben. Das wäre besser, als sich jetzt schon zu verausgaben und nach zwei Drittel zu merken, dass die Luft raus ist.

Es geht Leiter, Plattform, Seil, Schlamm-Box, 20 Meter-Wand, robben, schwingende Stämme, Seile hangeln, Hang hinauf, Steine kloppen und wieder zurück. Hang hinab, Seile hangeln, schwingende Stämme, robben, 20 Meter-Wand, Schlammbox, Seil, Plattform, Leiter. Sudi die Steine hinschütten und wieder los.

Sudi beginnt, die Brocken, die nicht durch das Lochblech passen, klein zu schlagen. Auch ihr Ge­sicht ist nach wenigen Schlägen Schweiß be­deckt, ihre Haare nass. Das Baby zehrt doch mehr an ihren Kräften, als sie gedacht hat und zugeben will. Doch sie schlägt weiter, will sich nicht unterkriegen lassen, nicht nur, weil sie dann vermutlich die Heimreise antreten müsste, sondern auch, weil sie nicht den siebten DAN, den Nanadan, gemacht hat, um hier aufzugeben. Aufgeben ist einfach keine Option.

Immer wieder Leiter, Plattform, Seil, Schlamm-Box, 20 Meter-Wand, robben, schwin­gende Stämme, Seile hangeln, Hang hinauf, Stei­ne kloppen und wieder zurück. Hang hinab, Seile hangeln, schwingende Stämme, robben, 20 Me­ter-Wand, Schlamm-Box, Seil, Plattform, Leiter. Sudi die Steine hinschütten und wieder los.

Den ganzen Tag. Ohne Unterlass. Immer und immer wieder… Dann dürfen Rod, Sudi und all die anderen in ihrer Gruppe eine Stunde Pause machen, weil die nächste Gruppe die Bahn braucht.

Anschließend ist Sudi dran.

Auch für Sudi gilt Leiter, Plattform, Seil, Schlamm-Box, 20 Meter-Wand, robben, schwin­gende Stämme, Seile hangeln, Hang hinauf, Stei­ne kloppen und wieder zurück. Hang hinab, Seile hangeln, schwingende Stämme, robben, 20 Me­ter-Wand, Schlamm-Box, Seil, Plattform, Leiter. Steine hinschütten und wieder von vorne. Leiter, Plattform, Seil.

Sudi hat das Gefühl, ihr würde das Wasser aus allen Körperöffnungen fließen und Strudel bilden. Bestimmt lockt sie bereits Schakale an. Immer wieder muss sie an den Schwangerschaftkoeffizi­enten denken und wie der wohl ermittelt wird. Kein Mensch weiß das.

Scheiß drauf, und wieder Leiter, Plattform, Seil, Schlamm-Box, 20 Meter-Wand ... und, und, und.

Das war am Vormittag ja noch ganz easy, re­den sich beide ein, aber jetzt am Nachmittag ver­liert die Sache ihren Humor. Die Riemen vom Rucksack schneiden in die Schultern. Sudi be­kommt vom Hämmern Blasen an den Händen. Rod tun allmählich die Gelenke weh. Sie sehen aus wie die Schweine. Schlamm überzieht nicht nur ihre spärliche Kleidung, auch die Gesichter sind von trocknendem Matsch, gemischt mit Schweiß bedeckt. Der Schlamm verklebt sogar Sudis Haare.

Alles ist schlammig und der Schlamm dringt überall ein. In die Hose, in die Nase, in den Hin­tern. Alles scheuert, und tut weh. Alle dachten anfangs, die Stunde Pause, nachdem einer fertig ist, sei üppig bemessen, aber nun ist es eine Wohltat wenigstens diese eine Stunde zu haben.

Es ist wohl der längste Tag, den alle dort auf der Insel erleben, jedenfalls denken das alle am Abend des ersten Tages.

Abends gibt es wie gewohnt Abendbrot, aber niemand sagt etwas. Keiner spricht auch nur ein Wort. Alle sind müde und nurmehr mit sich selbst beschäftigt. Was sie allerdings nicht einmal wa­gen, zu erahnen, ist das die weiteren Tage den ersten Abend noch als Kururlaub durchgehen las­sen werden.

Am nächsten Tag kommt der Muskelkater dazu. Viele Bewegungen sind dabei, die man sonst nicht gemacht hat. Und jede Bewegung tut weh. Und wieder geht es die Hindernisbahn rauf und runter, und wieder kommt Schlamm in jede Ritze des Körpers. Sand scheuert überall. Jeder hat inzwischen auch raus, wie viele Steine und wie viel Kies er überhaupt transportieren kann, ohne den Feierabend in totaler Bewusstlosigkeit erleben zu müssen. Der zweite Tag vergeht zur Überraschung aller ebenfalls, denn gleich ...

Ja, gleich wird die Fanfare ertönen und den Feierabend einläuten, aber noch ist es nicht so weit. Noch einmal zurück, noch einmal diesen Parcours, noch einmal über den eigenen inneren Schweinehund triumphieren. Denn nur darum geht es.

Am Ende zu sein, zu glauben, dass man es nicht schaffen kann und es dann trotzdem zu ver­suchen, trotzdem an eine Lösung zu glauben, an sich selbst glauben, glauben, dass man die Zu­kunft positiv beeinflussen kann, zu glauben die Welt verbessern zu können.

Darum geht es!

Es geht nicht darum, wie man Handeln würde, säße man kluge Reden schwingend gemütlich Zu­hause auf der Couch, sondern darum, was man tun wird, wie man sich entscheidet, wenn man wirklich am Ende ist. Wenn wirklich, der aller­letzte Funke Leben im eigenen Selbst mobilisiert ist. Was ist dann? Zu was ist man doch noch fä­hig, ohne es vorher gewusst zu haben, nur des Glaubens wegen? Der Glaube an sich selbst. Kann der Glaube wirklich Berge versetzen?

Der dritte Tag ist noch schlimmer. Der fängt schon scheiße an. Es ist nicht mehr klar, was von den Schmerzen nun Gelenk- oder Muskelschmer­zen sind. Es tut einfach alles weh. Es macht Mühe, sich anzuziehen, die Schuhe zuzubinden. Und weil alle oft die Zähne zusammenbeißen müssen, hat jeder sogar Muskelkater im Kiefer. Sogar das Essen tut weh. Ja sogar der Stuhlgang tut weh. Einfach alles tut weh.

Alle reduzieren die Mengen, die sie mit einem Mal an Steinen über die Bahn transportieren. Es geht nur noch darum, es überhaupt irgendwie zu Ende zu bringen. Inzwischen häufen sich die Stimmen derer, die ihr Heimreiseticket haben wollen und nicht mehr bereit sind, sich diesen Stress anzutun. Bereits am dritten Tag sind mehr als 26 Pärchen zur Abreise bereit. Zibiah und Yeho, Trisch und Barbo und Sudi und Rod reden kein Wort, ihnen haben die letzten Tage ebenso zugesetzt, aber nicht mit einer Silbe denken sie ans Aufgeben.

Am Mittag des vierten Tages passiert etwas völlig Unerwartetes. Trisch erzählt: »Plötzlich habe ich das Gefühl, dass sich mein Körper auf die Belastung eingestellt hat und es fällt mir alles sehr viel leichter.«, die anderen nicken zustim­mend. »Ja!«, sagt Yeho: »Die Idee hatte ich vor­hin auch ein Mal.« Er streichelt Zibiah lächelnd über die Hand und sie lächelt zurück.

»Das hab ich dir doch gestern Abend schon ge­sagt«, flüstert Sudi Rod ins Ohr. Der nickt andeu­tungsweise.

Alle versuchen ihren Schnitt noch einmal ge­waltig nach oben zu korrigieren. Dabei trennt sich abermals die Spreu vom Weizen, denn nicht alle, die das wollen, sind auch imstande dazu.

Sudi und Rod haben, vielleicht wegen der Er­fahrung mit den Kampfkünsten, inzwischen weni­ger Probleme den Anforderungen gewachsen zu sein. Auch Barbo hat eine erstaunliche Kondition, die von den Auftritten herrührt. Nur Trisch braucht manchmal hier oder da etwas Unterstüt­zung, aber Sudi und Rod helfen gerne etwas aus, das geht dann schon ganz gut.

Auch Katrice und Jo überlegen, ob der Test nicht vielleicht doch etwas hart ist, denn Jo hat auch seine Probleme, den von ihm selbst gestell­ten Anforderungen gerecht zu werden. Katrice kommt überraschenderweise recht gut durch, aber bei Jo … Na ja, wir wollen ehrlich sein. Ein Alter von 45 Jahren ist für diese Tortur kein Pa­radealter mehr. Kein Wunder, dass er bei den ex­tremen Leistungsspitzen schon mal, gegenüber einem Anfang zwanzigjährigen, etwas an Spring­freudigkeit verliert.

Nach einer Woche hat die Hälfte der Truppe, also insgesamt 60 Leute, aufgegeben und sich für die Heimreise entschieden. »Nichts sei das hier alles wert«, krakeelen manche. Aber das ist ja Sinn und Zweck dieser Unternehmung. Herauszu­finden, wer bis zum Schluss dabei bleibt.

Am Ende der zweiten Woche haben noch ein­mal fünf Paare das Gefühl, nicht die Leistung er­bracht zu haben, die im Vergleich geleistet wur­de. Von denen, die übrig bleiben, will zwar keiner mehr nach Hause, allerdings sind zum Teil die Er­gebnisse derart schlecht, dass vonseiten der Fir­ma gesagt wird, dass drei weitere Paare gehen müssen. 76 Leute haben in nur zwei Wo­chen die Heimreise angetreten. Übrig bleiben 44 Perso­nen. 22 Paare, die sich auf ein Weiterkom­men freuen.

Die kommenden zwei Wochen sind geprägt von Anforderungen, wie Zielen, Schießen, Werfen von Gegenständen wie Messer, Äxte und Speere. Hier wird auch geprüft, ob diese Fähigkeiten auch noch unter Last gegeben sind. Also mit schwerem Rucksack beim Laufen als Beispiel. Abwechselnd geht es mal vormittags und mal nachmittags wie­der an die Bildschirme. Es sind Reaktionstests vorgesehen. Auch Sehtests, der Farbe, Musterer­kennung und der Bewegung betreffend, werden durchgeführt.

Bei diesen Übungen konnte Trisch überra­schen. Sie ist ja in Gabun aufgewachsen, am Flussdelta im Dschungel von Libreville. Da lernt man so einiges. Sudi und Rod schnitten auch gut ab. Bei Barbo waren zwar die Zeiten sehr gut, was seiner enormen Kondition geschuldet ist, aber getroffen hat er weniger. Schön, kaputt ge­macht, hat er auch nichts.

Am Ende des zweiten Monats haben es nur sechs Paare geschafft, von 60. Es gibt viel Frust. Vielfach vorhanden ist der Glaube, ungerecht be­handelt worden zu sein, aber am Ende sind es im­mer dokumentierte und nachvollziehbare Prü­fungsergebnisse, die zu einer Entscheidung ge­führt haben.

Niemand wird bevorzugt. Jedem Teilnehmer werden sämtliche Prüfungsergebnisse und der allgemeine Leistungsspiegel mit nach Hause ge­geben. Jeder kann klar und transparent seine Er­gebnisse mit denen der Anderen vergleichen.

Jo ist erleichtert, diesen Part geschafft zu ha­ben. Nicht, dass sein Versagen faktisch irgendet­was geändert hätte, aber für ihn selbst ist es wichtig, es geschafft zu haben. Katrice ist eben­falls überglücklich, zu den Gewinnern zu zählen. Wegen so einer Prüfung, Jo verlassen? Käme gar nicht infrage. Vorher würde sie sich ein Bein aus­reißen, oder Schlimmeres.

Sudi und Rod freuen sich zwar sehr, es ge­schafft zu haben, sind aber von Allen am wenigs­ten überrascht. Na ja, ein bisschen schon, aber sie hätten sich gleichermaßen über sich selbst ge­ärgert, wenn sie es nicht geschafft hätten.

Zibiah überrascht mal wieder. Sonst immer schüchtern und zurückhaltend hat sie hier die Prüfung mit voller Bravour durchgezogen. Und auch bei Yeho muss man sagen: Stille Wasser sind tief.

Zwei weitere Paare haben ebenfalls diesen Test geschafft. Insgesamt eine schwierige Aufga­be, die vielen die Heimreise eingebracht hat.

Den Gewinnern dieses Tests bringt es einen Tag Urlaub ein. Faul am Strand liegen, grillen, al­koholfreies Bier trinken, das schöne Leben in vol­len Zügen genießen. Verdient haben sie es sich.

5.3 Seele

Seele

5.3.01 Die Zielgerade

Nach dem Frühstück hat Sergeant Hudson er­neut antreten lassen. Da die Gruppe auf zwölf Personen zusammengeschrumpft ist, sieht die An­zahl der Dreierreihen, na ja irgendwie sparsam aus.

»Zweier-Reihe bilden!«, befiehlt der Sergeant der Optik halber. Schnell formieren sich die letz­ten zwölf neu. »Schon besser, Herrschaften!«, sagt Hudson, bevor er mit seiner heutigen An­sprache beginnt. »Wie mir heute Morgen mitge­teilt wurde, sind von etwas über 100.000 Bewer­bern im Moment nur noch 19.800 auf der Insel. Wie Sie Wissen, braucht die Firma 10.000 Bewer­ber, das bedeutet, es werden weitere 9.800 im Laufe des nächsten Monats die Insel verlassen. Wenn Sie weiterhin am Projekt teilnehmen wol­len, schlage ich vor, Sie strengen sich an.«

Hudson räuspert sich kurz, ehe er weiter­spricht. »Bisher haben wir Ihre Fähigkeiten im theoretischen und praktischen Bereich getes­tet. Nun geht es darum, herauszufinden, wie Sie sich im Team schlagen. Mithilfe von Karte und Kom­pass werden Sie in Gruppen eingeteilt. Sie wer­den Aufgaben entlang eines Pfades absolvie­ren, den Sie nicht alleine schaffen können. Der Pfad ist so ausgelegt, dass Sie immer mindestens zu zweit sein müssen, oft auch zu mehreren. Ich schlage deshalb von, dass Sie sich entweder in drei Vierer- oder zwei Sechser-Gruppen aufteilen. Außer dem Kompass und der Karte darf jeder sein Kampfmesser mitnehmen. Es wird Ihnen möglicherweise unterwegs gute Dienste leisten. Gibt es dazu Fragen?« Hudson schaut sich die verbliebenen Kandidaten seiner Truppe genau an, doch niemand meldet sich.

»Gut! Dann Abmarschbereitschaft herstellen, in 15 Minuten geht es los. Wegtreten.«

»Hey, hey, hey, wo rennt Ihr denn alle hin?«, will Rod wissen und alle drehen sich noch einmal um.

»Was?«, fragt Barbo.

»Gehen wir nun als Vierer- oder als Sechser- Gruppe?«, fragt Rod achselzuckend und mit vor offenen Fragen geweiteten Augen.

»Ich würde 4er Gruppen vorschlagen. Wenn das zu viert machbar ist, gibt es weniger Meinun­gen und somit weniger Streit«, sagt Barbo.

»Da ist etwas Wahres dran«, pflichtet Trisch ihm bei.

»Okay, wer geht mit wem?«, fragt Sudi, weiß aber schon ganz genau, mit wem sie zusammen arbeiten will. Doch hofft sie darauf, dass es Trisch oder Barbo selbst vorschlagen.

»Ich würde gerne mit Sudi und Rod gehen«, sagt Trisch und Sudi fällt ein Stein vom Herzen.

»Spricht etwas dagegen?«, fragt Barbo.

Alle schütteln den Kopf.

»Okay, dann ist das abgemacht. Katrice und Jo gehen zusammen mit Zibiah und Yeho, und Trisch und Barbo gehen zusammen mit Rod und mir«, sagt Sudi. »Und Ihr vier dahinten geht auch zu­sammen, alles klar?«

»Alles klar«, rufen alle. Sudi muss sich die Oh­ren zuhalten und tief durchatmen bei dem Krach. Der Ruf hört sich alles andere an, als im Chor ge­sprochen an.

»Dann Kampfmesser anlegen und Antreten würde ich sagen«, befiehlt Rod, der die Rolle als Corporal in der Gruppe schon beim letzten Mal genossen hat und jetzt ebenfalls gerne der Anfüh­rer wäre.

Auch Dr. Janssen tut, was Rod befiehlt, ihm ge­fällt die Initiative des Mannes jetzt schon.

»So Herrschaften!«, holt Sgt. Hudson wieder Luft. »Hier sind Ihre Karten und Kompasse. In Ih­rer Karte ist eine Route eingezeichnet. Jede Grup­pe hat eine andere Route. Es ist jedoch möglich, dass sie sich unterwegs treffen. Sie haben für die Bewältigung des Parcours drei Tage Zeit. Das ist in jedem Fall ausreichend. So wie ich sie bisher erlebt habe, würde ich meinen, sie schaffen es in zwei Tagen. Sind aber spätestens am Vormittag des dritten Tages wieder hier. Häufig ist eine Auf­gabe nur zu zweit lösbar, dann streiten sie nicht, umso schneller sind sie fertig. Gibt es dazu Fra­gen?«

Alle schütteln Ihre Köpfe.

»Schön, Ausführung, Wegtreten«, befiehlt Hudson.

Die dritte Gruppe eilt sofort los und verschwin­det im Wald. Katrice, Jo, Zibiah und Yeho bilden einen kleinen Kreis und besprechen die Lage. Auch Trisch, Barbo, Rod und Sudi schauen sich zunächst die Karte genau an.

Wo sind die Tücken? Werden sie Flüsse über­queren müssen? Berge hinauf klettern? Welche Wegabschnitte werden Zeit brauchen und durch welchen werden sie vermutlich schneller voran­kommen? Beide Gruppen planen in Ruhe Ihr Vor­gehen.

»So, ich glaube wir haben es«, sagt Sudi nach einiger Zeit an das zweite Team gerichtet.

Sudi schaut zu Zibiah und Yeho rüber. Sie wer­den zwar jetzt nicht zusammen arbeiten, aber dennoch hat sich eine tiefe Freundschaft zu ihnen aufgebaut.

»Wir gehen jetzt los und wünschen Euch viel Erfolg. Kommt gesund zurück.« Lächelnd verab­schieden sich Sudi und der Rest Ihrer Truppe vom zweiten Team.

Yeho lächelt ebenfalls. Dankbarkeit glitzert in seinem Blick. »Danke, ich wünsche Euch auch viel Erfolg. Wir sehen uns in spätestens drei Ta­gen. Vielleicht treffen wir uns ja unterwegs. Wer weiß?«

Auch Katrice und Jo machen eine verabschie­dende Geste. Yeho schaut zweifelnd nach unten. Ihm ist irgendwie nicht so wohl bei der Sache. Aber das wird sich wohl noch geben, hofft Zibiah.

5.3.01.1.1 Erste Gruppe

Trisch, Barbo, Rod und Sudi gehen in den Wald.

Ja, es klingt fast wie ein Märchen und es ist traumhaft schön. Die vielen Pflanzen, die Vögel, die für eine gewaltige Geräuschkulisse sorgen.

Riesige Farne und andere Pflanzen sorgen für einen üppigen Bewuchs und für reichlich Feuch­tigkeit in der Luft. Es ist drückend, geradezu schwül warm. Waschküche! Die kleinste Bewe­gung lässt den Schweiß aus den Poren schießen.

Rod und Barbo haben sich etwas zurückfallen lassen, um »Männergespräche« zu führen.

Rod, schmunzelt.

»Was ist?«, fragt Barbo.

»Nee…«, sagt Rod.

»Was, wie nee?«, hakt Barbo nach.

»Na ja, es ist nur, wenn ich Sudi so von hinten sehe, mit dem Shirt an, dem Ringerrücken und ihrem Hüftschwung, na, du weißt schon«, sagt Rod und Barbo grinst: »Ja, ich weiß, sie sieht schon klasse aus.«

Barbo schaut Rod an, und meint. »Auch 'n blin­des Huhn.«

Rod, knufft Barbo sofort in die Seite.

»Was?«, fragt Barbo schnell.

»Was heißt hier blindes Huhn? Das ist mein unverwechselbarer Charme. Was denn sonst?«, entgegnet Rod mit krauser Stirn, aber mit leich­tem Lächeln, energisch.

»Oh, Mister Steron… Wie war doch gleich der Vorname, ach ja, Testo. Iss schon klar.« Barbo lacht.

»Na ja, bei Sudi ist das nicht immer leicht, die Hormone im Zaum zu halten«, sagt Rod fast kleinlaut und verfällt in romantische Gedanken. Er liebt sie bei seinem Leben und würde alles für sie tun. Alles!

»Sudi ist eine tolle Frau, auch wenn sie etwas blass ist, und etwas mager, wenn du verstehst, was ich meine.« Barbo schaut Rod an und lächelt, ebenso in romantische Gedanken versunken.

»Dann haben wir ja beide, was wir brauchen«, stellt Rod augenzwinkernd fest.

»Ja, Mann«, meint Barbo.

-*-

Die Damen spekulieren.

»Ich bin wirklich gespannt, wo es nach dem Test hingeht. Ich meine, wenn wir durchkommen. Es muss schon was sein. Die Aufnahmeprüfung ist hart und lang. Also ich möchte wirklich beein­druckt werden«, sagt Trisch mit spitzen Lippen, großen Augen und wippendem Zeigefinger. Et­was mit Badeseen und vielen Kindern. Als Kran­kenschwester möchte ich eigentlich nicht mehr arbeiten. Man hat zu viel mit Kranken zu tun. Kin­der wären toll. Aber ich würde natürlich auch Kranken helfen, wenn welche da sind«, fährt Trisch fort.

Sudi nickt mit halb ernstem, halb entspanntem Gesicht. Der Spaziergang beflügelt ihre Sinne. »Ich mag es, wie du dich um die Anderen sorgst. Das fehlt in der Welt, und da wo es so etwas noch gibt, wird es entweder schamlos ausgenutzt oder gestrichen. Hoffentlich finden wir dort, wo wir hingehen bessere Verhältnisse vor. Ich meine, hast du dich schon mal gefragt, wohin wir dann gehen? Wo ist es noch so schön wie in dem Film?« Sudis Blick schweift leer und gedanken­versunken in die Ferne.

»Das wird schon irgendwo sein«, sagt Trisch nickend. »Den Film haben sie dort gedreht, also muss es den Ort auch geben. Und wenn ich mir überlege, welchen Aufwand sie betreiben, um die richtigen zu finden. Was das alles kostet. Alleine die Kostenübernahme deines Lebens für drei Mo­nate und das für so viele Leute! Das würden die nicht machen, wenn das nur eine Filmkulisse wäre, oder?«, sagt Trisch und Sudi nickt.

»Nee, wohl nicht. Na mal sehen, was das wird«, sagt Sudi.

5.3.01.2.1 Zweite Gruppe

Anfangs spazieren Katrice und Jo Arm in Arm, aber es ist zu heiß und zu drückend. Es hat den Anschein, das Sonnenlicht würde sich in den Schweißperlen auf der Stirn glänzend brechen. Und so marschieren sie nebeneinander her.

»Jo? Du bist älter als die Anderen. Wie kommt das?«, will Yeho wissen und Katrice muss sich ein Schmunzeln verkneifen.

»Ich hatte gehört, dass es etwas geben könnte, das das Leben besser macht, und ich bewarb mich. Nach den ersten Tests meiner Physis und Psyche hatten sie mich dann genommen«, erklärt Jo, was natürlich komplett gelogen ist. Zum Glück hat er sich seine Geschichte im Voraus zurechtge­legt. So kann er vollkommen natürlich antworten. Die Wahrheit darf er ja keinem erzählen. Noch nicht! Er will in jedem Fall, dass die Leute auf ihn so reagieren, als wäre er ein ganz normaler Be­werber. Niemand soll glauben, er könnte irgend­einen Vorteil daraus ziehen, ihn zu kennen, oder was auch immer in manchen Köpfen vorgehen mag.

»Und du Katrice?«, fragt Zibiah. Schüchtern geht ihr Blick nach unten. Ihr ist die Frage echt peinlich, aber auch ebenso quälend: »Du bist um einiges jünger als Jo. Wie kommt das?«, fragt Zi­biah. Eine spontane Gesichtsröte lässt sich nicht vermeiden. Kat lächelt mitfühlend.

Kat schießt der Gedanke, ich wurde später ge­boren, durch den Kopf und nun kann sie sich das humorige Schmunzeln nicht verkneifen, doch dreht sie sich dafür zur Seite. Niemand sieht es. »Ich habe Jo bei den täglichen Arbeiten geholfen, so haben wir uns kennengelernt. Er hat ja einen Partner gebraucht, und da habe ich mich seiner erbarmt.«, sagt Katrice lachend mit einem Hauch Ironie in der Stimme. »Das Alter ist uns nicht so wichtig.« Das klingt plausibel und ist so nah an der Wahrheit, wie Katrice es sich erlauben kann »Woher kommt ihr, aus dem Irak, oder?« Kat ist ebenfalls sehr neugierig und versucht, Interesse zu zeigen.

»Wir kommen aus dem Iran, dem Nachbar­land, aus Yazd (يزد Jazedo). Einer Stadt an einer Oase mitten in der Wüste. Viele Kriege hat es dort gegeben, meistens wurde um Wasser ge­kämpft. Selbst die Mongolen sind dort eingefal­len. Aber nie wurde die Stadt ganz zerstört. Nur die Menschen dort müssen viel leiden, wegen Nahrung und Verletzungen und unter den Kriegs­folgen. Obwohl die Stadt selbst wahnsinnig schön ist, jedenfalls stellenweise«, erklärt Zibiah.

»Und was habt ihr dort gemacht? Beruflich meine ich«, fragt Katrice nach, denn Jo will sich etwas zurückhalten, nicht zu viel preisgeben. Im Moment noch.

»Es gab im Umland Schafherden und Ziegen. Ich war Schlachter«, sagt Yeho, »Und meine Frau war Näherin. Sie hat Kleidung gemacht. Stoffe gefärbt und bearbeitet«, fügt Yeho lächelnd hinzu und umarmt seine Frau. Zibiah schaut etwas ver­schämt zu Boden.

Sie glaubt, dass es kein besonders wertvoller Beruf ist. Katrice beäugt sie und ein freundliches Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. »Klei­dung und was zu Essen sind immer die wichtigs­ten Dinge im Leben«, sagt Katrice in mitfühlen­dem Tonfall, der diesem Berufsstand, alleine durch den Ton, höchsten Respekt zeigt. Zibiahs Gesicht wird von einem verlegenen Lächeln er­hellt.



5.3.01.1.2 Die Spreizung

Trisch, Sudi, Barbo und Rod kommen an einer Lichtung an und finden dort etwa zehn Zentime­ter dicke Pfähle vor, die in den Boden gerammt sind. Von oben betrachtet sind sie wie ein »V« an­geordnet. Die ersten Pfähle vorne, an der unteren Spitze des »V‘s« ragen nur wenige Zentimeter aus dem Boden. Nach hinten werden die Pfähle immer höher und der Abstand immer größer.

Etwa dort, wo die Pfähle am höchsten und am weitesten voneinander entfernt sind, ragt ein Baum zwischen den Pfählen in die Höhe, in per­fekter Geometrie. Ein kleiner Gitterkorb ist oben am Baum angebracht. Er ist nicht besonders groß, nur in etwa von der Größe eines Eierbe­chers. Unter diesem Korb ist ein dicker Schlauch, der in eine Box mündet. Vor dem »V« aus Pfählen ist ein Korb mit Tischtennisbällen.

Die Aufgabe, die sich aus der Anordnung der Aufgabenstellung ergibt, ist es, die Tischtennis­bälle aus dem einen Korb zu nehmen und sie oben in den kleinen Korb zu bringen, sodass der Tischtennisball durch den Schlauch wieder in das andere Körbchen rollen kann.

»Die Aufgabe..., so steh es hier auf dem Schild«, liest Barbo vor, »... ist es, einen oder mehrere Tischtennisbälle oben in den Gitterkorb zu bringen, sodass die Bälle durch den Schlauch unten in die Box rollen.« Barbo dreht sich zu den anderen um und bemerkt in fragende Gesichter zu schauen. »Verboten ist es ebenfalls, am Baum direkt hochzuklettern, dafür sind die Pfähle da«, bringt Barbo den Text zu Ende.

»Werfen fällt wohl auch aus« fügt Sudi hinzu. »Wenn das nicht einhundert prozentig passt, springt der Ball sofort sonst wo hin.«

Trisch schaut etwas verlegen umher, ihr kommt die ganze Aufgabe etwas suspekt vor.

»Einer muss da hoch!«, stellt Rod klar.

»Ach, ich mach das eben.« Sudi scheint sich ih­rer Sache sicher zu sein. Sie nimmt drei Tischten­nisbälle aus dem Korb und balanciert auf einer Seite an dem »V« entlang nach oben, was ihr mü­helos gelingt.

An der Spitze angekommen stellt sie fest, dass der Korb, in dem der Tischtennisball einzulegen ist, zu hoch ist. Auch Recken und Strecken hilft nicht. Sie kommt nicht dran.

»Wir müssen es zu zweit versuchen«, schlägt Rod vor. »Komm wieder runter mein Herz. Wir machen es so: Ich gehe rauf und du kletterst auf meine Schultern. So kommst du ran«, meint Rod und alle halten das spontan für eine praktikable Idee.

Mit der Grazie eines schwarzen Panthers springt Sudi mit eins, zwei Sätzen runter, und gibt Rod den Vorzug. Anschließend folgt sie ihm sofort wieder. Mit großer Vorsicht steigt sie auf seine Schultern.

Sie hält sich oben an einem Ast fest, während sie auf den Schultern von Rod steht. Doch beim Versuch, das Körbchen zu erreichen, gerät Sudi gefährlich ins Schwanken und positioniert sich wieder aufrecht auf den Schultern ihres Gatten.

»So geht es nicht, komm wieder runter, mein Herz«, sagt Rod.

»Ich hab's!«, ruft Barbo und hebt seinen Zeige­finger vielsagend in die Höhe, »Warte, ich komme auf die andere Seite. Bevor Rod und Sudi etwas entgegnen können, klettert Barbo auf der ande­ren Seite des »V«'s nach oben.

»So Sudi, jetzt wird es heikel. Halte dich ir­gendwo fest. Hast du es?«, will Barbo wissen.

»Was hast du vor?«, fragt Sudi verunsichert.

Rod nickt mit einem fetten Grinsen im Gesicht, denn jetzt geht auch ihm ein Licht auf. »Damit du weiter in die Mitte kommst, muss ich auch weiter in die Mitte. Damit ich nicht runterfalle, wird Bar­bo mich stützen. Trisch wirft dir dann die Bälle hoch und du tust sie rein.«

Sudi nickt. »Ach so!«

»Ist es das etwa?«, fragt Rod und Barbo nickt.

»OK, dann mal los«, sagt Sudi, während sie versucht, auf Rods Schultern einen festen Stand zu erhalten, klammert sie sich ebenfalls an seinen Haaren fest. Er und Barbo lassen sich aufeinan­der zufallen, um sich sofort an den Schultern ge­genseitig abzustützen.

Jetzt steht Sudi direkt in der Mitte und kann die Bälle in das Körbchen legen, ohne dass sie runterfallen. Eine Übung, mit der sie als Team die volle Punktzahl erreichen.

Sudi springt runter, rollt sich ab und auch die Herren haben schnell den Weg nach unten gefun­den.

»High Five, Alter.«

»Wir sind nicht schlecht«, stellt Rod klar.

»YEAH !!«, rufen die Anderen.



5.3.01.2.2 Seile

»…. und so bin ich an die Stelle bei Jo gekom­men. Er gab mir diesen Job und ich helfe, so gut ich kann«, sagt Katrice und lächelt dem älteren Herrn verschmitzt zu.

Jo sagt nichts und schenkt seiner Liebsten ebenfalls ein Lächeln. Es freut ihn, dass sich Kat so gut mit den anderen versteht. Und dass sie eine Geschichte findet, die so nah an der Wahr­heit ist, doch findet er, dass sie ihren Job als Chefsekretärin ganz schön herunterspielt.

»Ach, was ist das denn?« Zibiah bleibt abrupt stehen und deutet mit dem Finger nach vorne. Eine Mischung aus Angst und Unwissenheit schleichen sich in ihre Gesichtszüge.

Jo lächelt sie an, zuckt mit den Schultern und antwortet mit nüchterner Stimme: »Das ist eine Schlucht mit zwei Seilen drüber.«

»Aber ... da kommt jetzt nicht das, was ich be­fürchte, oder?«, fragt Zibiah verunsichert mit pa­nisch geweiteten Augen. Sie atmet mehrfach tief durch, um die Höhenangst, die sie sonst im­mer beherrscht, unter Kontrolle zu bekommen.

»Doch ich fürchte, dass was du befürchtest, ist zu befürchten«, sagt Katrice.

Yeho und Jo grinsen sich an. Während die Frauen noch von grausamen Bildern im Kopf do­miniert werden, von zermatschten Körpern in der Schlucht, freuen sich die Männer auf dieses Abenteuer.

»Das kann ja interessant werden«, stellt Jo fest. Er reibt sich voller Vorfreude die Handflä­chen aneinander und grinst. Die Gefahr, die lau­ert, hat er komplett ausgeblendet. Er war schon immer ein Macher, und auch jetzt würde er es bleiben.

Aus der Mitte der Schlucht hängen sehr weit oben zwei Sicherungsseile mit Gurten herunter. Auf einem Schild steht, dass die Aufgabe null Punkte bringen wird, wenn das Sicherungsseil in Anspruch genommen werden muss.

»Also wir müssen darüber und keiner von uns kann Seil tanzen, oder?«, erkundigt sich Katrice mit bröckelnder Stimme.

Verhaltenes schweigen, von allen Seiten, schlägt ihr als Antwort entgegen.

»Ja, dann müssen wir uns etwas einfallen las­sen«, stellt Katrice fest und reibt sich mit Dau­men und Zeigefinger übers Kinn.

»Wir müssen uns gegenseitig abstützen. An­ders geht es nicht«, überlegt Zibiah, spricht dabei allerdings eher zu sich selbst, als zu den anderen. »Aber dafür sind die Seile zu weit auseinander.«

Jo dreht sich um und geht ins Gebüsch. Einen Augenblick später raschelt es dort gewaltig.

»Ja? Wie sollen wir darüber kommen. Die sind viel zu weit auseinander«, bestätigt Yeho die Überlegungen Zibiahs.

In diesem Augenblick kommt Jo aus dem Ge­büsch wieder zum Vorschein. Er hält einen gro­ßen Baumstamm in den Händen – na ja, er schleift ihn hinter sich her. »Wir brauchen solche Stämme«, sagt er mit einem Augenzwinkern.

»Warum das denn?«, fragt Yeho.

»Wir stützen uns gegenseitig mithilfe dieser Stämme ab«, erklärt Jo seinen Plan.

»Ja, das könnte klappen«, stimmt ihm Katrice zu.

»Die Seile sind etwa zwei Meter auseinander, ich denke, wir brauchen Stämme, die etwa 1,70 Meter lang sind. Das wird vorne noch nicht viel nützen, aber zur Mitte hin werden die Seile durch das Gewicht auseinander gedrückt. Ich hoffe, dass dann 1,70 Meter nicht zu kurz ist. Wir müs­sen das probieren«, sagt Jo.

Ohne ein Wort verschwindet Yeho im Gebüsch, um einen weiteren Stamm zu besorgen.

»Das Körpergewicht spielt ebenfalls eine Rolle, deshalb schlage ich vor, dass ich mit Yeho gehe, und du Zibiah mit Katrice. Das ist dann ausgewo­gener, denke ich«, schlägt Jo vor und die beiden Damen schauen sich in die Augen, nicken aber, da ihnen auch keine bessere Vorgehensweise ein­fällt.

»Ich hab einen.« Yeho kommt aus dem Ge­büsch zurück. Er schleift ebenfalls einen riesigen Baumstamm hinter sich her. »Nur die Enden möchte ich noch etwas stumpf machen. Dann geht’s«, sagt er und nickt.

»Yeho, du gehst mit mir«, sagt Jo.

»Warum das denn? Ich würde gerne mit Zibiah gehen.«

Jo erklärt auch ihm die Sache mit dem Gleich­gewicht.

Yeho versteht und stimmt zu.

»Wer will zuerst?«, fragt Jo und macht eine einladende Handbewegung zu den Sicherungs­gurten.

»Je eher daran, desto eher davon«, meint Zi­biah, und Katrice beginnt, sich den Sicherungs­gurt umzuschnallen.

Die beiden nehmen den Stamm vor die Brust und besteigen jeweils links und rechts die Seile. Sie stützen sich gegenseitig ab und tasten sich langsam seitwärts über das Seil.

Das Seil wackelt.

»Immer ruhig atmen. Nicht nach unten se­hen«, sagt Katrice mit zitternder Stimme, sowohl zu sich selbst, als auch zu Zibiah, die mit geweite­ten Augen in den Abgrund starrt.

Katrice und Zibiah schauen sich nun in die Au­gen. Sie zittern. Sie wissen, dass ihr Leben in den Händen der anderen liegt, genauso wie sie die Verantwortung für das Leben der jeweils anderen tragen. Das Seil wird weicher und weicher und die Schritte immer instabiler. Zittern. Panik brei­tet sich aus und raubt ihnen jegliche Konzentrati­on, genauso wie die Luft zum Atmen.

Beide versuchen, sich zu beruhigen. Sie versu­chen gleichmäßig zu atmen, sich zu konzentrie­ren.

Während der Körper unter der Anspannung beinahe zusammenbricht, herrscht im Geiste To­tenstille.

Der Atem ist es. Sie versuchen, den Atem ru­hig zu halten. Den Pfahl mittig, starr und fest auf der Brust, lehnen sie sich aneinander. Kat fragt sich, ob es vielleicht besser gewesen wäre, hätten sie die Stiefel ausgezogen. Dann hätten ihre Füße ein besseres Gefühl gehabt. Vielleicht hätte sich das Seil aber auch tief in die Füße hineinge­schnitten? Stück für Stück hätten sie tiefe Fleischwunden hinterlassen, oder? Wer weiß?

Immer wieder muss Zibiah sich dazu zwingen nicht nach unten zu schauen. ›die Schlucht mag etwa 40 Meter tief sein‹, galoppiert ein Gedanke durch ihren Verstand. ›Und unten ist ein Fluss.‹ Zibiah hat Mühe, einen klaren Gedanken zu fas­sen. Der Fluss ist allerdings nur vielleicht 10 cm Tief. Man sieht die Steine auf dem Grund liegen. Das schnelle kalte klare Wasser schießt darüber hinweg. Man würde sich im Falle eines Absturzes alle Knochen brechen. Die Blicke von Zibiah und Katrice sind wie einbetoniert. Beiden starren sich tief in die Augen.

Hypnotisierend wirken die tief dunkelbraunen Augen von Zibiah auf Katrice. Zibiah hat wunder­schöne Augen. Während sie Schritt für Schritt im­mer weiter gehen und schon die Mitte überschrit­ten haben, stellt sich Katrice vor, wie diese wun­derschönen Augen über einen Schleier hinweg schauen.

Dieser geheimnisvolle Blick fesselt Katrice und in ihr verschwindet jede Angst. Plötzlich ist sie ruhig und fühlt sich absolut sicher. Zibiah weiß nicht warum, aber sie spürt die Ruhe und wird ebenfalls ausgeglichen und besonnen. Schritt für Schritt erreichen die beiden die andere Seite der Schlucht.

Als sie drüben ankommen, wieder sicheren Bo­den unter den Füßen haben, sagen sie nichts. Sie sehen sich weiter tief in die Augen und nehmen sich dann in den Arm.

Katrice deutet ein Nicken an und sagt mit lie­bevoller Stimme: »Danke.«

Zibiah, die gar nicht weiß, wofür sich Katrice bedankt, nickt ebenfalls.

Als sie sich aus dem emotionalen Moment be­freien, stellen sie sich Arm in Arm an den Ab­grund der Schlucht und winken den Männern la­chend zu. »Wenn die Herren denn auch soweit wären?«

Dann greifen die Damen die Sicherungsseile ihrer Gatten, in der Hoffnung sie ebenfalls nicht zu brauchen.

»Hier, stelle dich gegen den Vorsprung hier, das ist sicherer. Sollten sie fallen, wird es einen ziemlichen Ruck geben«, sagt Katrice, um einen unnötigen Unfall zu vermeiden, denn Zibiah will sie nie wieder verlieren.

»Ja, schon klar, ich wickle mir das Seil um die Hüfte. Das hab ich zu Hause mal so gesehen. Es sah aus, als würde man dann mehr Gewicht hal­ten können«, fügt Zibiah hinzu.

»Ah, danke, das mach ich auch«, sagt Katrice.

Kat und Zibiah, die beruflich etwas völlig ande­res gemacht haben, stehen da und hoffen, dass sie ihre Männer auch halten können, würde es er­forderlich werden.

Yeho und Jo machen sich auf den Weg. Sie hal­ten ebenfalls den Stamm vor sich und balancieren Schritt für Schritt seitlich über das Seil. Jeder auf seiner Seite. Schritt für Schritt. Jo merkt, wie Yeho nervös wird. »Augenkontakt«, weist Jo ihn an.

Aber Yeho hat ein Problem damit. Wie ein Zwang. Er schaut runter. Er wird mit seinen Bli­cken förmlich in die Tiefe gezogen. Schweiß läuft sein Gesicht herunter, wie Feuer brennt er ihm in den Augen.

»Yeho!! Sieh mir in die Augen!«, brüllt Jo ihn an, nicht panisch, wie man vielleicht meinen könnte. Nein, Jo wird niemals panisch. Sein Ge­brüll strotzt vor Energie. »Yeho! Augenkontakt. Sieh mich an, sieh die Lösung, nicht das Problem. Du schaust mich an, und wir werden ganz in Ruhe rübergehen.« Jo ist nicht der reichste Mann der Welt geworden, weil er schnell Angst be­kommt. Wichtig ist nur, das Ziel nicht aus den Au­gen zu verlieren, egal, ob es um ein Geschäft geht oder um einen möglichen 40 Meter-Absturz.

»Yeho, du kannst nicht runterfallen, weil ich da bin«, sagt Jo im Versuch, ihn zu beruhigen. Stimmt zwar nicht, kann man aber erst mal sa­gen.

Und es hilft. Yeho wird ruhiger. Die Atmung stabilisiert sich, die Bewegungen werden harmo­nischer.

»So, Yeho, schau mir in die Augen und dann ganz langsam und gleichmäßig Schritt für Schritt, okay?«, fragt Jo.

Ein stummes Nicken als Antwort.

»Und ganz ruhig und gleichmäßig Atmen. Ach­te auf deinen Atem«, fügt Jo hinzu. Und von da an funktioniert es.

Mit einem Mal ist Yeho entspannt und konzen­triert. Es dauert eine Weile, aber sie kommen ge­meinsam auf der anderen Seite der Schlucht an.

Als sie den Boden unter ihren Füßen spüren, nehmen sie sich in die Arme.

»Ein Kinderspiel, was?«, meint Jo und nimmt anschließend Katrice für einen langen, intensiven Kuss in den Arm.

Yeho schaut etwas ungläubig. Er hat es wirk­lich geschafft. In dem Moment, als ihm das be­wusst wird, breitet sich ein fettes Grinsen auf sei­nem Gesicht aus.

»Aber wir müssen jetzt nicht zurück, oder?«, vergewissert sich Yeho.

»Nein, ganz sicher nicht«, sagt Jo und schaut in die Karte, um zu prüfen, was als Nächstes kommt.

Zibiah nimmt ihren Gatten in den Arm und küsst ihn ebenso leidenschaftlich, wie zuvor Jo Katrice geküsst hat.

»Es war leichter als ich dachte«, sagt sie.

»Was meinst du?« Yeho fühlt sich überrumpelt, nickt dann aber doch. »Ja, es war aufregend. Aber ich bin auch froh, dass wir nicht auf demsel­ben Weg zurückmüssen.«

5.3.02 Am Abend

Nach einigen weiteren Prüfungen senkt sich der Tag und es ist an der Zeit, einen Lagerplatz zu suchen. Yeho marschiert ein paar Schritte vor­aus und erklimmt einen kleinen Hügel, in der Hoffnung von dort aus besser sehen zu können. Hier unten im dichten Grün, sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Katrice schaut immer wieder zu Zibiah rüber. Ihre braunen Augen haben es ihr angetan. Sie sagt aber nichts. Sie findet nur dem Blick hypo­thetisch und bildhübsch.

»Yeho? Kannst du etwas sehen?«, ruft Jo den Hügel hinauf.

»Dahinten«, ruft Yeho zurück und zeigt etwas voraus, »ist eine kleine Lichtung, glaube ich. Das sollten wir uns mal ansehen.«

Yeho kommt den Hügel wieder herunter und übernimmt die Führung.

Zibiah ist etwas überrascht, dass Yeho so ent­schlossen die Führung übernimmt. So kennt sie Yeho gar nicht. Sie schlägt die Augenbrauen hoch, schmollt kurz die Lippen vor, lässt den Kopf einmal zur Seite nicken und folgt ihm.

Jo lächelt Katrice an. Er ist mit dem Einsatz von Yeho irrsinnig zufrieden. Die beiden folgen ihm ebenfalls.

»Wird nicht einfach sein, hier ein Feuer zu ma­chen«, stellt Jo fest. »Alles feucht hier.«

»Wir werden es mal probieren.« Zibiah lächelt aufmunternd und versucht dabei, beruhigend zu wirken.

Katrice ist in solchen Dingen, also dem Leben in der Wildnis, sagen wir…. Eher nicht so bewan­dert und schaut etwas hilflos in der Gegend her­um.

Jeder hat mal irgendwas gesehen. Man muss was reiben oder etwas drehen, aber, so sehr sie sich anstrengen, es will nicht funktionieren. Ob Pusten oder Windschutz, nichts hilft. In dem Kampfmesser, das jeder dabei hat, ist ein kleiner Feuerstein. Yeho schlägt und schlägt und schlägt. Funken sprühen gewaltig. Aber das Holz fängt kein Feuer, denn es ist zu feucht. Dann probiert Jo es und macht Funken und immer wieder Fun­ken, aber es hilft alles nichts. Das Holz ist durch­nässt. Da brennt gar nichts.

Mit langen Gesichtern geben sie auf.

»Aus dem Lagerfeuer wird wohl nichts«, stellt Jo enttäuscht fest und setzt sich im Schneidersitz auf den Boden.

»Wir kuscheln uns etwas zusammen, das wird schon gehen. Die Nächte sind hier nicht kalt«, sagt Katrice Achsel zuckend, während sie Jo von hinten den Nacken massiert. Sie hätte gerne ein Feuer brennen sehen, allein schon, weil es die Nacht heller macht, aber schlechte Laune ver­breiten wäre völlig falsch, denkt sie.

»Komm Schatz«, sagt Yeho zu Zibiah, »Nimm mich in den Arm« und Zibiah kommt kuscheln.

Schutz suchend kuschelt sich ängstlich Zibiah so dicht an Yeho, dass sie beinahe in ihm ver­schwindet: »Es ist ja nicht nur die Wärme vom Feuer, die fehlt, sondern auch das Licht. Es wird dunkel und in einer halben Stunde können wir nichts mehr sehen und das in einem Urwald vol­ler Geräusche, von dessen Herkunft man nur wild spekulieren kann. Das ist gruselig.«

»Ja, wir werden heute alle früh einschlafen, das denke ich auch«, lenkt Katrice ein. Sie legt ihren Kopf in den Schoß von Jo und Zibiah tut es ihr bei Yeho nach.

Alle schwiegen, während der Wind leicht durch die Blätter rauscht. Sie hören überall Ge­flatter, dessen Ursache und Herkunft beängsti­gender Weise im Dunkeln liegt. Von weit weg hö­ren sie einen kleinen Wasserfall.

»Es ist die Idylle pur, nur viel zu Dunkel. Ich werde mich bei der Reiseleitung beschweren«, versucht Kat scherzhaft, die Situation aufzulo­ckern.

Jo atmet dreimal tief durch die Nase. »Riecht ihr das?«

»Nein, was denn?«, fragt Katrice und hebt ihren Kopf, schnüffelt, doch riecht sie nichts.

»Na ja, da ist doch was. Als würde einer gril­len«, sagt Jo.

»Jetzt rieche ich es auch«, antwortet Zibiah und saugt den Duft des Grillfleisches tief ein.

Yeho leckt seinen Finger nass und hält ihn in die Höhe, um die Windrichtung genau zu bestim­men. »Das kommt von da hinten«, sagt er und zeigt in die Richtung, aus der der Wind den Duft transportiert.

»Wir sollten mal nachsehen, wer da grillt. Könnte interessant werden«, sagt Katrice beim Aufstehen und lächelt verschmitzt. Die drei fol­gen Kat durch die Dunkelheit.

»Ich kann nichts sehen«, flüstert Zibiah, ihre Stimme zittert. Ängstlich klammert sie sich fest an Yehos Arm.

»Warum flüsterst du?«, fragt Yeho.

»Es schien mir angebracht.« Immer noch bebt Zibiahs Stimme.

»Ach so.« Yeho lächelt und drückt seine Frau noch fester an sich, um ihr ein Gefühl der Sicher­heit zu vermitteln. »Es ist nur dunkel, ich denke du kannst normal sprechen«, sagt Yeho grinsend.

Auch Jo und Katrice drehen sich einmal kurz um.

»Da vorne ist doch wer. Die haben Feuer an«, sagt Katrice. Jo nickt und stiefelt voraus.

Einige Schritte weiter erreichen sie ein Lager. Forschen Schrittes durchbrechen sie das Di­ckicht, nur um sich sofort und ohne jede Verzöge­rung wieder umzudrehen.

»Ooops, das ist mir jetzt aber peinlich. Was ist denn hier los?«, fragt Zibiah mit hochrotem Kopf, als sie sich ebenfalls beschämt wegdreht.

Trisch, Barbo, Sudi und Rod sitzen nahezu nackt vor dem Feuer.

»Wir mussten baden gehen und wollten unsere Sachen trocknen. Wenn ihr auch etwas zum Trocknen habt, nur her damit«, sagt Sudi grin­send, als sie die geschockten Gesichter sieht.

»Wie habt ihr …« Katrice`s Finger zeigt we­delnd auf das Feuer.

»... das Feuer an bekommen?«, beendet Rod grinsend ihre Frage.

»Schau mal«, sagt Rod gespielt väterlich, »der Wald ist voller Yukapalmen, die sondern ein Harz ab. Du packst einfach ein paar abgeschabte Spä­ne in ein Blatt, gibst das Harz dazu und schlägst Funken rein. Das brennt mit dem Harz zusammen wie Zunder. Dann langsam immer größere Holz­stücke anbrennen. Wenn es erst einmal so groß ist wie das hier, brennen auch nasse Stämme.«

Jo ist beeindruckt, doch ist er bemüht darum, sich nichts anmerken zu lassen. »Dürfen wir uns zu euch gesellen?«, fragt er höflich.

»Aber natürlich«, entgegnet Trisch mit einem leichten Nicken. »Habt ihr zu Abend gegessen?«

»Nein, nur einen Energieriegel«, sagt Zibiah und hält sich die Hände vor den Bauch. Ihr Ma­gen droht bereits, sich selbst zu verdauen, vor lauter Hunger.

»Wollt ihr vielleicht was hiervon? Der Leguan braucht noch eine Weile, aber die Vögel sind durch«, sagt Sudi mit einladender Geste.

Jo imponiert das alles. Er hat sein Leben lang immer als Geschäftsmann gelebt, kennt sich aus mit Zahlen, Statistiken, Umsatzmaximierung und Einsparungen. Geschäftlich ist er über mehr Lei­chen gegangen, als in den sprichwörtlichen Kel­ler passen. Er selbst ist ein brillanter Program­mierer. In der Geschäftswelt kennt er alle Tricks, aber hier ist er dankbar für etwas zu essen.

Er ist der reichste Mann der Welt, und hier lässt er sich von Leuten, die er vor ein paar Mo­naten nicht einmal kannte, etwas zu Essen zube­reiten, mitten im Wald, vier davon fast nackt. In ihm wächst eine Art Demut. Zum ersten Mal im Leben erfährt er auf so simple Weise, was es heißt, menschlich etwas reicher zu werden.

Geld? Was ist schon Geld? Geld hat er mehr als genug und wenn es eine Milliarde mehr oder we­niger gewesen wäre, auch gut. Aber das hier, Menschlichkeit, blieb ihm bislang verborgen. Menschen die geben, nicht nur, weil sie es kön­nen, sondern vor allem, weil sie es wollen, unge­achtet seiner selbst. Sie wissen nicht, wer er ist und das ist es, was ihn peinlich berührt. Ihm ist klar, dass er ein Spielchen spielt. Sie, aber auf der anderen Seite, nicht. Sie sind ehrlich, sie sind ganz sie selbst. Er nicht. Aber, so sehr er auch will, er darf es ihnen noch nicht sagen.

»Schatz? Alles klar bei dir?«, will Katrice wis­sen, die bemerkt, das Jo eine Weile ins Feuer starrt.

»Oh, ja danke, war nur gerade in Gedanken«, sagt Jo und nickt, um sich komplett aus seiner Träumerei zu reißen.

»Hier, probier mal, schmeckt wie Hühnchen«, sagt Sudi und reicht ihm ein schönes Stück Fleisch am Holzspieß entgegen.

Es gehen die Holzspieße um, bis jeder etwas zu essen hat. Nur Kleidung fehlt den vier noch.

Katrice bemerkt sehr wohl, dass Jo ab und zu, zu Sudi rüberschaut. Sie stupst ihn in die Seite.

»Schmeckt's?«, will sie mit kecker Stimme wis­sen.

»Äh ja, danke Schatz«, sagt Jo, der sich er­tappt fühlt, was auch gar nicht aus der Luft ge­griffen ist. Er schaut Kat an, wie ein kleiner Jun­ge, der einen Fehler bei seiner Mami wieder gut machen will. Und Katrice freut sich darüber, an Jo einmal ganz andere Seiten kennenzulernen. Das ist auch für sie neu.

Jo kommt aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Die vier Nackten haben zwei Dreibeine ge­bastelt und mit in Streifen geschnittenen Blättern zusammengebunden, um sie dann ihrerseits mit einem Seil aus gedrehten Blättern zu verbinden. Diese Konstruktion steht über dem Feuer und daran aufgehängt sind die Klamotten zum Trock­nen.

Jo ist nicht beeindruckt von der Konstruktion, sondern weil sie dasteht. Sie haben sie einfach schnell gebaut. Ohne lange zu jammern oder zu diskutieren. Sie war erforderlich und die Truppe hat gehandelt. Das beeindruckt ihn. Das sind Ei­genschaften, die er von obersten Führungsspit­zen gewohnt ist. Aber das hier sind einfache Leu­te. Vielleicht, so denkt er, muss er einiges in sei­nem Weltbild zurechtrücken.

Am Lagerfeuer unterhalten sich alle angeregt über dies und das, doch plötzlich macht Rod eine Handbewegung, die das Wort »Halt« vermittelt.

Alle unterbrechen ihre Gespräche, halten den Atem an und richten ihre Aufmerksamkeit auf Rod. Sein Blick ist nach unten gerichtet, er sieht nicht, er hört.

Einen Augenblick später zeigt er mit erhobe­ner Hand in eine Richtung. Sudi versteht und ver­schwindet sofort in diese Richtung im Wald. Rod, steht auf und verschwindet in der entgegenges­etzten Richtung.

Es bleibt still, leise knistert das Feuer vor sich hin. Etwas Fett löst sich und tropft zischend auf ein Stück Holz. Die Vögel haben ihren Gesang längst eingestellt. Unweit des Feuers ist es stock­dunkel. Und Sudi und Rod sind in den Wald ge­gangen, in diese absolute Finsternis, ohne etwas zu sagen, wie nackte Wilde. Was ist denn jetzt los?

Es bleibt mucksmäuschenstill. Niemand traut sich, irgendeinen Laut von sich zu geben. Auf ein­mal hört man ein Fauchen, dann ein Quieken, dann ist es wieder totenstill. Im wahrsten Sinne des Wortes.

»Da rannte noch ein Nachtisch rum.« Rod, kehrt mit einem zweiten Leguan zurück ans Feu­er. Von der anderen Seite taucht Sudi wieder auf.

»Wie sieht es eigentlich mit den Klamotten aus? Sind die inzwischen trocken?«, will Sudi wis­sen und fühlt, ob sie sie schon wieder anzie­hen kann.

Das Shirt geht, aber die Hosen sind noch feucht. Na ja besser als nichts, denkt Sudi, zieht ihr Shirt erst von der Leine, dann an, ehe sie sich setzt.

Rod will sich gerade wegdrehen, um den Legu­an auszunehmen, da kommt Yeho an und zwin­kert. »Ich glaube, das ist mein Job.«

Rod, schaut ihn fragend an.

»Ja, ich bin doch Schlachter. Schon verges­sen?«, sagt Yeho lachend. Rod nickt und über­reicht ihm den Leguan.

Yeho dreht sich ein wenig weg und nimmt den Leguan aus, zieht ihm die Haut ab und macht ihn etwas nahrungsähnlicher. Er hat das Gefühl, das Jo und Katrice es nicht so gerne sehen, wenn er­kennbare Tierleichen über dem Feuer liegen. Also zunächst einmal etwas filetieren und dann grill fertig machen.

»Ich habe da vorne das Rauschen eines kleinen Baches gehört, ich gehe mir mal die Finger wa­schen«, sagt Rod, dessen Finger nun nach Legu­an riechen. Und verschwindet abermals in der Dunkelheit.

»Bring mir bitte etwas dünnes Schilfrohr mit«, ruft Zibiah Rod hinterher.

Trisch und Barbo lassen es sich schmecken.

Sudi und Katrice kommen ebenfalls ins Ge­spräch. »Wie habt ihr euch kennengelernt?«, fragt Sudi frei heraus.

Katrice hasst es, jedes Wort auf die Goldwaage legen zu müssen, doch gibt sie sich alle Mühe, so nah an der Wahrheit zu bleiben, wie irgend mög­lich. »Wir haben uns damals auf einer Party ken­nengelernt. Er war der Gastgeber und ich hatte wohl das passende Kleid an, wer weiß.« Sie zuckt mit den Schultern und lacht, fühlt sich frei in Su­dis Gesellschaft. »Jedenfalls ließ er mich den gan­zen Abend über nicht mehr aus den Augen.«

Jo lächelt Katrice an, denn er hat ihrem Ge­spräch gelauscht und fühlt sich geschmeichelt.

»Er ist auch ein ganz passabler Tänzer, aber immer erst nach Einbruch der Dunkelheit«, fährt Katrice immer noch lachend fort.

»Oh, das wäre ja jetzt. So ein Zufall!!«, sagt Sudi übertrieben überrascht.

Barbo sucht plötzlich nach irgendetwas, das er zum Musikinstrument umfunktionieren kann.

Trisch steht auf. »Ich komme gleich zurück«, und verschwindet ebenfalls in der Dunkelheit.

Auch Barbo macht sich auf. »Ich gehe mal kurz etwas suchen«, und ist ebenfalls weg.

»Was ist denn nun los?«, erkundigt sich Katri­ce.

»Keine Ahnung, die werden gleich wieder kom­men, denke ich mal«, antwortet Sudi betont gleichgültig, ehe sie sich wieder Kat zuwendet. »Und wie ging es dann weiter?«

»Nach dem Ende der Party haben wir uns sehr lange nicht gesehen.« Katrice schaut nach unten.

Jo mischt sich schmunzelnd ein. »Aber dann trafen wir uns wieder. Ich brauchte eine Sekretä­rin in meiner kleinen Firma, und sie bewarb sich. Ich stellte sie ein, wir hatten täglich miteinander zu tun. Na ja, und der Rest ist Geschichte. Und heute sitzen wir mit euch am Lagerfeuer. Das ist schon alles schon irgendwie seltsam.« Jo ver­sucht, die Kurve zu bekommen. Es wäre inakzep­tabel, flöge die Tarnung jetzt auf. Jedes Mal, wenn er das denkt, steigt sein Unbehagen deswe­gen an.

Und da kommen auch schon Barbo und Rod wieder. Barbo hat Schilfrohr mitgebracht und et­was, das er als Bindfaden nehmen will. Er hat auch an das dünne Schilfrohr für Zibiah gedacht.

Zibiah holt das Messer heraus und bricht einen Rippenknochen aus den Resten heraus, um ihn sauberzumachen. Danach bohrt sie mit dem Mes­ser ein kleines Loch in das dickere Ende und fä­delt das Schilfrohr durch.

»Jo, ziehe bitte mal deine Hose aus«, sagt sie und ist auf Jos überraschte Reaktion nicht vorbe­reitet.

»Bitte?« Jo zeigt sich verblüfft.

»Na ja, du hast da ein Dreiangel im Hosenbein, ich will das eben nähen. Wenn du damit irgendwo hängen bleibst, reißt es weiter auf und du stehst so da«, sagt Zibiah zwinkernd.

Jo schaut etwas verdutzt, zieht sich dann aber die Hose aus.

Zibiah näht es rasch.

»So, nun hält die Hose«, sagt Zibiah lächelnd und reicht sie Jo.

Jo zieht die Hose rasch wieder an.

Trisch hat Lehm am Fluss entdeckt und daraus ein Gefäß geformt, was sie im Feuer brennen will. Ebenso hat sie ein paar Kokosnüsse gesammelt und halbiert.

»Möchte jemand Kokosnuss-Fleisch?«, fragt sie in die Runde? »Oder die Milch?«

»Die Milch, ja«, sagt Zibiah mit leuchtenden Augen. Auch Yeho schaut interessiert. Schnell sind die Schalen hohl. Barbo hat derweilen die Schilfrohre zugeschnitten und zusammengebun­den.

Trisch beginnt, das Lehm-Gefäß im Feuer zu vergraben. Es wird über Nacht brennen. Bis die letzten Stücke Fleisch so weit sind, ist noch ge­nug Zeit für ein Tänzchen. Trisch gibt schon mal den Rhythmus mit den Kokosnuss-Schalen vor und Barbo setzt mit der selbst gebastelten Pan-Flöte ein. Alle anderen trommeln auf irgendwas, das herumliegt.

Katrice schaut Jo tief in die Augen und er lässt sich nicht lumpen. Er steht auf und fordert mit al­len Manieren, als wären sie im teuersten Ballsaal der Welt, Katrice zum Tanz auf. Er zieht sie fest an sich und sie beginnen, zu den Klängen der Blitz-Instrumente zu tanzen.

Katrice lacht und fängt dann an, etwas zu wei­nen, vor Freude, ein solches Glück hat sie noch nicht gefühlt.

Auch Jo ist sichtlich gerührt und beeindruckt, was hier alles an guter Laune aus dem Nichts entsteht. Was hat er sich früher mit Projektleitern herumgeärgert. Terminpläne erstellen und deren Einhaltung kontrollieren lassen. Und hier braucht er nicht einmal etwas sagen, und es wird viel, viel besser, als er es sich je hat Erträumen können, weil es ganz anders ist, als er das Leben kennt. Es ist menschlicher, voll von Mitgefühl. Ja, man fühlt miteinander. Und dieses Gefühl ist unbe­schreiblich. Hier müssen keine Termine eingehal­ten und Druck gemacht werden. Es passiert aus sich selbst heraus. Das ist genau das, was er im­mer gesucht und sich gewünscht hat.

Sie tanzen und musizieren noch eine Weile und dann ist auch der zweite Leguan durch. Jeder isst noch einen Bissen und alle rollen sich anschlie­ßend zum Schlafen in großen Blätter ein.

5.3.03 Das Gemeinschaftsexperiment

Früh am nächsten Morgen ist die Vogelwelt bereits sehr aktiv und die Sonne dabei, die Nebel­schwaden am Boden zu vertreiben. Das Feuer ist über Nacht fast ausgegangen, aber die Steine strahlen noch viel Hitze ab. Trisch kommt leicht bekleidet vom Fluss wieder, sie hat in dem ge­brannten Gefäß Wasser geholt und ein paar Blät­ter gesammelt. Sie setzt schon mal heißes Wasser auf und hat das Feuer wieder belebt, dann setzt sie sich und wartete bis die Anderen wach wer­den.

Als Erstes erwacht Sudi, durch das plötzliche Knistern der Flammen. Sie richtet sich auf, ihre Haare wirr zerzaust und macht eine Schnute, schaut sich kurz um. Dann legt sie sich wieder hin und zieht eines dieser großen Blätter, mit dem sie sich über Nacht zugedeckt hat, über ihren Kopf.

Trisch kann sich ein Schmunzeln nicht verknei­fen.

Langsam beginnt das Wasser in dem Gefäß, was Trisch gebastelt hat, zu kochen und sie gibt klein geschnittene Blätter hinein. Der Duft des frischen Aufgusses, breitet sich aus. Tee kann man nicht wirklich sagen, weil es kein Tee ist, aber das Prinzip ist das gleiche und es schmeckt. Ok, es ist kein Kaffee, aber immerhin ist es etwas Warmes zum Aufwachen.

Alle recken sich tüchtig durch und so langsam beginnt wieder das Leben in die Truppe zurück­zukehren. Rod steht auf, holt seine Hose von der Leine und zieht sie an. »Boah, nee, nä? Die stinkt nach Leguan. Das darf doch nicht wahr sein.«

Auch die anderen drehen sich aus den großen Blättern heraus und sehen ihr Kleidung als Opfer der Rauch und Geruchsentwicklung und ziehen mürrisch ihre Sachen wieder an.

»Herrschaften, raus aus den Federn, Tee ist fertig«, übertreibt Trisch ihr Geköcheltes. »Falls es jemanden interessiert ...« Trisch hebt eine Au­genbraue und schaut an ihrer verschmutzen Klei­dung herab, »...würde ich den heutigen Tag ger­ne erfolgreich beenden und heute Abend im Zelt­lager richtig und ausgiebig duschen. Noch eine Nacht im Wald überlebe ich nicht.« Trisch klingt schon recht überzeugend, auch Zibiah schaut, als würde sie Trisch recht geben.

Barbo, der gerade seine Hose von der Leine nimmt und merkt, dass sie nicht nur vor Dreck steht, sondern auch an einer Seite angekokelt ist, sagt mit einer Stimme, die von einem Westernhel­den hätte kommen können: »Duschen wird ja so­was von überbewertet. Ich mag es, wenn es stinkt, dann weiß ich, dass ich lebe.« Alle schau­en ihn entsetzt an. Er wiederum tut so, als würde er einen Zahnstocher von links nach recht über die Lippen gleiten lassen, um seinem Wild­westheldengetue den Feinschliff zu geben. »Was???«

»Du Spinner«, sagt Trisch.

»Ja, und?«, fragt Barbo und zuckt mit Schul­tern.

Alle müssen lachen.

Trisch schenkt noch einmal die Kokosschalen voll und reicht sie herum. Jeder nimmt noch einen kräftigen Schluck des heißen, frischen Aufgusses.

»Ich denke nicht, das wir auf den Catering-Service warten sollten. Wer von Euch hat die Kar­te?«, fragt Rod. Ein Schmunzeln geht durch die Runde.

Yeho hebt die Hand. Zibiah verdreht kurz die Augen, doch lächelt dann. »Ich habe die Karte«, erklärt Yeho.

»Rod, klär doch mal mit Yeho, wo die nächsten Ziele sind, vielleicht können wir zusammen ge­hen«, schlägt Barbo vor.

Rod und Yeho tauschen sich aus und verglei­chen die Karten.

»Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagt Rod mit ernster Stimme. »Nicht weit von hier ist eine Ga­belung, an der wir uns entscheiden müssen. Bei­de Möglichkeiten führen zu Problemen.« Rod hält inne und schaut mit ernstem Blick in die Runde, um sicherzugehen, dass ihm auch jeder aufmerk­sam zuhört. »Entscheiden wir uns für den rechten Weg, liegen weitere zehn Aufgaben vor uns, in etwa der Art von gestern. Wenn wir davon ausge­hen, genauso viele pro Tag schaffen zu können, wie gestern, schaffen wir heute wieder sechs und eine weitere Nacht liegt vor uns. Wählen wir den linken Weg, liegt nur noch eine Aufgabe vor uns.« Sein Blick fixiert den jedes einzelnen, ehe er wei­terspricht. Seine Stimme ist so tief, fast schon be­drohlich, dass die anderen jedoch an seinen Lip­pen hängen. »Diese Aufgabe hat es aber in sich.«

Einvernehmlich betretenes Schweigen. Jeder schaut jeden an, prüft, wie die anderen entschei­den werden, welche Entscheidung sie selbst tref­fen sollten.

»Eine Gruppe mit acht Personen? Ist denn das erlaubt?«, will Zibiah wissen.

Jo lenkt gleich ein. »Das ist keine Gruppe, die aus acht Personen besteht. Das sind 2 Gruppen mit jeweils vier Personen, die sich zufällig getrof­fen haben und das gleiche Ziel verfolgen.« Er muss sich ein schelmisches Grinsen und sogar ein Augenzwinkern in Kats Richtung verkneifen, um sich nicht möglicherweise zu enttarnen. Stattdes­sen zuckt er nur mit der Schulter, ein kleines Lä­cheln auf den Lippen, als hätte er gerade die Be­fehlshabenden durch Logik überführt.

»Ah, verstehe, ja nee dann iss klar«, sagt Zi­biah.

Jos Schmunzeln steckt die anderen an und zieht sich durch die Gruppe. Natürlich weiß je­der, dass die Frage durchaus berechtigt ist, und die Antwort mehr als an den Haaren herbeigezo­gen, aber das stört im Moment niemanden.

Trisch atmet tief durch. »Ich wäre für die harte Tour. Ich wäre nämlich für eine ausgiebige Du­sche heute Abend außerordentlich dankbar«, un­terstreicht Trisch noch einmal Ihre Entscheidung und Ihren eindringlichen Wunsch nach Sauber­keit.

Auch Barbo und Yeho nicken.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das schaffen werde«, stellt Zibiah klar.

Katrice, die sich auf seltsame Weise zu Zibiah hingezogen fühlt, nimmt sie in den Arm. »Das wissen wir alle nicht, du kannst es nicht wissen, solange du es nicht versucht hast. Deshalb ist es ja ein Test. Wir testen, ob wir es schaffen.«

Dann willigt Zibiah schließlich ein. »Okay, ich hoffe nur, dass ich es nicht verbocke.«

»Ihr macht keine halben Sachen, oder?«, fragt Jo, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Ihm ist schon klar, dass er mit seinen 45 Jahren mögli­cherweise nicht mehr so fit ist, wie jemand An­fang 20, dennoch ist er guter Dinge.

»Okay, abgemacht? Die harte Tour?« Rod, prüft die Blicke der Gruppe und alle nicken.

»Okay«, sagt Rod, »Abmarschbereitschaft her­stellen und los.« Rod klingt schon wie ein alter Militärhase, obwohl er nie gedient hat.

Alle nehmen das, was sie haben auf, ziehen sich die letzten Klamotten an, und marschieren los.

Katrice hält inne, und auch die anderen blei­ben stehen, als sie merken, dass sie nicht folgt. Fragende Blicke starren ihr entgegen. »Jemand muss das Feuer abdecken.«

Jo lächelt und nickt seiner Frau anerkennend zu. Er gräbt mit den Händen Sand über die Glut. »So, fertig!«, sagt er.

»Alles klar, Abmarsch«, sagt Rod und alle set­zen sich in Bewegung.

Die Pfade im Wald sind schmal und so pirschen sie sich in einer Reihe hintereinander durch die schmalen Wege. Nach etwa einer halben Stunde erreichen sie, wie erwartete die Gabelung. Ohne dieser Tatsache irgendeiner Aufmerksamkeit zu zollen, nehmen alle wie abgesprochen den linken Pfad.

Es geht bergauf. Der ganze Hang ist aus erkal­teter Lava. Das poröse, basaltartige Gestein ist mit den Jahrhunderten vom Regen glatt geschliff­en worden und die Moose darauf sind glit­schig und lassen den Aufstieg zu einer gefährlichen Rutschpartie werden. Alle sind vor­sichtig und konzentriert und kommen deshalb nur langsam voran.

Stellenweise ist die Pāhoehoe-Lava glasartig, beinahe mit metallischer Oberfläche, so glatt, dass sich nicht einmal Moos drauf halten kann.

Nach etwa einer weiteren Stunde erreichen sie auf einer Anhöhe eine Plattform. Es liegt eine ganze Menge Ausrüstung für sie bereit. Alle prü­fen, was es damit auf sich hat.

»Schaut mal, das ist eine Bergsteiger-Ausrüs­tung«, stellt Yeho als erster fest.

Es gibt Seile, Haken und Ösen. Da sind Steig­eisen und Klettergurte.

»Ja, offenbar geht es noch weiter nach oben«, sagt Barbo.

»Das ist nur noch ein leichter Hang, wozu eine Bergsteiger-Ausrüstung?«, erkundigt sich Sudi.

»Das habe ich mich auch gerade gefragt, aber die von der Leitung werden das hier nicht zufällig hingestellt haben, also nehmen wir erst einmal mit, was wir tragen können, das brauchen wir be­stimmt noch«, entgegnet Rod und die anderen Ni­cken.

»Na, dann wollen wir mal«, sagt Jo und be­ginnt, sich die Klettergurte anzulegen und die Steigeisen an den Stiefeln festzumachen. Die an­deren schauen kurz, was und wie er das macht, und tun es ihm gleich.

Als alle so weit sind, meldet sich Sudi zu Wort: »Ich würde gerne einen Vorschlag machen.«

Alle halten inne, teilweise mit halb angezoge­nem Klettergeschirr.

»Ja, gerne«, sagt Jo und lächelt.

»Aufgrund unserer Vergangenheit haben Rod und ich etwas Erfahrung mit Körperbeherrschung in Extremsituationen. Deshalb wäre mein Vor­schlag, dass wir die Gruppen neu zusammenstel­len und Rod und ich jeweils eine Gruppe anfüh­ren. Was denkt Ihr?«

Rods Augen werden vor Staunen groß und rund. »Schatz, ich brauche dich«, sagt er beinahe leidend.

Sudi lächelt und setzt eine mütterliche Stimme auf, die den Hauch einer Lehrerinnenstimme hat. »Das ist wirklich süß von Dir, aber die anderen brauchen Dich auch und da wäre es doch wirklich toll, wenn wir alle heute Abend gesund Zuhause wären. Oder?«

Sie hat ja recht, muss Rod sich eingestehen.

»Und wer soll statt meiner mit ihr gehen?«, fragt Rod die andere Gruppe. Die vier schauen sich fragend an.

»Wenn Ihr nichts dagegen habt, würde ich ger­ne mit Sudi gehen«, sagt Zibiah und lächelt schüchtern.

»Irgendwelche Einwände?«, fragt Sudi.

Alle schütteln die Köpfe, wobei Katrice es schön gefunden hätte, wenn Zibiah in Ihrer Grup­pe geblieben wäre. Doch weder wollte sie Ein­spruch erheben, noch es vor den anderen einge­stehen.

Sudi erklärt weiter, während alle Augen auf sie gerichtet sind. »Rod und ich haben so etwas frü­her schon mal gemacht, während des Trainings damals. Wichtig ist dabei immer: Ihr tut einen Schritt erst, wenn Ihr sicher seid, dass Ihr ihn tun könnt. Wenn Ihr das beherzigt, sind wir am schnellsten oben und kommen gesund zuhause an.«

Rod schmunzelt, da Sudi nun ähnlich militä­risch klingt wie er selbst.

Sudi setzt noch mal nach: »Wir sind nicht auf der Flucht, also lasst Euch Zeit und behaltet ei­nes immer im Hinterkopf: Ihr könnt auf dem Weg nach oben mindestens eintausend Fehler machen, aber jeden davon nur einmal. Sagt sofort Be­scheid, wenn irgendetwas ist. Und scheint es noch so unerheblich. Niemand versucht, den Hel­den zu spielen, niemand ist als Erster oben. Nur die Gruppe zählt. Noch Fragen?«

Rod ist sichtlich Stolz auf Sudi, die die Sache im Griff zu haben scheint. Er lächelt und wendet sich seiner neuen Gruppe zu.

Gerade, als er selbst Luft holt, um das Kom­mando zum Loslegen zu rufen, hört er Sudis Stimme. »Okay, dann los!«

Sudi geht voran, der Trupp folgt ihr und Rod passt auf, dass auch alle beisammen bleiben.

Am Felsen angekommen, stellt Sudi fest, dass Ringe und Ösen in den Fels geschlagen sind. »Ach schau an, wir sind nicht die Ersten. Hier ist vor uns schon jemand hochgeklettert. Das wird ein Vertikal-Spaziergang.« Sudi und Rod stehen nebeneinander an der Wand, die es zu besteigen gilt. Mit ernsten, doch entschlossenen Mienen ni­cken sie sich zu.

»Alter vor Schönheit.« Sudi grinst Rod heraus­fordernd an.

»Oh, mitnichten, g'nä Frau, Ladys First«, kon­tert Rod gentlemanlike. Um seine Aussage zu un­terstreichen, macht er einen tiefen Diener vor Sudi.

»Na dann wollen wir mal, wir sehen euch dann oben«, sagt Sudi und klettert los. Ihre Gruppe hinterher.

Für einen richtigen Bergsteiger, also einen, der frei steile Wände und Überhänge klettern kann, wäre das hier ein Sonntagnachmittagsspa­ziergang. Aber die Anwesenden verfügen über keinerlei Erfahrung im Bergsteigen, sind zuvor noch nie an einem Berg gehangen.

Die Schräge ist eigentlich leicht, zu meistern, die Steigung ist nicht senkrecht. Du kannst also immer auf allen Vieren nach oben. Dennoch musst Du höllisch aufpassen, wo Du hintrittst und ob es auch fest ist, oder ob es glitschig ist. Du musst runter fallendem Geröll ausweichen. Kurz, Du musst wach sein – hellwach.

Das Adrenalin schießt Dir in den Kopf, es fühlt sich an, als stehst Du unter Strom. Jeder Nerv ist angespannt bis in die äußersten Spitzen. Die Truppe ist inzwischen zwei Stunden unterwegs und hat bereits eine beträchtliche Höhe erreicht.

Mehr und mehr kommt die Angst der Höhe dazu. Andererseits bist Du inzwischen weit ober­halb der Baumgrenze und Du hast eine fulminan­te Aussicht, aber Du darfst Dich nicht ablenken lassen. Die Arme werden immer schwerer. Der Unterarm fühlt sich schon lange an wie Beton. Steinhart. Das wird wieder mal einen ziemlichen Muskelkater geben.

Morgen! Morgen, nicht heute. Wie ein Mantra hallt die Hoffnung in Ihren Köpfen wieder.

»Ihr denkt immer an eines«, sagt Sudi in im­mer noch militärischem Ton, ehe Ihre Stimme zu sanft wechselt. »Der Berg ist mein Freund, er trägt mich, er weist mir den Weg.« Sudi versucht, die Gedanken der anderen zu fokussieren. »Es ist nicht mehr weit«, ruft sie nach unten und schaut in Gesichter, die Ihren Humor schon einige hun­dert Meter weiter unten verloren haben.

Meter um Meter klettern sie den Berg hinauf. Das Einzige was ihnen Freude bereitet, ist, wenn vor ihnen ein kleines Blümchen auftaucht. Inmit­ten dieser kargen Berge, scheinbar ohne Wasser, ohne Leben, plötzlich ein kleines Blümchen im Gestein. Das Leben findet immer einen Weg. Je­der einzelne lächelt einen kurzen Augenblick lang, ehe der Ernst des Tages sie wieder einholt und sie Ihre kraftlosen und erschöpften Mienen wieder aufsetzen.

Etwa eine halbe Stunde später sind sie oben und die zweite Gruppe folgt nach wenigen Minu­ten.

Oben angekommen, können die acht das erste Mal völlig entspannt die Weite, diese fantastische Aussicht genießen. Hügel und Urwald, ganz hin­ten der Ozean. Sofort legt jeder von ihnen das Ge­päck ab und setzen sich auf den Boden. Nie­mand spricht. Alle sind ergriffen von der Aus­sicht und erschöpft von den Strapazen.

Nicht nur, weil es so schön anzusehen ist, son­dern vor allem deshalb, weil sie sich vor nur we­nigen Wochen nicht einmal hätten vorstellen kön­nen, dass es solche Flecken auf der Erde noch gibt. Der Adrenalin-Cocktail vom Bergsteigen und die tief empfundene Demut gegenüber Mutter Natur, lässt ein Glücksgefühl entstehen, das mit Worten nicht zu beschreiben ist.

Aber jemand hat Ihr Kommen erwartet.

Auf dem Plateau ist eine große, also wirklich große Kiste aufgestellt. Jo geht hin und öffnet sie. Zum Vorschein kommen jede Menge Vorräte, Kochgeschirr, Teller und Besteck aus Blech und ein Kocher mit Zündvorrichtung.

»Herrschaften, das gibt wohl eine anständige Mahlzeit«, stellt Jo fest und alle stehen auf, um zu sehen, was er da gefunden hat.

»Ein paar Tische und Bänke wären nett gewe­sen«, meint Barbo.

»Das ist wahr«, sagt Katrice und schielt zu Jo herüber.

»Es wird schon gehen, immerhin habe ich Hunger für drei«, sagt Yeho.

Auch Trisch erinnert sich an Ihre früheren Diätvorstellungen nur noch vage, ganz vage.

»Ok, wie wollen wir es machen?«, fragt Rod. »Jeder macht sich selbst etwas, oder alle zusam­men oder wie?«

»Es ist eine Menge sehr Unterschiedliches da. Ich glaube, wenn jeder das bekommt, was er möchte, ist das besser, oder?«, fragt Jo, und die Truppe nickt. »Also jeder was er möchte.«

Barbo inspiziert als nächster die Auslage. Er nimmt eine Dose nach der anderen in die Hand und legt sie wieder hin, um dann festzustellen: »Hasenbraten, es gibt gar keinen Hasenbraten.«

»Ich zieh' dir gleich die Ohren lang, dann hast du Hasenbraten«, sagt Trisch energisch und alle lachen.

»Ich hab es mir schwieriger vorgestellt«, sagt Sudi, als sie neben Rod Platz nimmt.

»Warte mal ab, wir sind noch nicht zurück. Wer weiß, was noch kommt.« Rod klingt, als hät­te er eine Vorahnung.

»Was ist, Schatz?«, fragt Sudi, die diesen Ton­fall durchaus kennt und der selten Gutes nach sich zieht.

»Hier schau mal die Karte«, sagt Rod und Sudi rückt noch etwas dichter an ihn.

»Gleich da vorne, geht es in den Berg hinein«, sagt Rod.

Und Sudi erkundigt sich: »Ja, okay, und warum ist das schlimm. Das ist eine Höhle, glaubst Du, da sind gefährliche Tiere drin?«

»Keine Großen, nein, aber ich glaube, dass es eine Tropfsteinhöhle ist.«

»Oh das ist toll, ich hab mal eine Tropfstein­höhle auf Bildern gesehen. Die sind wunderschön von innen.« Sudis Augen leuchten.

Aber Rod ergänzt: »Wenn sie mit Holzwegen drin, für den Tourismus erschlossen sind, so wie früher mal in den Filmen, ja, aber wenn nicht, dann werden sich schmierige Ton- oder Lehmab­lagerungen auf dem Boden befinden, und die Sa­che wird zur reinsten Rutschpartie. Ein falscher Schritt und es heißt ›Adiós Muchachos‹.« Rod, klingt sehr besorgt.

»Wir werden uns anseilen und absichern. Das wird kein Problem sein.« Sudi versucht, Rod et­was aufzumuntern. Sudi streichelt ihm über den Kopf und er schaut sie mit einem skeptischen Blick an, aber er lächelt auch ein wenig.

Nach einer Weile haben alle aufgegessen und Ihr Geschirr weggestellt.

»Wenn dann alle so weit wären, sollten wir weiter. Es wird ja nicht früher«, stellt Rod klar. Und sich selbst schon mal aufrecht hin.

Ebenso steht Sudi auf, wenn auch etwas gemächlicher als Rod, um deutlich zu machen, dass wir nicht auf der Flucht sind: »Okay, dahinten geht es offenbar in eine Höhle hinein. Vermutlich eine Tropfsteinhöhle. Die sind zwar wahnsinnig schön, von innen«, sagt Sudi, »aber auch sehr gefährlich.«

Rod, nickt zustimmend und setzt nach: »Der Boden wird durch den nassen Lehm schmierig und glatt sein. Wir haben Steigeisen, die sind ein großer Vorteil. Dennoch sollten wir uns anseilen.

Auch hier gilt wieder: Wir müssen zusammen bleiben. Keine Alleingänge! Wichtig ist, dass alle sicher auf der anderen Seite ankommen, nicht Einer als Erster. Gibt es Fragen dazu?« Erwartungsvoll schaut Rod in die Runde. »Schön, wir nehmen die Fackeln aus der Box und die Taschenlampen mit. Solange die Fackeln funktionieren sollten wir es dabei belassen, um Batterien zu sparen. Dennoch wird eine doppelte Absicherung nicht schaden. Da drinnen wird es dunkler sein, als im Bärenar... als in der Nacht.«

Die anderen wissen sehr wohl, was er in Wirklichkeit sagen wollte, lächeln aber nur.

Rod zieht als Erstes die Steigeisen über und seilt sich an, danach lässt er seinen Blick über jeden Einzelnen der anderen Gruppen wandern. »Haben alle die Steigeisen an und sind angeseilt?«, fragt Rod, um ein letztes Mal sicherzugehen.

Alle überprüfen noch einmal ihre Ausrüstung. Mit versteinerten Mienen werfen sie Rod ein stummes Nicken zu.

»Okay, dann los. Sudi begibt sich an die Spitze, ich bilde das Schlusslicht. Abmarsch«, sagt Rod im inzwischen geübten Befehlston.

Stumm und mit eingefrorenen, ernsten Gesichtern ziehen sie Richtung Höhleneingang. Es geht noch einmal leicht bergan. Dann kommen sie zu dem Eingang und sehen ihn das erste Mal aus der Nähe.

»Das ist jetzt ein Problem«, stellt Sudi fest.

»Was ist los Schatz?«, erkundigt sich Rod von hinten.

»Der Eingang ist da unten, wir müssen da runterklettern«, sagt Sudi und zeigt auf den steilen Abgrund, der sich vor ihren Augen auftut.

Rod läuft nach vorn und begutachtet die glatten Felswände, die steil herunterragen und in einem tiefen, schwarzen Loch münden. »Siehst du, genau das meine ich. Immer wieder Überraschungen.« Rod dreht sich um, fixiert jeden Einzelnen nach dem anderen, begutachtet ihre Gesichter und schließt auf ihre Konzentration. Erleichtert nickt er, als er bemerkt, dass jeder Einzelne in seinen Gruppen in höchster Konzentration zu schweben scheint. »Okay, das ist kein Problem. Wir seilen uns da einfach runter. Jeder macht bitte vorne ein Seil an sein Klettergeschirr«, sagt Rod.

Sofort, und ohne ein weiteres Wort, denn jedem ist klar, das Diskutieren nichts nützt, befestigt jeder ein Seil.

»So! Das ist nun ganz einfach«, legt Rod los. »Wir halten euch hier oben fest, ihr lasst euch nach hinten kippen und geht quasi horizontal rückwärts die Wand runter. Wenn ihr unten seid, wird das Seil entlastet. Das merken wir und lassen dann das Seil los, so könnt ihr es unten wieder einrollen. Das brauchen wir vielleicht noch. Gibt es Fragen dazu?« Rod bemüht sich, entspannt zu klingen, was ihm aber nicht ganz gelingt.

»Ja Schatz, was ist mit Dir?« Wenn du als Letzter gehst, wer soll dich hier halten?«, fragt Sudi besorgt.

»Ich werde mich abseilen und das Seil wird hierbleiben müssen«, sagt Rod und zuckt mit den Schultern, um die betonte Entspanntheit, die er um jeden Preis ausstrahlen will, zu untermalen.

Jo schaut ebenfalls nach unten. Kurz weiten sich seine Augen, doch niemand bemerkt das. Als Geschäftsmann hat er gelernt, seine Emotionen zu verstecken. Er atmet einmal tief durch und setzt einen scheinbar ehrlich unbesorgten Blick auf. »Schau mal, so tief ist das nicht, du kannst das Seil doppelt nehmen und dann unten herunterziehen.«

»Hey, gute Idee«, sagt Rod, »So mach ich es.«

Einer nach dem anderen seilt sich ab. Das funktioniert besser als erwartet. Auch Trisch, Katrice und Zibiah haben nur wenige Probleme, nach unten zu kommen. Als Rod unten angekommen ist und sein Seil wieder aufgewickelt hat, fragt Sudi: »Sind wieder alle angeseilt?«

Zwar rufen alle durcheinander, doch sie alle rufen »JA!«

»Die Fackeln haben einen Zündmechanismus. Einfach drauf drücken. Zündet jetzt die Fackeln an, wir werden Licht brauchen und geht langsam, nehmt jeden Schritt mit Bedacht.« Sudi läuft vorweg, Rod bildet wieder das Schlusslicht.

Der Eingang der Höhle ist klein. Sie können sich gerade so hindurchquetschen. Eine Art Tunnel führt schräg nach unten, immer tiefer hinein in die Schwärze, immer weiter weg vom Sonnenlicht. Überall hängen die Stalaktiten von der Decke, nur mäßig beleuchtet vom kargen Licht der Fackeln. Hier sind sie eher klein. Und wie erwartet, ist der Boden komplett mit Lehm bedeckt. Ohne die Steigeisen wäre das eine riesige Schlammschlacht und Rutschpartie.

Der Schacht wird immer größer und als alle unten angekommen sind, offenbart sich eine gewaltige Halle. Von oben hängen die Stalaktiten herab, bedrohlich wie Speere, die jederzeit brechen und sie durchbohren könnten. Aus dem Boden ragen, etwa in gleicher Größe, die Stalagmiten wie Berge, die sich unter der Erde emporrecken. Der Rest des Bodens ist voll Lehm und extrem rutschig.

Ganz unten in der Höhle ist es etwas muffig, als sie einen kleinen See erreichen.

»Hier geht es nicht weiter«, sagt Rod und sieht sich um. Die Fackeln machen nicht genug Licht, aber es sieht so aus, als wäre das Wasser sehr klar.

»Ich denke mal, der Weg führt uns durch den See«, sagt Yeho mit zittriger Stimme.

»Das Wasser hier in der Höhle ist eiskalt«, sagt Barbo und schlägt bibbernd und zitternd in Gedanken an die Kälte seine Arme um den Körper, reibt sich in Höhe der Nieren. Schon ohne das Wasser ist es bitterkalt hier unten.

Yeho nimmt sich seine Taschenlampe und beginnt, die Tiefen des Sees auszuleuchten.

Das Wasser ist extrem klar und der See schätzungsweise eineinhalb Meter tief. Das Wasser ist so klar, dass das Licht der Taschenlampe bis auf dem Grund reicht, auf dem sich weiße Krebse in Scharen tummeln!

Bei der Überlegung, von was die sich ernähren, wird schnell klar, dass die Idee, in den See hineinzuspringen, keine gute ist.

»Ich teste mal was«, sagt Barbo, sieht sich um und findet einen kleinen Abbruch. Er nimmt ihn auf und wirft ihn ins Wasser. Augenblicklich stürmen alle weißen Krebse dort hin.

»Das hab ich mir gedacht«, sagt Barbo nachdenklich. »Hier unten ist die Speisekarte nicht gerade prall gefüllt, die stürzen sich auf alles, was sich bewegt.«

»Du meinst, wenn wir in das Wasser gehen, werden sie uns angreifen?«, fragt Zibiah, ihre Stimme zittert, die Augen bis aufs Äußerste geweitet.

»Genau das will ich damit sagen«, entgegnet Barbo.

»Dann brauchen wir ein Ablenkungsmanöver«, schlägt Jo vor.

»Ja, das wäre vielleicht möglich. Aber wie soll das aussehen?«, fragt Yeho.

»Wer hat noch etwas zu essen im Rucksack?«, fragt Jo.

»Moment ich schau nach«, sagt Sudi.

»Hier ein Energieriegel«, sagt Trisch.

»Ich hab auch einen«, sagt Zibiah.

Und so kommen am Ende fünf Energieriegel zusammen. Yeho hat, ohne das Wissen der Anderen, noch einen Energieriegel zurückbehalten. Wer weiß, ob sie den noch anderswo gebrauchen können.

»Wir müssen uns im Klaren darüber sein, was wir machen, wenn wir die Riegel als Ablenkung reinwerfen«, gibt Jo zu bedenken, ehe Zibiah den ersten Riegel hineinwerfen kann.

Yeho geht wieder mit der Lampe los. Er leuchtet die ganze Wasseroberfläche ab.

»Schaut mal hier«, ruft er und alle folgen seinem Ruf.

»Hier scheint ein Loch auf eine andere Seite zu führen«, sagt Yeho.

»Ich versuche es«, sagt Sudi. »Gib mir bitte mal ein Seil«, bittet sie Rod.

»Ihr schmeißt einen Riegel rein, dann werden sie schon mal etwas abgelenkt. Ich werde versuchen, auf die andere Seite zu tauchen. Wenn das gelingt, könnt ihr eure Sachen am Seil festmachen, dann ziehe ich alles rüber. Anschließend schmeißt ihr die restlichen Riegel auf die andere Seite des Sees und kommt ebenfalls rüber. Oder? Jemand einen besseren Vorschlag?«

»Was ist, wenn sie dich angreifen. Das sind so viele.« Katrice schaut mit geweiteten Augen zwischen dem ausgeleuchteten Grund des Sees und Sudi hin und her.

»Ich glaube, ich bin schnell genug«, versucht sich Sudi, selbst zu beruhigen.

»Was wird dich in der nächsten Kammer erwarten, was glaubst du?«, fragt Zibiah, ebenso ängstlich wie zuvor Kat.

»Weiß ich nicht, das werden wir erfahren, wenn ich da bin.« Sudi beginnt, sich auszuziehen. Jo räuspert sich. Zu schnell. Für einen Moment war er entschlossen, seine Tarnung auffliegen zu lassen. Doch schnell meldet sich sein Gehirn zurück. Er darf sich nicht enttarnen, komme was wolle.

Doch kennt er die Herausforderung, er kennt die Höhle und so war sie nicht, als er sie sich angeschaut hat, um die Aufgabe zu stellen. Auf der anderen Seite würde sie selbstverständlich eine weitere Höhle erwarten, doch eigentlich hätten sie einfach zu Fuß dorthin gelangen sollen, und nicht schwimmen oder sogar tauchen.

Er schluckt schwer, als sich alle sieben Augenpaare ihm zuwenden, und er schweren Herzens den Kopf schüttelt. „Ach nichts“, sagt er, „nur ein dummer Gedanke.“ Hoffentlich ist die nächste Höhle nicht auch überschwemmt.«

»Okay, hat noch jemand einen guten Tipp für mich?« Sudi schaut sich fragen um. »Nein? Auch gut, dann mal los.« Ihre Stimme klingt entschlossen und viel fester, als sie sich gerade fühlt.

Kopfüber springt Sudi ins eiskalte Wasser und zieht das um ihre Taille gebundene Seil hinter sich her. Eigentlich ist es ganz einfach. Hineinspringen, Durchtauchen und auf der anderen Seite wieder raus aus dem Wasser. Problem ist nur, das sie drüben nichts sieht. Es ist stockdunkel. Also muss sie sich zunächst vorsichtig vortasten. Wer weiß, was sie dort noch erwartet.

Blitzschnell taucht Sudi durch das Loch. Die Krebse setzten sich zwar umgehend zum Angriff in Bewegung, doch Sudi ist schnell. Drüben angekommen, verlässt sie sofort das Wasser und steht tropfend am Rande des Höhlensees. Sie zieht zwei mal an dem Seil und die anderen führen ebenfalls den Plan aus. Energieriegel rein, alle ins Wasser, am Seil schön festhalten und Sudi zieht alle rüber.

»Puhh, das war knapp, aber geschafft«, sagt Rod, der als letzter das Land auf der anderen Seite erreicht.

»Das war ja klasse«, sagt Yeho freudestrahlend mit wirklich kräftiger Stimme und funkelnden Augen.

Doch Sudi drückt mal den Stimmungs-Reset: »Würde ich so noch nicht sagen. Schaut mal nach oben. Wir sind nicht allein.«

Yeho leuchtet mit der Lampe nach oben.

»Oh, das sind viele. Echt viele«, sagt Katrice.

»Sind das Fledermäuse?«, will Zibiah wissen und Sudi und Rod nicken.

»Die sind aber ganz schön groß«, meint Zibiah.

»Ja, es sind Flughunde und deshalb sind wir auch absolut leise. Draußen ist es hell, das heißt sie schlafen. Wir wollen sie in jedem Fall weiter schlafen lassen, denn wenn diese Blutsauger über uns herfallen, wird das nicht witzig. Gegen so viele haben wir nicht den Hauch einer Chance«, sagt Rod.

»So ein Quatsch«, wirft Trisch ein: »Die essen bloß Nektar, Pollen, Früchte und Blüten und so. Keine Menschen.«

»Ich meine auch nicht das die uns Essen, die werden aber ihr Heim verteidigen wollen, meinst du nicht?« Entgegnet Rod und Trisch nickt.

»Absolut«, sagt Zibiah nickend, und alle führen den Zeigefinger zum Mund, aber ohne »pschschsch« zu machen, als wenn das etwas nützen würde.

Problem ist ebenfalls, dass sich alle wieder vollständig anziehen müssen. Besonders die Stiefel und die Steigeisen. Alles passiert so lautlos wie irgend möglich.

Nach kurzer Zeit steht Rod da, streckt den Zeigefinger senkrecht in die Luft und macht eine kreisende Handbewegung. Sudi geht wieder vorweg, alle anderen reihen sich am Seil ein und Rod klinkt sich als Schlusslicht ein. Nun leichten Fußes mit dem schweren Steigeisen über den lehmigen Boden, Richtung Luftzug, denn dort muss irgendwo der Ausgang sein.

Ein paar Flughunde fliegen zwar in der Tropfsteinhöhle herum, aber sie scheinen keine Notiz von den Acht zu nehmen. Langsam und leise nähern sie sich dem Ausgang.

»Da vorne wird es heller«, flüstert Zibiah.

»Pschsch«, machen die anderen.

Mit jedem Schritt wächst die Spannung, von den Flughunden nicht entdeckt zu werden. Noch eine kleine Steigung hoch. Hier ist es auch glitschig und lehmig und die Spannung nervenzerreißend. Es ist, als würde man versuchen, auf einer Töpferscheibe Samba zu tanzen. Doch etwa zehn Minuten später haben sie ohne Zwischenfälle den Ausgang erreicht.

»Das darf doch nicht wahr sein.« Sudi bemüht sich, die Contenance zu wahren. Sie zieht missbilligend die halbe Oberlippe nach oben, während sie ihren Finger hebt, halb nach vorne, halb nach oben zeigend.

»Was ist denn, Schatz?«, fragt Rod nach, der von hinten noch nichts sehen kann.

»Der Ausgang liegt über einem kleinen See, senkrecht nach oben«, sagt Sudi und kann sich ein sarkastisches Lachen während es Redens nicht verkneifen.

»Waaaaas?« Rod, drängelt sich nach vorne durch.

»Mmmh okay, der kleine Tümpel mag etwa zehn Meter in Durchmesser haben. Drumherum fast senkrechte Wände. Vielleicht gute fünf Meter hoch. Mit Algen bewachsen und glitschig«, sagt Jo und verdreht die Augen. So war es wirklich noch nicht, als er sich das alles angeschaut hat, um die Aufgaben zu stellen. Kurz denkt er an die Zukunft, an den Zeitpunkt, an dem er sich enttarnen wird. Er denkt daran, dass die Leute, die ihm gerad Vertrauen schenken, die seine Freunde geworden sind, dann jemanden haben, auf den sie ihre Wut lenken können – nämlich ihn. Nervös presst er seine Lippen aufeinander.

Barbo zuckt die Achseln und grinst breit. »Haben wir ein Glück! Wie langweilig wäre es, würden wir einfach rausspazieren können.« Seine Stimme trieft vor Sarkasmus.

»Geht das noch lauter?«, fährt Trisch Barbo an.

Barbo duckt sich sofort und macht daraufhin die Lippen spitz, als würde er wieder »schsch« sagen wollen, tut er aber nicht.

Jo macht sich Vorwürfe. Der Plan war ein ganz anderer. Hier sollte eine Leiter stehen. Sie ist auch da, nur ist sie umgekippt und liegt in dem kleinen See auf dem Grund.

»Was ist mit der Leiter da unten?«, fragt Jo und ist froh, zumindest in diesem Fall eine Lösung gefunden zu haben, die Aufgabe in der ursprünglichen Schwierigkeit anzupassen, ohne seine Tarnung auffliegen zu lassen.

»Oh ja, das können wir probieren«, meint Rod, der sich sogleich das Hemd auszieht.

»Wünscht mir Glück«, sagt er, holt tief Luft und springt kopfüber rein.

Von oben leuchtet ihm Yeho den Weg durch das tiefe, dunkle und doch klare Wasser. Als er die Leiter erreicht, muss er etwas rütteln. Offenbar hat sich die Leiter irgendwie verklemmt, aber dann schafft er es, sie aufzurichten und taucht wieder auf. Jo greift nach der Leiter und holt sie an Land. Er stellt sie auf den Boden und lässt das obere Ende an die gegenüberliegende Felswand fallen.

»So, wir haben eine Brücke nach oben«, sagt Jo leise und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Die anderen sind sichtlich erleichtert. Nun kommen sie doch raus. Einzeln, einer nach dem anderen, klettern sie die Leiter hoch, um an der gegenüberliegenden Felswand, auf der Außenseite, wieder nach unten, und vor allem, nach draußen zu gelangen.

Sobald sie über diese Felswand gelangen, haben sie es geschafft. Von Außen sind an der gegenüberliegenden Wand einige kräftige Ösen angebracht. An ihnen werden sie sich abseilen können. Sudi klettert als erste, damit sie drüben beim Abseilen helfen kann. Dann folgt einer nach dem anderen. Trisch, Barbo, Zibiah, Yeho, Katrice, dann Jo und zum Schluss Rod.

Katrice ist noch nicht ganz unten, wie sie sich mit dem Stiefel in einer Felsspalte verfängt. »Ich hänge fest!«, ruft sie nach oben.

Jo kommt ihr zu Hilfe und versucht, den Stiefel aus dem Fels zu lösen. Auch Sudi und Rod kommen hinterher und versuchen den Stiefel irgendwie aus der Spalte zu bekommen.

»Ich weiß nicht, wie lange ich mich hier noch halten kann«, sagt Katrice, ihre Stimme gezeichnet von panischer Angst.

Jo holt sein Messer heraus und versucht, ob er etwas von dem porösen Stein abbröckeln kann, damit sie frei kommt. Er haut das Messer immer und immer wieder in die Felswand und es bröckeln auch immer wieder Teile heraus.

Endlich sagt Katrice: »Okay! Ich bin frei, danke dir, Jo«, dann lässt sie sich schnell herunter. Auch Sudi und Rod machen, dass sie da wegkommen. Jo, der das Messer noch wegstecken muss, kommt erst später dazu, sich abzuseilen.

Zu spät! Scharenweise kommen, wohl durch das Hämmern geweckt, die Fledermäuse heraus und wollen neugierig wissen, wer sich an ihrem Heim zu schaffen macht. Die Luft färbt sich schwarz und es flattert und flattert und es wimmelt und wuselt. Jo verliert den Halt und fällt herunter. Etwa vier Meter stürzt er in die Tiefe.

Sudi und Rod eilen sofort wieder zu ihm. Erst denkt er, sich nichts getan zu haben. Dann zeigt Sudi auf das Blut am Bein. Sudi und Rod nehmen, in dem ganzen Geflatter, Jo in die Mitte und bringen ihn so schnell wie möglich von dort weg.

Jo schreit! Das Bein tut jetzt höllisch weh. Und die Fledermäuse haben Blut gerochen. Die drei rennen einen Hang am Berg hinab, an dessen Ende sie einen kleinen See erreichen. Die Anderen sind bereits dort. Die Fledermäuse flattern um Jo herum. Barbo und Yeho kommen mit den Fackeln zurück, zünden sie an und versuchen, die Fledermäuse mit dem Feuer zu verscheuchen, was wenigstens ansatzweise gelingt, aber eben nur ansatzweise.

»In den See!«, ruft Trisch von weitem.

Sudi und Rod legen noch einen Zahn zu. Jo hat Mühe bei den Schmerzen bei Bewusstsein zu bleiben. Er schreit vor Schmerzen. Warum, weiß er in diesem Moment noch nicht.

Hauptsache wach bleiben, nicht aufgeben. Barbo und Yeho kämpfen wie früher die Ritter und schwingen das Feuer wie Schwerter immer wieder hin und her. In Sudi tritt langsam die Erschöpfung zutage, aber es ist nicht mehr weit.

»Ihr habt es gleich geschafft«, ruft Trisch ihnen entgegen.

Katrice und Zibiah haben ebenfalls ihre Fackeln angezündet und kommen den fünfen entgegen.

»Schatz halt durch, du hast es gleich geschafft«, wiederholt Katrice. Ihre Stimme lässt ihn die allerletzte Kraft aus sich heraus holen. Die Schmerzen sind unvorstellbar. So etwas hat er sich niemals vorstellen können. Und noch weniger hat er sich vorstellen können, dass man das bei vollem Bewusstsein miterleben kann.

Sie sind nur noch ein paar Schritte von einem kleinen See entfernt. Auf der anderen Seite ist ein kleiner Wasserfall.

»Wir gehen etwas baden«, ruft Rod. »Luft anhalten!« Rod und Sudi springen mit Jo ins Wasser und tauchen durch den kleinen See. Es sind vielleicht 15 Meter, aber mit einem gebrochenen Bein, ist selbst das extrem weit.

Hinter dem Wasserfall tauchen sie wieder auf und atmen sofort.

»Hier können sie uns nicht orten, glaube ich«, sagt Rod, als sie hinter dem Wasserfall auftau­chen. Katrice kümmert sich sofort um Jo, der nicht weiß, ob er bewusstlos werden, schreien oder weinen soll.

Etwas in ihm ist sogar zum Lachen zumute. Das müssen irgendwelche Hormone sein, denkt er.

»Jo Schatz, halt durch, wir haben es gleich ge­schafft«, sagt Katrice, die zwar keine Ahnung hat, wie lange es noch dauern würde, aber irgendet­was sagen will, das ihm, und ihr, Mut macht.

»Wie lange müssen wir hier ausharren?«, fragt Jo schreiend gegen den Lärm des fallenden Was­sers an.

»Ich geh mal nachsehen«, ruft Yeho und taucht durch den Wasserfall nach draußen durch.

Betreten schweigen alle, während sie auf Yeho warten. Keiner hat noch die Kraft und den Mut, etwas zu sagen.

Nach kurzer Zeit taucht Yeho wieder auf die­ser Seite des Wasserfalls auf. »Sie sind offenbar abgezogen«, schreit er zurück. Unter dem Was­serfall ist ein fürchterliches Getöse.

»Okay, dann raus hier«, sagt Rod mit knapper, abgehackter Stimme. Auch er ist erschöpft.

»Wir sollten auf der anderen Seite raus und zügig im Wald verschwinden, damit wir Jo verarz­ten können«, sagt Sudi.

»Sehr richtig«, sagt Trisch, »hier kann ich ihm nicht helfen.«

Alle versuchen, nun irgendwie unter dem Was­serfall, hervorzukommen. Sudi und Rod helfen Jo, das Ufer zu erreichen, und nehmen ihn wieder in Ihre Mitte.

Es sind vielleicht 30 Meter, aber für Jo ist es schlimmer als ein Marathon. Sie kommen an eine kleine Lichtung. Das Getöse des Wasserfalls ist nun auf ein angenehmes Maß in den Hintergrund getreten. Endlich hört man wieder die Vögel zwit­schern. Bunt und hell spielen die Sonnenstrahlen mit dem Blätterdach über den Köpfen der acht. Ein Glitzerspiel aus Licht und Schatten tanzt über den Boden. Sudi denkt an die Jalousie von Zuhau­se, aber hier ist die Luft besser.

Trisch ist verschwunden.

»Wie geht es nun weiter?«, krächzt Jo unter Schmerzen.

»Trisch ist in die Apotheke gegangen und kommt gleich mit Medizin zurück«, sagt Barbo achselzuckend.

Jo, versucht mit schmerzverzerrtem Gesicht zu lachen, doch gelingt es ihm nicht. Alles, was ihm entfleucht, ist ein trockener Husten, der nur die­jenigen an ein Lachen erinnert, die wissen, dass er überhaupt lachen möchte. »Eine Apotheke? Hier? Du machst, Dich lustig, oder?«

»Nein, macht er nicht, Du liegst mitten drin«, ruft Trisch, die soeben wieder aus dem Dickicht hervorkommt.

»So, das dauert einen Moment, entspannt Euch einfach«, sagt Trisch und schlägt eine Kokosnuss in zwei Hälften, um das Fleisch herauszukratzen. »Jemand Kokosnuss?«, fragt sie und macht mit der Kokosnuss in der Hand eine Kreisbewegung durch die Runde.

Jo hat Mühe, die Contenance zu bewahren. Er liegt da mit einem gebrochenen Bein und Trisch verteilt Kokosnuss. Das ergibt für ihn keinen Sinn. »Was machst Du da?«, will er wissen. Seine Stimme, aggressiver als er beabsichtigt hat, doch zwingen ihn die Schmerzen zur Hast.

Trisch, die inzwischen eine Hälfte leer hat, geht zum Wasser zurück, um sie zu reinigen. Mit der sauberen Schale kehrt sie schnell zurück. Sie nimmt Ihr Messer zur Hand und schneidet damit die Blätter klein, die sie zuvor gesammelt hat.

»Das sind Niaouli-Blätter. Der Saft dieser Blät­ter wirkt antiseptisch«, sagt Trisch und zeigt auf sein Bein: »Wir wollen ja nicht, das sich das ent­zündet, oder?«

Jo ist erneut beeindruckt, was alles so geht, wenn man sich auskennt. Er hätte das nicht ge­wusst.

»Meine Herren«, Trisch schaut Rod, Barbo und Yeho an, »ich brauche vier Äste, etwa 30 cm lang und gut und gerne daumendick. Wenn möglich festes Holz, nicht zu feucht, dann ist es zu weich, und nicht zu trocken, dann bricht es gleich. Es sollte schon etwas abkönnen«, sagt Trisch und Yeho, Rod und Barbo machen sich sofort auf die Suche.

»Am Ufer gibt es diese großen Blätter, ich brauche davon ziemlich viele«, sagt Trisch, die sich ganz der Reinigung der Wunde verschrieben hat. Sudi und Zibiah gehen sofort los, um die Blätter zu holen. Als sie wiederkommen, ist die Wunde bereits gesäubert.

»So, die Blätter müssen bitte in Streifen ge­schnitten werden. Etwa einen halben Zentimeter breit. Ich muss sie als Schnüre einsetzen kön­nen«, sagt Trisch, und Sudi und Zibiah machen sich sofort an die Arbeit.

Katrice tupft die ganze Zeit Jos Stirn ab, er schwitzt. Es ist sehr warm, und außerdem die Verletzung. Er liegt im Schatten an einen Baum gelehnt.

Nicht zum ersten Mal an diesem Tag denkt er daran, einfach über Funk einen Helikopter zu be­stellen. Die Möglichkeit hat er, aber das will er nicht. Erstens würde er mogeln, denn die ande­ren können das ja nicht machen, und zweitens fühlt er sich in den Händen seiner Gruppen ir­gendwie sogar sicher.

Er hat keine Angst, dass irgendetwas schiefge­hen könnte, fast könnte man sagen, er fühlt sich wohl, natürlich vom Bein abgesehen.

Trisch hat einen hohlen Stein gefunden und benutzt ihn als Tiegel. Sie kocht Wasser darin auf und bröselt einige Pflanzenteile dort hinein. Nach einiger Zeit kocht es. Um sich die Finger nicht zu verbrennen, bugsiert sie vorsichtig, aber ge­schickt, mithilfe von zwei Messern den Stein vom Feuer.

»Das muss jetzt etwas ziehen«, sagt sie. Jo nickt. Er hätte schon gerne gewusst, was das ist, aber er will nicht fragen, da er befürchtet, Trisch würde das als Misstrauen auslegen.

Yeho, Rod und Barbo kommen aus dem Di­ckicht zurück und haben die vier Hölzer dabei.

»Okay, sehr schön. Es wäre nett, wenn Ihr sie oben und unten etwas abrunden würdet, damit sich niemand verletzt«, sagt Trisch.

Die drei nicken und beginnen zu schnitzen.

»Jo, ich werde Dir gleich sehr weh tun. Das ist leider erforderlich. Schau, Du hasst einen offenen Bruch und ich muss den Knochen richten, ehe ich ihn schienen kann. Dieses Richten ist leider nicht schmerzfrei zu haben. Ist das okay, für Dich?«

Zögerlich nickt Jo. Schon während des Nickens beißt er kräftig die Zähne zusammen, denn schon jetzt hat er Schmerzen. Wie viel schlimmer kön­nen die schon werden, denkt er sich.

Rod gibt ihm ein Stück Holz: »Hier, beiß drauf, das hilft.«

Jo löst seine Zähne voneinander und nimmt das Stück Holz zwischen die Zähne. Vorsorglich verzieht er jetzt schon das Gesicht, während sich Trisch in Position begibt.

»Ich zähle nun langsam bis drei und dann, ist das Okay für dich?«

>> krakzz<<

»Baaaaaaaaaahhhhhhhhhhhhh!!!!!!!!!!!!!«

Und noch bevor Jo „ja“ sagen kann, ist alles vorbei.

Er schreit auf und das Stück Holz, auf das er beißt, zerbricht in seinem Mund.

Dann, ganz langsam, wirklich langsam, lässt der Schmerz wieder nach. Er öffnet seine Augen wieder.

»Ich muss, das jetzt schienen«, sagt Trisch und sieht, wie Jo eine Träne runterläuft.

Katrice hält ihn. Nach einiger Zeit geht es dann aber wieder.

»Boah, das war heftig«, sagt er, und Katrice drückt ihn noch fester an sich.

»Ich brauche nun die Blätter und die Stöcke.« Dann beginnt Trisch aus einfachen Dingen der Natur, eine Beinschiene zu bauen, mit antibakte­rieller Wirkung, Knochenentlastung und … Das Beste für Jo kommt ja erst noch.

»Marathon kannst Du vorläufig vergessen, aber das sollte jetzt alles wieder vernünftig hei­len«, sagt Trisch und Jo schaut sie dankbar an, denn sprechen kann er noch nicht, nachdem er den Stock zerbissen hat und die Schmerzen des Einrenkens ihm sein Gehirn kurzfristig lahmge­legt haben.

Dann hält Trisch ihm die Kokosnussschale hin. »Hier, trink das, dann wird es Dir besser gehen«, sagt Trisch. Jo nimmt die Schale zögerlich und riecht zunächst dran. »Riecht komisch«, sagt er.

»Medizin soll nicht schmecken, sondern hel­fen«, sagt Trisch mit mütterlichem Unterton. Jo nickt und trinkt die Schale in kleinen Schlucken leer.

Trisch schaut ihn mit einer Mischung aus Mit­leid und einem kleinen bisschen Neid an. »Das wird etwa eine halbe, vielleicht eine dreiviertel Stunde dauern, bis es anfängt zu wirken. Wir kön­nen es uns, solange gemütlich machen, denn vor­erst geht er nirgendwo hin.«

»Möchtest Du etwas Kaltes trinken, Schatz?«, erkundigt sich Katrice.

»Oh ja, das wäre toll. Holst Du mir etwas?«, fragt Jo.

»Ich mach das.« Zibiah springt auf.

»Wer von Euch hat noch irgendwelche Süßig­keiten, Energieriegel, irgendwas?«, fragt Trisch in die Runde.

»Ich habe noch einen«, sagt Yeho.

»Gib ihn mir bitte, Jo wird ihn bald brauchen«, sagt Trisch.

»Woher weißt Du das?«, will Katrice wissen.

»Sagen wir, ich kenne mich da aus«, entgegnet Trisch.

Katrice nickt zwar, aber eine befriedigende Antwort war das nicht.

Es ist sehr angenehm, jetzt nur einfach mal so in der Sonne zu liegen, nichts tun zu müssen. Sudi ärgert Rod mit einem Grashalm und streicht damit immer über seine Nase.

Auch Zibiah und Yeho haben sich etwas ab­seits ins hohe Gras gelegt. Was sie dort machen, wollen wir jetzt nicht so genau wissen, oder doch?

Die Zeit vergeht schneller als gedacht und ir­gendwann meint Jo: »Hört Ihr das auch? Das Rau­schen des Wasserfalls und das Singen der Vögel, passt voll gut zusammen, die singen zusammen.«

»Schatz, alles gut mit Dir? Wie fühlst Du Dich?«, will Katrice wissen, die Stirn in Sorgenfal­ten gelegt.

»Ich denke, wir können weiter«, sagt Trisch mit einem Grinsen im Gesicht.

»Mir geht es gut, Schatz. Ihr müsst mich nicht nach Hause tragen, ich bin ein Gummiball, ploing ploing ploing.«

»Schatz was ist mit Dir? Alles in Ordnung?« Katrice wird sehr unruhig, versteht nicht, warum er plötzlich so anders ist, und bekommt Angst. Ihre Stimme überschlägt sich beinahe.

»Mach Dir nichts draus, der ist breit wie ein Wasserschwein. Aber schmerzfrei, wir können nach Hause«, sagt Trisch mit einem Augenzwin­kern an Kat gerichtet.

Rod, steht auf. »Okay, dann mal los, ich will duschen.«

»Oh ja, ich auch«, pflichtet Trisch ihm bei.

»Barbo, wir nehmen Jo in die Mitte«, sagt Rod und beide versuchen, ihn hochzubekommen. Jo zeigt sich anfangs sehr entspannt.

»Kannst Du bitte etwas mithelfen?«, fragt Rod.

»Oh ja, jetzt geht es los, Ploing ploing ploing.« Jo muss lachen. Ziemlich laut und sehr ausgiebig lachen.

Katrice schließt sich Trisch an. Ihre Augen sind immer noch leicht geweitet und Ihre Stimme zittert. »Ich muss mir doch keine Sorgen machen, oder?«

»Nein, nein! Morgen ist er wieder der Alte. Aber es ist so besser, als wenn er Schmerzen hät­te.«

»Da hast Du recht«, sagt Katrice.

»Ich kann ja mal vorhüpfen, oder? Ploing ploing ploing« Jo ist ziemlich witzig drauf und will sich halb totlachen.

Rod und Barbo finden die Abwechslung eben­falls lustig und lachen mit Jo. »Ploing, ploing, ploing«, rufen sie nun zu dritt durch den Dschun­gel.

»Was hast du ihm da gegeben?«, fragt Katrice.

»Ich habe Radula Marginata, gefunden und ei­nen Tee daraus gemacht«, sagt Trisch. »Das ist ein Moos, welches Perrotetinsäure, Delta-9-THC, enthält. Ein Canabinoid.«

»Schatz wir brechen uns jetzt jeden Tag die Beine, das ist toll«, singt Jo vor sich hin.

»Natüüüüüürlich ist es das!« Katrice streichelt ihm über die Stirn.

»Wie weit mag es noch sein?«, fragt Zibiah und Yeho holt die Karte raus.

»Es ist nicht mehr weit. Schau, wir sind hier ungefähr und da müssen wir hin. Wir sind nicht so schnell, ich denke, aber in 20 Minuten sind wir wieder am Zelt«, sagt Yeho.

»Und unter der Dusche!«, seufzt Trisch.

»Man, werd ich den Geruch vom Leguan ver­missen«, stichelt Barbo.

»Vielleicht kann der SuBaMoSy dir einen Re­plizieren«, stellt ihm Trisch, ebenso höhnisch und sarkastisch, in Aussicht.

»Oh Schatz, wir und der Leguan unterm Ster­nenhimmel. Ich könnte zerfließen vor Leiden­schaft«, meint Barbo und alle müssen lachen.

»Schokolade wäre jetzt toll. Hat jemand Scho­kolade?«, fragt Jo, dem auffällt, dass sein Hals ganz trocken ist.

»Siehste, das meinte ich vorhin«, sagt Trisch zu Yeho, der nickt.

»Hier Jo, Yeho hat noch einen Energieriegel. Den kannst du haben«, sagt Trisch und reicht ihm den Riegel.

Katrice nimmt ihn entgegen und macht das Pa­pier ab. »Wartet mal bitte kurz, damit er abbei­ßen kann«, sagt Katrice zu Rod und Barbo, die Jo halb getragen haben.

Das Spielchen wiederholt sich noch einige Male, bis der Energieriegel aufgegessen ist.

Aber dann schaffen sie es doch.

Sgt. Hudson hat seine Heimkehrer bereits er­wartet.

Sudi, die sich in den letzten Tagen auch etwas im Militärton geübt hat, macht Meldung: »Acht Mann von Außenmission zurückgekehrt, ein Mann benötigt ärztliche Hilfe. Sonst keine weite­ren Vorkommnisse.«

»Danke! Ich kümmere mich sofort darum«, entgegnet Hudson.

Hudson, der ja weiß, dass Jo Dr. Janssen ist, will sofort und augenblicklich, dass ärztliche Hilfe kommt.

»Hudson ich kann fliegen, ploing ploing ploing«, sagt Jo.

»Was ist denn mit dem los?«, will Hudson wis­sen.

»Och, das ist ´ne lange Geschichte«, wiegelt Trisch ab.

»Sanitäter wird informiert. Wegtreten«, be­fiehlt Hudson.

Alle verschwinden im Zelt. Jo haben sie erst einmal auf das Bett gesetzt und alle beginnen sich auszuziehen. Vor allem die schweren Stiefel müssen weg. Aber auch die stinkenden Klamotten endlich loszuwerden, ist eine Wohltat.

»Was ist denn hier los? Alle Nackedei?« Jo ver­steht gerade die Welt nicht mehr.

»Wer als erster unter der Dusche ist«, spornt Sudi den Rest an und sprintet los.

Hektisch werden sämtliche Kleidungsstücke weggeworfen und dann im Laufschritt Richtung Dusche. Gleichzeitig landet der von Hudson geru­fene Helikopter. Die Sanitäter fragen Hudson, der in die Richtung zeigt, aus der die Nackten aus dem Zelt kommen. Was allerdings niemanden juckt. Man ist inzwischen schon recht häufig und lang zusammen gewesen, da spielt das auch kei­ne Rolle mehr.

Jo haben sie auf einer Trage mit in den Heliko­pter genommen und Katrice bleibt bei ihm. Unter lautem Flügelschlagen hebt der Helikopter ab und das Rauschen der Duschen erklingt.

Der Dampf steigt auf und es ist eine Wohltat, sich die letzten Tage von der Haut zu waschen. Entspannte Gesichter überall.

Etwas später treten alle noch einmal an und machen Meldung beim Sergeant. Der befiehlt Freizeit, bis auf Weiteres.

Der Tag neigt sich dem Ende zu, und so wirk­lich viel Elan hat heute Abend keiner mehr. Aber ein großzügiges Abendbrot ist noch drin, dann gehen alle früh erschöpft zu Bett.

Im inseleigenen Krankenhaus geht Katrice, die immer noch die Kleidung von der Übung trägt und immer noch nicht geduscht hat, schon seit ei­ner Weile im Flur auf und ab.

Endlich öffnet sich die Tür. Ein Mann mit ei­nem grünen Ganzkörperkittel kommt heraus und nimmt den Mundschutz ab.

»Ah, Frau Bordelon, gut das sie da sind«, sagt der Arzt lächelnd und entspannt, während er ihr entgegenkommt.

»Was ist mit Jo? Doktor?«, will sie wissen.

»Dr. Janssen geht es prima. Ich weiß nicht, wer ihm das Bein gerichtet und geschient hat, aber es war absolut perfekt gemacht. Wir haben den Knochen bereits wieder zusammengelasert und haben ihm etwas gegeben, damit er schläft. Morgen, nach dem Frühstück, ist er wieder der alte.«

Katrice ist sehr erleichtert, das zu hören. »Kann ich hier irgendwo schlafen?«, fragt sie.

»Sie können ein Krankenbett bekommen, aber tun können sie derzeit nichts für ihn, er schläft. Wenn ich Sie wäre, dann würde ich zu Ihren Freunden zurückkehren. Er wird morgen Vormit­tag zu ihnen gebracht.«

»Nein, ich bleibe hier, bei ihm«, unterstreicht Katrice Ihren Wunsch.

»Wie sie meinen, warten sie hier, ich werde veranlassen, dass man Ihnen ein Bett zukommen lässt.«

Gerade will der Arzt den Flur runter, wie Katri­ce noch einmal nachhakt: »Etwas Sauberes anzu­ziehen haben sie nicht zufällig, oder? Eine Du­sche wäre auch gut.«

Der Arzt dreht sich noch einmal schmunzelnd um. »Eine Dusche ist gleich im Zimmer. Was die Kleidung angeht ... ich werde sehen, was sich ar­rangieren lässt«, sagt er und verschwindet in ei­nem kleinen Büro.

Katrice steht allein im langen Flur. Neonlicht. Es sieht sehr kalt und ungemütlich aus. Da geht auf einmal hinter Ihr eine Tür auf.

»Frau Bordelon?«, fragt eine Krankenschwes­ter.

»Ja, das bin ich«, sagt Katrice.

»Folgen Sie mir, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer«, sagt die Krankenschwester.

»Oh ja, natürlich. Haben sie auch Kleidung für mich? Irgendwas Sauberes?«, fragt Katrice.

»Ihre frische Kleidung wir gerade geholt und auf Ihr Zimmer gebracht. Das kann nicht mehr lang dauern.«, sagt sie, während sie geht, und noch bevor sie fertig gesprochen hat, verhallen die Schritte im langen Flur: »Soooooo, da sind wir auch schon.«

Katrice fragt sich, warum Krankenschwestern jeden Satz mit »Soooooo« anfangen, Aber das ist nun auch egal. Die Krankenschwester öffnet die Zimmertür und geht zum Fenster durch, um es zu öffnen.

»Handtücher, Seife und Shampoo liegen im Bad. Wenn Sie sonst noch etwas brauchen, drü­cken Sie einfach diesen Kopf hier«, sagt die Kran­kenschwester und zeigt Kat den Notfallknopf.

»Haben Sie auch eine Zahnbürste für mich, und etwas Zahnpasta?«, will Katrice wissen und bemüht sich, nicht rot zu werden oder gen Boden zu schauen, weil sie so viel verlangt, von jeman­dem, der Ihr hilft und dem sie im Gegenzug nicht helfen kann.

»Ja, natürlich. Gleich wird Ihr Abendbrot ge­bracht, die Kollegin bringt Ihnen beides mit. Ha­ben Sie für das Abendbrot ganz bestimmte Vor­stellungen?«, fragt die Krankenschwester.

»Ein Kalbsschnitzel auf Calvados und einen schönen Rotwein vom Château de Pibarnon wür­de mir jetzt gefallen«, sagt Katrice.

Die Krankenschwester lacht laut. »Ja mir auch. Das ist hier ein Krankenhaus, Schätzchen, nicht das Mirazur. Aber wenn sie keine Leberwurst mö­gen, kann ich ihnen Käse bringen.«

Katrice überlegt kurz. »Sie haben recht. Leber­wurst wäre nicht so toll. Haben Sie etwas Obst oder einen Joghurt dabei?«, fragt Katrice inzwi­schen recht bescheiden.

»Ich schau mal. Ich bringe Ihnen von jedem et­was, was sie nicht mögen, lassen sie einfach ste­hen. Rotwein ist im Krankenhaus auch eher nicht da, aber Sie können zwischen Kamillen- und Pfef­ferminztee wählen.«

»Na, wenn das nicht verlockend ist«, sagt Ka­trice, der klar wird, dass sie auf Haute Cuisine aus der Provence wohl verzichten muss. »Pfeffer­minztee ist okay«, ergänzt sie schließlich.

Die Krankenschwester verneigt sich kurz und verschwindet, und Katrice ist allein.

Aber noch ohne Wechselkleidung. Sie geht durch das Zimmer. Vielleicht findet sie irgendet­was, dass sie beschäftigen kann. Aber das ist lei­der nicht der Fall. Es gibt nicht einmal einen Fernseher. Natürlich nicht, so weit wie sie von al­lem weg sind. Sie setzt sich auf das Bett und lässt die Beine baumeln.

Da öffnet jemand nach dreimaligem Klopfen die Tür. Als Katrice »herein« sagt, ist die Frau längst drin.

»Oh, ich störe sie hoffentlich nicht?«, fragt sie.

»Nein, nein, ist okay.«

»Ich bringe Ihnen Ihre Sachen.«

»Ich danke Ihnen«, sagt Katrice und die Frau legt die Sachen geordnet auf den Stuhl und ver­schwindet wieder.

»Jetzt duschen!«, sagt Katrice zu sich selbst und zieht sich aus.

Es dampft reichlich und das heiße Wasser tut so gut. Das Shampoo verbreitet blumige Düfte und Katrice hat es überhaupt nicht eilig. Sie duscht und duscht und duscht. Ahhhh war das herrlich. Der ganze Stress der letzten Tage wird einfach runtergeschrubbt. Dass draußen die Zim­mertür aufgeht und jemand Ihr das Abendessen reinbringt, hat sie gar nicht mitbekommen.

Als Katrice bemerkt, dass Ihre Haut zum Teil anfängt, weiß zu werden, meldet sich ihr Magen, der über Beschäftigungsmangel klagt. Sie dreht den Hahn ab, und kommt raus.

Sie isst ihr Abendbrot und dann legt sie sich hin. Der Tag war lang und hart und es gehen ihr viele Gedanken durch den Kopf. Was alles hätte passieren können, aber nicht passiert ist. Manch­mal, wie sie so im Bett da liegt, stockt ihr bei den Gedanken das Herz. Langsam dreht sie sich um, zieht die Decke bis zum Hals hoch und schläft ein.

5.3.04 Am nächsten Morgen

Rumms, die Tür wird aufgerissen. Sie knallt gegen die Wand. »Sooooo, Dr. Janssen, Sie wer­den heute entlassen.« Die Krankenschwester tobt herein und Jo blinzelt unter der Decke hervor.

»Was ist los?«, will er mit verschlafenem Blick wissen.

»Ihre Entlassung. Sie können heute wieder raus«, wiederholt die Krankenschwester.

Er reibt sich die Augen.

Sie hastet weiter durch das Zimmer, nimmt Utensilien des Krankenhauses auf, die gereinigt werden müssen und sucht den Raum nach allem Möglichen ab. »Sie haben 45 Minuten Zeit, um sich zu duschen und sich anzuziehen. Die Kolle­gin bringt Ihnen gleich das Frühstück.«

Dr. Janssen setzt sich auf die Bettkante, und die Krankenschwester beginnt sofort hinter ihm das Kissen aufzuschütteln. »Ich stehe wohl besser auf, ehe Sie mich hier noch mit einlegen«, sagt Jo.

Die Krankenschwester schüttelt weiter das Kissen auf und nimmt Jo die Decke ab, um sie auf den inzwischen doch großen Wäschehaufen zu werfen, schaut ihn aber nicht an. »Das ist ein aus­gezeichneter Vorschlag. Frau Bordelon ist auch hier, sie kommt gleich, dann können Sie gemein­sam Frühstücken.«

»Oh, wunderbar«, trällert Jo »Ich gehe lieber schnell duschen.«

Jo steht auf und überprüft den Halt seiner Kno­chen. Er wippt etwas auf und ab, stellt sich zuerst auf das eine, dann auf das andere Bein, jeweils für sich allein. Nichts tut mehr weh. Da kommt auch schon ein Arzt herein, der nach dem Rein­kommen die Tür offenlässt und sich offenbar über die problemlose Heilung des Beins freut.

»Guten Morgen Dr. Janssen, wie ich sehe, geht es Ihnen schon viel besser«, stellt der Arzt fest.

»Ja, nichts tut mehr weh, das ist wirklich er­staunlich. Ich danke Ihnen, Sie leisten sehr gute Arbeit«, sagt Jo.

»Ah, Dr. Köhler!«, ruft der Arzt durch die Tür auf den Flur. »Dr. Janssen ist wach und wohl auf«, sagt der Arzt und Dr. Köhler ist nicht allein.

»Guten Morgen Dr. Janssen, schön, dass es Ih­nen besser geht«, sagt Dr. Köhler, der einen Trupp Visite-Ärzte hinter sich herzieht.

»Sie können das Bein wieder normal belasten, nur Leistungssport sollten Sie für die nächsten acht Wochen noch vermeiden. Sie bekommen eine Schiene mit, die Sie bitte anlegen, sobald mit steigender Belastung zu rechnen ist.«

»Ja, natürlich. Was genau ist denn nun eigent­lich passiert, mit dem Bein?«, hakt Jo nach.

»Wie es aussah, hatten Sie harten Kontakt mit einem Gegenstand, der zu einer Unterschenkel-Fraktur führte. Die Wunde wurde sehr gut ver­sorgt und der Bruch noch vor Ort gerichtet. Wer das gemacht hat, versteht sein Handwerk. Das war gute Arbeit. Als Sie bei uns ankamen, haben wir Sie gleich geröntgt, und im OP die notwendi­gen Schritte eingeleitet. Als Erstes haben wir den Knochen mit einer Laserstimulationstherapie wie­der zusammengeschweißt und anschließend mit dem Geweberegenerator das Muskelgewebe und die Haut repariert. In den nächsten Tagen wer­den Sie manchmal ein taubes Gefühl im Fuß ha­ben. Das sollte Sie nicht beunruhigen, es vergeht wieder«, erklärt Dr. Köhler mit einem Zwinkern.

»Huch was ist denn hier los?«, fragt Katrice, als sie reinkommt und zählt die vielen Leute, die sich in dem kleinen Raum befinden. »1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11. Machst Du hier eine Party Schatz. Willst Du nicht duschen? Der Helikopter bringt uns gleich zurück und ich will noch früh­stücken«, sagt Katrice geschäftig.

»Ja, danke für Deine Anteilnahme, es geht mir schon wieder ganz gut«, sagt Jo nickend.

»Das weiß ich. Dr. Köhler erklärte es mir vor­hin schon ausführlich auf dem Flur und ich freue mich auch drüber, aber können wir uns nachher freuen? Wir haben nicht so viel Zeit.« Katrice klopft mit dem Zeigefinger auf Ihre Armbanduhr.

»Nun mach doch keinen Stress Schatz, ich gehe jetzt duschen, dann frühstücken wir zusam­men und wenn es gar nicht anders geht, muss der Pilot mal 20 Minuten warten. Das wird keinen Weltuntergang nach sich ziehen«, sagt Jo, der versucht Katrice etwas zu beruhigen, mit al­ler Gemächlichkeit, die er in seine Stimme legen kann.

Katrice beruhigt das gar nicht. Ganz im Gegen­teil, sie wird noch nervöser. Sie dreht sich zu der Gruppe aus Ärzten, Forschern oder was auch im­mer sie alle sein mögen, um. »Dr. Janssen will jetzt Duschen. Wenn Sie uns bitte entschuldigen würden!« Sie wedelt mit Ihrer Hand in Richtung Tür. Als alle draußen sind, schließt sie die Tür und atmet tief durch, mit dem Körper starr an die Tür gepresst. »Puuuhhhh.«

Jo sitzt immer noch auf der Kante seines Bet­tes und schaut sie belustigt und mit einer hochge­zogenen Augenbraue an, doch sagt er nichts, um die Szene möglichst lang weiter beobachten zu können. Er grinst.

Als sie sich beruhigt hat, rennt sie zu Jo und umarmt ihn. »Ich bin so froh, dass es so gut ge­laufen ist. Wäre wirklich schade gewesen, alle an­deren warten zu lassen«, sagt Katrice.

»Ja, das haben sie wirklich schnell und gut hin­bekommen, aber nun gehe ich erst einmal du­schen.« Jo steht auf, nimmt Kat in den Arm und küsst sie. »Geh doch bitte noch einmal nach der Schwester sehen, ob sie uns Orangensaft auftrei­ben kann.« Katrice nickt und Jo verschwindet im Bad.

-*-

Yeho, Zibiah, Trisch, Barbo, Rod und Sudi sit­zen bereits im Freien beim Frühstück und unter­halten sich darüber, wie es nun weiter geht.

»Das ist nun wirklich doof gelaufen. Ich moch­te die Beiden, und nun müssen sie aufhören. Die ärgern sich bestimmt die Platze«, sagt Sudi.

»Ja, der Bruch wird eine Weile brauchen, bis er geheilt ist, solange warten die bestimmt nicht«, sagt Trisch.

»Wie lange glaubst Du, wird er weg sein?«, will Yeho wissen.

Barbo kümmert sich hingebungsvoll dem, was der SuBaMoSy auf den Tisch gezaubert hat.

»Die Granulationsphase«, beginnt Trisch zu er­klären, »sollte in 3–4 Wochen abgeschlossen sein. Danach folgt die Kallusaushärtung. Die Chondro­zyten lagern das Kalzium wieder ein. Das gibt dem Knochen dann seine Stabilität. Anschließend modelliert sich der Knochen noch etwas, aber ich schätze mal, es könnte schon 6 Wochen dauern.« Trisch reibt sich nachdenklich über das Kinn.

»Aber bei mir ging das doch auch so flott, die hatten meinen Fuß, und der war viel komplizier­ter gebrochen, auch in ein paar Tagen wieder hin«, lenkt Rod ein.

»Das ist wahr, aber das bedarf sehr aufwendi­ger Technik. Ich bin mir nicht sicher, ob die hier auf der Insel so etwas haben«, gibt Trisch zu be­denken.

»Chondro… Was?«, fragt Barbo mit vollem Mund.

»Chondrozyten, die Lagern das Kalzium ein«, wiederholt Trisch.

»Ach so, na klar... Chondro…« Barbo nickt ein­fach und interessiert sich sowieso gerade mehr dafür, wie er sein Nahrungsdefizit der letz­ten Tage ausgleichen kann.

Sergeant Hudson nähert sich dem Tisch und Rod steht auf. »Sir, sechs Mann beim Essen fas­sen, zwei Mann leider im Hospital, Sir«, ruft er Hudson entgegen, während er salutiert.

»Danke, setzen«, sagt Hudson, der natürlich weiß, was los ist. Hudson verfällt in einen leise­ren Tonfall. »Darf ich mich zu Euch setzen?«

»Sir, jawohl Sir«, sagt Rod.

»Wir sind unter uns, also können wir den Sir mal so lange an den Nagel hängen.« Hudson lä­chelt und klingt sanft und freundlich.

»Das mit Jochen und Katrice ist schlecht gelau­fen, wirklich Schade, ich mochte die beiden«, sagt Hudson und legt den Kopf schief. Besorgt betrachtet er jeden einzelnen am Tisch. Ob Jo ih­nen etwas bezüglich seiner wahren Identität an­vertraut hat?

»Man wird sie im Krankenhaus gut versorgen, gehe ich mal von aus«, sagt Barbo.

»Auf jeden Fall ist es dort schön sauber«, sagt Yeho.

Und Trisch meint: »Oh ja, die Dusche hatte ich die Tage auf Übung wirklich vermisst.«

»Wie sieht es bei Euch aus? Alles klar so weit?« Hudson hakt noch einmal nach.

Sudi atmet tief ein, ehe sie antwortet. »Ja, wir werden die Sache hier durchziehen. Wir haben viele Leute verloren, seit wir hier sind. Entweder, weil sie nach Hause gegangen sind, auf die eine oder andere Weise, oder nach Hause geschickt wurden. Das ist alles nicht einfach. Aber jetzt auf­zuhören wäre falsch. Wir würden all das auf uns nehmen, ohne vom Kuchen zu naschen.«

Alle Anwesenden klopfen mit dem, was sie ge­rade in der Hand haben auf den Tisch.

Sudi wird rot. So viel Zustimmung auf einmal ist Ihr unangenehm.

»Da, hört mal«, sagt Barbo, der immer etwas besser hören kann als die anderen.

»Was denn?« Zibiah versucht, angestrengt zu hören.

»Na, hört Ihr es denn nicht?«, fragt Barbo nach und alle halten den Atem an.

»Da! Ich höre was!« Zibiah lässt den Zeigefin­ger in der Luft wippen und nickt.

»Nun höre ich es auch«, bestätigt Rod ni­ckend.

»Das ist ein Hubschrauber«, stellt Zibiah fest und zieht fragend die Augenbrauen zusammen. In Ihr kommt große Freude auf, als sie unwillkürlich an Kat denkt, und hofft, dass Ihr nicht wieder die Röte ins Gesicht steigt, sollte sie es denn wirklich sein. Sie hofft so sehr, dass es Kat ist, die da mit dem Hubschrauber zum Camp geflogen kommt.

»Los, lass uns mal gucken«, schlägt Rod mit leuchtenden Augen vor. Seine Abenteuerlust und seine Wissbegierde sind geweckt.

Alle stehen auf, um zum Landeplatz des Heli­kopters zu gehen und den Hubschrauber in Emp­fang zu nehmen.

Als sie am Helikopter ankommen, ist der Motor bereits abgestellt und der Wind von den Rotor­blättern weniger spürbar. Die Tür geht auf und Katrice steigt raus.

Zibiahs Herz klopft und pumpt und hämmert so stark gegen Ihren Brustkorb, dass sie denkt, es würde ihn zum Bersten bringen. Sie spürt die Hitze in Ihre Wangenknochen schießen und weiß, dass die Röte nun deutlich sichtbar ist.

»Huhu, wir sind wieder dahaaaa!«, ruft Katrice gegen den Rest-Lärm der langsamer werdenden Rotorblätter an. Und alle rennen auf die Tür zu.

»Hey, das ist ja großartig«, sagt Sudi und fällt Kat in die Arme, um sie zu begrüßen.

Zibiah steht an Ihrem Platz, wie gelähmt vor Freude und gleichzeitig aufkeimenden Fragen.

»Wo ist Jo«, will Rod wissen.

In diesem Moment erscheint jedoch auch er in der Tür des Helikopters und steigt aus. Kernge­sund, nicht einmal ein winziges Humpeln.

»Das darf doch nicht wahr sein! Dein Bein? Al­les gut?«, Trisch ist außer sich vor Freude.

»Nun lasst mich erst einmal aussteigen«, beru­higt Jo die Anwesenden und Katrice hilft Jo, der die Tür wieder verschließt, als er draußen zweimal mit der flachen Hand auf den Helikopter schlägt. Alle entfernen sich rasch aus dem Wir­kungskreis der Rotorblätter und der Heli hebt ab und verschwindet.

»Hey, irre man, das ist ja klasse, dass Ihr wie­der da seid«, freut sich Sudi und auch die ande­ren sind ganz aus dem Häuschen.

Zibiah hat sich inzwischen aus Ihrer freudigen Schockstarre gelöst, doch bringt immer noch kein Wort hervor. Sie lächelt und freut sich, himmelt Katrice an. Sie atmet mehrere Male tief durch, um sich zusammenzureißen.

»Der Bruch? Was ist mit dem Bruch? Ich habe ihn genau gesehen«, sagt Trisch mit zusammen­gekniffenen Augen und fuchtelt wie wild an Jos Bein herum, doch nichts ist mehr von einem Bruch zu spüren, nicht einmal eine Wunde hat er noch.

»Ich soll Dich schön grüßen. Du hast tolle Ar­beit geleistet, sagt Dr. Köhler, der Chefarzt«, lobt Jo Trisch.

Trischs Brust schwillt an vor Stolz, Ihre Schul­tern lehnt sie zurück und richtet Ihren Rücken so gerade auf, wie nur kann. »Und wieso ist das schon wieder...?«

»Schon wieder geheilt? Tja, sie haben da so eine Technik, mit der das schneller geht«, sagt Jo und hält die Erklärung möglichst allgemein.

»Ja, das war doch bei mir auch«, sagt Rod. »Ich hatte einen Unfall. Der Fuß war gebrochen, und ich bin in eines der Krankenhäuser der Firma ge­kommen. Da war Ratz Fatz alles wieder in Ord­nung.«

»Okay, ich sollte mich etwas hinsetzen«, sagt Jo und schwankt zu einem großen Stein, auf den er sich niederlässt. »Der Doktor meint, ich könnte zwar wieder normal auftreten, soll aber unnötige Anstrengung noch vermeiden.«

Kat hilft ihm noch einmal auf und alle gehen zu dem Tisch, an dem zuvor die übrigen gefrüh­stückt haben.

»Wollt Ihr etwas Frühstücken?«, fragt Zibiah nervös, den Blick auf Kat gelegt.

Katrice erwidert Zibiahs Blick und lächelt. »Wir hatten gerade im Krankenhaus etwas, aber ein Kaffee wäre nett. Du auch einen Schatz?«

Jo nickt.

»Zibiah, zwei Kaffee, schwarz mit Zucker«, sagt Katrice und Zibiah verschwindet nickend Richtung SuBaMoSy.

»Ich freue mich wirklich, dass Ihr wieder da seid«, sagt Rod und nimmt Jo männermäßig in den Arm. Sudi nimmt Kat in den Arm. Auch die anderen zeigen Ihre Freude über Ihre Wieder­kehr. Dann setzen sich alle.

»Wäre nicht mehr dasselbe ohne Euch«, meint Rod, und wieder trommeln die anderen mit et­was, was sie gerade in Händen halten, auf den Tisch.

»Ich bin immer noch ganz überrascht, wie schnell das ging«, sagt Trisch.

»Ja, ich auch«, sagt Jo, »aber wenn es länger gedauert hätte, das wäre nicht schön gewesen. Der ganze Stress hier für nichts und wieder nichts.«

»Ja, Apropos Stress, weiß jemand wie es hier weiter geht?«, fragt Barbo, der schon wieder den Mund voll hat.

»Nein, aber vielleicht weiß der Sergeant et­was«, sagt Jo, was natürlich gelogen ist, aber die­se kleine Flunkerei muss er ja machen. Zum wiederholten Male steht seine Tarnung auf dem Spiel.

»Sergeant?! Ob Sie kurz zu uns kommen könn­ten?«, ruft Jo quer über den Platz. Bei jedem an­deren hätte der Sergeant, wegen dieser Respekt­losigkeit, nun Laufschritt bis zum Umfallen befoh­len, aber bei Dr. Janssen geht das nicht. Hoffent­lich fällt den anderen dieser Fehler nicht auf, hofft Jo und schließt kurz die Augen, atmet tief durch, unmerklich für die anderen.

Hudson nähert sich mit fragendem Blick. »Kann ich ihnen helfen?«

»Wir würden gern wissen, wie es hier weiter­geht?«, erkundigt sich Jo.

»Nun, die Letzten werden heute Abend von Ih­rer Übung zurückerwartet. Morgen ist ein Tag frei, Badespaß, Faulenzen, was immer Ihnen dazu einfällt. Übermorgen, gleich morgens nach dem Aufstehen, erzähle ich Ihnen, wie es weiter geht«, erklärt Hudson mechanisch. Auch er gibt sich größte Mühe, Jos Tarnung aufrecht zu erhalten.

»Badespaß und Faulenzen? Das ist genau mein Ding. Wir gehen zum Strand runter und machen ein kleines Lagerfeuer an, was meint Ihr?«, fragt Barbo.

»Oh, das wäre herrlich, und baden, ich würde so gern mal wieder richtig baden gehen, daliegen und Wasser von allen Seiten«, schwärmt Zibiah.

»Oh, wir können nicht!«, sagt Barbo aufge­schreckt und alle drehen sich zu ihm, starren ihn an, die Münder leicht geöffnet.

»Warum?«, will Yeho wissen.

»Wir bräuchten ein Musikinstrument, eine Gi­tarre, wäre fein!«, sagt Barbo.

Jo, der die Berechtigung für den SuBaMoSy hat, schaut wohlwollend, zum Sergeant, der dar­aufhin sagt: »Das mit der Gitarre? Da muss ich mal sehen, was sich machen lässt.« Wieder klop­fen alle mit irgendwas auf den Tisch und ju­beln Sergeant Hudson zu.

»Dann würde ich sagen >Wolldecke Marsch<, oder?«, fragt Rod, während er aufsteht. Und alle tun es ihm nach.

»Ich hab noch Kaffee!«, sagt Katrice, die als einzige noch sitzen geblieben ist.

Jo setzt sich wieder zu Kat und schaut die Gruppe, die noch mal stehen geblieben ist, an. »Geht schon vor, wir kommen gleich nach.«

Die Anderen drehen sich noch mal um, winken kurz und gehen vor.

»Lass sie erst mal losgehen, dann haben wir genug Zeit, die Gitarre zu replizieren«, flüstert Jo Kat zu, die näher an ihn heranrückt und ihm den Nacken krault.

»Wenn ich vorher gewusst hätte, wie abgefah­ren das hier alles ist, hätte ich mich schon viel früher mal zu so etwas gemeldet«, sagt Katrice.

»Nur fliegen Generationsraumschiffe nicht ständig von der Erde weg«, sagt Jo einfühlsam und liebevoll.

»Was ist mit Deinem Kaffee?«, fragt Jo und nickt Ihrer Tasse zu.

Kats Blick huscht kurz in die Tasse, ehe sie antwortet. »Einen Schluck noch, Moment, gleich aus.«

Einen Moment später erreichen die beiden das Versorgungszelt, um die Gitarre zu replizieren. Er steckt seine ID-Card in den SuBaMoSy und gibt ein paar Zahlenfolgen ein. Dann hat er das Menü auf dem Schirm und klickt hier und da, bis er die Musikinstrumente auswählen kann.

»Nylonsaiten, Stahlseiten oder lieber eine MIDI-Gitarre?«, erkundigt sich Jo und runzelt fragend die Stirn.

»Ich denke MIDI-Gitarre, oder? Barbo spielt keine klassische oder spanische Gitarre. Und für einen Alleine ist MIDI besser, meine ich«, sagt Katrice nickend, nachdenklich, eher zu sich selbst als zu Jo.

Jo nickt ebenfalls und stellt den Replikations­arm wieder zur Seite.

»So, ich glaube, ich habe es«, sagt Jo nach ei­nigen Minuten, klickt ein letztes Mal und schon entsteht die MIDI-Gitarre vor seinen Augen.

»Okay, auf zum Strand«, sagt Jo, als er den Arm des SuBaMoSys zurückstellt, und beide dre­hen sich um und folgen den anderen an den Strand.

-*-

Katrice und Jo kommen kurz nach den anderen am Strand an.

»Hey Barbo, kannst du mit dem Ding hier was anfangen?«, ruft Jo und hält die Midigitarre hoch.

Barbo läuft auf Jo zu. Sein Gesicht hellt sich auf, als er sieht, was Jo in der Hand hält. »Ein Ei­erschneider! Wow!«, und nimmt die Gitarre in die Hand. »Oh?!?« Ein gequälter Gesichtsausdruck breitet sich bei Barbo aus. »Das wird schwierig«, sagt er und zieht die Stirn in Falten.

»Warum? Was ist denn?«, fragt Trisch.

»Ja, schau mal, die ist kaputt, da ist ein Loch drin.« Barbo grinst breit und unterdrückt mit Mühe und Not ein Lachen.

Trisch springt auf, sie kann sich das Lachen nicht mehr verkneifen. »Ich werfe dich ins Was­ser! Ich werfe dich ins Wasser! Das gibt’s ja gar nicht«, empört sich Trisch, »dieser Rotzlöffel.«

Trisch läuft hinter Barbo her und versucht ihm laut lachend einen Klapps auf den Po zu geben. Aber Barbo kann trotz Gitarre in der Hand recht­zeitig fliehen. Die Anderen lachen. Offenbar sorgt diese kleine Einlage für gute Unterhaltung aller Anderen.

Der Tag vergeht. Alle Pärchen haben sich mit respektvollem Abstand zueinander an den Strand gelegt. Niemand ist weg, jeder sieht jeden, aber an diesem Tag gibt es mal nicht so viel zu erzäh­len. Die Ruhe, das Meeresrauschen und ab dem späten Nachmittag das Lagerfeuer, das in den Ohren knistert. Das ist erholsam und beruhigend für alle und jeder genießt es, beim Anderen zu sein, ohne etwas sagen zu müssen, ohne die Stille als peinlich oder beklemmend zu empfinden.

Jo macht sich den ganzen Tag Gedanken. Er würde sich so gerne bei seinen Leuten bedanken, dass sie ihm so sehr geholfen haben, aber dazu müsste er seine Rechte als Dr. Janssen am SuBa­MoSy einsetzen, was ihn verraten könnte. Doch er gibt sich einen Ruck und geht das Risiko gerne ein.

»Ich gehe mal eben nach oben, den Sergeant was fragen«, sagt Jo, steht auf und geht.

Barbo macht nur so eine müde salutierende Bewegung mit einem Zeigefinger.

Als Jo nach etwa 20 Minuten wieder kommt, hat er je zwei Sixpacks und Flaschen alkoholfrei­en Sekt dabei. Sogar an Gläser hat er gedacht und transportiert sie in einem Stoffbeutel, der lo­cker über seinem Arm hängt.

»Wie hast du das denn gemacht? Hast du des Sergeant gefoltert?«, fragt Barbo lachend und klopft Jo kameradschaftlich auf die Schulter.

»Man muss ihn nur richtig fragen, dann be­kommt man auch die richtigen Antworten«, wie­gelt Jo die Sache ab.

Er stellt die Sixpacks ab und öffnet die erste Flasche alkoholfreien Sekt für die Damen. Als je­der etwas zu Trinken hat, hebt Jo sein Glas und räuspert sich. Als er die Aufmerksamkeit hat, spricht er mit geröteten Wangen und viel Kraft in der Stimme. »Ich möchte mich bei euch bedan­ken. Es war wirklich klasse, wie ihr mir da raus­geholfen habt. Wenn man wirklich hilflos ist und auf andere angewiesen, merkt man erst, wie das ist. Vielen Dank ihr Lieben. Prosit.«

Alle schauen ihn an, heben ebenfalls ihr Glas, pflichten ihm stumm bei und nicken, ehe sie an ihrem Getränk nippen.

»Ich habe noch zwei gute Nachrichten. Zum ei­nen können wir morgen ausschlafen bis in die Puppen und zum anderen ist der SuBaMoSy für heute freigeschaltet. Also hier wird heute keiner verdursten«, sagt Jo und alle grölen in ausgelas­sener Feierlaune: »Yeeeaaahhhh!!!«

Bier und Sekt fließt in Strömen und je dunkler es wird, desto lauter singen alle zu den Liedern, welche Barbo spielt, mit. Irgendwann, die Sterne strahlen hell am Himmel und das Meer ist ruhig geworden, wird es, zwischen der Musik immer stiller.

Einige haben sich bereits in die Arme des Part­ners gekuschelt und aus den schmetternden Ge­sängen, wird irgendwann ein leises Zupfen auf der Gitarre.

Barbo spielt noch Magical Summer Night, ein uraltes Werk aus dem Jahre 2017, von Steve Ra­phael. Anschließend legt auch er die Gitarre aus der Hand und schläft eng umschlungen mit Trisch am Strand ein.

Das Feuer knistert noch und die vielen leeren Flaschen liegen am Strand herum. Der Alkohol ist, zumindest bei den Herren, in Strömen geflos­sen und es war nicht das abgeschwächte Zeug, das es heute Abend gab. Die Damen haben sich mit alkoholfreiem Sekt, Saft und Wasser ver­gnügt, nachdem sie zu Anfang angestoßen haben. Immerhin wollen sie dem heranwachsenden Le­ben in Ihren Bäuchen nicht schaden. Und doch hat die ausgelassene Stimmung der Männer die Frauen in Ihrer Feierlaune angesteckt, sodass kaum auffällt, dass sie nicht getrunken haben.

Alle, die hier im Strandkoma liegen, haben ganz gewaltig einen im Kahn.

-*-

Eine ganze Weile später, der Himmel ist noch schwarz, geht am Horizont die Sonne auf. Nicht das man sie schon sehen könnte, doch lässt sich Ihr Standort erahnen. An dieser Stelle scheint der Himmel weniger schwarz. Es ist die Uhrzeit, in der die Luft noch still steht. Der ablandige Wind der Nacht wechselt zum auflandigen Wind des Tages. Das Feuer ist sichtlich kleiner geworden, doch es brennt noch sachte vor sich hin.

Dann, irgendwann, das geht bei der Äqua­tornähe immer recht flott, scheint die Sonne be­reits hell am Himmel und die Menschen beginnen langsam, wach zu werden. Stück für Stück wird jedem klar, das er gestern Abend tüchtig ins Glas geschaut hat. Trisch wird wieder als erste wach und schaut sich um.

Jede Menge Schnapsleichen überall. Die kriege ich nie wach, denkt sie und sitzt eine Weile da und beobachtet die, die ganz langsam den Weg ins Leben zurückfinden.

»Ich gehe schon mal ausgiebig duschen«, denkt Trisch bei sich, »bevor die anderen mir die Dusche vollstehen.«

Auch die anderen im Lager sind bereits wach und machen sich fertig für den Tag. Trisch holt, nachdem sie saubere Kleidung angezogen hat, Kaffee. Richtig viel davon. Der SuBaMoSy muss tüchtig ran, das ist nicht wenig, was sie da mit an den Strand zu schleppen hat.

»Huhu, ich hab Kaffee mitgebracht«, ruft Trisch mit einem fröhlichen Trällern von weitem.

»Pssssssst, nich' so laut«, grummelt irgendwer halb in den Sand.

»Oh, Du bist ein Engel, Trisch«, sagt Sudi, die als erste den Arm in Richtung des Kaffees streckt. Anschließend kommen die anderen auch hoch.

Wenn auch noch etwas müde guckend sitzen Sudi, Trisch, Zibiah und Kat mit frischem Kaffee nebeneinander und beobachten mit diebischem Grinsen, wie Ihre Männer allmählich ins Leben zurückfinden.

»Boah ist der heiß«, sagt Yeho und stellt sei­nen Becher im Sand ab, während er sich die schmerzende Schläfe reibt.

Rod, rafft sich stöhnend auf. Während des Auf­richtens spürt er die Überreste des Alkohols die Speiseröhre aufsteigen. Er übergibt sich in den Sand und sofort geht es ihm besser. »Ja, finde ich auch«, sagt Rod, als wäre nichts gewesen. »Komm Yeho, erst mal abbaden.«

Die beiden stehen benommen auf und ver­schwinden in den Fluten.

Den Rest des Tages haben sie frei und Jo und Katrice melden sich ab, sie würden gerne einmal etwas allein Spazierengehen wollen, hat es gehei­ßen und alle grinsen.

Was natürlich keiner weiß, ist, dass die beiden in das Haus von Jo gezogen sind, für den Tag.

Überhaupt liegt heute »Spazierengehen« hoch im Kurs. Yeho und Zibiah verabschieden sich ebenfalls und gehen auf die Klippe mit dem ho­hen Gras, wo sie schon mal den Mond beobachtet haben und Trisch und Barbo gehen ebenfalls et­was in die Landschaft, um für sich zu sein.

Sudi und Rod schauen sich an und trinken wortlos Ihren Kaffee aus. Rod, streicht Sudi durch die Haare und sie legt den Kopf zur Seite. Es ge­fällt Ihr, diese Ruhe. Es gefällt Ihr, dass heute gar nichts hektisch ist und sie hat eine Idee.

Sie schaut Rod tief in die Augen und denkt in­tensiv an die Pokale, die Zuhause noch stehen. Die vielen Kämpfe, die sie gewonnen haben.

Und Zuhause? Na ja, kann man ja eigentlich schon nicht mehr sagen. Sie werden es niemals wieder sehen. Und, als würden sie telepathisch kommunizieren, stehen beide plötzlich auf.

Sie gehen auf ein Stück Rasen, wo etwas Platz ist und sie abseits der anderen sind. Sie gehen in die Grundstellung und beginnen, Yoga zu ma­chen. Sie dehnen sich und heben einander hoch. Sudi und Rod stehen Rücken an Rücken und Ihre Arme sind ineinander verhakt, dann zieht Rod Sudi auf seinen Rücken. Sudi liegt im Hohlkreuz da und entspannt sich zunächst. Sie achtet auf eine ruhige gleichmäßige Bauchatmung. Nach ei­niger Zeit machen die beiden es umgekehrt und Rod kann sich entspannen. Das geht so eine gan­ze Weile. Immer mehr Dehnübungen werden in Ruhe nacheinander absolviert.

Dann setzen sich die beiden gegenüber im Spagat. Langsam ziehen sich Sudi und Rod näher aneinander, bis sie im Spagat so dicht aneinander gerückt sind, dass sich Ihre Oberkörper berüh­ren. Dann küssen sie sich. Langsam entfernen sie sich wieder voneinander, um sich dann, mit etwas Abstand nebeneinander hinzusetzen.

Langsam führen sie den Lotussitz aus und beu­gen sich nach vorne.

Es kostet einige Kraft sich dann in den Eka Hasta Vrksasana - der einhändigen Baumpose - nach oben zu drücken. Ein einarmiger Hand­stand, bei dem der entlastete Arm am Körper an­liegt und kopfüber nach oben ragt. Der Lotussitz wird dabei weiter gehalten. Jeder der beiden weiß, das es sich beim jeweils anderen ebenso an­fühlt. Durch das Camp sind die beiden etwas aus dem Training, aber die Muskeln lockern sich rasch wieder und bringen wohlige Wärme in den Unterleib. Aber beide bleiben konzentriert, denn es ist weiterhin Yoga und noch kein Sex. Aber warten wir es ab.

Langsam kommt der linke Arm nach unten und es wird ein zweihändiger Handstand, der Lotus­sitz löst sich und die Beine knicken ein, sodass die Fußsohlen knapp vor dem Hinterkopf sind.

Diese Übung nennt man Taraksvasana - die Skorpionhaltung im Handstand. Auch diese Form halten sie eine Weile.

Sudi spürt wie Ihr Nachwuchs sich mit dem ge­dehnten Raumangebot arrangiert und fröhlich mitmacht.

Zum Pungu Mayurasana - dem verletzten Pfau, lassen sie sich nach unten und knicken die Arme ein. Das Gewicht liegt auf dem rechten Arm, der Ellenbogen stützt den Bauch ab, die linke Hand greift über den Rücken, den von unten kommen­den rechten Fuß. Eine sehr sehr schwierige Übung. Und weil das alles für die Bauchmuskula­tur sehr anstrengend ist, kommt, nach einigen weiteren Übungen, noch der Gandha Bherundasa­na - die Gesichtpose, in der man auf der Brust liegt, den Rücken so weit nach hinten gezogen hat, dass die Füße von hinten kommend neben dem Kopf stehen. Das dehnt den Bauch richtig durch und schafft tüchtig Platz für´s Baby. Dann drücken sich Sudi und Rod hoch und stehen, sich über den Rücken drehend, auf. Wenden sich ein­ander zu und verneigten sich. Dabei ist die linke Hand flach und senkrecht aufgestellt, während die Faust der Rechten die Handfläche der Linken berührt.

Einige Schaulustige haben sich inzwischen zu ihnen gesellt. Sudi und Rod drehen sich und ste­hen wieder nebeneinander. Nun soll die Peking-Form mit Ihren 24 Bildern folgen. Langsam gehen sie in Tai Chi Grundstellung und beginnen nach dem Ausatmen die Folge der Bilder.

Ein ziemlich großer Kerl kommt an und will wissen, warum sich dort die Leute mehr und mehr versammeln.

»Was machen die denn da?«, poltert er rein.

»Ich glaube, das ist eine Art Kampfkunst, ist wohl schon recht alt, keine Ahnung«, meint einer der Anwesenden.

»Wenn das ne Kampfkunst ist, lach ich mich tot, die pennen ja gleich ein«, meint der Große, in seiner bäuerlichen Art.

Natürlich bekommen Sudi und Rod das mit, aber ohne dem irgend eine Aufmerksamkeit zu zollen. Sudi muss grinsen, weil ihr gerade ein Bild durch den Kopf schießt, wie der Große wohl in Breitcord - Latzhose und Gummistiefeln ausse­hen würde. Aber Sudi konzentriert sich nach ei­nem kurzen Schmunzeln sofort wieder.

Der Große wird immer lauter und will es offen­bar wirklich wissen.

»Ist das hier ein Rentnerballett, oder was?«, ruft er in herablassender Tonlage.

Einige Schaulustige lachen.

Sudi und Rod sind bald darauf fertig mit der Form und begeben sich wieder in Grundstellung. Sie atmen noch ein Mal ein und wieder aus. Sie wenden sich einander zu und verneigten sich abermals.

Rod genießt das Zusammenspiel mit Sudi, die tiefe innige Verbeugung, deren Intimität den an­deren verborgen bleibt, doch der Mann pöbelt weiter, weshalb sich Rod aus dem tiefen Blick­kontakt mit Sudi löst und sich zu ihm umdreht. Mit zusammengezogenen Augenbrauen kneift er die Augen zu Schlitzen zusammen. »Hey? Glücks­pilz! Was hast du denn für ein Problem?«, fragt er mit ruhigem, aber gefährlichem Ton, während er auf den Riesen ganz langsam zugeht.

»Das geht dich ´n Scheiß an«, meint der Bau­er.

Sudi muss schmunzeln, aber für Rod ist das der Moment, wo er seinen verständnisvollen, ge­radezu mütterlichen Charme verliert.

Sudi drängelt sich zwischen die beiden und schaut den Bauern an. »Warte mal kurz, wir müs­sen etwas klären.« Dann sieht sie Rod an. »Schatz, wir wollen hier keinen Ärger. Lass ihn. Der tut doch nichts. Der will nur spielen.«

Rod nickt und dreht sich um. Der Bauer packt ihn im Genick und reißt ihn zu sich herum. Rod, verliert für einen kurzen Moment das Gleichge­wicht und fällt.

»Ich mach das, Schatz. Bleib liegen. Du tust ihm nur weh«, sagt Sudi, die gerade die Schul­tern von dem Typ zu sich zieht.

»Ich würde ihn in Ruhe lassen. Das ist nicht deine Liga«, sagt Sudi.

»Was hast Du denn für einen Auftrag?«, fragt der Bauer und spuckt Sudi vor die Füße.

»Ich war mit dem Rentnerballett noch nicht fertig«, entgegnet Sudi. Der Bauer holt aus und will Sudi eine gerade verpassen.

Sudi weicht augenblicklich aus. Sie hört zwar das Fauchen der Luft, aber getroffen hat er nicht. Das gleiche noch ein Mal mit der linken Seite.

Sudi zieht ein paar Falten in die Stirn und legt den Kopf lieb zur Seite: »Treffen ist nicht so dein Ding, oder?« Auch sie klingt beinahe mütterlich.

Der Typ wird jetzt wirklich sauer. Gekommen ist er, weil er den Leuten mal zeigen wollte, wo der Hammer hängt, aber im Moment sieht er ziemlich blass aus und lässt sich von einer Frau verhauen. Er dreht sich und platziert einen Tritt in Sudis Seite.

»Ey, sie ist schwanger Du Idiot, spinnst Du?« Mit geballten Fäusten rennt Rod auf den Bauern zu: »Ich kann Dir gerne mal das Esszimmer frisch einnorden.« Aber Sudi sagt: »Schatz halt dich da raus, ich mach das.«

Auch Sudi hebt während einer Drehung um sich selbst das Bein und trifft den Typ am Kinn. Er schwankt. Will zurückschlagen. Sudi tritt zwi­schen die Beine. Anschließend, rückwärts ei­nen Handstandüberschlag. Sie kommt ganz lang­sam hoch.

Der Typ ist zusammengesunken und schaut zu Boden.

»Hast Du etwas verloren? Ich kann Dir Suchen helfen«, bietet Sudi mit freundlicher Stimme an. Macht elegant ein Rad nach vorn. Fester tritt mit dem rechten Fuß hart auf seinen Hinterkopf. Erst nimmt er mit dem ganzen Gesicht eine Rasenpro­be, auf der er dann auch liegen bleibt.

»Hol bitte mal jemand etwas Wasser und ein Tuch?«, fragt Sudi in die Runde aus Schaulusti­gen und Rod will gerade widersprechen, als Sudi ihn mit einer Geste zurückhält. Sudi geht zum Bauerntrampel hin und hilft ihm auf.

»Hey, nichts für ungut. Ich bin nicht sauer auf dich, okay?«, sagt Sudi und meint es wirklich ernst.

Rod hat noch etwas Hormone abzubauen und hätte dem Typ am liebsten selbst noch einmal eine gedrückt, aber Sudi hat wie immer recht. Was genug ist, ist genug.

»Du hast einen harten Schlag, darauf war ich nicht gefasst«, sagt der Bauer und klingt dabei peinlich berührt. Nicht nur, weil er von einer Frau verprügelt wurde, sondern auch, weil ihm sein eigener Anteil der Situation gerade bewusst wird. Und, weil er Sudis Größe anerkennen muss. Er selbst, hätte er den Kampf gewonnen, hätte weder dem Mann, noch der Frau geholfen.

»Ja, das haben mir schon viele gesagt. Schau dir Rod an, der hat so viel Angst vor mir. Der hat mich lieber geheiratet.«

Jetzt muss auch Rod wieder schmunzeln.

Gerade kommen zwei Frauen zurück, die zu­sammen einen Eimer Wasser tragen und etwas zum Abwischen und Saubermachen bei sich ha­ben.

»Ich danke Euch«, sagt Sudi. »Stellt es bitte hier hin.«

Sudi macht ein Tuch nass und beginnt, dem Typ das Gesicht wieder sauberzumachen. Ein paar (Schrammen) hat er abbekommen und et­was Dreck ist im Gesicht. Sudi tupft vorsichtig die Schrammen ab.

»Das solltest du vom Sanitäter mal versorgen lassen. Nicht, dass sich das entzündet«, sagt Sudi besorgt. Der Typ nickt.

»Was ist denn hier los?«, ruft eine besonders zarte Stimme, die von hinten angerannt kommt.

»Das ist meine Frau«, murmelt der Typ. Und lässt dabei Augenlider und Kopf nach unten fal­len.

»Ihr mögt euch nicht?«, fragt Sudi.

»Doch doch, nur sollte sie mich besser so nicht sehen«, sagt der Typ und Sudi und Rod schmun­zeln.

»Rodreon Seva, die meisten nennen mich Rod, und mit wem habe ich das Vergnügen?« Rod, reicht ihr die Hand.

»Ich bin Noriko«, sagt die kleine, schmächtige Frau »Was hat er denn nun schon wieder ange­stellt?«

»Wir diskutierten bloß über die Vorgehenswei­se bei Meinungsverschiedenheiten bezüglich tänzerischer Fähigkeiten unterschiedli­chen Alters«, sagt Sudi.

Und Rod lacht. »So kann man es auch ausdrü­cken.«

»Was hat er denn angestellt?«, will Noriko er­neut wissen.

»Ach eigentlich gar nichts. Es ging nur um das Tempo, in dem Rentner tanzen sollten. Da waren wir uns kurz uneinig. Ich denke, das Thema ist jetzt vom Tisch«, sagt Sudi.

»Aber Du willst mich nicht verschaukeln, oder?«, fragt Noriko mit strengem Blick.

Sudi macht eine wedelnde Handbewegung: »Nein, nein!«, unterstreicht sie Ihre Angabe.

»Rod und ich haben erst etwas Yoga gemacht und dann Tai Chi und er hielt das für einen Rent­nertanz.«

»Ihr könnt Tai Chi?«, fragt Noriko erstaunt.

»Ja«, sagt Sudi, ich habe schon mal zwei bis drei Formen gemacht. Noriko wendet sich zu Sudi und verneigt sich respektvoll.

»Es ist eine besondere Ehre für mich, jeman­den kennenzulernen, der eine so alte Kampfkunst beherrscht.«

»Benton, das ist kein Rentnertanz, das ist eine Kampfkunst aus meiner Heimat. Sie ist sehr alt. Kein Wunder, dass du das Fell voll bekommen hast.«

»Er heißt Benton?«, fragt Rod und hebt belus­tigt eine Augenbraue.

»Benton Pears«, sagt er, steht auf und gibt Rod die Hand. »Das ist meine Frau Noriko. Sie kommt aus China und wir haben uns in Amerika kennengelernt.«

»Sudenia Seva«, sagt Sudi und gibt Benton ebenfalls die Hand. »Das ist mein Mann Rodre­on.«, dann macht sie eine zeigende Bewegung erst auf Rod und dann auf sich selbst.

»Aber ihr könnt Sudi und Rod sagen.« Alle la­chen, weil die Bewegungen nicht zu den Namen passen.

»Du bist also Sudi?«, fragt Benton Rod.

»Anders herum!« Rod, kneift die Lippen etwas zusammen und versucht nickend, einen sympathi­schen Gesichtsausdruck.

»Okay, Alter, wir sehen uns.« Er nickt eben­falls und schlägt in Rods Hand ein. »Und pass auf deine Kleine auf, die ist gefährlich«, sagt Benton, als er seine Frau in den Arm nimmt und geht.

»Zu Anfang ist es eine Qual, aber man lernt ir­gendwann, mit Ihr zu leben«, ruft Rod den beiden hinterher und Sudi zieht mit krauser Stirn die Mundwinkel Ihrer zusammengepressten Lippen hoch und knufft Rod lachend auf den Oberarm.

Die Menschentraube löst sich langsam auf. Es gibt nichts mehr zu gucken und Rod fragt: »So und wir zwei Hübschen nun so?«

Und noch ein einige Schritte entfernter und noch leiser sagt Sudi: »Japps!«

Sudi lächelt ihn an. »Lass uns doch auch etwas Spazierengehen.« Beide grinsen breit. Für Rod ist es keine Überraschung, in welche Richtung es ge­hen wird. Sie gehen über die Wiese zur Höhle un­ter dem Wasserfall und entfernen sich Schritt für Schritt vom Geschehen. Schon beträchtlich ent­fernt und leise fragt Rod: »Wieder Klettern?«

5.3.05 Das Gewissen

Am nächsten Morgen schlägt Hudson wieder mit dem Vierkantholz im Blecheimer und brüllt etwas von Aufstehen. Trisch kommt wie immer als erste hoch und schaut sich mit müdem Blick im Zelt um.

Sudi erwacht als nächste, zwar blickt sie sehr unwirsch drein, allerdings sieht das echt süß aus.

»Männer nicht so lahm, das geht alles etwas zügiger«, brüllt Hudson draußen herum. »Warum sehe ich noch keinen Dampf in der Dusche?« Hudson macht mehr Dampf als sonst.

Irgendetwas liegt in der Luft, denkt Rod und steht auf. Als er steht, streckt er sich noch ein letztes Mal ausgiebig.

»Geht es dir gut Schatz?«, will Rod von Sudi wissen.

»Ich glaube, wenn das hier noch ein paar Mo­nate länger gehen würde, bekäme ich einen La­gerkoller«, sagt Sudi beim Aufstehen.

»Warum müssen eigentlich immer nur die Männer aufstehen?«, will Zibiah wissen. »Und wenn die Frauen liegen bleiben, bekommen sie Ärger. Ich verstehe das nicht. Kann er doch gleich sagen, das alle aufstehen sollen.« Zibiah ist verwirrt.

Yeho steht auf und küsst sie: »Mach dir keine Gedanken Schatz, die Männer beim Militär ken­nen nur Männer, die wissen gar nicht das es auch Frauen gibt.« Yeho streicht ihr behutsam über die Stirn und gibt ihr einen Kuss, dann steht sie ebenfalls auf.

Die Gruppe frühstückt zusammen. Auf ihrem Abenteuer sind sie alle gute Freunde geworden. Doch ist das Frühstück gehetzt und schnell vor­bei. Zeit für Gespräche bleibt nicht, denn Hudson lässt schon wieder alle antreten.

»Herrschaften?! Nun wird es ernst.« Hudson prüft die Reaktionen der Mannschaft. »Nach ei­nem kleinen Marsch von etwa 20 Minuten werden wir an einer Einrichtung ankommen, in der in mehreren Reihen anpassbare Stühle aufgestellt sind.

Sie setzen sich auf einen dieser Stühle und leh­nen sich zurück. Ihr Chip-Implantat wird sich dann mit dem Stuhl verbinden. Anschließend wer­den Sie das Gefühl haben, in einer virtuellen Welt zu sein.

Was Sie sehen werden, soll sie nicht weiter be­unruhigen, es ist im Wesentlichen ein großer schwarzer Raum, innerhalb dessen sich aller­dings ein Besprechungsraum befindet.

Man wird Ihnen Fragen stellen und Sie bitten, zu bestimmten Ereignissen, meist fiktionaler, aber auch realer Natur, Stellung zu beziehen.

Hier im Lager befinden sich derzeit von 120 Teilnehmern, nur noch 52 Menschen. Sie werden 20 Stühle dort vorfinden. Sie bleiben so lange auf Ihrem Stuhl sitzen, bis man Ihnen sagt, dass Sie aufstehen können. Gibt es dazu Fragen?«

Hudson lässt seinen Blick schweifen.

»Wie viel Zeit werden wir haben, die Fragen zu beantworten?«, fragt einer.

»Sie? So viel sie wollen, aber gehen sie mit un­serer Zeit bitte so sparsam wie möglich um. Man wird sich fragen, für den Fall, dass sie sich eine Antwort lange zurechtlegen müssen, warum das so ist und man wird ihnen dann weiter auf den Zahn fühlen.« Hudson marschiert vor der Truppe auf und ab, ehe er mittig stehen bleibt und seinen Blick so ausrichtet, dass sich jeder einzelne fühlt, als würde ihn Hudsons Blick durchbohren. »Erst an zweiter Stelle ist es wichtig, was Sie antwor­ten. An erster Stelle steht ihre Ehrlichkeit.

Über den Chip in ihrem Nacken werden zahl­reiche Körperfunktionen gemessen und wer ehr­lich ist, ist am schnellsten fertig und wird mit vielleicht 1 – 2 Stunden auskommen. Wer unstet antwortet, widersprüchliches erzählt, kann damit rechnen, dass er in den nächsten Tagen einige Male wieder kommen wird«, führt Hudson weiter aus. »Von Rund Dreißigtausend Kandidaten sind nur noch ungefähr 18 Tausend auf der Insel. Das bedeutet, dass ungefähr 8.000 Kandidaten diesen Test nicht ausreichend bestehen und die Heimrei­se antreten werden. Die besten 10.000 werden ausgewählt«, schließt Hudson seine Erklärung vorläufig ab.

Grummeln und Gemurmel zieht sich durch die Gruppe wie eine La-Ola-Welle. Alle haben Angst, den Test nicht zu bestehen, was ziemlich ärger­lich wäre, jetzt, wo man schon so weit gekommen ist. Was werden sie fragen, fragen sich alle. Die Ungewissheit quält und alle haben einen Kloß um Bauch.

»Gibt es noch Fragen?«, will Hudson wissen und lässt seinen strengen Blick über die Gruppe schweifen.

Als keine Fragen mehr gestellt werden, senkt er seinen Blick für einen kurzen Moment, um dann wieder den gestochen scharfen Blick aufzu­setzen, mit dem sich jeder einzelne beobachtet fühlt. »Nein? Schön! Links um, ohne Tritt Marsch.«

Der Trupp schiebt sich langsam vorwärts.

Alle haben ein mulmiges Gefühl. Zwanzig Mi­nuten waren doch optimistisch geschätzt. Nach etwas über einer halben Stunde sind sie da. Eine große Fläche im Freien. Wie der Sergeant gesagt hat, stehen dort zwanzig Stühle. Sie sehen auf den ersten Blick aus wie Barbierstühle mit einer Fußablage und gepolsterten Kopfstützen.

»Ganze Abteilung halt, links um!«, befiehlt der Sergeant.

»Die ersten 20 nehmen nun auf einem Stuhl Platz. Sie lehnen sich hinten an und der Rest pas­siert automatisch. Der Stuhl registriert, dass Sie da sind und weiß, wer Sie sind. Dann folgt das Prüfungsprozedere. Wer sich wo hinsetzt, spielt keine Rolle, jeder nimmt den, der gerade frei ist. Fragen?« Hudson schaut wieder mit prüfendem Blick durch die Runde. »Also keine Fragen! Schön! Nehmen Sie ihre Plätze ein und fangen Sie an. Wer noch nicht dran ist, setzt sich in der Nähe hin und wartet. Ich wünsche Ihnen viel Er­folg.« Hudson macht eine Geste, dass sich der Rest nun setzten soll und solange entspannen kann.

»Was mich echt nervt, ist diese Ungewissheit«, sagt Barbo zu Trisch.

Trisch zuckt gleichgültig mit den Schultern. »Wir sind anständige Menschen, was soll da pas­sieren?«.

»Ja!«, meint Barbo, »aber jeder hat doch ir­gendwelche Leichen im Keller.« Trisch schaut zu Barbo rüber, als wäre er ein kleiner Junge.

»So, eins noch!« Hudson holt noch mal Luft. »Was immer auch passieren wird, es ist virtuell. Sie sind hier absolut sicher, Ihnen kann nichts passieren. Sie sitzen bei fantastischem Wetter im Wald auf einem Stuhl. Sonst nichts. Alles, was Sie möglicherweise sehen, hören, schmecken, rie­chen oder anfassen können, ist rein virtuell. Ich sage, dass nur, weil einen diese Virtualität beim ersten Mal erschreckend sein kann.« Hudson hält inne und schaut sich jedes einzelne Gesicht an. Er erkennt offene Fragen und Ängste, doch keine Fragen, die es sich lohnen würde, zu stellen. »Okay? Alle fertig?«, fragt Hudson ein allerletztes Mal. »Dann los!«

5.3.06 Neabeos

Was hier auf der Erde im Moment noch nie­manden interessiert, ist die Tatsache, dass sich im Sternensystem Trillis, in der habitablen Zone, der vierte Planet Neabeos befindet. Er wird mit dieser Geschichte noch zu tun haben.

Die Ausbeutung der planetaren Ressourcen hat vor über 3000 Jahren zu einem ständigen Wirtschaftswachstum geführt, doch hat sich Nea­beos gerächt – ein Klimawandel von unvorstellba­ren Ausmaßen ist eingetreten. Etwa 1000 Jahre später wurde ein Krieg gefochten, in dem jeder die letzten Reste der planetaren Ressourcen für sich beanspruchen wollte. Man unternahm den Versuch, durch Genmanipulation stärkere und wi­derstandsfähigere Soldaten zu züchten. Als dieser Krieg keinen Sieger hervorbrachte, verlief dieser kraftlos im Sande. Währenddessen veränderte sich in Folge des Krieges und der Verstrahlung die Atmosphäre und es wurde über 1.200 Jahre lang schwül warm. Und es hat geregnet und geregnet und geregnet.

Ja, es hatte den Anschein, als würde sich der Planet die jüngste Vergangenheit abwaschen wol­len.

Bei diesen Genmanipulationen ist eine Menge schiefgegangen. Viele der Veränderten waren nicht lange überlebensfähig und sie haben bizar­re Formen hervorgebracht.

Außerdem sorgte, bedingt durch den Krieg und die Waffen, die zunehmende Strahlenbelas­tung dafür, dass sich die Eizelle der Frauen ver­härtete, sodass ein Spermium nicht mehr einzu­dringen vermochte.

Dies führte unweigerlich zur Unfruchtbarkeit, was um ein Haar zum Aussterben der gesamten Spezies der Soluveen geführt hätte.

Viele der Genmanipulierten wurden mit Miss­bildungen geboren und starben schnell wieder. Sie hatten verzerrte Gesichter, übergroße Organe oder trotz ausgeprägter Muskulatur poröse Kno­chen. Sie waren instabil, anfällig und ständig krank. Alle hatten irgendetwas sehr weit entwi­ckelt, jedoch immer auch an einer anderen Stelle, ein massives Manko. Kraftvolle Herzen bei ständiger Luftnot. Ein ausgeprägtes Gehirn, aber keine Arme. Irgendetwas war immer.

Aber eine Art war dabei, die war etwas Beson­deres.

Durch die Experimentierfreude einzelner Nea­beoserinnen und Neabeoser, die, wie wir sagen würden, mal "einen flotten Dreier" praktizierten, passierte es, dass die Frau dabei doch schwanger wurde.

Zunächst verstand man nicht warum, jedoch stellte sich später heraus, dass die T‘haios, wie man sie später nannte, nun als drittes Ge­schlecht, ein Enzym produzieren, welches für kur­ze Zeit imstande ist, die harte Schale der Eizelle wieder durchlässig zu machen, damit das Spermi­um eindringen kann.

T‘haios haben keine Hoden, aber einen Penis. Statt Hoden haben sie eine Vagina.

Der Geschlechtsakt vollzieht sich wie folgt:

Der Mann paart sich zunächst mit der T‘haio. Die T‘haio nimmt das Sperma auf und versetzt es mit einem körpereigenen Enzym, aus einer dafür vorhandenen Drüse. Das Enzym enthält unter an­derem die DNA der T‘haio. Beides, das Sperma des Mannes, als auch das Enzym des T‘haios, ge­hen eine Verbindung ein. Das Produkt daraus ist imstande die Eizelle der Frau zu befruchten.

Deshalb wird anschließend oder währenddes­sen der Akt mit der Frau vollzogen, um den Gen-Cocktail an sie weiterzugeben.

Fortan war klar, zur Vermehrung sind nun drei Geschlechter erforderlich.

T‘haios treten für gewöhnlich in weiblicher Form in Erscheinung. Es gibt auf Neabeos jedoch auch männlich aussehende T‘haios, wenngleich mit recht androgynem Aussehen. Geschlechtlich unterscheiden sie sich jedoch nicht.

T‘haios wurden nach dem Krieg zum Wieder­aufbau von Neabeos gebraucht, was aufgrund ih­rer kräftigen Statur ihre Hauptaufgabe sowie ihre Daseinsberechtigung war. Nicht alle T'haios sind außerordentlich muskulös, aber sie sind alle au­ßerordentlich zäh, widerstandsfähig, von erstaun­lich stabiler Gesundheit und hart im Neh­men.

Fast alle T'haios sind, nur rudimentär, mit weiteren Vorzügen ausgestattet.

Als man später ihren Vorzug bei der Fortpflan­zung entdeckte, wurden die T‘haios plötzlich in­teressanter, waren jedoch weiterhin nicht gleich­berechtigt, da sie als einfache Arbeiter wie Vieh gehalten wurden. Es hat eine ganze Zeit gedau­ert, jedoch erkannten die T‘haios ihre Rolle als drittes Geschlecht und ihren möglichen gesell­schaftlichen Einfluss. Nach langen Kämpfen um Anerkennung wurden sie später als gleichberech­tigte Teile der Gesellschaft anerkannt. Sie beka­men einen planetaren Gegenwartsstatus, durften Schulen besuchen und eine Ausbildung genießen, sich einen Beruf aussuchen, Geschäfte abschlie­ßen und vieles andere mehr.

Da T‘haios ihre DNA über das Enzym an die Frau weitergeben, kommen sie auf demselben Wege zur Welt, wie andere Neabeoser auch, je­doch sehr viel seltener. Dies war ebenfalls ein Grund, warum ihr Ansehen in der Gesellschaft mit der Zeit stieg.

Dennoch gab es Teile der Bevölkerung, die daran arbeiteten, das Enzym künstlich herzustel­len, um nicht weiter von den T‘haios abhängig zu sein. Dies gelang zwar in der chemischen Formel, jedoch schuf es kein Leben und war damit für die Fortpflanzung ungeeignet.

Und nur wer Kontakt zu einem T‘haio pflegt, ist in der Lage, sich zu reproduzieren. Die T‘haios erkannten natürlich ihren Wert und merkten, dass sie über diesen Weg eine gewisse Entschei­dungsfähigkeit und Einflussnahme hatten, die sie zunehmend auch einzusetzen vermochten.

Noch heute ist es so, das, wenn Neabeoserin­nen, die eine T‘haio zur Welt bringen, sie bis zum heutige Tage in den Dörfern hochverehrt werden.

T‘haios verfügen über eine hohe Lebenserwar­tung. Sie werden mindestens 700 Jahre alt, ver­einzelt sollen bereits welche in einem Alter von über 900 Jahren gesehen worden sein.

Die hohe Lebenserwartung macht die niedrige Geburtenrate zwar wieder wett, verlangsamt al­lerdings auch ihre Anpassungsfähigkeit an ver­änderte Umweltbedingungen und Lebensumstän­de beträchtlich, weshalb sie Veränderungen zu­rückhaltend gegenüberstehen.

Wie sich mit der Zeit herausstellte, haben T‘haios durch all die genetischen Veränderungen eine ganze Reihe von weiteren Vorzügen.

Sie sind imstande, verschiedene Kräfte zu nut­zen. Dinge, wie Telepathie und Telekinese, spon­tane Flammenbildung, sie können für Stunden die Luft anhalten, können einen Energieschutzschild um sich und Andere bilden und einige können die Gedanken anderer Neabeoser lesen, zum Teil so­gar beeinflussen. Bei ihresgleichen klappt das meistens nicht, doch es soll Ausnahmen geben.

Sie haben ein weitaus besseres Gehör, können in verschiedenen sehen, Infrarot, Ultraviolett, vereinzelt sogar bis in den Röntgenbereich hin­ein.

Natürlich können die T'haios das nicht alles auf einmal. Die einen können dies, die andere das.

Die vorhandenen Fähigkeiten sind bei allen T‘haios wie gesagt verschiedentlich und nur höchst rudimentär ausgebildet. Es gibt aber zwei verschiedene Arten von T‘haios, die durchaus et­was mehr draufhaben.

Auf Neabeos gibt es vier Element-T'haios, die entsprechend ihres Elements, Feuer, Wasser, Erde oder Luft, über besondere Fähigkeiten ver­fügen.

Zum Beispiel reicht es bei den T‘haios, die die Fähigkeit besitzen, Feuer zu bilden, zum Anste­cken einer Kerze. Manche können damit vielleicht sogar einen Kamin anzünden.

Ein Feuer-Element-T'haio kann ganze Feuer­walzen heraufbeschwören und über Städte hin­wegtreiben, oder mit gewaltigen Feuerbällen schießen.

Begrenzt kann die Feuer-T'haio heilen, entwe­der sich selbst oder jemand anderen. Muss die Feuer-T'haio viel heilen, verlängert sich von Mal zu Mal die Zeit des Wiederaufladens. Das bedeu­tet, dass die Fähigkeit während einer Schlacht verloren gehen kann und sich erst anschließend, wenn der Körper wieder zur Ruhe kommt, wieder herstellt. Wenn es dann noch ein »Anschließend« gibt.

Feuer-T‘haios besitzen einen kinetischen Schutzschild und eine erhöhte Resistenz gegen­über äußeren Einflüssen, wie großer Hitze, schlechter oder giftiger Luft, Stromschläge. Die­ses Schutzschildes schwächt die Feuer-T‘haio al­lerdings bei längerem Gebrauch erheblich.

Feuer-T‘haios können willentlich ihre Haut, zu einer Art Echsenpanzer verhärten und sind dann ziemlich schwer verwundbar und irrsinnig tempe­raturresistent, was sie allerdings auch in ihrer Bewegungsfähigkeit massiv einschränkt. Da sie sich dabei einrollen, können sie sich nur noch rol­lend fortbewegen.

Die Wasser-T‘haio kann Wasser entstehen las­sen, das Wasser teilen, es kübelweise schütten lassen. Und sie kann damit ebenfalls schießen, das aller­dings eher zur Notwehr und zur Selbstverteidi­gung, jedoch völlig ungeeignet zum Angriff ist, gerade größeren Formationen gegenüber. Unter­stützen kann die Wasser-T‘haio durch ihre Fähig­keit des Einfrierens. Was oder wen auch im­mer sie trifft, erstarrt zu Eis.

Die Wasser-T'haio ist die Heilerin der vier. Sie heilt große Gruppen, auch aus der Ferne. Sie kann auch in besonderen Situationen jeweils ein­mal Wiederbeleben und die Wasser-T'haio ver­fügt über eine weit überdurchschnittliche Intuiti­on. Sie ahnt schon Dinge, bevor sie passieren. Zu jedem Zeitpunkt kann sie mit den anderen Ele­ment-T‘haios telepathisch in Verbindung stehen.

Die Wasser-T‘haio erhält ihre Kraft im Gebet und nicht durch den Kampf, weshalb es oft so aussieht, als würde sie teilnahmslos dasitzen und nichts tun. Tatsächlich beschützt sie die Gruppe und hält Barrieren aufrecht und gibt der Gruppe erneut das Qi, den Atem Gottes.

Die Luft-T'haio kann das Wetter beeinflussen. Vom Nebel, bis hin zu gewaltigen Sturmtiefs und Tornados, kann die Luft-T'haio auch Blitz und Donner entstehen lassen, was zu einem gewalti­gen Flächenschaden führen kann. Im punktuellen Einsatz dieser Fähigkeit ist sie weniger geschult. Die Luft-T‘haio ist jedoch ebenfalls in der Lage in Einzelfällen punktuell zu heilen und sie kann mit Strom-Blitzen auf kurze Entfernungen schießen. Außerdem ist sie imstande, einen beträchtlichen Energie-Schutzschirm über die Gruppe zu legen. Eine Luft-T‘haio kann sich selbst und die Gruppe heilen, wenn auch lange nicht so ausgeprägt wie die Wasser-T‘haio. Außerdem sie kann sich blitz­schnell bewegen, was für andere oft aussieht wie eine Teleportation, was es aber nicht ist. Es macht sie jedoch zu einem schwierigen Gegner.

Die Erd-T‘haio ist eine Meisterin der Telekine­se. Nichts und niemand ist vor ihr sicher. Alles, was sich irgendwie bewegen lässt, kann in ihrer Gegenwart zur Waffe werden. Außerdem ist sie weit überdurchschnittlich belastbar, stabil, schmerzunempfindlich und hat echte Nehmerqua­litäten, wenn es sein muss.

Ein weiterer Vorzug der Erd-T‘haio ist die Ver­steinerung. Damit können Gegner entweder für eine Weile versteinert, oder dauerhaft zu Sand verwandelt werden, was jedoch nur in Notfällen eingesetzt wird, da es erhebliche Kraft kostet.

Auf kurze Distanz ist niemand stärker als die Erd-T‘haio.

Über diesen 4 Element-T‘haios steht nur noch die oberste Führerin von Neabeos.

Glam‘mue.

Glam‘mue ist eine alte Weise der T‘haios und die zweite Oberste T‘haio, die Neabeos seit dem großen Krieg anführt. Die Erste vor ihr ist bereits verstorben.

Glam'mue, die "Mutter von Neabeos" und die Anführerin aller T‘haios, hat dieselben Fähigkei­ten der vier Element-T‘haios, nur noch stärker und alle auf einmal. Sie beherrscht außerdem tat­sächlich die Teleportation.

Ihre Vorgängerin begann vor weit mehr als 1.000 Jahren das Energie-Gitter, welches Neabe­os mit fast unendlicher Energie versorgt, zu bau­en, Glam'mue hat es vollendet. Es ist eine Sphäre, die die abgestrahlte Energie des Zentralgestirns Trillis von allen Seiten im solaren Maßstab auf­fängt und nutzbar macht.

Seit T‘haios Neabeos bewachen, ist auf dem Planeten kein Krieg mehr entstanden, kein Unheil mehr geschehen.

Nur von Außen wollen sich viele die Errungen­schaften der Neabeoser zu eigen machen. Neabe­os wird oft von Raumschiffen und Weltraumpira­ten angegriffen, die sich auf Kosten der Nea­beoser bereichern wollen. Die Neabeoser vor den Weltraumpiraten zu schützen und vor deren Ge­walt zu bewahren, ist die Hauptaufgabe der Ele­ment-T‘haios.

Auf Neabeos entwickeln sich Wirtschaft, Kul­tur und Wissen für alle gleichmäßig. Der Entwick­lungsstand wird bemessen, am einfachsten und am langsamsten. Je mehr Soluveen am einfachs­ten leben, desto besser.

Die langsamsten geben das Tempo vor. Es geht immer nur gemeinsam. Auf diese Weise ist den Schnellentwicklern in der Gesellschaft eine Motivation gegeben, den Langsamen zu helfen, da sie nur auf diese Weise selbst weiterkommen. Stück für Stück entwickelt sich so eine gleichmä­ßige und stabile Gesellschaft, die es bereits jetzt schon zu weitreichenden Fähigkeiten und ausge­prägtem Wohlstand gebracht hat. Für alle!

Wer sich auf Kosten Anderer einen Vorteil ver­schaffen will, wer das Leben nicht achtet, hat schnell seine eigene Lebenslegitimation verwirkt.

T‘haios haben sich zur Krone der Schöpfung entwickelt und sind Meister der Geduld.

Wer nun allerdings glaubt, die T‘haios wären Supermenschen und hätten keine Probleme, irrt gewaltig.

Denn schon kurz nach der Verpuppung haben es die T‘haios schwer. Aufgrund ihrer femininen Gesichtszüge und ihrer meist extrem kraftstrot­zender Erscheinung wird der Wunsch, eine Part­nerschaft einzugehen, nicht immer erwidert und stößt zuweilen auf entschiedene Ablehnung. Viele Soluveen fühlen sich in Gegenwart einer T‘haio minderwertig und ziehen sich deshalb zurück.

Eine Partnerschaft einzugehen, die nichts mit der Reproduktion zu tun hat, wird jeder T‘haio außerordentlich schwer gemacht, weshalb die T‘haios gern partnerschaftlich unter sich bleiben.

-*-

Neabeos wird von Piraten niemals direkt ange­griffen, sondern immer über den Wüsten­mond Za‘imba. Sie landen dort, um ihre Aggrega­te wieder aufzuladen. Sie tun dies mithilfe der Energiesphäre von Neabeos.

Ja… Es ist eine Ironie des Schicksals, das Nea­beos selbst seine Feinde mit Energie versorgt.

Natürlich versuchen die vier Element-T‘haios, das zu verhindern, was für gewöhnlich auch ge­lingt.

Bei dem letzten Versuch am Dienstag, den 17. Dezember 3072 (nach irdischer Zeitrechnung), die Piraten davon abzuhalten Neabeos anzugrei­fen, kam es zu einer massiven Schlacht, bei der die Feuer-T‘haio Manisha Mohini Indrani lebens­gefährlich verletzt wurde und nach gewonnener Schlacht auf dem Weg nach Hause verstarb.

Stirbt ein Element-T'haio, so ist es zum Schut­ze aller Neabeoser unumgänglich, innerhalb von 10 Tagen den Sarkophag einer Weltraumbestat­tung zuzuführen. Der Leichnam gibt seine Qi-Energie wieder ab und explodiert nach Ablauf dieser Zeit zu einer Mini-Nova, was die unmittel­bare Ausbreitung einer Soloton-Welle nach sich zieht. Würde das auf dem Planeten passieren, wäre der Tod aller und die Auslöschung jeglichen Lebens auf Neabeos die unweigerliche Folge.

Im All jedoch trägt die Soloton-Welle die gene­tischen Informationen und das vollständige Ge­dächtnis des Element-T‘haios in sich und sucht sich dann irgendwo im Universum einen neuen Fötus, der fortan als Element-T'haio weiterleben wird.

Es findet eine Zeremonie zu Ehren der Feuer-T'haio statt und das Volk von Neabeos verab­schiedet sich während einer großen Gedenkfeier, von Manisha Mohini Indrani.

Eine Trägerrakete startet mit dem Sarkophag ins All.

3 – 2 – 1 …

Anschließend geschieht die Anjali, und es brei­tet sich die Soloton-Welle aus, um die Dharshana im All zu verteilen. Energien, die zuhauf im Uni­versum zur Verfügung stehen:

»Nutzt sie!«, geht es aus der Pratibha hervor.

5.3.07 Der Endspurt

Sudi und Rod und viele andere haben auf der Wiese bei bestem Wetter auf den Stühlen Platz genommen. Sudi schaut noch unschlüssig, beina­he ängstlich, zu Rod und reicht ihm die Hand. Rod, ergreift sie und wirft ihr ein Küsschen zu.

»Ich weiß nicht warum, ich habe Schiss«, sagt Sudi.

Rod, weitet die Augen. »Warum? Was soll pas­sieren? Ist bloß virtuell.«

Sudi schaut betrübt zu Boden, doch schleicht sich ein nahezu unscheinbares Lächeln auf ihre Lippen, als sie den Kopf schüttelt. Als könnte Rod das verstehen. »Ich meine nicht, dass uns hier schlimmes widerfährt. Stell dir vor, sie stellen Fangfragen, verdrehen alles, wer weiß.«

»Sei einfach du selbst. Du bist klasse, und das werden die ebenfalls merken. Keine Angst. Das ist kein Gericht. Sie wollen wissen, wie du zu dir stehst, oder ob du sie verarschst«, sagt Rod.

Sudi nickt und beide lehnen sich langsam zu­rück.

Es britzelt kurz am Hinterkopf. Es ist ein Ge­fühl, als würde man einen sanften Stromschlag bekommen, wirklich nur ganz leicht. Kurz wird es kalt, ehe alles anders ist.

Sudi findet sich in der virtuellen Welt in einem Besprechungsraum wieder.

»Ich begrüße Sie. Sie sind Frau äääh Sudenia Seva, aha. Ich bin Frau A. Das sind Herr B und Herr C. Wir wollen Sie nun etwas besser kennen­lernen.« Stehen zum Empfang dort drei Gestalten wie die Orgelpfeifen deren Neutralität einem so­fort ins Gesicht springt. Obgleich, unterschiedli­chen Geschlechts sehen die drei dennoch absurd gleich aus.

Sudi atmet einmal tief durch und schaut sich diese drei genau an. Sudi ist beeindruckt von der absoluten Charakterlosigkeit. Nichts, an was man sie fest machen könnte, die sehen alle gleich aus. Alle Drei tragen einen schwarzen Anzug und ha­ben einen Gesichtsausdruck, der nichtssagender nicht sein kann. »Frau A? Herr B? Herr C? Ja, ach so, warum habe ich einen rosa Bademantel an, und Häschenschüchen?«, will Sudi wissen.

»Wir fanden in ihrem Unterbewusstsein ihre Lieblingsgarderobe. Wir dachten, das würde die Situation für sie angenehmer gestalten.«

»Ja, das ist ganz fabelhaft, nur mache ich Be­werbungsgespräche für gewöhnlich nicht im Ba­demantel«, sagt Sudi unwirsch, die sich kompro­mittiert fühlt. »Es ist erforderlich, dass ich meine Bekleidung wechsle!«

Frau A nickt. »Selbstverständlich. Ganz wie sie meinen, Frau Seva. Denken Sie einfach an das, was sie gerne an hätten. Das System wird es dann in die Matrix integrieren.«

Sudi überlegt kurz. Sie möchte mehr Domi­nanz ausstrahlen und entscheidet sich für ein massiv exzellentes Lederoutfit, bestehend aus ei­ner schwarzen Hose und einem ebenso schwar­zem Sakko und weißer, zart transparenten Bluse. Das ganze rundet sie mit schwarzen Stiefeletten ab.

»Danke, viel besser«, sagt Sudi.

»Nun, ich bin froh, dass das geklärt ist. Es wird sicher ein schöner Tag, denke ich«, faselt Frau A, während sie flüchtig aus dem Fenster schaut und verströmt dabei die Sympathie eines Zementsacks.

Die beiden Herren haben noch gar nichts ge­sagt. Die gucken immer nur versteinerten Bli­ckes.

»Ich bin sicher, Sie würden gerne etwas dar­über erfahren, was wir hier eigentlich vorhaben. Und da Sie uns bis jetzt begleitet haben, kann ich Ihnen auch ein kleines bisschen darüber erzäh­len«, fährt Frau A unbeirrt fort.

Sudi setzt sich betont aufrecht hin und ist ganz Ohr. Nun lassen sie die Katze aus dem Sack. Tat­sächlich kommt von Sudi nur ein Pausen füllender Satz: »Ja, das ist hier alles ziemlich aufregend.« Sudi lächelt freudig und erwartungsvoll.

»Natürlich kann ich Ihnen noch nicht alles er­zählen, aber ich will Sie, soweit es mir möglich ist, darüber informieren, was Sie bereits in Aus­sicht haben. Aber lassen Sie uns doch Platz neh­men«, sagt Frau A mit einer einladenden Handbe­wegung.

Die Herren gehen zwar vor, warten jedoch dar­auf, bis sich Sudi und Frau A gesetzt haben.

»Wie Ihnen mit Sicherheit aufgefallen ist, ha­ben wir Sie in den letzten Monaten in verschiede­nen Disziplinen getestet. Uns war wichtig, zu er­mitteln, welche Bildung Sie haben. In psychischer und physischer Hinsicht. Ihre Logik und Ihr Im­provisationstalent haben wir ebenfalls unter die Lupe genommen und vieles andere mehr.

Sie sind bis hier immer noch dabei, weil wir sehr zufrieden mit Ihnen sind.« Frau A lächelt, aber Sudi denkt die ganze Zeit: Der Skorpion schlägt gleich zu. Irgendwann, wenn man am we­nigsten daran denkt.

»Sehen Sie«, fährt Frau A fort, »was wir vorha­ben, bedarf Menschen mit bestimmten Charakter­eigenschaften. Es wäre wirklich schade, wenn die ganze Unternehmung scheitert, nur weil ein, zwei Leute nicht auf das Ziel hinarbeiten.«

»Was ist denn das Ziel?«, fragt Sudi mit zit­ternder Stimme. Wann kommt diese Frau A end­lich auf den Punkt?

Frau A holt wieder Luft. »Sie haben diesen Satz sicher schon öfter gehört: >Ich kann es Ih­nen noch nicht sagen<, aber Sie stehen kurz davor, es zu erfahren, nämlich von dem Mann, der dieses Projekt ins Leben gerufen hat«, sagt Frau A. »Solange Sie hier in diesem Stuhl sitzen, können wir über ihr Implantat Erinnerungen ab­fragen und da gibt es einiges, was wir genauer wissen wollen.«

Jetzt geht es los, denkt Sudi und atmet noch ein­mal tief durch.

»An was können Sie sich noch erinnern, wenn Sie so weit wie möglich in ihre Kindheit zurück­gehen? Die ersten Erlebnisse. Was ist da gewe­sen?«, fragt Frau A.

Sudi wird klar, dass es jetzt um die unangeneh­men Dinge geht. Jeder hat seine Leichen im Kel­ler. Jeder hat irgendwann mal etwas getan, was er später bereut hat und wirklich nicht gerne darüber sprechen möchte. Sudi versucht es mal wage, vorne an.

Sudi schaut nach unten und überlegt, ehe sie spricht. »Das ist alles recht bruchstückhaft. Ich kann mich erinnern, dass ich wohl Geburtstag hatte und viele Geschenke bekommen habe. Aber was genau, weiß ich nicht mehr. Spätere Ge­schenke weiß ich natürlich, aber die ersten? Nein, kann ich mich nicht dran erinnern. Ich weiß nur, dass es welche gab und auch, dass es viele gab.« Sudi hat das Gefühl feuchte Hände zu be­kommen und der Puls steigt.

»Was waren sonst die ersten Bilder, an die Sie sich erinnern können?«, will Frau A wissen.

»Irgendwann rannte ich zu meiner Mutter und zeigte ihr, dass ich eine Schleife binden konnte. Ich war so stolz darauf, dass ich es nun konnte. Ich fühlte mich damals wie ein Genie«, sagt Sudi lächelnd.

»Als Sie sieben Jahre alt waren«, fährt Frau A fort, »da hatten sie ein kleines Haustier, was war es noch gleich? Ach ja richtig, einen Hamster in die Waschmaschine ihres Dojos getan und diese eingeschaltet. Das Tier kam dabei verständlicher­weise ums Leben. Warum haben Sie das getan?«

Scheiße denkt Sudi, die wissen auch alles. Nur ehrlich bleiben hat Rod gesagt. Das ist kein Ge­richt. »Ja, das mit dem Hamster tut mir heute Leid, aber damals war ich ein kleines Kind. Ich wusste nichts vom Werden und Vergehen, von Ge­burt und Tod. Ich war einfach da! Und der Hams­ter hatte sich wohl eingepieselt und hatte Streu am Hintern. Und die Waschmaschine machte Din­ge wieder sauber, so viel wusste ich. Dass das nicht für Hamster gilt, war anschließend eine bit­tere Erfahrung, ja. Es war Unwissenheit, kein bö­ser Wille, keine Absicht oder so etwas.«

»Verstehe, verstehe«, sagt Frau A. Die Herren sitzen nur da und machen sich Notizen.

»Als Sie 14 Jahre alt waren, haben Sie sich ge­gen den Konfirmandenunterricht entschieden. Warum?«

Jetzt muss Sudi sich aber auf die Zunge bei­ßen, würde sie nun sagen, was sie denkt, ist der Spaß hier ganz schnell vorbei. Sie versucht es mit einer netten Formulierung. »Ich habe gelernt, dass sich die Kirche für Moral und Bildung ein­setzt, und habe ebenfalls von eben dieser Kirche erfahren, dass sie Kriege führt und Informationen zensiert an ihre Gemeinden weitergibt. Alles, was nicht in das Weltbild der Kirche passt, wird aus­gesondert, auch, wenn es richtig ist.

Das kann nicht der Weg sein. Der Weg ist im­mer ein kontinuierliches Nach-vorne-stolpern. Mal macht man etwas richtig, mal macht man et­was falsch. Aber man lernt daraus, um es an­schließend besser zu machen. Die Kirche tut dies nicht. Sie ist gefangen in ihren Dingen und Dog­men und das einzige Ziel der Kirche ist es, Mas­sen dumm zu halten, damit sie leichter Macht ausüben kann. So war es früher und so ist es heu­te immer noch.«

Sudi ist sich ganz sicher, dass die Party nun gelaufen ist, aber das ist ihre wahre Ansicht und lügen will sie auch nicht, zumal die das sowieso recht schnell erfahren würden, aufgrund des Chips. Und sie hat Schimpfworte vermieden! Das war doch schon mal echt nett. Wider erwartet lä­chelt Frau A, was Sudi etwas überrascht.

Und so gehen sie gemeinsam ihren ganzen Le­benslauf durch. Sie gehen die Sache wirklich Punkt für Punkt durch. Sogar den Verkehrsunfall ihrer Eltern, der mit deren Ableben endete, musste Sudi noch einmal durchkauen.

Rod hat im Prinzip die gleichen Gesprächspart­ner, nur heißen sie anders.

»Schön, dass Sie da sind, mein Name ist Herr A, das sind meine beiden Kolleginnen Frau B und Frau C«, sagt Herr A, als Rod hereinkommt. Dann werden auch bei Rod, wie bei allen anderen, zu­nächst Höflichkeiten ausgetauscht und die For­malitäten geklärt.

»Was ist das erste, an das Sie sich in Ihrer Kindheit erinnern?«, fragt Herr A.

Auch Rod muss zunächst überlegen. Aber dann fällt ihm etwas ein. »Ich weiß noch, dass ich ir­gendwann eine Getränkeflasche auf und wieder zuschrauben konnte. Das fand ich echt klasse. Ich rannte den ganzen Tag über mit einer Flasche herum, um sie auf und zuzudrehen. Vielleicht dachte ich damals schon, dass ich mal ein Mecha­niker werden würde. Wer weiß.«

Herr A hebt die Augenbrauen und für einen kurzen Moment sieht er beeindruckt aus. »Sie sind Mechaniker geworden?«

»Nein, ich bin Schlosser. Das Geld fehlte für die Ausbildung zum Mechaniker.«

»Haben Sie später versucht, das Geld zusammenzusparen?«, will Herr A wissen.

»Nein, ich lernte dann Sudi kennen und wir wurden ein Paar, zogen zusammen und das Geld wurde zunächst anderweitig gebraucht und so schlecht war der Verdienst als Schlosser auch wieder nicht.«

»Mit 14 Jahren haben Sie angefangen, eine Kampfschule zu besuchen. Warum, was war Ihr Ziel?«, will Herr A wissen.

Rod, lächelt. »In einer ruhigen Stunde zog ich mich einmal zurück und dachte über den Glauben nach. Wir alle glauben an irgendetwas. Die einen glauben, dass Geld einen Wert hätte, die anderen glauben an irgendwelche Götter, wieder andere glauben, dass sie nicht glauben oder dass sie et­was wissen. Dann gibt es welche, die wissen, dass sie nichts wissen, was dem Glauben wieder Tür und Tor öffnet. Ich fand das alles recht un­übersichtlich und verwirrend und wollte etwas, was ich nicht glauben muss, sondern erfahren kann. Etwas, das sich mir mitteilt. Und wenn Sie im Kampfsport einen Fehler machen, wird Ihnen das umgehend mitgeteilt, glauben Sie mir.«

Und Herr A nickt verständnisvoll, hakt dann al­lerdings noch einmal nach: »Sind Sie je auf die Idee gekommen, den Kampfsport auch als Waffe einzusetzen?«

Rod fragt sich, was diese Frage soll, den im­merhin können sie ja seine Gedanken lesen, doch dann entscheidet er sich, zu antworten. »Als Ver­teidigung in jedem Fall, ja, aber nicht zum An­griff. Es ist die meditative Einstellung, die zum Chi führt. Sie können Kraft haben, wie Sie wollen, das Chi werden Sie niemals besiegen. Und Sie er­reichen es nur mit viel Disziplin und Übung.«

»Haben sie das Chi?«, will Herr A wissen.

»Man hat das Chi nicht. Es ist keine Frage von Besitz oder Fähigkeit, sondern eine Frage des Zu­lassens. Das gelingt nicht immer. Aber mit zuneh­mender Übung, immer öfter. Deshalb kann ich die Frage nicht mit Ja oder Nein beantworten«, sagt Rod nickend.

Die Befragungen ziehen sich hin. Und obwohl sie über den Chip alles bereits wissen, fragen sie alles noch einmal Punkt für Punkt ab. Es geht nicht darum, dass sie es erfahren, sondern dar­um, ob man selbst zur eigenen Vergangenheit steht.

Wie wird man reagieren, wenn man mit der ei­genen Vergangenheit konfrontiert wird? Wird man die Wahrheit sagen, wird man vermitteln können, dass man aus Fehlern gelernt hat? Sind da vielleicht noch irgendwelche wirklich verwerf­lichen Dinge, die im unterbewussten Tief vergra­ben sind? Man hat selbst als Arschloch die Nase vorne, wenn man sagt, dass man ein Arschloch ist. Das ist ehrlich. Das tut natürlich niemand und so finden sie auch Leute, die nicht zu sich selbst stehen, und ihr umgehendes Ende dieses Tests im nächsten Flugzeug nach Hause erleben.

Bei Barbo wollen sie auch wissen, wie sein ers­tes Konzert war. Plötzlich sitzen alle in seinem Konzert, das müssen die alles irgendwie rekon­struiert haben. Bei Trisch werden sie Zeuge, wie sie ihren ersten Toten in die Pathologie bringen muss. Sie sagt, dass das dort recht unheimlich war und sie Angst hatte.

Sie haben von jedem die Gedanken gelesen, das heißt, das »Was« wissen sie bereits.

Aber das »Wie«, wie man damit umgeht, wel­che Einstellung man dazu hat, und ob man etwas daraus gelernt hat, welche Ereignisse im Leben die Richtungsweisenden gewesen sind, das wol­len sie hier herausfinden.

Es geht zeitlich nicht der Reihe nach. Sie fra­gen durcheinander. Mal sind sie in der Kindheit, dann wieder ist man als Erwachsener am Arbeits­platz, dann als Jugendlicher irgendwo bei seinen Eltern und so weiter. Man erkennt kein Schema und das soll man wohl auch nicht.

Nach einer ganzen Weile wird bei einigen be­reits die Verabschiedung vorgenommen, das be­deutet, sie waren erfolgreich im Test und bleiben dabei. Andere müssen noch einmal wieder kom­men und wieder andere fahren direkt nach Hau­se.

Die Tests dauern vereinzelt noch weitere fünf Tage an. Langsam wird es knapp. Am Ende eines Testes wird man gefragt, ob man noch Fragen hat, aber die einzige, wirklich wichtige Frage, können, bzw. wollen sie einem nicht beantworten. Also bedankt man sich höflich und geht. Der Tag sei nah, an dem auch diese letzte Frage geklärt würde, so sagen sie einem.

Sudi und Rod, Trisch und Barbo, Zibiah und Yeho und auch Katrice und Jo machen sich ein paar schöne Tage in der netten Gegend der Insel, am Strand oder wo auch immer gerade Platz ist.

Eigentlich ist man durch, man muss nur noch warten bis alle anderen auch ihr Ergebnis haben.

Wer geeignet ist, bleibt. Es dauert noch etwas, bis auch die letzten, die den Test nicht bestanden haben, von der Insel in ihre alte Heimat geflogen werden.

Doch ein paar Flugzeuge bleiben noch.

6. Die Ansprache

Es ist der letzte Tag im Lager. Alle sind sehr aufgeregt. Heute wird es so weit sein. Heute wer­den sie alle erfahren, warum sie überhaupt hier sind. Sie alle haben ein gewaltiges Paket an Ver­trauen investiert und nun soll sich herausstellen, ob sich das gelohnt hat.

Es ist 9 Uhr und Hudson lässt antreten.

»Ganze Abteilung, stillgestanden, ganze Abtei­lung Achtung. Richt euch… Augen ge-ra-de aus. Herrschaften? Heute ist so weit. Sie alle stehen hier, weil Sie den Test bis zum Schluss bestanden haben. Im Namen der Firma möchte ich Ihnen meine Gratulation und meinen Respekt zum Aus­druck bringen. Wir hatten über 100.000 Men­schen auf dieser Insel, 10.028 sind gegenwärtig noch hier. Allen anderen fehlte es entweder an Durchhaltevermögen, Ehrlichkeit oder einfach dem Willen, den Test bis zu Ende durchzuhalten. Sie jedoch haben sich nicht kleinkriegen lassen, und heute werden Sie erfahren, warum Sie das alles auf sich genommen haben.

Gehen Sie nun in ihr Zelt und packen Sie ihre Ausrüstung auf das Bett und nehmen Sie ihr pri­vates Eigentum mit. Sie verabschieden sich jetzt von diesem Camp. Die nächste Nacht verbringen Sie entweder im Flugzeug auf ihrer Heimreise, sofern Sie jetzt doch noch aussteigen wollen, oder in ihrem neuen Zuhause. Dazu später mehr. Ein Bus wird uns gleich abholen.«

Hudson macht eine kurze Pause, holt aber dann noch einmal Luft. »Also ab in die Zelte, ein allerletztes Mal.«

Anschließend lässt Hudson wieder antreten und befiehlt: »Abteilung rechts um, ohne Tritt Marsch.«

Und die Mannschaft bewegt sich vorwärts. Die Nervosität, die jedem, bei diesem letzten Gang, in den Knochen sitzt, knistert in der Luft und ist doch nicht zu sehen. In einer Reihe, schweigend und ohne sich anzusehen, marschieren sie neben­einander her. Dorthin, wo alles begann. Dorthin, wo ihr Hubschrauber gelandet war, wo sie die In­sel zum allerersten Mal betreten hatten. Dieser Ort schließt den Kreis. Hier werden sie ihre Heimreise antreten.

So oder so!

Der Bus steht dort bereits und alle steigen ein. Niemand trägt viel Gepäck mit sich. Eine Tasche, das ist es schon. Die Kleidung, die sie anhaben, sollen sie anbehalten, es wäre ein Andenken, ein Geschenk der Firma, meint Hudson, doch mehr verrät er nicht. Das Einsteigen verläuft auffallend ruhig und diszipliniert, kein Vergleich zur An­kunft, als alle noch etwas wirr in der Gegend her­umstanden und keiner so recht wusste, was nun läuft.

»Bung bung bung.« Jemand klopft auf ein Mi­krofon.

»Sehr verehrte Damen und Herren, Sie wer­den von uns gleich über die Insel gefahren und nehmen an der Eröffnungsansprache der Firma teil. Wir werden etwa 20 Minuten unterwegs sein, also nicht allzu weit«, ertönt die freundliche Stimme, die offenbar einer Frau gehört, aus der Sprechanlage des Busses.

Etwas später erreichen sie eine Arena. Alle 10.028 Menschen sind hier, außerdem einige Mit­arbeiter, Sicherheitspersonal, für alle Fälle, man weiß ja nie. Sudi und Rod tun, was alle tun. Sie schauen sich um. Zum ersten Mal sehen sie so viele Menschen hier auf Insel.

Ein Wunder, das so viele Menschen die ganze Zeit auf der Insel sind und nicht bemerkt werden, denkt Sudi.

»Ist ja ein richtiger Hexenkessel hier«, meint Barbo, der sich schon vorne auf der Bühne sieht.

Aber Trisch kann Barbo beruhigen und legt ihren Arm auf seine Schultern: »Heute wird nur geredet, nicht musiziert«.

»Und das weißt du ganz sicher?«, hakt Barbo nach. Zweifelnd hebt er eine Augenbraue.

»Komm, setz dich und warte, was da auf uns zukommt«, versucht Trisch Barbo zu beruhigen.

Barbo zieht den Kopf ein, macht mit der Hand eine Auf- und Ab- Bewegung und setzt sich.

»Ich finde das alles so aufregend«, sagt Zibiah, die Mundwinkel weit in den Wangenbereich hoch­gezogen und will gerade hektisch in die Hände klatschen, was ihr dann doch irgendwie peinlich ist. »Wo all diese Menschen herkommen, ein Wahnsinn alles.«

»Ja«, sagt Yeho, »ich brenne darauf, zu erfah­ren, wo wir heute Abend schlafen werden. Denn gerade jetzt, in diesem Moment, haben wir gar nichts. Nur die Kleidung auf unserer Haut, und das, was in unserer Tasche ist. Wir haben auch kein Zelt mehr. Wir stehen vor einer mehr als un­sicheren Zukunft. Wir werden…«

»Nu wart's doch erst mal ab!!«, schießt Barbo dazwischen, weil er selbst nervös ist und selber gerne etwas Beruhigendes hören würde. »Meinst du, die machen sich die ganze Mühe hier, um 10.000 Menschen in den Schredder schicken? Das wird schon werden. Bind dir die Hose zu und warte.« Barbo klingt auf einmal auch ziemlich streng, was alle verwundert.

»Ja, Mann«, grummelt Yeho, der mit seiner Nervosität nicht klarkommt.

»Ich bin bei dir mein Herz«, sagt Zibiah mit weicher Stimme. »Es wird nichts geben, das du alleine machen musst, ich werde immer da sein.«

Yeho hat wirklich die Nase gestrichen voll. Dabei wusste er doch, dass dieser Moment kom­men würde, seit er auf der Insel ist. Aber so ist das eben manchmal.

Ein lautes Fiepen geht durch die Lautsprecher. Eine Rückkopplung. Ein angerauter Endfünfziger betritt das Rednerpult:

»Sehr verehrte Damen und Herren…«,

Sudi will von Rod wissen, wie das wohl die an­deren hören, mit dem Übersetzungschip.

»Sie haben sich viel Mühe gemacht und haben einiges über sich ergehen lassen, um heute hier dabei sein zu können. Meinen tief empfundenen Respekt. Bevor gleich der Initiator dieser Unter­nehmung Ihnen erklären wird, worum es hier ei­gentlich geht, mache ich Sie ein allerletztes Mal darauf aufmerksam, dass die Teilnahme freiwillig, aber irreversibel ist. In diesem Moment haben Sie ein allerletztes Mal die Möglichkeit, diese Un­ternehmung, ohne irgendwelche Konsequenzen für ihre Finanzen, ihres Ansehens oder ihrer Zu­kunft betreffend, zu verlassen. Wir machen eine Pause von zehn Minuten. Verlassen Sie nun diese Arena, wenn Sie in ihr altes Leben zurückwollen. Wer bleibt, wird anschließend nicht mehr ausstei­gen können, er wird mit uns gehen und heute Abend in seinem neuen Zuhause ein neues Leben beginnen.«

Dann geht er wieder vom Rednerpult, hinter­lässt eine Stille, die sich auf alle Anwesenden nie­derdrückt.

Da sitzen sie nun. Sudi und Rod, Trisch und Barbo, Zibiah und Yeho und Kat und Jo, alle in ei­ner Reihe. Sie schauen sich um, wer nun noch ge­hen würde. Und obwohl niemand etwas zu sagen scheint, geht ein Gemurmel durch die gesamte Arena. Jeder belauert jeden.

Dass die zehn Minuten um sind, wird nach ei­ner gefühlten Ewigkeit jedem bewusst, als die Eingänge in die Arena unter deutlicher Geräu­schentwicklung geschlossen werden, als die schweren Eisentüren mit einem dumpfen Knall ins Schloss fallen.

Ein dumpfer Knall, der in der Arena verhallt.

Dieses Geräusch spricht die Sprache der End­lichkeit.

Jedem wird klar: nun gibt es kein zurück mehr.

Noch einmal wird der Unterschied klar, zu wis­sen, dass irgendetwas irgendwie ist oder erfah­ren zu haben, wie es sich anfühlt, was es bedeu­tet. Alle haben Herzklopfen, weil ihnen klar ist, dass sich jetzt, in diesem Moment, ihr Leben von Grund auf ändern wird. Sie alle hoffen, dass diese Änderung eine Änderung zum Besseren ist, aber ein Rest Unsicherheit bleibt. Immerhin wissen sie noch nichts.

Der angegraute Mann besteigt wieder das Rednerpult.

»Sehr verehrte Damen und Herren, ich heiße Sie nun in ihrer Zukunft herzlich willkommen und möchte Ihnen den Initiator der Unternehmung vorstellen. Begrüßen Sie mit einem großen Ap­plaus Dr. Jochen Janssen.«

Dann steht Jo auf.

»Was? Unser Jo?«, fragt Sudi mit aufgerisse­nen Augen.

»Nee nä?«, wirft Trisch überrascht ein.

»Boah ey, ich werd nicht mehr«, kommt es von Barbo, dessen Überraschung ebenfalls einfach herausplatzt.

»Also das überrascht mich nun wirklich«, sagt Zibiah und Yeho sitzt mit halb offenem Mund da und stimmte ihr nickend zu. Er kann es auch nicht fassen.

»Katrice? Das hast du die ganze Zeit gewusst?«, will Rod, mit aufgerissenen Augen, ganz erstaunt wissen.

»Ja, es war uns wichtig, euch kennenzulernen, wie ihr seid, wenn ihr seid, wie ihr seid und ihr seid toll. Wir wollten keine Extrawurst gebraten bekommen. Wenn ihr gewusst hättet, dass Jo Dr. Janssen ist, hättet ihr euch anders gegeben. Au­ßerdem war es vor allem Jos Idee, die ganzen Prüfungen mitzumachen, um zu zeigen, dass er nichts von uns verlangt hat, was er nicht selbst zu tun bereit wäre.«

Rod, nickt. »Okay, das verstehe ich. Hehehe, da habt ihr uns aber ganz schön angemüllert.«

»Ihr hättet aber an einer Stelle darauf kom­men können«, sagt Katrice.

»So? Wo denn?«

»Als er mit den Getränken und der Gitarre run­ter an den Strand kam. Wo sollte er die plötzlich her gehabt haben?«

»Das ist doch ein Schlitzohr«, sagt Rod, dann wurde vorne auf das Mikro geklopft.

»Sehr verehrte Damen und Herren, einige von Ihnen haben mich in den letzten Wochen und Mo­naten als Jo kennengelernt, was auch völlig rich­tig, aber unvollständig ist. Mein Name ist Dr. Jo­chen Janssen.«

Die Arena wird zu einem Vulkan, der auszubre­chen droht. Während es offenbar einige gibt, die ihn gar nicht kennen, sind andere gegen sein Vor­gehen in der Softwareentwicklung. Wieder ande­re mögen ihn, beziehungsweise, das, was er tut.

»Und mir gehört die Computer- und Software-Entwicklungsfirma Xiox.« Viele nicken nun und jeder glaubt, irgendetwas zu wissen, über Xiox und Dr. Janssen und die Gerüchteküche ist am Brodeln.

»Nach unserer Einschätzung hat die Entwick­lung des Homo Sapiens hier auf dem Pla­neten Erde einen toten Punkt erreicht. Es wird nur noch an wirtschaftliche Interessen gedacht, und alles, was uns als Menschen ausmacht – Kul­tur, Bildung, Kunst, Wissenschaft und vieles ande­re mehr, verkümmert und stirbt mehr und mehr ab. Wir haben nun schon mehrere Weltkriege hin­ter uns gebracht, Kriege mit internationaler Be­teiligung, aber der nächste Krieg, Herrschaften, wird den gesamten Planeten erfassen.

Nichts und niemand wird dabei verschont. Es gibt einige sehr reiche Menschen, die gewaltige Bunkeranlagen gebaut haben, in denen sie glau­ben, das Armageddon überleben zu können, aber sie werden mit den Halbwertzeiten der Verstrah­lung nicht verhandeln können. Nach Einschät­zung meiner Experten wird es noch fünf, viel­leicht zehn Jahre dauern, bis hier auf der Erde kein Mensch mehr leben kann.

Trotz einer Sterberate von 4 Milliarden Men­schen pro Jahr, nimmt das Bevölkerungswachs­tum jedes Jahr um zwei Milliarden Menschen zu. Der Planet hat eine endliche Größe und dieses Ende ist absehbar. Würden etwa 1.000 der reichs­ten Menschen der Welt, mich selbst einge­schlossen, die Hälfte ihres Vermögens in den Wie­deraufbau stecken, und würde die Politik einige wesentliche Entscheidungen treffen, wäre der Planet im Handumdrehen wieder ein lebenswer­ter Ort. Aber das wird nicht passieren. Also muss eine andere Lösung her.

Wir fahren mit einem Hochgeschwindigkeits­zug auf einem Schienenstrang und haben den Point of no Return längst überschritten. Der Zug ist bereits über die Klippen geschossen und fällt unaufhaltsam in die Tiefe. Wir stehen kurz vor dem Aufprall, aber die Optimisten sagen: »Wieso? Bis hier hin ist doch alles gut gegangen.«

Der Planet Erde kann sich nur noch selbst ret­ten. Menschen werden es nicht tun. Unabhängig davon, in wessen Portemonnaie das Geld fließt. Hat es einen bestimmten Wert überschritten, er­warten wir, dass es wie von Geisterhand mehr wird, und das kann nicht gut gehen. Die Wert­schöpfung aus dem Nichts ist entgegen der Na­turgesetze. Ich habe das erkannt und biete eine Lösung an.«

Die Unruhe wird immer größer, die ganze Are­na ist ein einziges Pulverfass. Jeder murmelt vor sich hin.

»Und was wollen Sie alleine dagegen tun?«, ruft einer von hinten ziemlich lautstark.

»Ich?«, fragt Dr. Janssen noch einmal nach. »Ich? Gar nichts! Denn ich habe andere Pläne.« Dr. Janssen macht eine Handbewegung, die eine Projektionswand zum Vorschein bringt. »Können alle gut sehen?«, fragt er und schaut, ob sich ir­gendwer meldet, aber das ist nicht der Fall. »Das sind die Bilder, die Sie bereits im Film gesehen haben. Diese Bilder haben wir an einem Ort des Überlebens gemacht.«

Höchste Anspannung in der Arena sorgt für maximales Interesse bei den Zuhörern.

»Dieses Projekt«, führt Dr. Janssen weiter aus, »wurde von mir vor knapp 20 Jahren ins Leben gerufen und trägt den Namen Habitat I.

Vor etwa 15 Jahren waren wir so weit, dass die ersten Tests beginnen konnten.

Weitere fünf Jahre hat es gedauert, bis wir die Feinabstimmung hinbekommen haben, denn das Projekt ist nicht ganz einfach.

Dieses Projekt läuft nun seit fast 10 Jahren ohne Fehler und Störungen einwandfrei und ist nun bereit, in die nächste Phase zu gehen.

Das bedeutet, dass wir dort einziehen werden.

Wir ziehen ein, in ein sauberes Paradies, mit sauberem Wasser, sauberer Luft, sie werden Häu­ser haben, Wälder, Strände, viel Bildung, Kultur, Sport, Musik und Kunst. Wir werden es uns rich­tig schön machen. Na, wie klingt das für Sie?«

Ein Raunen dringt durch das gesamte Publi­kum. Viele beratschlagen sich mit ihrem Sitz­nachbarn, aber ganz langsam, sehr zögerlich be­ginnen ein, zwei Leute zu klatschen.

Dann ein paar mehr und noch mehr bis sich der Applaus zu einem tosenden Beifall steigert.

»Um in das Habitat I zu gelangen, müssen wir zunächst zurück zum Flughafen. Busse stehen be­reit und werden uns dort hinbringen. Ich wün­sche Ihnen einen angenehmen Flug«, sagt Dr. Janssen und nickt kurz, um dann das Rednerpult zu verlassen.

Alle stehen auf, um zum Bus zu gehen. Wieder muss man anstehen, denn bis 10.028 Menschen in ihre Busse gestiegen sind, dauert es etwas.

Katrice und Jo sind plötzlich verschwunden.

»Da bin ich ja mal gespannt, wo es nun hin­geht«, meint Barbo, der immer noch ein seltsa­mes Gefühl hat.

»In die Habitat I, hat er doch gesagt«, erwi­dert Sudi schulterzuckend.

»Ja, aber warum hab ich das Gefühl, dass er uns immer noch nicht alles erzählt hat?«, hakt Barbo nach.

»Ja, irgendeine Überraschung kommt noch, pass mal auf«, sagt Rod.

»Wir werden das alles sehen. Aber ein eigenes Haus, saubere Luft, Wälder, Freizeitspaß, das hört sich doch gut an«, meint Trisch.

Im Bus sitzen Yeho und Zibiah eine Reihe hin­ter den Vieren und spekulieren, was nun werden wird. Dann setzt sich der Bus in Bewegung.

Der Bus fährt auf der kurvenreichen Straße an die Küste, wo man mal das Meer und mal den Wald sieht und dann immer hin und her und hin und her. Die halbe Insel entlang bis zum Flugha­fen auf Mystery-Island.

Zehn dieser Monsterflugzeuge, in denen sie schon hergebracht wurden, stehen auf dem Roll­feld und die Busse fahren direkt zu den Flugzeu­gen. Jeder nimmt sich sein Handgepäck und geht Richtung Gangway.

»Legen Sie ihr Gepäck einfach auf das Band, vielen Dank«, sagt einer, der offenbar mit dem Verstauen des Gepäcks beschäftigt ist.

Barbo und Trisch schauen sich um.

Zibiah fragt: »Hoffentlich sitzen wir im Flug­zeug zusammen, dann können wir ein bisschen klönen.«

Trisch nimmt Zibiah in den Arm: »Das wäre schön, ja.«

»Das bekommen wir schon hin, die waren auf dem Flug hierher sehr freundlich«, meint Barbo.

»Ja, zu uns auch«, sagt Yeho, »Nur, dass die Flugzeuge keine Fenster hatten, fand ich nicht so toll. Kameras ersetzen das nicht, oder?«, fragt Yeho, was allerdings eher als Feststellung zu ver­stehen ist.

In den Gängen ist reichlich was los, alle haben noch irgendwas zu verstauen. Es dauert ein we­nig, bis alle sitzen.

Als alle Platz genommen haben, meldet sich die Stimme einer Stewardess: »Bitte schnallen Sie sich an und ziehen Sie diesmal den Gurt zu ihrer eigenen Sicherheit möglichst fest. Etwa 30 Minuten nach dem Start haben wir Fluchtge­schwindigkeit erreicht und anschließend servie­ren wir Ihnen einen Snack. Die Schwimmwesten befinden sich unter ihrem Sitz. Behalten Sie die Rückenlehnen in einer aufrechten Position, wir werden jeden Moment starten.«

Es dauert nicht lange, da macht das Flugzeug einen Ruck.

»Wir rollen glaube ich«, sagt Rod.

»Ich mach mal den Bildschirm an«, meint Yeho.

»Ja, das sollten wir auch tun«, sagt Barbo zu Trisch.

Auch Sudi fummelt oben an dem Bildschirm herum.

»Ja, wir sind unterwegs«, meint Rod mit einem Blick auf den Bildschirm.

Langsam rollt das Flugzeug auf die Startbahn und in den Gesichtern macht sich Anspannung breit.

Alle fragen sich: Was wird passieren? Wo ge­nau geht es hin? Schön, in die Habitat I, ist schon klar, aber wo ist das? Irgendwie ist immer noch alles recht unklar. Immer wieder wird viel erzählt aber nichts gesagt. Das nervt langsam. Ein paar Antworten wären mal gut, wenigstens geht es voran. Dann steht das Flugzeug wieder und war­tet.

»Jetzt wird es aber echt kribbelig«, sagt Zi­biah. Und alle nicken oder rollen mit den Augen.

»Du sagst es«, meint Trisch.

»Herrschaften, vielleicht sollten wir mal alle tief durchatmen?«, schlägt Sudi vor.

Dann aber haut das Triebwerk raus, was es kann. Es geht außerordentlich exorbitant nach vorne los. Es wird laut. Alles vibriert. Das müssen exzeptionell eminente Triebwerke sein, denn der Vogel ist wirklich nicht klein und dann trotzdem so einen Schub, boah, das ist erstaunlich.

»Ich weiß jetzt auch, warum die den Kaffee im­mer erst nach dem Start ausschenken, er bleibt dann einfach länger im Becher«, versucht Barbo gegen den Lärm anzuschreien.

»Ja, der Start ist erheblich lauter als der vom Hinweg«, sagt Rod.

Schnell gewinnt die Maschine an Höhe und es wird wieder etwas ruhiger.

»Mein Name ist Kapitän Sven Södenbröd, ich darf Sie an Bord der Garuda herzlich willkommen heißen. Die Garuda, nach dem indischen Götter­boten benannt, ist ein Passagier-Überschallflug­zeug mit einer Spitzengeschwindigkeit von Mach 6. Aber diesmal fliegen wir mit Transplanetar-Triebwerken, da sind wir mit rund 45.000 Kilome­ter die Stunde unterwegs. Wir haben diesmal 1256 Fluggäste, auf vier Decks verteilt, an Bord. Bleiben Sie den ganzen Flug über angeschnallt, da wir gleich das Schwerefeld der Erde verlassen werden. Unser Ziel ist die Habitat I, sie befindet sich in einem Raumdock auf der Rückseite des Mondes. Der Flug beträgt etwa 385.000 km und wird ungefähr 10 Stunden dauern. Unsere Ste­wardessen werden auch in Schwerelosigkeit ver­suchen, Ihnen jeden Wunsch von den Augen abzu­lesen. Sollte das einmal nicht gelingen, fragen sie einfach.«

»Das hat er auf dem Herweg auch schon ge­sagt«, meint Sudi.

»Wir hatten einen anderen Piloten«, sagt Zi­biah, »Diesen hier kenne ich noch gar nicht.«

»Dennoch fühle ich mich irgendwie entführt«, sagt Trisch. »Vom Weltraum war nicht die Rede.«

»Nee, es war von so manchem nicht die Rede«, meint Barbo etwas unwirsch.

»Vielleicht warten wir erst einmal ab. Ich mei­ne, wenn die Erde sowieso keine Option mehr ist, sollten wir vielleicht froh und dankbar sein, dass wir hier wegkommen«, sagt Rod.

»Ich hatte nichts mehr, was mich auf der Erde gehalten hätte. Ich finde es aufregend, was wir hier machen«, trällert Sudi und hat so einen Sing­sang in der Stimme.

»Oh merkt ihr das? Wir entfernen uns von der Erde, die Schwerelosigkeit setzt ein«, sagt Yeho, der aufpasst wie ein Schießhund und jede Verän­derung als erster spürt.

»Tja, nun sind wir auf dem Weg«, sagt Sudi.

»Ja, auf dem Weg raus«, meint Barbo, »und wir wissen noch nicht, wo wir ab bleiben.«

»Nun haltet doch mal den Rand. Wenn sie uns irgendwas Schlechtes wollten, meint ihr, die wür­den so einen Aufwand betreiben? Das können sie auch billiger haben. Nee, nee, das wird riesig, ich spür das«, stellt Rod fest und alle schauen ihn er­staunt an.

»Na ja...«, druckst Barbo herum und meint zö­gerlich nickend »wenn das so ist, dann schau'n wir mal.« Dann lehnt er sich gemütlich nach hin­ten.

»Wie läuft das hier mit dem Essen? Ich meine, wäre doof, wenn's einem weg fliegt, oder?« Barbo hat seine eigene, glänzende Art, die Dinge beim Namen zu nennen.

»Was möchten Sie denn essen?«, fragt die Ste­wardess, die gerade vorbeikommt.

»Oh.« Barbo fährt seinen Sitz noch einmal nach oben. »Hasenbraten… Haben Sie Hasenbra­ten?«

Die Stewardess schaut verlegen nach unten, auf ihren Wagen und Trisch boxt ihn in die Seite.

»Nein, wir haben leider keinen Hasenbraten. Ich kann Ihnen eine Hühnersuppe anbieten. We­gen der Schwerelosigkeit ist alles in solchen Trinkbeuteln verpackt und mit einem Trinkhalm versehen.« Die Stewardess hält eine Portion hoch.

»Ah verstehe, mit einem Bier ist dann auch Es­sig, oder?«, will Barbo wissen und ist ein wenig enttäuscht.

»Tja, die Schwerelosigkeit. Bier und Sekt sind wegen der Kohlensäure auch schlecht, aber einen Wein kann ich Ihnen anbieten.« Die Stewardess bemerkt, dass Barbo ein harter Verhandlungs­partner ist.

»Dann möchte ich eine Hühnersuppe und ei­nen Weißwein, wenn das geht.«

»Ja, sehr gerne«, kommt es mit einem, gerade noch unterdrückten Seufzer aus der Stewardess heraus.

Trisch und Rod wollen das Gleiche.

»Ich habe noch keinen Hunger. Können wir auch später noch etwas bestellen?«, fragt Sudi und Zibiah und Yeho schauen ebenfalls die Ste­wardess neugierig an.

»Was Katrice und Jo wohl gerade machen?«, fragt sich Zibiah.

Und während die ersten sich schon mal gemüt­lich für den langen Flug hinlegen, trinken die an­deren erst ihr Essen aus.

Das ganze Flugzeug vibriert, aber nur leicht. Das ist erstaunlich. Bei solchen Triebwerken.

Das Flugzeug hat längst die Atmosphäre ver­lassen und ist in die Dunkelheit des Alls einge­taucht.

Mit maximalem Schub geht es zur abgewand­ten Seite des Mondes…

Ja, sie sind auf dem Weg. Auf dem Weg raus…

Nachwort

Natürlich werden unsere Protagonisten die Habitat 1 erreichen und dort einziehen. Alle 5014 Frauen werden auf der Habitat 1 ihre Kinder be­kommen, womit die Anzahl der Bewohner bereits einige Monate nach dem Start auf 15.000 an­steigt. Die Habitat 1 ist ein Generationenraum­schiff und wird das Zuhause von bis zu 50.000 Menschen sein. So ist sie ausgelegt, dafür ist sie gebaut worden.

Der zweite Band wird unter dem Titel „Der Weg weg“ erhältlich sein.

Danksagung

Ich möchte mich insbesondere bei meiner Schwester Sandra bedanken, die mir einige Tipps gab, die sie einfach besser wusste als ich. Ebenso hat mir Arielle Delamerlibre bei der Recherche zur Seite gestanden. Vielen Dank dafür.

Und vor allem geht ein riesiges Dankeschön an meine Lektorin Nadine Manz, die mir sehr viele Tipps gegeben hat, um die Textstellen an enorm vielen Stellen besser zu machen. Ein ganz herzli­ches Dankeschön Nadine Manz.

Auch möchte ich mich bei den vielen Men­schen bedanken, die zur Erstellung dieses Buches beigetragen haben, sei es durch Tipps oder auch nur, das sie mir an anderer Stelle Arbeit abge­nommen haben, sodass ich schreiben konnte.

 

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Impressum

Texte: Spike Sol
Bildmaterialien: Spike Sol
Cover: Spike Sol
Lektorat: Nadine Manz
Satz: Spike Sol
Tag der Veröffentlichung: 06.02.2021

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Das Leben und die demütige bedingungslose Akzeptanz von Mutter-Natur ist der Beginn allen Seins. Alles andere der Untergang. Glam`mue, Neabeos 3127

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