Jade saß über den länglich ausgebreitete Theke gebeugt und nippte widerwillig an ihrer Tasse Kaffee. Eigentlich hatte sie gar keinen Durst gehabt. Keine Ahnung, warum sie sich überhaupt einen doppelten Espresso bestellt hatte.
Sie starrte in ihr lauwarmes Getränk und rührte eine Weile nachdenklich darin herum. Dann huschte ihr Blick zu der Uhr, die an der mit schwarz-grauen Tapeten bedeckten Wand des Café's hing. "Erwarten sie denn noch jemanden, Miss?", fragte die junge Dame hinter der Theke höflich. Sie trug das schlohblonden Haar zu einem hoch gebundenen Pferdeschwanz und hatte eine große Brille auf der Nase, sodass sie aussah wie eine Büroarbeiterin. Als sie bemerkte, dass sie Jade aus den Gedanken gerissen hatte, lächelte sie ihr entschuldigend zu und machte sich wieder daran, die abgespülten Tassen mit einem weißen Handtuch abzutrocknen. Jade räusperte sich um den Frosch, der in ihrem Hals steckte loszuwerden. "Nein, ich ... ", begann sie, brach jedoch mitten im Satz wieder ab und schüttelten den Kopf. "Nein.", sagte sie erneut und strich sich dabei eine blonde Strähne aus dem Gesicht. "Ich glaube, er hat es sowieso vergessen." Erneut lächelte die nette Kellnerin.
"Na, aber wer lässt denn schon solch ein hübsches Mädchen einfach so alleine in einem Café sitzen?" Sie griff nach der nächsten Tasse und fuhrt mit ihrer Arbeit fort. "Sie sollten ihren Kaffee trinken. Er wird sonst kalt." Die Angestellte beugte sich zu Jade vor und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. "Und mal ganz unter uns: Dann können sie auch gleich das Abwaschwasser trinken" Das brachte Jade zum Lachen. "Es ist wirklich so; warm sind unsere Getränke der echte Wahnsinn. Sobald sie aber abgekühlt sind, sind sie einfach nur zum Kotzen" Aus reiner Höflichkeit nahm Jade einen kräftigen schluck und grinste. "Danke für den Ratschlag"
In diesem Moment wurde die Türe des Café's aufgerissen und ein junger Mann in durchnässten Kleidern und zerzausten haselnussbraunem Haar stand darin. "Jade!", lächelte er und setzte sich prompt zu ihr. "Hey Kyle", gab sie zurück und stellte ihre Tasse wieder ab.
Die Kellnerin warf ihr einen neugierigen Blick zu. Aber Jade ignorierte sie einfach und sah Kyle nur mit gerunzelter Stirn an. "Hattest du keinen Schirm mit?" Der Junge grinste breit, sodass seine strahlend weißen Zähne im Lichte der Lampen strahlten. "Wenn ich einen Regenschirm mitgenommen hätte, hätte ich dir das hier nicht bringen können." Er zeigte auf einen Schuhkarton, den er unter dem Arm geklemmt hatte. Jade zog kritisch eine Augenbraue hoch und pustete ihr Getränk an, obwohl es schon längst nicht mehr heiß war. "Und was ist das?", fragte sie und nahm einen zaghaften Schluck.
"Dreimal darfst du raten." Sein Grinsen wurde noch breiter, doch bevor er antworten konnte, mischte sich erneut die frau hinter der Theke ein. "Darf ich ihnen etwas bringen, Sir?" Ihre Stimme klang noch immer so höflich und liebreizend wie zuvor. Doch Jade kam das langsam ziemlich gespielt vor.
Kyle schüttelte ohne zu zögern den Kopf. "Danke, nein." Er wandte sich wieder Jade zu.
"Ich war drei Stunden unterwegs um das Ding aus zugraben." - "Ach, deswegen bist du so spät dran.", lachte Jade und zeigte auf ihre Armbanduhr. Er folgte ihrem Blick und biss die Zähne zusammen, als er begriff wie lange seine Freundin auf ihn gewartet haben musste. "Verdammt. Tut mir echt leid, Jade!"
Sie winkte schultern zuckend ab. "Nicht so wichtig. Also, zeig schon her!"
Über Kyle's Lippen huschte wieder sein freches, jungenhaftes Lächeln, dass Jade früher, als die beiden noch Kinder gewesen waren immer unwiderstehlich gefunden hatte. Doch das hatte sich in den letzten Jahren sehr verändert. Beide hatten verschiedene Wege eingeschlagen, gingen nicht mehr auf die selbe Schule, trafen sich nur noch Nachmittags, an manchmal Tagen sogar gar nicht. Der Gedanke daran, dass sich die beiden immer weiter von einander entfernten, ließ Jade das Herz zerspringen.
Als Kyle den Deckel der Schachtel, die von dem Regen auch etwas feucht geworden war abnahm, blieb Jade der Atem weg.
"Das ist doch nicht etwa ... ?", stammelte sie mit großen Augen.
"Klar ist es da!", lachte er und drückte ihr den Karton großzügig in die Hände.
"Die alte 'Truhe' mit den Bildern aus unserer Kindheit, die wir vor fünf Jahren im Wald vergraben haben." Seine Stimme klang jetzt ganz und gar stolz.
"Kyle..." Sie wusste einfach noch immer nicht was sie sagen sollte. Bei all dem Trubel um die Schule, Familie und alles Andere, hatte sie den bunt bemalten Karton, die sie damals als kleine 'Schatztruhe' betrachtet hatten, ganz vergessen. Die ganzen schönen Erinnerungen...
Da vibrierte plötzlich etwas in Jade's Hosentasche. Sie stellte das kleine Geschenk von Kyle auf die frisch gewischte Theke und zog ihr Handy hervor.
"Ja?", meldete sie sich, mit eifriger Stimme.
"Hey Babe." - "Ben!" Sie strahlte erfreut, aber aus der Freude wurde schnell Ärger. Ben hatte sich eine ganze Woche nicht mehr bei ihr gemeldet! dabei waren sie jetzt schon seid zwei Monaten ein Paar. "Klar, ich würde gerne vorbeikommen aber ... "
Sie wagte einen Seitenblick zu ihrem besten Freund Kyle hinüber, der sie mit gequälten Blick ansah. "Na, geh schon!", formte er sorgfältig mit seinen Lippen und starrte sofort auf den Boden, als könne er Jade's Anblick nicht ertragen.
"Okay,ich bin sofort da! ... Ja, ich liebe dich auch.", rief Jade fröhlich in den Hörer und legte sogleich auf. Kyle biss sich auf die Unterlippe. "Das wars dann wohl mit unserem kleinen Treffen." - "Tut mir echt Leid, Kyle", begann Jade, doch er hob die rechte Hand, als wolle er ihr Geredet nicht hören. "Ist schon okay, Jade. Du hängst lieber mit deinem Lover ab, als mit deinem besten Freund.* Er zuckte gleichgültig mit den Schultern, aber sie wusste, wie sehr sie ihn verletzt hatte. "Kyle..." murmelte sie und streckte den Arm nach ihm aus. Aber er zuckte zurück. "Weist du, du siehst Ben jeden Tag in der Schule." Er sprach seinen Namen wie eine schlimme Krankheit oder dergleichen aus. In seiner Stimme lag Verachtung, das hatte Jade bei ihm noch nie erlebt. Ohne darüber nachzudenken redete Kyle drauflos. "Er ist dein fester Freund. Und Trotzdem meldet er sich Wochenlang nicht bei dir und du nimmst ihn immer in Schutz. Dabei hast du keine Ahnung, was dieses Ass so treibt, wenn du nicht da bist." - "Kyle!!!" Nun war Jade auch wütend.
Wie konnte Kyle nur so über den Jungen reden, den sie liebte?
"Was denn? Ich sage dir nur, wie es ist. Wach' doch einmal auf, Jade. Der Typ nutzt dich total aus. Die ganze Woche lang hat er seine hübschen Mädchen um sich rum, und wenn mal eine von den kleinen Schlampen keine Zeit hat; genau dann ruft er dich an. Er ist einfach nur ein verdammtes Arschloch und - " Ohne, dass Jade es bewusst wollte erhob sich ihre Hand und weil Kyle keine Anstallten machte, sie abzuwehren, landete sie geräuschvoll auf seiner Wange. Als sie Begriff, was sie da gerade getan hatte, schlug sie sich erschrocken die Hände vor den Mund und Tränen sammelten sich in ihren Augen.
"Kyle... ich wollte nicht - " Doch er winkte einfach ab. "Ach, weißt du was? Vergiss es einfach, Jade." Er nahm den Karton wieder von der Theke, stand auf und ging zur Türe.
Seine rechte Wange war etwas rötlich, doch es schien ihm nicht auszumachen.
Bevor er jedoch das Café verließ drehte er sich noch einmal zu ihr um.
"Jade, ich ... ich - " Er schüttelte den Kopf, als hätte er es sich anders überlegt und verschwand dann in der Dunkelheit des Regens und der Nacht.
Gemeinsam mit dem Karton... den Fotos ... den Briefen ... den Erinnerungen ...
Jade konnte die lauten Schluchzer, die ihr aus der Kehle fuhren nicht zurück halten. Sie starrte wie gelähmt auf die Tür. Ihre zitternde Hand ergriff die Tasse Kaffee, die immer noch dort stand, wo sie sie abgestellt hatte. Sie nahm einen Schluck und biss sich auf die Unterlippe. Abwaschwasser....
...
Texte: Die Charaktere, sowie auch die Handlung des folgenden Buches gehören ausdrücklich mir und NUR mir.
Tag der Veröffentlichung: 25.11.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch widme ich meiner Schwester Sibel. Ohne dich, gäbe es dieses Buch nicht. Danke für die vielen einfallsreichen Ideen und die Unterstützung, die du mir schenkst.
Seni Seviyorum!