Jede Nacht.
Jede Nacht kommt sie zurück.
Jede Nacht sehe ich sie, direkt vor mir.
Doch sie ist nicht mehr dieselbe.
Unter normalen Umständen würde ich an diesem Punkt schreiend aufwachen, den Schweiß auf meiner Stirn spüren, die kühle Nachtluft einatmen und mich in die Bettdecke krallen, bis der erste Schrecken vorbei ist und ich verstehe, dass alles nur ein Traum war.
Doch ich tue es nicht. Ich tue es nie, in keiner dieser Nächte. Aus einem einfachen Grund.
Es war kein Traum!
Ich schlug mein Tagebuch mit einem lauten Knall zu, als ich Schritte hörte. Niemand wusste von diesem Buch, in dem ich meine Gedanken, meine Gefühle festhielt und verewigte. Und es sollte auch besser niemand erfahren, sonst würde ich mich in der geschlossenen Anstalt wieder finden.
Ich verstaute das kleine, rote Notizbuch hastig in meiner Tasche. Abends war der Bus fast immer leer, aber nun stiegen einige Leute ein. Ich saß ganz hinten und konnte sehen, wo sie sich hinsetzten. Die Dame mit den hochhackigen Schuhen und dem Nerzmantel stolzierte auf einen Platz zwei Reihen vor mir, weit entfernt von dem Penner, der in der vorderen Reihe immer wieder in seine Plastiktüte griff und eine der vielen Flaschen hervor holte. Ein Anzugträger mit Aktentasche huschte als letzter in den Bus und pflanzte sich auf einen Platz nahe an der Hintertür, nervös auf seine Uhr schauend.
Es war 16 Uhr 20, ich war auf dem Weg nach Hause und öffnete nun langsam wieder das rote Buch, in dem alles stand.
Es war kein Traum!
Der Satz sprang mir ins Auge. Ich hatte nicht nachgedacht, als ich ihn niedergeschrieben hatte, aber dennoch wurde mir schlagartig klar, dass es die Wahrheit war.
Ich hatte nicht geträumt, ich hatte sie wirklich gesehen.
Fast wie von selbst begann ich, weiter zu schreiben.
Laura ist nicht tot. Das heißt, sie ist schon tot, aber nicht ganz. Sonst würde sie nicht dauernd zu mir kommen. Ein Teil von ihr ist noch da, bei mir. Und sie will mir etwas sagen. Wenn ich doch nur herausfinden könnte, was!
Vorne im Bus kippte der Penner auf der Bank um und begann zu schnarchen.
* * *
Es war mitten in der Nacht. Ich fror, hatte mir eine Stickjacke übergezogen, damit es nicht ganz so kalt war. Ich stand in der Mitte meines Zimmers, das in der Dunkelheit so groß und unheimlich wirkte.
Wo bist du?, wollte ich leise sagen, doch meine Kehle fühlt sich so trocken an, wie Saharasand.
Nichts. Sie war nicht da.
Das kann nicht sein!, denke ich. Sie ist immer da! Jede Nacht kommt sie zurück, sie kann doch nicht einfach verschwinden, wenn ich beschließe, dem auf den Grund zu gehen!
Laura!, wollte ich rufen, doch kein Ton kam über meine Lippen.
Nichts.
Und wenn es doch nur alles Alpträume waren? Manchmal holte einen ein schlimmes Ereignis erst lange Zeit später ein und man fand sich dann damit ab. Vielleicht habe ich es auch geschafft, endlich einen Schlussstrich darunter zu ziehen und deshalb hörten auch die Halluzinationen auf. Meine Eltern hatten sie auch die erste Zeit immer und überall vor sich gesehen. Irgendwann hatte das dann aufgehört.
Nein!, dachte ich mir. Es sind keine Halluzinationen! Ihr Geist ist real! Sie war hier!
Ich sah mich um, versuche, ungewöhnliche Dinge zu finden, so etwas wie grüner Schleim oder Dinge, die sich von selbst bewegten, wie es in Geisterfilmen immer zu sehen war.
"Wo bist du?", flüsterte ich nun leise vor mich hin. Stille. Ich erntete nichts als Stille.
Ich schluckte. Und wenn ich doch verrückt war? Wenn ich nicht dem Geist meiner älteren Schwester, sondern nur einer Wahnvorstellung hinterher jagte?
Seit einem Jahr ist Laura jetzt verschwunden, sie wäre jetzt siebzehn Jahre alt. Ich musste daran denken, wie sie mir in der vierten Klasse bei den Hausaufgaben geholfen hatte, obwohl sie selbst für Arbeiten lernen musste. Wie sie mich in der Fünften zur Schule gebracht hatte, da ich mich allein nicht getraut habe. Wie sie mich getröstet hatte, weil ich es mit Zehn so schlimm fand, nicht auf dasselbe Gymnasium wie sie, sondern auf eine Realschule gehen zu müssen. Damals war es mir so schlimm vorgekommen, nicht in der Nähe von Laura zu sein, schon in der Vierten fast unerträglich. In der Grundschule war ich so stolz gewesen, ganze drei Jahre immer mit ihr zusammen über den Schulhof gehen zu können! Auch die anderen Schüler aus dem Jahrgang über mir hatten mich akzeptiert. Ich war schließlich die kleine Schwester ihrer Klassensprecherin gewesen.
Kälte durchfuhr meinen Körper. Ich sollte wieder zurück ins Bett! Einfach schlafen!
Da hörte ich es. Es hörte sich an, wie schnelle Schritte, die über hölzerne Dielen liefen.
Komm zu mir!, dachte ich, mein Herz hämmerte dabei wie ein Hammer gegen meine Rippen.
Doch sie kam nicht zu mir.
Sie verließ mich grade.
Ich konnte nur noch ihr Gesicht im Fenster sehen.
Im letzten Moment schoss ich ein Foto.
* * *
Natürlich konnte man auf dem Bild nichts sehen.
Doch das war für meine Theorie nur ein Beweis. Ich hatte genau Lauras Gesicht in dem Fenster gesehen. Blass, wie aus Nebel, durchscheinend, aber dennoch hatte es sich deutlich von der dunklen Nacht abgehoben.
Und Geister sah man auf Fotos nun mal nicht.
Jedenfalls wenn man Gruselgeschichten glaubte.
Ich schaltete meine Digitalkamera aus. Mir war klar, dass das pures Wunschdenken war, doch meine Erinnerung an diese Begegnung war mir heilig.
So heilig, dass ich die scheinbare Realität vergaß.
"Ich habe Laura gesehen."
Meine Eltern, die sich zuvor noch über den Sinn und Unsinn über das Anpflanzen von Tulpenzwiebeln im Vorgarten unterhalten haben, verstummten. Ich starrte auf den leeren Stuhl mir gegenüber. Er stand immer noch da. "Ich habe sie letzte Nacht gesehen. Am Fenster. Ganz kurz."
Es herrschte Stille. Ich schob die Erbsen auf meinem Teller appetitlos mit der Gabel hin und her, immer diesen kalten, leeren Stuhl fixierend. Ob er doch nicht so leer war, wie es schien?
Mein Blick fiel auf den Kalender. Übermorgen würde der Tag sein. Übermorgen vor einem Jahr war sie verschwunden.
Meine Eltern schwiegen immer noch, sahen sich an. Mein Vater hatte noch etwas Unzerkautes im Mund, das nun von einer Backe in die andere wanderte. Meine Mutter ließ die Gabel auf halbem Weg sinken.
Ich richtete den Blick wieder auf den Teller. Auch mir war der Appetit vergangen. Diese riesigen Kartoffeln würden mir sicher im Hals stecken bleiben.
"Vergisst es!", sagte ich hastig und verließ fluchtartig die Küche.
* * *
Ich starrte wieder auf das Fenster, sah mein Gesicht dort, genau an der Stelle, an der ich Lauras Gesicht gesehen hatte. Meine Augen befanden sich dort, wo ihre gewesen waren. Mir war noch nie aufgefallen, dass wir dieselbe Augenfarbe haben. Hellblau, bei den richtigen Lichtverhältnissen fast feenhaft leuchtend. Früher hatten wir uns immer die "Geisterschwestern" genannt. Laura hatte den Witz sogar noch gemacht, kurz bevor das Auto gegen den Baum geprallt war...
Ich blinzelte, die Bilder stiegen mir wieder vor Augen. Das zerknautschte Blech, der Qualm, all das Blut...
Ich trat vom Fenster weg, als ich Schritte hörte. Es war mein Vater. Er stand in der Tür. Wir sahen uns kurz an.
"Du denkst immer noch daran", sagte er leise.
Ich nickte nur. Ein Jahr. Ein ganzes Jahr und die Bilder standen immer noch in meiner Erinnerung, als wäre es erst gestern gewesen.
"Ich auch."
Ich sah ihn an. Er starrte nun auf das Fenster, als hätte er das Gesicht ebenfalls gesehen. Oder vielleicht sah er auch Lauras Gesicht in dem Glas?
"Hier war sie." Ich drehte mich wieder um. "Genau hier."
Papa kam näher zu mir, legte mir seinen Arm um die Schulter. Ich lehnte mich leicht gegen ihn. "Ich habe sie gesehen", wiederholte ich.
"Ich glaube dir, Leonie", sagte er, immer noch nach draußen starrend. "Vielleicht ist sie immer noch hier."
"Vielleicht", antwortete ich leise.
Und ich würde sie finden!
* * *
Es war wieder Nacht.
Doch diesmal war ich nicht in meinem Zimmer.
Ich stand auf der Straße und starrte zu meinem Fenster, das wie ein dunkles Loch in der Wand wirkte.
Bitte komm zu mir, Laura. Bitte, nur einmal! Ich will dich nur noch einmal wiedersehen, meine Geisterschwester.
Schritte. Ich riss meinen Kopf herum. Eine Gestalt ging um die Ecke.
"Laura?"
Die Schritte verklangen. Ich drehte mich um, und rannte hinterher. "Laura!"
Ich kam um die Ecke. Nur noch eine Gestalt irgendwo dort hinten. Doch sie hatte die richtige Größe. Die richtige Statur.
Ich begann, zu laufen.
"Laura! Warte! Ich bin es, Leonie!"
Ich hatte das Gefühl, gegen eine Wand zu schreien. Die Wiedersehensfreude verlagerte sich in den Hintergrund, Angst kam hervor, Unsicherheit, ob wir uns überhaupt noch einmal wieder sehen sollten, ob ich sie finden würde, ob sie noch die war, die ich in Erinnerung hatte. Ob sie überhaupt mit mir sprechen wollte, oder dies einfach nur eine Art seltsamer Abschied war.
Ich rannte ihr durch die Straßen hinterher, begann zu keuchen. Laura schien zu schweben. Wie Geister eben schweben.
Wer hatte eigentlich gesagt, dass Geister immer gruselig sein müssen? Ich hatte mal von einem Mädchen gehört, das mit ihrer toten Katze gesprochen hatte, noch Jahre nachdem das Tier gestorben war. Der Geist dieser Katze war bestimmt nicht gruselig. Dies war eine Art Geist, die jeder gerne haben würde.
"Laura!"
Sie schien mich nicht zu hören, doch ich sah sie, von weitem und rannte ihr hinterher. Die Häuser waren längst verschwunden, wichen weiten Grünflächen. Ich beachtete die Landschaft kaum, hatte nur Augen für Laura.
Sie ging durch eine Pforte in einer Mauer.
"Warte, Laura! Ich bin es! Warte!"
Ich rannte ihr hinterher, hatte sie verloren, sah sie wieder, wie einen Schatten aus dem Augenwinkel. Ich folgte mehr meinem Gefühl, als meinen Sinnen, lauschte auf Schritte, bog immer wieder ab...
...bis sie vor mir stand.
"Laura!"
Sie hatte mir den Rücken zugedreht, ihr Kopf war leicht gesengt, der Wind zerzauste ihre blonden Haarsträhnen.
Ich brachte keinen Ton hervor. Ich fühlte mich wie versteinert. Eigentlich sollte ich Freude empfinden. Unbändige Freude. Doch dem war nicht so. Mir war kalt, ich fühlte mich wie versteinert. Ich konnte nicht einmal etwas sagen.
Ich sah es.
Es wurde mit schlagartig klar.
Doch ich wollte nicht, dass es mir klar wurde.
Ich wollte es einfach nicht begreifen, sträubte mich dagegen, wollte wegrennen, im Boden verschwinden, mich in Luft auflösen, alles gleichzeitig.
Ich sah es wieder vor mir. Die glitschige, nasse Straße, hörte die quietschenden Reifen, als der Wagen ins Schleudern kam. Ein Knall, der Gestank, irgendwer schrie.
Es war nicht meine Mutter gewesen, wie ich es in Erinnerung hatte.
Es war auch nicht die Seite gewesen, auf der Laura gesessen hatte, die an dem Baum wie eine Zierharmonika zusammen gepresst wurde.
Blut. Überall. Metallsplitter, der Knall, der immer noch nachhallte. Rufe, Hände, die mich rüttelten. Lichter und Dunkelheit. Immer wieder. Lichter und Dunkelheit.
Ich fiel auf die Knie, mein Blick verschwamm vor meinen Augen. Ich starrte nun nicht mehr Laura an, ich starrte das an, worauf sie die ganze Zeit gestarrt hatte. Ich starrte es an, wie ein schwarzes Loch, das alles in sich einzusaugen schien.
"Leonie!" Sie schrie meinen Namen, rüttelte mich, doch ich reagierte nicht. Ich konnte nicht reagieren.
Lichter. Lichter und Dunkelheit.
Laura legte den Blumenstrauß auf der Erde ab, sah noch einmal auf ihn herab und ging dann...durch mich hindurch, den Kopf gesenkt, ohne Reaktion.
Tränen schwammen in meinen Augen. Ich zitterte. Es fühlte sich alles so echt an. So real.
Doch vor mir stand die Wahrheit. Die grausame Wahrheit.
Die Wahrheit waren drei Namen.
Meiner und der meiner Eltern.
Eingraviert in drei Grabsteine, die dicht nebeneinander standen.
* * *
Laura war gerade erst vom Friedhof zurück gekehrt. Sie schloss leise die Tür hinter sich, hängte den Mantel ordentlich an den Haken und klopfte die Schuhe schon fast bedacht ab. Ich beobachtete sie dabei. Vor einem Jahr noch war sie nicht so ordentlich gewesen.
Wir standen im Haus der Familie Steiner. Unsere Familien waren schon immer befreundet gewesen, Florian Steiner ist etwa so alt wie ich, seine Schwester Clara zwei Jahre jünger. Sie sehen Laura entgegen, als sie hinein kommt. Ich zögerte kurz, dann folgte ich ihnen ins Wohnzimmer.
"Es ist schon fast ein Jahr her", hörte ich Laura sagen. Ich konnte meinen Blick immer noch nicht von ihr abwenden. Sie sah durch mich hindurch, auf Clara und Florian, die ihr schwegend zuhörten. "Und immer noch glaube ich, dass sie auf irgendeine Weise hier sind."
"Ich bin hier!", rief ich, fast schon weinerlich, doch niemand regierte auf meine Worte. "Laura, ich bin direkt neben dir!"
Clara und Florian konnte ich ansehen, dass sie nicht wussten, was sie sagen sollten. Sie sahen Laura mit einer Mischung aus Mitleid und Schüchternheit an. Sie sahen sie durch mich hindurch an.
"Vielleicht wird sie immer bei dir bleiben", hörte ich Clara schließlich leise sagen.
Ich spürte, wie mir Tränen über die Wangen rannen. "Ich bin hier, Laura!" Ich griff nach ihrer Hand, umschloss sie mit meiner. Aus irgendeinem Grund gelang es mir, Laura bemerkte es dennoch nicht. "Ich bin ganz in deiner Nähe. Du musst nur um die Ecke gehen."
"Vielleicht", war alles, was Laura hervor brachte.
Es war aus. Aus und vorbei. Ich war tot, Laura noch am Leben. Uns trennte eine undurchdringliche Barriere. Vielleicht könnten wir auf irgendeine, spirituelle Weise doch noch zusammen bleiben, aber nicht so wie zuvor.
Vorerst nicht.
Ich verließ sie, verließ das Zimmer, verließ das Haus, verließ die Welt der Lebenden.
Als ich über die Türschwelle trat, drehte ich mich noch einmal um. Nichts, nur ein leeres Haus, das darauf wartet, irgendwann einmal bewohnt werden zu dürfen. Noch waren seine Bewohner nur die Geister aus einer anderen Welt.
Als ich langsam über die Straße nach Hause ging, kam es mir vor, als hätte ich die Welt nur in einem Spiegel gesehen, der in tausend Scherben zersprungen war. In jeder dieser Scherbe spiegelte sich etwas anderes wieder, doch alles lief auf dasselbe hinaus.
Ich lebte nicht mehr in der Welt, in der ich geboren war.
Ich lebte nun auf der anderen Seite.
Als ich um die Straßenecke trat, sah ich, wie meine Eltern mit verdreckten Gartenschürzen, miteinander scherzend, das Blumenbeet neu bepflanzten.
Tag der Veröffentlichung: 06.03.2015
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