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Es kommt immer anders, als man denkt...

Das Schiff hatte genau 348 Passagiere.

Ich konnte mir die Zahl so gut merken, weil es zuvor 350 Passagiere waren, wären Jonathan und ich nicht auf der Hälfte der Kreuzfahrt vom Schiff gesprungen.

Es war mitten in der Nacht, die Wellen schäumten gegen den Rumpf des Schiffes und leuchteten im Licht, das durch die Kojenfenster fiel.

Wir standen an der Reling. Der Wind sauste uns so stark um die Ohren, dass wir uns anschreien mussten, um so etwas wie eine Unterhaltung zu Stande zu bringen.

"Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht auf ihn hören sollst!"

Jonathan stand auf der anderen Seite der Reling, hielt sich mit beiden Händen an der Reling fest, während die Gischt seine Jeans durchnässte. Er sah mich an. Mit diesem Gesicht, das man am liebsten gleichzeitig abknutschen und ohrfeigen möchte.

"Er hat es schon wieder gesagt", jammerte er mit der Stimme eines Babys.

Ich kenne Jonathan, seitdem wir uns im Kindergarten um die Bauklötze gekloppt haben. Und seitdem hat er sich nicht verändert!

"Er sagt es schon seit der sechsten Klasse. Er meint es nicht so, das weißt du doch!"

Diese Reise hatte ich mir ganz anders vorgestellt! Aber was hätte ich erwarten sollen, wenn Jonathan und Samuel auf demselben Schiff waren?"

"Er hat es trotzdem gesagt", quengelte Jonathan weiter, ich wusste nicht, ob es das Salzwasser war, das sein Gesicht benetzte oder ob echte Tränen ihre Spuren auf seinen Wangen hinterließen.

"Verdammt, Jonathan, was denkst du, was er sagen wird, wenn er dich hier so sieht. Jetzt komm endlich da runter!"

"Nein!" Anstatt mich anzusehen, drehte er sich um, sodass er mit dem Rücken zur Reling stand. Mit den Händen hielt er sich fest, ich sah, wie sein weißes Hemd nass an seinem Rücken klebte.

Ich kannte dieses Benehmen schon länger von ihm. In der Grundschule hatten seine Trotzanfälle oft die ganze Klasse unterhalten. Damals waren wir noch nicht reif genug, um zu verstehen, was dahinter steckte. Vielleicht war ich damals die einzige gewesen, die ansatzweise verstanden hatte, dass Jonathan nicht so ist, wie die anderen.

"Gestern habt ihr noch zusammen gepokert, erinnerst du dich?"

Irgendwer hat mir mal gesagt, dass man ihn während eines depressiven Anfalls an etwas Gutes erinnern sollte. Wieso konnte Samuel nicht einmal ein bisschen sensibler sein!

"Ich hab gewonnen!" War das ein Lächeln, das ich auf Jonathans Lippen sah? Super, so konnte ich ihn wieder runter bringen!

"Ja, hast du. Du hast die ganze Zeit damit angegeben!"

Wenn ich ihn erst einmal von diesem Trip runter gebracht habe, würde ich wieder ganz normal mit ihm reden können, wie mit jedem anderen Menschen auf diesem Schiff. Dann war es doch kein Fehler, ihn zu überreden, mit auf das Klassentreffen auf hoher See zu kommen! Wer hatte überhaupt die Idee gehabt, dass wir alle dieses riesige Kreuzfahrtschiff buchen, auf dem außer unseren vier ehemaligen Klassen noch 250 andere Leute waren?!

Jonathans Lippen verzogen sich wieder. "Samuel hat mich trotzdem einen Versager genannt!"

"Er hat gesagt, dass es ihm leidtut." Das stimmte zwar nicht, aber es fiel mir trotzdem spontan ein.

Jonathan blinzelte. "Wirklich?" Er fragte das wie ein kleines Kind.

Auf diese Frage konnte ich nichts erwidern, da Hannah in diesem Moment auf das Deck stürmte. "Ich habe sie gefunden!"

Sie hielt die Tabletten, die Jonathan seit seiner Kindheit gegen seine Anfälle nehmen musste in der Hand und merkte erst jetzt, dass er kurz vor dem Suizid zu stehen schien. Wie unzählige Male zuvor auch.

Mein warnender Blick kam zu spät.

"Ihr glaubt, ich sei verrückt!"

Hannah starrte auf Jonathan. "Ich...was...nein, das glauben wir nicht!"

"Ihr glaubt, ich bin ein verrückter, durchgeknallter Versager!"

Ich hob beide Hände und ging vorsichtig auf Jonathan zu. "Joni, hör mir bitte zu. Du bist kein Versager. Nur weil Samuel in der Managerebene einer Firma für Flaschenkorken arbeitet und du mit deiner Musik noch nicht den Durchbruch geschafft hast, bist du kein Versager."

Die Musik! Genau! Das war es! Das war die Chance, meinem besten Freund zu helfen! Die Chance, ihn wieder in die Realität zurück zu holen!

"Joni, du hast doch erzählt, dass du einen neuen Song geschrieben hast."

Endlich schien sich etwas in Jonathans Augen zu regen.

Hannah nickte eifrig. "Ja, ich...ich hab zufällig den Text überflogen. Er ist einfach super!"

Gut, hoffentlich würde sie wenigstens diesmal etwas hinbekommen!, dachte ich.

"Mal ehrlich, du willst doch nicht den Abgang machen, ohne ihn uns vorher vorzuspielen!"

Am liebsten hätte ich sie über Bord geschleudert und Jonathan im selben Zug wieder ran geholt!

Jonathan hatte aufgehört zu weinen. Endlich schien er wieder zu lächeln. "Wirklich? Ich finde, die sind noch nicht so ganz ausgereift..."

"Na umso besser!", ereiferte sich Hannah mit vollem Elan. "Du kannst sie uns vorspielen und wir...wir sagen dir, was noch besser laufen könnte! Komm schon, das wird dein großer Hit!"

Nun hätte ich sie wieder umarmen können. Ich sollte wohl aufpassen, dass Jonathans Gemütsschwankungen nicht auf mich abfärbten!

"Genau, komm doch rein und spiel es uns vor!", sage ich. Nun lächelt Jonathan wieder. Endlich!

"Es ist mein bester Song!", brüstete er sich nun. "Ihr werdet sehen, ich..."

Mein Herzschlag setzte einen Augenblick aus. Er hatte die Reling mit einer Hand losgelassen und sich zu uns umgedreht. Im Dunkeln dachte ich zuerst, er würde Schwung holen, um mit einem Satz hinüber zu setzen, doch dann kam es ganz anders.

Jonathan rutschte aus, mit einem Schrei stürzten Hannah und ich auf ihn zu. Kurz bevor auch seine zweite Hand vom glitschigen Geländer glitt, ergriff ich sie.

Ein fataler Fehler!

"Jennifer!", hörte ich Jonathan meinen Namen rufen, dann schlugen die Wellen über mir zusammen und ich sah und hörte nichts mehr...

 

Rauschen. Es rauschte, irgendwo. Das Rauschen von Wasser.

Hitze auf meiner Haut. Ich blinzelte. Sonne schien mir entgegen. Ich lag im Sand, der teilweise an meiner Haut klebte. Ich spürte, wie es dort juckte.

Ich musste kurz lachen. Gestandet auf einer einsamen Insel, irgendwo im Atlantischen Ozean. Wie im Fernsehen!

Ich richtete mich auf. Alles sah verschwommen aus. Ich hörte noch etwas. Etwas Leises.

Ein Schluchzen.

Jemand weinte.

Ich war also nicht allein hier!

Mein Kopf pochte, als ich mich aufrichtete. Neben mir kauerte eine zusammen gekrümmte Gestalt, die flennte, wie ein kleines Baby.

"Joni?"

Jonathan hatte seinen Kopf im Sand vergraben, wie ein Strauß aus Zeichentrickfilmen für Kinder. Und er heulte sich die Seele aus dem Leib!

Na toll, da strande ich einmal in meinem Leben auf einer dieser berüchtigten einsamen Inseln, und dann mit dem hier! Robinson Crusoe kann man echt beneiden!

Ich tastete meine Hosentaschen ab, bis ich mein Handy fand. Oder das, was davon übrig war. Ein Haufen Elektroschrott. Einen Anruf würde ich damit nur in meinen Träumen hinbekommen.

Was soll's, ich wollte mir ohnehin ein neues Handy anschaffen!

Da wurde mir schlagartig bewusst, was eigentlich los war.

Ich war gestrandet, das hatte ich schon bemerkt, doch nun realisierte ich, was es wirklich bedeutete.

"Verdammt!", war alles, was ich hervor brachte, leise und fassungslos, bevor ein Schwall Adrenalin durch meine Blutbahn schwappte. Ich vergaß Jonathan, sprang auf und lief den Strand entlang. Wenn man ihn als Strand bezeichnen konnte. Ich war zufällig in einer Sandkuhle gelandet, der Rest, der zwischen mir und dem brausenden Meer lag, bestand aus Steinen. Kein weiter, weißer Strand, nein, Steine, die ich durch die Sohlen meiner Schuhe spürte.

Das Meer war grau und schien sich bis zum Horizont zu erstrecken, kein Schiff weit und breit. Also doch eine einsame Insel. Eine einsame Insel aus Steinen und dornigen Pflanzen, die die restlichen Nährstoffe aus dem Boden saugten. Wieso kann das Fernsehen nicht wenigstens in diesem Fall Realität sein!?

Jonathans Geheul hat zu allem Überfluss auch noch eine herzzerreißende Tiefe gewonnen. Ich drehte mich um und ging auf ihn zu. "Joni!"

"Wir sind verloren!", brabbelte er wie ein kleines Kind vor sich hin. Wie lange war er schon bei Bewusstsein? Hoffentlich hatte er keinen Sonnenstich!

"Joni, hör mir zu, wir sind auf einer Insel gestrandet. Sicher sucht man uns schon."

"Wir sind verloren!"

"Hier sind Steine und Sträucher. Es wird sicher leicht, ein Feuer zu machen. Dann werden wir schnell gefunden werden. Du hast doch ein Taschenmesser!"

"Wir sind verloren!", wiederholte Jonathan monoton.

"Joni, gib mir dein Taschenmesser!" Ich hatte das Gefühl, dass ich das hier allein in die Hand nehmen musste.

"Wir sind verloren!" Immer wieder. Immer noch in derselben Stimmlage.

Ich atmete tief durch, dann legte ich vorsichtig meine Hände auf Jonathans Schultern und drücke ihn leicht zurück, sodass er mir endlich ins Gesicht sah.

"Jonathan, kannst du mich verstehen?"

"...verloren."

"Hier fahren sicher viele Schiffe entlang. Wenn wir uns bemerkbar machen..."

"Für immer verloren..."

Das reichte mir! Er konnte seine Depri-Phasen haben, so oft er wollte, aber nicht, wenn mein Leben davon abhing! "Schau mich an und hör mir verdammt noch mal zu!"

Jonathan zuckte zusammen. Mit schreckensgeweiteten Augen starrte er mich an. Ich hatte seine Aufmerksamkeit. Gut.

"Wir sind hier nicht am Ende der Welt, verstanden? Verstanden?!"

Zitternd nickte er.

"Hier sind Sträucher. Damit können wir ein Feuer machen. Ein Signalfeuer."

Jonathan sah mit großen Augen über die Felsen, die sich hinter uns auftürmten und von einzelnen, dornigen Büschen bewachsen waren.

"Hast du dein Taschenmesser dabei? Komm, du bist doch so stolz auf das doofe Ding gewesen!"

"Das ist kein doofes Ding!" Nun versiegten seine Tränen wieder. Mir ist nie aufgefallen, wie gut diese Pillen tatsächlich wirkten. Er benahm sich wirklich wie ein kleines Baby, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Oder anders herum.

"Dann beweis es mir!", verlangte ich und zeigte auf das Gestrüpp zwischen den Felsen. Wie erwartet stand Jonathan sofort auf und begann, mit seinem grandiosen Schweizer Taschenmesser an den Zweigen herum zu säbeln. Ich musste für einen Augenblick lächeln, dann suchte ich mir einen spitzen Stein und fing an, ebenfalls Feuerholz zu sammeln.

"Hast du ein Feuerzeug?", fragte mich Jonathan, während er die ersten Zweige auf einen Haufen warf.

Ich schüttelte den Kopf. Hätte ich nicht tun sollen.

"Und...und wie sollen wir..."

"Es gibt doch sicher andere Wege. Feuersteine oder so was!"

"Feuersteine. Ja...könnte sein. Durch die Reibung, die entsteht, wenn man sie aufeinander schlägt, wird Wärmeenergie freigesetzt, wenn diese Funken auf etwas Brennbares treffen..."

"...haben wir ein schönes Feuerchen, das unser Überleben hier entscheiden könnte", führe ich den Satz zu Ende.

"Hier sind Feuersteine." Ich nehme sie Jonathan aus der Hand und hocke mich vor den Haufen Holz, den wir zusammen getragen haben.

"Dauert das lange?", fragte Jonathan, in seine kindliche Verzweiflung zurück verfallen.

"Bin ich die Expertin oder du?"

"Ich natürlich!", entrüstete sich Jonathan. Damit nahm er mir beide Steine aus der Hand. "Man muss die Kanten genau aufeinander fallen lassen und die Steine dabei im richtigen Winkel..."

Ich hörte nicht mehr zu, sondern stand auf und sah über das steinige Land, das sich hinter uns erhob. Vielleicht würde unser Feuer besser zu sehen sein, wenn wir es oben, auf dem Berg entzündeten.

"Joni, wir sollten auf den Berg gehen. Joni?"

Was machte der da?

Jonathan trampelte wie ein Irrer auf dem Haufen aus Gras und Zweigen herum.

"Jonathan, was ist los?" Ich lief auf ihn zu, so hektisch, dass ich kurz umknickte, was ich aber kaum spürte.

"Es funktioniert nicht!", zischte er.

"Was? Das Feuermachen?"

Mit einem Tritt beförderte Jonathan die Zweige über die Steine, dann kauerte er sich wieder hin.

Ich unterdrückte ein Seufzen und ging zu ihm hin. "Wie oft hast du es versucht?"

"Zehn Mal!", knurrte Jonathan genervt. "Dabei habe ich alles richtig gemacht!"

Er kauerte sich wieder hin. Ich atmete einmal tief durch, dann griff ich nach den Feuersteinen, die er in seiner Hand hielt. "Dann mache ich das Feuer."

"Und was soll ich machen? Warte, ich weiß es!", sagte er, bevor ich etwas vorschlagen konnte. "Ich suche einen dickeren Ast, den wir als Fackel benutzen können, dann sehen uns vorbeifahrende Schiffe sicher schneller!"

"Okay, tu das." Ich hätte nicht gedacht, dass er Typ so schlau ist, obwohl er sich ohne die Medikamente benimmt, wie ein Fünfjähriger!

Ich schlug die Feuersteine mehrmals aufeinander. Funken sprühten, aber keiner von ihnen entzündete das trockene Gras oder das Holz. Ich schlug sie fester aufeinander. Das musste doch bald klappen!

Beruhige dich! Sonst kannst du dir auch bald Psychopharmaka verschreiben lassen!

Ich dachte daran, was Jonathan gesagt hatte. Man musste die Kanten aufeinander schlagen. Ich tat es, sah, wie einige winzige Steinsplitter abbrachen, sah aber auch etwas aufleuchten. Die Funken.

"Du schaffst es!" Jonathan war schon wieder zurück und trug einige dicke, spröde aussehende Stöcker bei sich. Mit großen Augen beobachtete er, wie das Gras Feuer fing. "Du musst pusten."

Natürlich! Feuer brennt nur mit Sauerstoff! Das lernt man schon in der Grundschule!

Als ich blasen wollte, um das Feuer zum Brennen zu bringen, fielen die ersten Regentropfen.

Aus und vorbei mit dem Feuer.

 

"Wir werden uns erkälten."

Der Schauer prasselte auf uns nieder, während wir vor uns auf dem Meer das Ende der dunklen Wolkendecke und einen azurblauen Himmel sehen konnten. Wie im Film. Wie alles an unserer Situation.

"Wir haben größere Sorgen." Ich wusste nicht, ob ich das sagte, um Jonathan oder mich selbst zu beruhigen. Wahrscheinlich auch nur, um irgendetwas zu sagen.

"Hast Recht." Kurz darauf verzog Jonathan das Gesicht erneut. "Wir werden hier verhungern! Wir sind auf einer einsamen Insel! Niemand wird uns finden! Wir werden..."

"Bleib realistisch!", wirkte ich seiner Flut aus Selbstmitleid entgegen. "Wir leben im 21. Jahrhundert und nicht in der Zeit von Robinson Crusoe. Man wird uns sicher bald entdecken, und wenn es irgendein Freak ist, der Google Earth durchforstet!"

"Klingt realistisch", sagte Jonathan in seiner monotonen Stimme, die er immer auflegte, wenn er gerade einen Gefühlsausbruch hatte. "Es wurden schon viele Verbrechen mit Hilfe von Google Earth aufgeklärt. Man wird sich bestimmt mehr bemühen, verschwundene Personen zu finden, als Kriminelle. Hoffe ich."

"Keine Angst", beruhigte ich ihn, damit er nicht wieder einen Tiefpunkt erlebte. "So verkommen ist die Welt bestimmt nicht."

Eine Weile sagten wir nichts. Der Regen hat uns bis auf die Knochen durchnässt. Doch aus irgendeinem Grund war mir das ziemlich egal, auch wenn wir uns erkälten würden. Wahrscheinlich habe ich mich noch nicht an den Gedanken, dass einsame Inseln an der europäischen Atlantikküste existieren, angefreundet. Wer hätte gedacht, dass es einmal so kommen würde! Außerdem war ich wenigstens nicht allein. Auch wenn Jonathan mitunter etwas schwierig werden konnte, er war immer noch besser, als eine drückende Stille im prasselnden Regen. Ich konnte trotz der Kälte, die uns beide zum Schlottern brachte, immer noch seine Wärme spüren.

"Es tut mir leid."

Meine Gedanken waren so sehr abgeschweift, dass ich diesen Satz zunächst nicht zuordnen konnte. "Was?"

"Es tut mir leid. Wenn ich nicht so bescheuert an der Reling rumgetanzt hätte, wären wir jetzt noch auf dem Schiff bei den anderen. Ich würde mich sogar wieder mit Samuel vertragen, wenn ich seine hässliche Visage nur einmal wiedersehen könnte." Plötzlich fing er an, zu grinsen. Er würde doch nicht anfangen, sich über unsere Situation lustig zu machen!

"Das ist nicht lustig!", widerspreche ich, mehr aus Prinzip.

"Doch, das ist es!" Ich hatte die Geschichte, dass Menschen oft lachen, damit sie nicht weinen müssen, bisher für eine Legende gehalten, doch als Jonathan nun anfing, zu kichern, nahm ich mir vor, das noch einmal zu überdenken.

"Hör auf, so dämlich zu kichern!"

"Wieso?"

"Weil mir nicht nach kichern zu Mute ist."

Daraufhin schwang Jonathans Kichern zu einem Lachen über. Naja, medizinisch gesehen war Lachen besser als Weinen. Das war vielleicht ganz gut so. Dann würde er hoffentlich nicht so schnell krank werden, weil die Psyche ja angeblich dazu beiträgt, den Körper intakt zu halten. Irgendwie mochte ich Jonathans Lachen auch.

Allerdings machte er keine Anstalten, mit diesem Lachen aufzuhören.

"Joni, bitte, versuche wenigstens, dich zu beruhigen."

Jonathan tat es nicht, er ließ sich mit ausgebreiteten Armen nach hinten fallen und lachte. Er lachte aus vollem Hals mit weit geöffnetem Mund in den herab rauschenden Regen hinein, sein Bauch bebte dabei, er fing an, zu keuchen, lachte weiter.

Zunächst zuckten meine Mundwinkel zu einem Grinsen, da ich die Geste irgendwie komisch fand, doch kann wurde mir schlagartig klar, dass das kein normales Lachen war.

Er hatte einen euphorischen Anfall.

Okay, ich war mir nicht sicher, ob man das wirklich so nannte, aber es wäre ein sehr guter, medizinischer Name dafür.

"Joni, hör zu, du..."

"Der war gut, geb's zu!" Er japste, sah zu mir auf, strahlte über das ganze Gesicht. "Der Witz war gut."

"Ja, er war gut, aber..."

Jonathan lachte weiter, keuchte, lachte. Mein Herz zog sich plötzlich zusammen. War es rein theoretisch möglich, dass sich ein Mensch totlachen könnte? Ich glaubte, ich habe da schon mal so etwas gehört...

"Jonathan, hör auf!" Mit einem Mal schoss echte Angst durch meine Adern, innerhalb kürzester Zeit war ich in höchster Alarmbereitschaft. Ich beugte mich über Jonathan, nahm sein Gesicht in beide Hände. "Hör mir zu! Du musst damit aufhören!" Panik klang in meiner zitternden Stimme mit.

Sein ganzer Körper stand unter Spannung, er krallte sich mit den Fingern in den nassen Schlamm neben ihm. Tränen quollen aus seinen weit aufgerissenen Augen und wurden von dem Regen von seinem Gesicht gespült. Sein Mund war weit aufgerissen, verzweifelt versuchte er, die Luft, die durch sein Lachen entwich, wieder in seine Lungen zurück zu bekommen.

Er hypoventilierte, das würde wahrscheinlich ein Arzt sagen.

"Verdammt, Jonathan! So wirst du mir nicht abkratzen! Atme gefälligst!"

Ich schlug mit der geballten Faust auf seine Brust, der Schlag prallte ab, als hätte ich auf Stein getroffen. Jonathans Muskulatur war zu sehr verkrampft, als dass ich damit irgendetwas hätte ausrichten können.

Etwas in meinen Eingeweiden schien sich zusammen zu ziehen. Mein bester Freund war tatsächlich gerade dabei, sich totzulachen! Dabei hatte er doch noch sein ganzes Leben vor sich!

"Wir kennen uns seit dem Kindergarten! Wir waren dreizehn Jahre lang in einer Klasse, wir haben zusammen Abitur gemacht, uns gegenseitig Nachhilfe gegeben...du wirst jetzt nicht sterben! Nicht bei mir und nicht auf dieser dämlichen einsamen Insel!"

In diesem Augenblick, als ich Jonathan, verkrampft vor Euphorie, kurz vor seinem Zusammenbruch mitten im Regen sah, verlor ich selbst die Kontrolle über die Handlungen meines Körpers. Mit beiden Händen packte ich ihn an seinen bebenden Schultern, riss ihn zu mir hoch und erstickte sein wahnwitziges, unkontrollierbares Lachen mit einem Kuss.

Eine pure Verzweiflungstat, ohne jedes rationale Denken.

Der Regen floss durch meine durchnässten Haarsträhnen, die Jonathans Gesicht bedeckten, auf meinen Lippen spürte ich seine nasse Haut, seine Lippen, die sich beim Kontakt entspannten, ich spürte, wie sich sein Atem wieder regulierte, wie die Luft wieder in seine Lungen zurück kehrte, sobald ich mich von ihm löste.

Zitternd richtete ich mich wieder auf, erst jetzt merkte ich, dass ich vor Verzweiflung geweint hatte. Meine Augen brannten wie Feuer, dennoch hielt ich sie offen, um Jonathan anzusehen. Meinen besten Freund Jonathan, der nicht so war, wie alle anderen, den man immer anders behandeln musste, als alle anderen, nur weil er alle Gefühle ein wenig intensiver erlebte als alle anderen.

Er starrte mir entgegen, mit weit aufgerissenen Augen. Tränen schwammen in diesen Augen, diesmal nicht durch einen Lachkrampf ausgelöst.

In dem Moment wusste ich es. Ich wusste, dass das, was ich, oder eher gesagt, mein Körper eben getan hatte, richtig gewesen war.

Ich umschloss sein Gesicht mit meinen Händen, sah in seine Augen, dieses Funkeln, dieser Glanz. Ich spürte, wie seine Hände an meinem Rücken emporwanderten, wie sie mich umschlossen, wie er Luft holte, als wollte er etwas sagen, jedoch kam kein Wort über seine Lippen. Stattdessen zog er mich zu sich heran und erwiderte den Kuss.

Mit einem Mal verstand ich, was Jonathan immer meinte, wenn er sagte, dass er glücklich sei.

Glück, pures Glück strömte durch meine Adern, wie der Regen über die felsige Insel. Glück, das uns beide umschloss. Ja, ich war glücklich. Glücklich, dass ich Jonathan kannte. Glücklich, dass er mich mit über Bord gezogen hatte. Glücklich, dass wir hier angespült worden waren. Ich würde immer darüber glücklich sein, und wenn wir in absehbarer Zeit auf dieser Insel verrecken würden!

Die Rotorblätter von Polizeihubschraubern ertönten über uns.

 

Zwei Wochen später...

 

Natürlich waren wir nicht auf einer einsamen Insel, sondern an einen Abschnitt der französischen Küste gelandet. Hannah hatte gleich nachdem Jonathan uns beide über Bord befördert hatte, den Käptain benachrichtigt, der den Notruf an die französischen Behörden weitergeleitet hatte. Per Helikopter hatten die uns in ein Krankenhaus in La Rochelle befördert, wo zum Glück so bald wie möglich ein Rückflug nach Berlin organisiert wurde.

Jonathan und ich hielten uns an den Händen, als wir aus dem Flugzeug stiegen und von unseren ehemaligen Klassenkameraden empfangen wurden. Hannah stürmte auf uns zu, mit Tränen in den Augen.

"Es tut mir so leid, ich hätte es verhindern sollen, aber alles ging so schnell...es gab unzählige Gerüchte, irgendwer meinte, ihr seid von Piraten als Geiseln genommen worden, obwohl die sich ja eher in Afrika und so herumtreiben, außerdem dachten wir, ihr...oh, ich habe mir solche Sorgen gemacht!"

Sie drückte uns so sehr, dass ich kurz befürchtete, keine Luft mehr zu bekommen.

"Geht es euch wirklich gut?", fragte sie noch einmal nach, nachdem sie Jonathan auf dieselbe Weise gequetscht hatte, "du hast doch deine Tabletten genommen, Joni?"

Jonathan grinste kurz. "Nein, Jennifer hat sie in mich hinein gestopft." Ein Lächeln flog über meine Lippen. Wenn er Witze über seine Tabletten machen konnte, dann ging es ihm gut!

Samuel drängte sich zwischen uns. "Mann, ich bin so froh, dass ihr noch am Leben seid. Du, Joni, was ich da auf dem Schiff gesagt habe..."

"Schon vergessen, Alter", winkte Jonathan ab und klopfte Samuel auf die Schulter, als wären die beiden schon immer die besten Freunde gewesen. "Hättest ja nicht ahnen können, dass ich mich gleich in die Fluten stürze."

Verhaltenes Gelächter ertönte bei dem Kommentar. Ich musste lächeln. Wenigstens hatte Jonathan kein Trauma erlitten, das wäre sicher die Hölle für jeden Therapeuten gewesen.

Ich bemerkte, wie von hinten noch weitere Menschen auf uns zustürmten. Meine und Jonathans Familie. Jonathan ließ mich natürlich sofort los und lief ihnen entgegen. Ich strahlte über das ganze Gesicht und folgte.

"Ihr beide wart in den Nachrichten", begrüßte mich meine Mutter unter Tränen. Sie und mein Vater waren sich ins Gehege gekommen, als sie mich gleichzeitig umarmen wollten. Stattdessen drückte ich sie nun beide gleichzeitig an mich. Ich hätte fast vergessen, wie schön es war, sich von seinen Eltern knuddeln zu lassen! "Wir waren so erleichtert, als die euch gefunden haben..." Sie wiederholten die endlosen Monologe, denen ich schon am Telefon gelauscht habe, doch das war mir egal, ich und Jonathan waren zu Hause, das war alles, was zählte!

 

Hannah hatte eine Überraschungsparty für uns organisiert. Sogar mit Feuerwerk, die Nachbarn hatten nichts dagegen einzuwenden, die meisten kamen sogar vorbei.

Mir wurde das schnell zu viel. Ich flüchtete durch das überfüllte Wohnzimmer auf den Balkon, wo Jonathan die verglühenden Raketen am dunklen Nachthimmel beobachtete. Er hatte sich für die Party in einen Smoking geworfen. Ich musste lächeln, als ich das sah. Seine Krawatte hing schief, aber wen interessierte das schon? So war Jonathan. Und so musste man ihn einfach lieben!

"Irgendwie komisch, wenn man so daran zurück denkt", murmelte er, das Glas Champagner, das er in der Hand hielt, leicht schüttelnd. Eigentlich mochte er keinen Alkohol, doch für seine eigene Willkommensparty würde jeder eine Ausnahme machen.

"Was ist komisch?", fragte ich und stellte mich neben ihn, meinen Oberkörper leicht an seinen anlehnend. Diese Wärme. Sie war genauso schön kuschelig wie damals im gießenden Regen an der Küste. Nur nicht ganz so nass. So schön kuschelig...

Jonathan lachte wieder. "Wir zwei, ich Idiot springe über Bord, weil ich einen Streit mit Samuel hatte, ziehe dich mit mir, wir stranden in Frankreich an der Küste und sind auch noch so bescheuert, das für eine einsame Insel zu halten. Im 21. Jahrhundert! Und dann hätte ich mich zuerst fast totgeheult und dann fast totgelacht!" Er fing wieder an, zu grinsen, als ich besorgt zu ihm aufschlaute. "Keine Angst, ich habe die Tabletten genommen."

Ich grinste und griff nach seiner freien Hand. Ich mochte es, diese Hand zu berühren, mochte es auch, wenn sie mich berührte. Ich hatte das schon immer gemocht, doch in letzter Zeit mochte ich es noch mehr. "Ich finde es toll, dass wir das mitgemacht haben. Im Nachhinein. Aber denk nicht daran, die Nummer zu wiederholen", fügte ich streng hinzu.

Jonathan lachte. Er konnte über alles lachen. Das war gut so, solange er es nicht noch einmal übertrieb.

Ich drehte mich um, sah ihm tief in die Augen. Er erwiderte den Blick. Diesmal ohne Lachen.

"Danke", sagte Jonathan leise, "ohne dich, wär ich da an unser einsamen Atlantikküsteninsel wohl im Regen verreckt."

"Ich habe zu danken", korrigierte ich ihm. "Ohne dich wären wir gar nicht erst auf unsere einsame Atlantikküsteninsel gekommen." Den Namen hatte er sich schon im Krankenhaus ausgedacht. Ich erinnerte mich noch gut an den Blick der französischen Krankenschwester, die kein Wort Deutsch konnte und sich wahrscheinlich jetzt noch fragt, weshalb wir die ganze Zeit gelacht haben. Mein Französisch war leider zu schlecht, als dass ich es ihr hätte erklären können.

"Es kommt eben immer anders, als man denkt", flüsterte Jonathan. "Zum Glück."

"Ja", antwortete ich leise. "Was nicht heißt, dass du öfter von Schiffen springen sollst!"

Jonathan lächelte. "Nein, nur mit dir, Jennifer. Ich liebe dich."

Ich drückte ihm einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen, während über uns die Raketen am Nachthimmel explodierten. Es gab keinen Menschen auf der Welt, der diesen Satz mit mehr Aufrichtigkeit sagen konnte, als er.

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Tag der Veröffentlichung: 01.02.2015

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