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Zuckersüß

Denk nicht einmal dran!

Es ist der vielleicht kontraproduktivste Satz, den ich kenne. Jeder, der das zu einem sagt, weiß genau, dass sein Gegenüber schon längst an die Angelegenheit gedacht hat, an die er nicht einmal denken sollte, was dazu führt, dass der Angesprochene über diese Sache nur noch intensiver nachdenkt. Es ist wie, als würde man einem Seiltänzer zurufen, er solle ja nicht nach unten schauen, woraufhin jeder Mensch sofort den Kopf senken und in die Tiefe blicken würde. Blick geradeaus!, ist da die viel bessere Variante.

Leider muss ich schmerzlich erfahren, dass das menschliche Gewissen nicht in der Lage ist, so logisch zu handeln, wie das menschliche Gehirn über die Situation denkt. Anstatt dass es einem einredet, man soll an niedliche Katzenbabys denken, um sich abzulenken, drillt es einen mit der Anordnung, auf keinen Fall an diese Sache zu denken, wodurch man selbst nur noch nervöser wird. 

Ich komme gerade aus dem Fitnessstudio, habe einen halben Liter Mineralwasser hinunter gespült und will eigentlich die Küche verlassen, um Duschen zu gehen, als mein Blick - natürlich rein zufällig - den Kühlschrank streift und mein dämliches, unlogisch arbeitendes, menschliches Gehirn sich daran erinntert, was ich hinter dieser Tür sicher verbergen wollte.

Denk nicht einmal dran!

Ich denke nicht an zuckersüße Katzenbabys, sondern an die zuckersüße Kleinigkeit, die sich in diesem Kühlschank verbirgt. Die Reaktion folgt sogleich, eine weitere steinzeitliche Fehlentwicklung des menschlichen Organismus, die dieser eigentlich langsam ablegen könnte.

So ein Mist! Wozu mache ich Sport, wenn ich ohnehin bei der kleinsten Verlockung nachgebe!

Nein!, entscheide ich mich. Ich werde den Kühlschrank nicht aufmachen. Ich werde mich duschen, umziehen, mir ein Vollkornbrot mit Halbfettmargarine und einer dünnen Scheibe fettarmen Käse machen, eine Mohrrübe schälen und mich dann damit vorm Fernseher setzen. Ich habe doch extra diese Dokumentation über gesunde Ernährung im Fernsehprogramm angestrichen!

So denkt mein Kopf. Doch wie so oft ist der Rest meines Körpers anderer Meinung.

Ich schwöre, ich habe keinen blassen Schimmer, weshalb ich plötzlich vorm Kühlschrank stehe. Ebensowenig weiß ich, wieso meine Hand am Griff ruht, der so kühl wie Sahne ist.

Hmm, Sahne!

Mit Schrecken ertappe ich mich dabei, wie ich den Zug auf die Kühlschranktür ein klein wenig verstärkt habe. Nein! Es geht nicht! Ich werde das nicht tun! Ich werde nicht einmal an diese Sache denken, die sich dahinter verbirgt!

Mit aller Willenskraft lasse ich den Griff los. Triumph verspüre ich deswegen nicht. Ist es denn so schlimm? Nur eine Gabelspitze.

Ich richte meinen Blick nach unten. Ich sehe zwar meine Fußspitzen nicht, aber ich habe mich auch ein Stück weit nach hinten gebeugt. Wenn ich mich gerade richte...und dann noch einen Millimetet nach vorne...und noch einen Millimeter...

Also gut, das waren jetzt ein paar viele Millimeter, aber so weit nun auch wieder nicht! Jedenfalls kann ich jetzt meine Zehen sehen.

Okay, ich sehe nicht meine Zehen sondern einen hervorstehenden Fussel meiner dicken Wollsocken.

Aber so dick sind die Wollsocken doch auch wieder nicht! Man kann den Fussel ruhig als Zeh interpretieren. Er ist ja nicht sehr lang!

Diesmal reiße ich die Kühlschranktür auf. Der Teller muss natürlich auf dem mittleren Regal stehen und ein Stück weit über den Rand hinaus ragen. Sogar die Gabel deutet Giffbereit in meine Richtung, die Zinken stecken sogar noch in der Sahne.

In der zuckersüßen Sahne, die den zuckersüßen Kuchen bedeckt.

Es reicht!

Ich sollte nun wirklich die Tür zumachen und unter die Dusche gehen. Ich war nicht anderthalbstunden auf einem Standtrad, um mir die mühsam verbrauchten Kalorien jetzt wieder anzufressen! Wieso esse ich nicht stattdessen die Gemüsegurke, die im untersten Fach liegt. Die hat sehr viele Vitamine und schmeckt sicher genauso gut, wie Kuchen!

Aber sie ist nicht so zuckersüß wie Kuchen!

Plötzlich registriere ich, dass ich den Teller bereits ein Stück aus dem Kühlschrank heraus gezogen habt. Was solls? Ich will nur kurz schauen, ob das Kuchenstück überhaupt noch gut ist, schließlich liegt es schon eine Weile im Kühlschrank. Seit heute Mittag, wenn ich mich recht erinnere.

Nur gucken! Nicht anfassen!

Ich drehe den Teller in der Hand. Es liegen noch einige Himbeeren neben dem Kuchenstück. Gegen Himbeeren ist doch nichts einzuwenden! Die kann ich doch sicher ohne schlechtes Gewissen essen!

Ich nehme mit wachsender Vorfreude die Gabel in die Hand. Ein wenig Sahne klebt daran, aber es ist nur ganz wenig. Das werde ich sicher verkraften.

Die Himbeeren schmecken gut. So süß. Aber irgendwie nicht süß genug. Sie schmecken nicht zuckersüß, wie ich es mag, sondern eben nur süß. Ich sehe auf den gewaltigen Berg Sahne. Es würde nicht einmal auffallen, wenn ich die Früchte nur ein klein wenig in die Sahne tunken würde.

Ich tue es, ohne nachzudenken. Köstlich! Ich pieke die Gabel sofort in die nächste Himbeere und lasse sie durch die Schlagsahne gleiten, dass, als ich die Gabel zum Mund führe, alles Rot mit schäumendem Weiß bedeckt ist. Der Genuss ist zu kurz, einfach viel zu kurz. Ich habe doch schon Sport gemacht! Da ist es doch sicherlich nicht tragisch, wenn ich von dem Kuchen nur ein winzig kleines Stückchen...

 

Der Zeiger der Uhr tickt laut.

Es ist eine halbe Stunde vergangen.

Von dieser halben Stunde stand ich mindestens fünfundzwanzig Minuten vor dem Kühlschrank.

Nun sitze ich am Küchentisch und starre auf den Teller vor mir. Einzelne Krümel liegen noch dort, ein wenig Sahne. Der Rest ist weg. Wie verdunstet.

Ich lege langsam die Gabel zurück auf den Teller und schiebe ihn wie in Trance von mir weg.

Ich habe es getan! Ich habe nachgedacht!

Aber der Kuchen war auch so süß. So zuckersüß!

Seufzend lehne ich mich zurück. Es ist wieder passiert! Der Zucker hat wieder gewonnen! Ich war zu schwach.

Zucker.

Unser meistgeliebter Feind.

Unser meistehasster Freund.

Ich schiebe den Stuhl zurück und stehe auf, um mich nun endlich unter die Dusche zu bewegen.

Mir schwirren die Bilder von süßen Katzenbabys im Kopf herum.

Zuckersüßen Katzenbabys.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.11.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet allen, die ebendiesen Kampf gefochten und verloren haben. Ihr seid nicht die Einzigen!

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