Die Krankenschwester führte Daniel durch die langen, mit weißen Kacheln verzierten Wände. Der Ton ihrer Schritte hallte laut in dem Saal wieder. Daniel sah sich schüchtern um. Er hörte das Lachen von Kindern durch die halb geöffneten, von geblümten Gardinen gesäumten Fenster. Alles hier widersprach dem Bild, was man normalerweise von einer solchen Einrichtung hatte. Ein offenes Haus, das Bedürftige mit ausgebreiteten Armen empfing. Hilfe und Mitgefühl auf höchstem Niveau.
Die Schwester hielt vor einer Tür zu einem der vielen Aufenthaltsräume des Hospitals. "Sie befindet sich zwischen drei und fünf Uhr immer in diesem Aufenthaltsraum. Es scheint eine Regelmäßigkeit in ihren Tagesablauf zurückzukehren."
Daniel nickte stumm.
"Ich muss während Ihres Besuches in Ihrer Nähe bleiben, ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis. Ich werde Sie nicht stören, muss mir aber einige Notizen machen.
Daniel stimmte zu. "Kein Problem", brachte er nur hervor.
"Außerdem muss ich Sie bitten, leise zu reden."
"Werde ich machen."
"Da wäre noch eins", warf sie ein, während er schon die Hand nach der Türklinke ausgestreckt hatte. "Larissa hat sich gedanklich in eine Fantasiewelt zurückgezogen. Das geschieht bei traumatischen Ereignissen nicht selten. Sie sollten versuchen, sie nicht aus dieser Welt heraus zu holen. Spielen Sie das Spiel einfach mit. Reden Sie mit ihr, aber konfrontieren Sie sie nicht zu sehr mit der Situation. Man kann nicht genau sagen, wie sich das auf Larissass Psyche auswirken würde."
"Und wenn sie mich darauf anspricht?"
"Antworten Sie, aber schonend."
Daniel nickte erneut. "Danke."
Er holte tief Luft und betrat den Raum.
Der Gemeinschaftsraum erweckte den Anschein einer gemütlichen Atmosphäre. Daniel entdeckte mehrere Menschen, die Brettspiele spielten. Einige unterhielten sich im Flüsterton. Auch Ärzte und Pfleger waren zugegen. Die Atmosphäre wirkte beruhigend. Dennoch lag etwas Beklemmendes in der Luft. In diesem Raum waren so viele Seelen versammelt, so viele Gedanken und Erinnerungen, dass sie ihn förmlich zu erdrücken schienen. Daniel atmete tief Luft und ging weiter durch den Raum, gefolgt von der Krankenschwester, die zwischendurch einige Worte mit Patienten wechselte.
Daniel sah sich um. Er erblickte Larissa in einen großen Ohrensessel vor dem Fenster versunken, abseits der anderen Patienten. Sie hatte sich dicht in die weiche Polsterung gedrückt, der Wollpullover, den sie trug erweckte einen Eindruck von Gemütlichkeit. Ihr braunes Haar fiel in sanften Wellen über ihre Schulter, so wie Daniel sie in Erinnerung hatte. Nur der starre Blick, der auf den Garten vor dem Fenster gerichtet war, verriet ihre seelische Instabilität.
Daniel zog einen anderen Sessel zu sich und setzte sich neben sie. "Hallo, Larissa."
Larissa antwortete nicht.
"Sprechen Sie weiter", riet die Krankenschwester. "Sie hört Ihnen zu."
Daniel suchte Larissas Sichtkontakt. Der apathische Ausdruck in ihrem Gesicht versetzte ihm einen harten Stich. Er musste an ihre früheren Zeiten denken, wie sie zusammen gelacht und gescherzt hatten. Diese Erinnerungen schienen so weit entfernt zu sein wie der Mond am Nachthimmel.
"Ich habe dir etwas mitgebracht!", gab Daniel nun die lange vorbereiteten Worte zurück. Vorsichtig griff er nach Larissas Hand.
Bei der Berührung reagierte sie. Ihr Blick wanderte zu der Armlehne des Sessels, um zu sehen, was Daniel dort tat. Langsam bewegte sie ihre Finger und schloss sie um den mitgebrachten Gegenstand.
"Dein Vater hat sie beim Gartenfest letzten Monat bei uns vergessen, erinnerst du dich?", redete Daniel weiter. Er wusste nicht, ob er das Richtige tat, sah schüchtern zu der Schwester, die ihn begleitet hatte. Die Frau nickte zustimmend. Daniel wandte sich wieder an Larissa, die mit dem Daumen langsam über die vergoldete Taschenuhr strich. "Er hat mir erzählt, dass es ein uraltes Familienerbstück sei. Und dass du es eines Tages bekommen solltest."
Larissas Finger verharrten, hielten die Taschenuhr aber fest umklammert. Ihr Blick wanderte wieder zum Garten. Ihre Augen verharrten an dieser Stelle, nur ihre Lippen fingen langsam an, sich zu bewegen.
"Kann ich sie verwahren, bis er zurück ist?"
Die Worte waren Messerstiche in seinem Herzen. Daniel rang nach Luft. Immer noch. Nach drei Wochen. Keine Veränderung.
"Der Ballon wird sicher bald landen. Dann gebe ich sie ihm." Larissas Stimme klang froh, wie die eines Kindes auf dem Weg zu einem Familientreffen. Somit stand sie im traurigen Gegensatz zu dem glasigen Blick ihrer Augen.
"Natürlich, nimm sie."
Die Worte lagen schwer in Daniels Hals. Seine Kehle fühlte sich trocken an.
Langsam drehte Larissa den Kopf zu ihm. "Daniel? Warum weinst du?"
Er hatte nicht bemerkt, wie sich eine Träne in seinem Augenwinkel gesammelt hatte. Nun bahnte diese sich langsam ihren Weg seine Wange hinunter.
Schnell wischte sich Daniel die Träne weg. "Es...ist nichts." Seine Stimme klang erstickt. "Lass uns über etwas anderes reden."
Jeder seiner Besuche lief so ab. Jedes Mal erzählte Larissa die Geschichte mit dem Ballon. Jedes Mal war sie davon überzeugt, dass ihre Eltern bald landen würden. Jedes Mal saß sie in ihrem Sessel und starrte durch das Fenster. Jedes Mal hielt sie die goldene Taschenuhr in der Hand. Sie schien in der Vergangenheit verloren gegangen zu sein, nichts von der Gegenwart schien ihren Verstand zu erreichen. Daniel ließ sich immer mehr einfallen, er spielte ihr Musik vor, erzählte ihr seine jüngsten Erlebnisse, las ihr vor. Doch nichts von alldem brachte sie aus der Starre zurück. Nichts.
Er wusste nicht, wie oft er sie schon besucht hatte, als ihn schließlich Dr. Meier ansprach.
Er war einer der führenden Therapeuten der Klinik. Er kannte die meisten der Patienten. Der Name "Larissa Kubler", reichte, um Daniel zu einem Kaffee einzuladen.
Sie saßen in einem kleinen Café neben der Klinik, als Dr. Meier ihm den Vorschlag vortrug.
"Zum Marktplatz? Zu dem Ort, an dem der Ballon zu Boden fiel?" Daniel sah den Psychiater skeptisch an. "Sie glauben wirklich, dass das Larissa helfen könnte?"
"Die Konfrontation mit diesem Ort könnte sie in die Realität zurück holen", räumte Dr. Meier ein. "Vielleicht wird sie dann akzeptieren, was geschehen ist."
Daniel holte tief Luft. "Weshalb erzählen Sie mir das alles?"
Dr. Meier rückte seinen Stuhl zurück und sah ihm direkt in die Augen. "Weil ich Sie bitten möchte, mit ihr zu diesem Ort zu gehen."
Daniel stellte die Tasse ruckartig auf dem Tisch ab, sodass ein klackendes Geräusch ertönte und der Kaffee überschwappte. Dr. Meier hatte sofort eine Serviette griffbereit.
"Ich soll mit ihr an den Ort gehen, an dem ihre Eltern gestorben sind? Warum ausgerechnet ich?"
"Weil Sie Larissa lieben. Ich habe gesehen, wie Sie sie angesehen haben. Mit Ihnen wird sie sich vertrauter fühlen als mit jemandem im weißen Kittel, den sie nur flüchtig kennt."
Daniel richtete den Blick zum Tisch. Er hatte seine Gefühle Larissa gegenüber nie richtig zeigen können. Sie war schon so lange einfach nur eine Freundin gewesen, dass er sich all die langen Monate nie dazu durchringen konnte, sie zu fragen, ob sie seine Freundin werden wolle. Insgeheim hatte er immer gehofft, dass sie ihn fragen würde, denn Dr. Meier war nicht der erste, der ihn auf seine Gefühle angesprochen hatte.
"Sie werden in so einem Augenblick besser für sie da sein können, als jeder andere Mensch auf der Welt. Vertrauen Sie mir. Ich hatte schon mehrere ähnliche Fälle."
Daniel atmete tief durch, ließ dabei seinen Blick durch das Lokal schweifen. Überall saßen Pärchen, lachend und glücklich. "Ich weiß nicht, ob ich das schaffen kann."
"Sie werden es schaffen." Es klang wie eine neutrale, sachliche Feststellung. "Ich kann Ihnen einige Tipps geben, wenn wir gut zusammen arbeiten, wird Larissa Kubler bald aus ihrer Psychose aufwachen."
Es war kurz nach Larissas 17. Geburtstag, den sie kaum mitbekommen hatte. Daniel hatte ihr erklärt, dass er ein Geschenk für sie hätte. Es würde ihm ewig unklar sein, wie er es geschafft hatte, sie aus der Klinik heraus in die Straßenbahn zu bringen, die neben dem Platz hielt. Er versuchte, die Gruppe Teenager zu ignorieren, die mit Zigaretten im Mundwinkel auf sie zeigten und einige unschöne Bemerkungen abließen. Die Idioten waren vielleicht zwei oder drei Jahre jünger als er und benahmen sich schlimmer als Affen im Zoo.
Ihr habt doch keine Ahnung!, dachte er wütend.
Larissas Atem strich über sein Ohr. Sie hielt sich dicht an seine Seite, ging mit kleinen Schritten neben ihm her. Aus dem Augenwinkel sah er, wie ihren Augen zu allen Seiten zuckten. Sie beobachtete die Menschen, die mit Handys, Kindern oder Freunden über den Platz liefen, mit dem Blick eines scheuen Rehs, das ein Rascheln im Gebüsch gehört hatte. Daniel achtete darauf, dass sein Arm nicht zu fest um sie lag, sie aber stets in seiner Nähe hielt.
"Siehst du den Brunnen in der Mitte des Platzes? Dort gehen wir hin. Daneben ist eine Bank, wo wir uns hinsetzen können." Er redete leise, nicht wissend, wie viel von seinen Worten Larissa überhaupt in sich aufnahm. Willenlos ließ sie sich von ihm zur Bank führen. Als sie saßen, sprach Larissa ihre ersten Worte, seitdem sie die Klinik verlassen hatten: "Ist...es...hier...geschehen?"
Wann ihr diese Erkenntnis gekommen war, konnte im Nachhinein niemand feststellen.
"Hier", brachte Daniel mit rauer Stimme hervor. "Genau hier ist der Ballon abgestürzt. Vor der Kirche. Eines der Seile war gerissen und die Gasflamme entzündete daraufhin den Ballon. Sie waren sofort tot."
Daniel zitterte. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er hatte die Meldung über die Nachrichten empfangen. Doch nun schien ihm der Ausmaß des Unfalls erst richtig bewusst zu werden.
"Die Polizei untersucht immer noch die genauen Umstände. Ballonfahrten sind in der Umgebung bis zum November gestrichen."
Er wollte nicht weitererzählen. Durch diesen Unfall musste Larissa leiden. Durch diesen Unfall sind ihre Eltern gestorben.
Alles nur wegen eines gerissenen Seils.
Daniel bemerkte, wie er den Griff um Larissa verstärkt hatte und lockerte seine Arme. Sie hingegen verbarg ihr Gesicht in seiner Jacke und weinte. Das erste Mal seit Monaten.
Daniel wusste nicht, was er sagen sollte. Er hielt sie einfach fest in den Armen und wiegte sie sanft hin und her.
"Ich liebe dich, Larissa."
Die Worte kamen unwillkürlich. Ob sie erhört oder von dem Fluss aus Tränen überschwemmt wurden, konnte Daniel nicht wahrnehmen.
Ein halbes Jahr später wurde Larissa aus der Nervenheilanstalt entlassen.
Sie trug die Nummer von Dr. Meier bei sich, der jederzeit für sie zur Verfügung stand. Für die nächsste Zeit würde sich ein Therapeut um ihre seelischen Probleme kümmern. Es war inzwischen Sommerbeginn, aber immer noch recht kühl. Zwei Geräusche begleiteten sie hinaus. Das Rollen ihres Koffers über die Pflastersteine und das Ticken der vergoldeten Taschenuhr ihres Vaters. Im Takt des Sekundenzeigers trugen ihre Schritte sie über den Weg. Daniel müsste sie schon erwarten.
"Larissa!" Er hatte sie entdeckt, bevor sie ihn sah. Larissa ließ schlagartig ihren Koffer stehen und fiel ihm um den Hals. "Daniel!", hauchte sie in sein Ohr.
Seine Umarmung tat ihr gut, am liebsten hätte sie sich nie von ihm gelöst. Ohne ihn hätte sie niemals so schnell zurück ins Leben gefunden.
"Wie geht es dir?", fragte er sie ohne Umschweife.
Larissa lächelte sanft. "Gut", brachte sie hervor. Sie würde noch einige Zeit und Hilfe brauchen, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Daniel ergriff ihren Koffer. "Den trage ich für dich. Komm, wir gehen erst einmal..."
Sie ließ ihn nicht zuende reden. Ein uralter Instinkt ergriff von ihr Besitz. Larissa legte ihre Hände um Daniels Kopf und zog ihn zu sich heran. Als sich ihre Lippen berührten, verspürte sie ein fast vergessenes Gefühl: Freude. Wahrhaftige Freude.
Sie spürte, wie Daniel sich entspannte, seine Hände langsam um ihren Körper schlang und sie zu sich heran zog, so wie damals auf der Bank vor dem Brunnen. Erst langsam lösten sich die beiden voneinander.
Die Welt verschwamm vor Larissas Augen. Tränen hatten sich wie ein Schleier über ihre Augäpfel gelegt. Sie beugte ihren Kopf vor und lehnte ihn sanft gegen Daniels Brust, genoss es, wie seine Hände über ihre Schultern streichelten.
"Ich liebe dich, Daniel!", hauchte sie ihm zu. "Ohne dich hätte ich wohl nie zu mir zurück gefunden."
"Und ich liebe dich", flüsterte er ihr zurück.
Es war ein warmer Sonntagvormittag. Sie waren allein auf der Straße. Nur ein älterer Mann blickte von der Arbeit in seinem Schrebergarten auf und lächelte, als er die verliebten, jungen Leute sah.
"Ja, so ein schönes Leben", murmelte er zu sich selbst, bevor er sich wieder dem Unkraut widmete. "Man muss es einfach genießen, so oft es geht."
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewidmet allen Menschen, denen ein ähnliches Schicksal wie das Larissas wiederfahren ist.