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Die Qual der Wahl

Ein Gericht aus einer vorgeschriebenen Speisekarte auszuwählen ist nicht immer einfach.

Diese Erfahrung musste der gute Herr Mai schon oft machen, als er im Restaurant sein Essen bestellen wollte und jedes Gericht leckerer klang als das andere. Im Restaurant ist es noch leicht. Notfalls schließt man die Augen und tippt mit dem Finger wahllos auf irgendeinen Punkt der Speisekarte, wo mann beim Öffnen der Augen erkennt, welche Köstlichkeit einem die Ehre erweist, auf blankem Teller serviert zu werden.

Herr Mai hat im Restaurant schon oft nach diesem Verfahren seine Speise ausgewählt, doch in dieser Situation würde dies sicher nicht funktionieren.

Ihm kam der Gedanke, dass er als Restaurantkritiker von gutem Essen eigentlich überschüssig viel Ahnung haben sollte, doch als er nun vor den Töpfen und Löffeln in der eigenen, heimischen Küche stand, geriet er schier ins Verzweifeln.

 Seine Kochkünste waren, wenn man beide Augen zudrückte, mittelmäßig. Aber er wollte ihr etwas geben, was von ihm kam und nicht von irgendeinem Sternekoch, der keine Liebe in die Arbeit steckte, die er nicht für eine bestimmte Person, sondern für unzählige unbekannte Gesichter zubereitete.

Herr Mai seufzte. Er hatte die Wahl zwischen kalten Croissants, einer bröckeligen Gemüsesuppe und einem einzelnen, kleinen Spiegelei.

Welche dieser "unvergesslichen Spezialitäten" würde den wenigsten Schaden in seiner Beziehung anrichten?

 

Während er seine abgegriffenen Kochbücher durchblätterte, hatte Herr Spehle ein anderes Problem.

Er hatte das Schlösserknacken von seinem älteren Bruder gelernt, seitdem er fünf Jahre alt war. Die Jungen hatten schon als Teenager alle möglichen Türen aufgebrochen. Ein paar Mal waren sie geschnappt worden, meistens aber wurden die Täter vergeblich gesucht.

Herr Spehle lächelte triumphierend, als die Tür sich mit einem leisen Knacken öffnet. Das Schloss in diesen Wohnungen war sehr alt und mit Nadeln leicht zu knacken. Auf Zehenspitzen schlich er in die Wohnung.

 

Herr Mai hatte sich einen Augenblick hingesetzt um seine Möglichkeiten auszudenken. Eine ganze Weile, denn er war eingenickt und wurde von einem plötzlichen Geräusch aus dem Wohnzimmer aufgeschreckt. Das musste sie sein!

Er sprang auf. Was sollte er denn jetzt tun?!

 

Herr Spehle fuhr zusammen, als er die Schritte hörte. Er hatte die Wohnung tausend Mal überprüft! Er hatte eine gefühlte Stunde im Treppenhaus auf noch so kleine Geräusche gelauscht. Nichts. Außerdem war die Tür abgeschlossen worden, was Menschen in der Regel nur dann taten, wenn sie ausgingen.

Doch nun kamen die Schritte auf ihn zu.

Er hatte sich nicht entscheiden können, ob er die wertvoll aussehende Vase auf der Fensterbank oder die antike Marmorstatue irgendeiner alten Göttin hatte mitgehen lassen wollen. Mitten im Raum, die Vase auf der einen, die Statue auf der anderen Seite, stand er nun mit der möglichst unauffälligen Einkaufstasche in der Hand, durch die sich sein Einbruchswerkzeug abzeichnete, und wusste nicht, was er tun sollte. Die Wohnung befand sich im zweiten Stock und das Fenster zum Balkon war fest verschlossen. Selbst wenn er dort drüber fliehen wollte, würde er es aufbekommen, oder bei dem Versuch ertappt werden, wie wahnsinnig an dem Henkel zu ziehen, als der Bewohner ihn schon längst erkannt hatte.

Zuerst hatte er die unerträgliche Qual der Wahl zwischen einer Vase und einer Statue.

Nun war es die noch viel unerträglichere Qual der Wahl zwischen einer sinnlosen, lächerlichen Flucht und der Güte der zuständigen Polizeibeamten.

Da stand der Mann, der in dieser Wohnung, die er hatte ausrauben wollen, wohnte und starrte ihn mit offenen Augen an. Aus seinem Mund kamen Worte, die kein Mensch in Herrn Spehles Situation erwartet hätte.

"Sind Sie Koch?"

 

Der Einbrecher starrte Herrn Mai perplex an. "Was?"

"Ich fragte, ob Sie Koch sind. Sie haben jedenfalls noch eine Schürze um."

Der Mann sah immer noch verdattert drein, seine Einkaufstüte in der Hand. "Ähm...also...das...mache ich eher als...Aushilfsjob."

"Aber Sie können kochen?"

"Nun, wenn Sie mich so fragen...ja."

Herr Mai konnte nicht anders. Er fiel dem fremden Mann, der soeben seine wertvollsten Erbstücke einstecken wollte, um den Hals. "Sie schickt wirklich der Himmel! Ich bin am Herd eine absolute Niete und meine Freundin kommt gleich in..." Er schaute auf die Uhr, die im Zimmer hängt. "Oh nein! Schon in einer Viertelstunde! Bitte, Sie müssen mir helfen!"

Immer noch starrte der Fremde ihn an, wie einen Alien.

"Oh, Verzeihung. Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Mai ist mein Name."

"Spehle", entgegnete der Einbrecher, während er seinem Einbruchsopfer die Hand schüttelte.

"Also gut, Herr Spehle. Ich mache Ihnen ein Angebot. Sie helfen mir bei der Zubereitung des Essens und ich werde Sie nicht an die Polizei verpfeifen. Sie haben die Wahl."

Endlich mal eine Wahl, die keine Qualen verursachtete!

"Einverstanden."

 

Die Küche brodelte. Herr Mai und Herr Spehle machten sich alle Mühe, um aus den wenigen Zutaten, die in Herrn Mais Kühlschrank zu finden waren, ein leckeres Essen zuzubereiten. Herr Spehle sah sich Hernn Mais "Favoriten" etwas genauer an.

"Spielgelei, Gemüsesuppe und Croissants. Daraus müsste sich eigentlich etwas kreieren lassen. Haben Sie Gewürze im Haus?"

Herr Mai fand Salz, Curry, Pfeffer, Tomaten- und Gurkengewürz. Herr Spehle nickte. "Daraus könnte man etwas zusammen brauen."

 

 Die Croissants wurden kurzerhand mit Käse überbacken, zwischen wird das gewürzte Spiegelei gesetzt. Die Suppe wurde mit Kräutern verziert und als zweiten Gang bereit gelegt. Herr Mai sah zufällig auf die Straße und musste erschrocken feststellen, dass sein Date sich gerade auf den Weg zum Wohnblock machte.

"Wir müssen uns beeilen."

"Blaue Kerzen oder gelbe Kerzen?", rief Herr Spehle aus dem Flur, wo die Kerzen in der Kommode versteckt waren.

Herr Mai stöhnte. Was sollte er nur wählen? Welche Farbe mochte sie lieber?

Er hatte mal wieder die verfluchte Qual der Wahl!

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.07.2014

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