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Sehnsucht

Vielleicht war das das beste Wort um zu beschreiben, was sie so lange unterdrückt hatte. Sie hatte Claire lange nicht mehr gesehen. Zu lange. Sie war auch lange nicht mehr in dem Ort gewesen, wo sie ihre gemeinsame Kindheit verbracht hatten. Dennoch hatte sie sich immer hierhin gezogen gefühlt. Manchmal sogar von dem Ort geträumt.

Als der Bus um die Ecke bog warf Claire noch einen Blick auf das Foto, das sie immer bei sich trug. Zu sehen waren sie, Mary und Emily im Alter von 15 Jahren. Claire musste daran denken, dass dies das Alter war, in dem sie sich immer weiter auseinander gelebt haben und ihre eigenen Wege gegangen sind.

Als Drillinge waren sie in dem kleinen Dorf bekannt gewesen, wie bunte Hunde. Alles, was sie anstellten, wurde gleich zum Dorfgespräch. Nur das eine...das Geheimnis, das hatte nie jemand gelüftet. Ihr Geheimnis.

Claire steckte das Foto zurück. Ihre Gedanken schienen in die Vergangenheit zu schweifen...

 

Emily war als erste bei dem hohen, metallenen Zaun angelangt. Sie wirbelte herum, sodass ihre schulterlangen, schwarzen Locken in der Luft schwebten. "Seid ihr bereit?"

Claire und Mary nickten. Mary zückte den großen, rostigen Dietrich und machte sich am Schloss des Tores zu schaffen. Im Windeseile hatte sie das Tor geöffnet. Es quietschte gespenstisch, als sich das Tor in den Angeln drehte.

"Ob die Geschichte von Onkel Timothy wahr ist?", fragte Mary leise, als würde sie jemand in der alten Villa beobachten.

"Natürlich ist sie wahr", beschwört Emily ihre Schwester. "Onkel Timothy würde uns nie anlügen."

Claire sah auf die löchrige Veranda der Villa. "Kommt." Die Drillinge stiegen über die knarrenden Treppendielen. Die schiefe Tür quietschte laut in den Angeln, als Mary sie öffnete. Den Mädchen strömte der Geruch von Holz, Nässe und Schimmel entgegen.

"Irgendwie unheimlich", gestand Claire leise.

"Davon lassen wir uns doch nicht aufhalten!", flüsterte Emily voller Tatendrang. "Kommt. Nach Onkel Timothys Beschreibung müssen wir ins oberste Stockwerk der Villa."

Sie gingen die knarrenden Treppenstufen hinauf.

 

"Ma'am? Verzeihen Sie, dies ist die Endstation, Ma'am."

Claire sah auf. Der Busfahrer hatte sie angesprochen. Sie hielt immer noch das Foto von sich und ihren Drillingsschwestern in der Hand. Claires Blick wanderte durch die geöffnete Tür des Busses. Lightwood stand auf dem Halteschild. Ihr Geburtsort.

Claire nickte dem Busfahrer zu. "Vielen Dank, Sir. Hier werde ich aussteigen. Auf Wiedersehen, Sir."

"Auf Wiedersehen, Ma'am", verabschiedete sich der Busfahrer, während sie ausstieg. Der Bus war schon abgefahren, als Claire nun endlich auch die nähere Umgebung in Augenschein nahm. Sie erinnerte sich an die alte Eiche am Straßenende. Sie war schon in ihrer Kindheit riesig gewesen. Auch heute noch stand der mächtige Baum an derselben Stelle, wie in ihrer Kindheit. Nur der Platz, wo die alte Villa gestanden hatte, war mit Wohnhäusern bebaut worden.

Claire blieb einen Augenblick vor den Häusern stehen, aus denen ein Kind weinte, während sein Vater versuchte, es zu beruhigen.

Lange verdrängte Bilder traten der jungen Frau vor die Augen.

 

"Er sagte, er hätte die Kiste unter einer der Dielen versteckt." Mary klaubte sich einige Spinnenweben aus den dunklen Locken. "Aber er sagte nicht, in welchem Raum."

Die Schwestern standen am Anfang des langen Korridors. Die Farbe war schon lange von den Wänden geblättert, nur noch Spinnen und Motten schienen die einst stolze Kaufmannsvilla zu bewohnen. Mehrere Türen waren im Gang zu sehen.

"Wir teilen uns auf", meinte Emily. "Ich gehe in diesen Raum, ihr nehmt die nächsten."

Die Schwestern teilten sich auf. Claire musste kräftig an der Tür rütteln, bis sie aufging. Sie war etwas enttäuscht, als sie den kahlen Raum sah. Die Fensterbänke waren abgebrochen, die Wände bestanden nur aus kaltem Backstein. Aber dies interessierte sie nicht.

Claire begann, den Boden abzutasten.

 

Das Haus, in dem Mary wohnte, war ebenfalls eine der Neubauten. Eine Zeit lang stand Claire nur unschlüssig vor der Tür. Vor zwei Jahren hatte sie ihre Schwester und deren Mann Geoffrey zuletzt besucht. Sie hatten oft telefoniert, sich aber so lange nicht mehr gesehen. Weil bei jedem Treffen diese Gedanken, diese quälende Sehnsucht wieder aufbrach. Die Sehnsucht nach einem Leben, das sie in ihrer Kindheit verloren hatten.

Claire drückte den Klingelknopf.

 

Sie war schon in das zweite Zimmer gegangen. Ob die Kiste von Onkel Timothy hier war? Claire stellte sich schon sein Gesicht vor, wenn sie ihm den lang verschollenen Schatz unter die Nase hielten. Meine drei, wundervollen Nichten, hörte sie ihn schon sagen, Ihr seid wahrhaft wie eure Mutter. Immer auf Abenteuersuche!

Claire kniete sich hin und fing an, den Boden abzutasten.

 

Es dauerte nicht lange, bis Mary die Tür aufmachte.

Ihre Schwester hatte sich verändert. Die schwarzen Locken hatten sich mit der Zeit mehr geglättet, als es bei Claire der Fall gewesen war. Während sie ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden trug, hatte Mary es sich in einem strengen Knoten hochgesteckt. Nur die einzelnen Strähnen, die an ihren Schläfen herab baumelten, zeigten ihre alte Verwegenheit, die sie als Trio so oft ausgemacht hatten.

Die Schwestern standen sich einen Augenblick wortlos gegenüber, dann fielen sie sich in die Arme.

"Danke, dass du gekommen bist."

"Ich musste kommen", gab Claire zur Antwort.

Sie hörte Schritte im Flur. Es war Geoffrey, der zu ihnen kam. Claire sah zu ihrem Schwager hinüber.

"Hallo, Geoffrey."

"Hallo, Claire", antwortete dieser nach einiger Zeit. Etwas verbissen, wie es aussah. Claire hatte es nie geschafft, ein wirklich inniges Verhältnis zu ihrem Schwager aufzubauen. Überrascht musste sie feststellen, dass er, genau wie Mary, älter aussah, als zuvor.

 Mary löste sich langsam von ihr. "Wir haben uns sehr gefreut, als wir hörten, dass du kommen würdest." Sie seufzte kurz. "Es muss nicht leicht gewesen sein, hier zurück zu kehren."

"Ich kann mich schließlich nicht immer verstecken", meinte Claire dazu nur. Sie hörte weitere Schritte auf der Treppe und sah auf, als ihre Nichte am Geländer stehen blieb. Sie hatte Lisa zuletzt vor zwei Jahren gesehen. Damals war sie 13 gewesen.

"Hallo, Tante Claire", begrüßte Lisa sie schüchtern. Claire bemühte sich, ein Lächeln aufzusetzen.

"Du bist groß geworden, Lisa."

Lisa lächelte leicht und strich sich eine Strähne ihrer langen, braunen Haare hinter die Ohren.

"Kommt dein Bruder auch bald?", fragte Mary, anscheinend um die Stille zu unterbrechen.

"Er knöpft noch sein Hemd zu", antwortete Lisa leicht amüsiert. Claire musste schmunzeln. Sie erinnerte sich an Toby als einen eher tollpatschigen Jungen mit großem Herz. Er musste jetzt zwölf Jahre alt sein.

"Wir haben Kuchen aufgetischt", erzählte Mary weiter. "Er ist zwar aus dem Supermarkt, aber soll ganz lecker schmecken. Möchtest du in die Stube kommen?"

Claire nickte langsam. "Ja. Natürlich."

Geoffrey machte ihnen den Weg frei und holte Claire einen Teller und Kuchengabel. Er scheint zu sehen, dass die Schwestern mehr mit Blicken, als mit Worten kommunizieren. Er weiß von Emilys Schicksal. Mary hatte es ihm oft genug erzählt...

 

Marys Ruf hallte durch das alte Gemäuer. "Ich habe die Kiste gefunden!" Sofort standen ihre Schwestern neben ihr. Ihre Schritte knarrten heftig, als sie zu ihr in den Raum stürmten.

"Wie sollen wir die da raus bekommen?"

Die Kiste steckte in einer Nische in der Wand. Es war eindeutig der eingravierte Name Timothy zu lesen.

Mary hatte schon versucht, sie hinaus zu ziehen, konnte sie aber nur wenige Zoll weit bewegen. "Die hängt fest!"

Emily hatte ein schmales Stück Holz gezückt und versuchte, die Kiste damit aus den Zwischenräumen auszuhebeln. Es knirschte zwischen den Hölzern.

"Wartet mal!" Claire hatte den staubigen Kerzenständer aus Messing auf dem Boden entdeckt. Sie griff ihn und schlug damit leicht gegen die Wand. Ein wenig Staub rieselte von der Decke, aber die Kiste bewegte sich nicht weiter. Sie versuchte, die Kiste mit dem Kerzenständer zu hebeln, doch dieser hinterließ nur Schrammen auf dem Holz.

"Das Ding steckt fest."

Marys Augen leuchteten auf. "Ich habe eine Idee!"

 

"Eine Schnapsidee, wie sich später heraus stellte", sagte Mary gegenüber von Claire, als sich die Schwestern in den weichen Sesseln gegenüber standen. Geoffrey hatte sich zwischen den Kindern aufs Sofa gesetzt. Er kannte die Geschichte schon, aber Lisa und Toby noch nicht. Toby spielte verlegen mit seinen Fingern, während seine Mutter und seine Tante erzählten. Lisa sah mit großen Augen zu ihnen.

Claire übernahm wieder die Erzählung. "Wir haben den Hammer aus der Werkstatt eures Großvaters geholt. Wir hatten gehofft, das Holz damit weitgehend aufbrechen zu können. Alles nur, weil wir so gespannt auf die Zinnsoldatensammlung von Onkel Timothy waren, die er als Kind in dieser Villa versteckt hatte."

"Ich habe sie immer noch", murmelte Mary. "Als Andenken an dieses...dieses schreckliche Unglück."

 Toby nickte. "Du hast sie uns gezeigt, Mom."

Mary holte tief Luft, bevor sie die Erzählung übernahm. "Eure Tante Emily schlug mit dem Hammer die brüchigen Steine weg..."

 

...ohne darauf zu achten, wie sich die Risse durch den Mörtel zur Decke zogen. Die Villa war schon lange einsturzgefährdet, die Steine nicht die stabilsten. Knapp unter der Decke waren schon große Stücke abgebrochen, die Nägel, die die Querbalken hielten, waren ebenfalls rostig und unsicher. Das riesige Stück Holz über ihnen bewegte sich bei jedem Hammerschlag. Als endlich das Kalkgestein so weit abgeschlagen war, dass die Mädchen die Kiste ihres Onkels heraus ziehen konnten, hatten sich die Risse bis zur Decke hinauf gezogen. Als Emily die Kiste hinaus zog, brach der Balken endgültig aus der Halterung und fiel auf das nichts ahnende Mädchen herab.

 

"Wir hätten wissen müssen, dass es nicht sicher war, die Kiste heraus zu holen." Claires Stimme zitterte, während sie sprach. Mary hatte ihre Hand auf ihre Schulter gelegt. Sie sprach weiter.

"Unser Onkel Timothy hatte uns noch davor gewarnt, in die Villa zu gehen. Schon als er ein Kind war, sei sie nicht sicher gewesen, ihm wurde verboten, das Haus zu betreten, genau wie allen anderen Kindern des Dorfes. Nur wir dachten, uns darüber hinweg setzen zu müssen."

Claire spürte, wie eine warme, feuchte Träne an ihrer Wange herab lief. Sie sah das Bild wieder vor sich. Wie Emily am Boden lag, bewegungslos, blass, während eine dunkelrote Pfütze sich um sie herum ausbreitete, ihr weißes Sommerkleid befleckte. Claire und Mary hatten eine gefühlte Ewigkeit neben dem reglosen Körper ihrer Schwester gestanden, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren. Emily lag da, als wäre sie einfach nur eingeschlafen. Claire erinnerte sich, für einen kurzen Augenblick an das Märchen von Schneewittchen gedacht zu haben. Rot wie Blut. Weiß wie Schnee. Schwarz wie Ebenholz. Genauso hatte Emily ausgesehen. Fast wie ein Engel in dem weißen Kleid, das tiefschwarze Haar um sich herum ausgebreitet, in einem Meer aus dunklem Rot.

"Mary hat zuerst reagiert. Sie lief zum Haus unsererer Eltern. Ich weiß noch, wie ich einen Krankenwagen rief, mir fehlt jedoch die Erinnerung, wie ich es zu dieser Telefonzelle geschafft habe. Wir hatten die aberwitzige Hoffnung, Emily würde noch am Leben sein, sie wäre nur ohnmächtig gewesen. Doch als der Arzt schließlich kam, konnte er nur noch ihren Tod feststellen."

Ihre Stimme versagte. Claire schloss für einen Augenblick die Augen. Zu lange war sie davor davon gelaufen. Zu lange hatte sie sich versteckt. Nun war sie hier, bereit, alles offen zu legen.

Mary sprach für sie. "Wir...haben lange nicht über Emilys Tod gesprochen. Wir hatten in den ersten Tagen nach dem Unfall eine solche Sehnsucht nach ihr, dass wir zu kaum jemandem gesprochen hatten. Diese Sehnsucht ist nie wirklich gewichen. Seit Emilys Tod...fühlt es sich an, als fehle etwas. Wir vermissen sie. Manchmal sehe ich sie in meinen Träumen."

Claire sah zu ihrer Schwester. Auch sie träumte nachts manchmal von Emily, wie sie mit wehenden, nachtschwarzen Haaren in einem weißen Kleid aus einem grellend weißem Licht trat, immer noch 15 Jahre alt, doch sie hatte nie über diese Träume gesprochen. Sehnsucht. Dies konnte einen Menschen verfolgen, wie nichts Anderes.

Lisa schaffte es als Erste, etwas zu sagen. "Tante Emilys Grab liegt immer noch auf dem Friedhof, oder?"

Mary nickte. "Ja. Ich habe mich durchgesetzt, dass es bis jetzt erhalten bleibt."

Geoffrey sah auf. Er blickte kurz von seiner Frau zu seiner Schwägerin und zurück.

"Wir haben noch den ganzen Tag Zeit. Wollen wir kurz hinüber gehen? Oder möchtet ihr zwei alleine sein?"

Claire und Mary schüttelten die Köpfe. "Kommt mit uns", sagte Mary leise. "Das ist eine Familienangelegenheit. Deshalb wird auch die ganze Familie mitkommen."

 

Sie saßen auf der Bank vor den Gräbern, direkt vor Emilys Grab. Lisa und Toby hatten freiwillig die Blumen gegossen, nun saß die ganze Familie nebeneinander und lauschte stumm dem Rascheln des Windes in den Baumwipfeln über ihnen. Claire sah geradeaus ins Leere.

Sehnsucht.

Dieses Gefühl würde immer bleiben. Die Sehnsucht nach den Erlebnissen aus ihrer Kindheit, wo sie noch zu dritt glücklich und zufrieden lebten. Eine unbeschwerte Jugend dreier Drillingsschwestern, die im Sommer drachen steigen ließen und im Winter mit den anderen Kindern des Dorfes eine Schneeballschlacht ausführten.

Claire und Mary spürten, dass ein Wenig dieser schwesterlichen Dreisamkeit immer bleiben würde. Tief in ihren Herzen lebte Emily weiter, ein junges, lebensfrohes Mädchen für alle Ewigkeit, das im Sonnenlicht tanzte und lachte. Ihre Herzen sehnten sich immer noch nach dieser Dreisamkeit, doch sie lag in der Vergangenheit. Weit in der Vergangenheit.

Eine Sehnsucht, die sie immer beherrschen würde, weit in den Träumen der Vergangenheit.

Claire und Mary fassten sich an den Händen, schlossen die Augen und liefen wieder mit Emily über weite Kornfelder im glänzend weißen Sommerlicht.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.06.2014

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