Mitten in der Nacht wachte Saskia auf. Ein seltsamer Geruch schwebte in ihrem Zimmer. Das Licht des Vollmondes, das durch das Fenster auf die rote Tapete ihrer Wand fiel, ließ diese wie eine Marslandschaft aussehen. Etwas stimmte hier nicht. Saskia stand aus ihrem Bett auf, zog Pantoffeln und Morgenmantel über und ging ohne zu zögern durch die Wand hindurch. Als sie den harten Stein unter ihren Füßen und den kühlen Wind in ihrem Haar spürte, fiel ihr wieder ein, was sich ereignet hatte: Das Tor zwischen den Welten hatte sich geöffnet. Sie war erst sieben Jahre alt gewesen, als sie die Schwelle in einer ereignisreichen Vollmondnacht das erste Mal überschritten hatte. Ein Frettchen mit Zylinder hatte ihr darauf erklärt, dass sie durch diesen Vorgang die Untere Welt betreten hatte. Sie war auserwählt gewesen, als so genannte „Teilzeitagentin“ Aufträge in dieser Welt zu erledigen. Am nächsten Morgen konnte sich Saskia nie an ihre nächtlichen Ausflüge in der Unteren Welt erinnern, erst, wenn sich das Portal ein zweites Mal öffnete, wusste sie wieder um ihr Schicksal.
„Ich muss mir mal ein Knoten in ein Taschentuch machen“, sagte sie schulterzuckend zu sich selbst und begann, die Felsnadel, auf der sie sich befand über die Treppe aus riesigen, in der Luft schwebenden Kartoffelchips zu verlassen. Unten angekommen stand sie mitten auf einer grasgrünen, windzerzausten Wiese. Zielstrebig ging Saskia auf die rote Weide zu und zog an einem der tief herab hängenden Äste. Sofort wurde der Fahrstuhl unter ihr aktiviert und brachte sie in die unterirdischen Hallen des Maulwurfkönigs.
Dieser war, wie immer bei Saskias Besuchen, am Rande des Nervenzusammenbruchs.
„Es ist eine Katastrophe! Eine schlichte Katastrophe! Wer weiß, welche weiten Katastrophen daraus noch erwachsen können, wenn…“, rief er ununterbrochen, während sich sein Hofmarschall, ein kleines Wiesel, dessen Namen Saskia immer noch nicht heraus gefunden hatte, rasche Notizen auf einem Klemmbrett machte. Wie immer hatte sich der Maulwurfkönig in rotem Mantel und Krone auf seinen schwebenden Skateboard platziert, und wie immer musste Saskia erst mehrere Schritte auf ihn zugehen, bis er sie bemerkte.
„Saskia! Da bist du ja! Du bis meine letzte Rettung!“
Alles wie immer, die Untere Welt stand kurz vor dem Untergang und Saskia allein konnte sie nur noch retten.
„Wo liegt das Problem?“, verlangte sie zu wissen.
„Die Untere Welt steht vor dem Untergang! Alles hängt von dir ab!“ Der Maulwurfkönig ließ sein schwebendes Skateboard zu der Leinwand in einer Ecke seines Thronsaals gleiten, wo es mitten im Flug stehen blieb. „Oh nein!“, stöhnte er, „nicht schon wieder!“
Saskia entdeckte die kleine Karaffe mit Treibstoff auf einem niedrigen Tisch und trug sie zu dem in der Luft stehen gebliebenen Skateboard.
„Danke, Saskia, ich muss dieses Ding wirklich mal umbauen.“ Der Maulwurfkönig füllte den Tank auf und schwebte daraufhin mit seinem Skateboard zur Leinwand.
Saskia nahm auf dem Sessel vor dem Bildschirm Platz. Nun würde ihr der Auftrag erklärt werden.
„Die Steine des Lichts.“ Mit fast feierlicher Geste schaltete der Maulwurfkönig den Bildschirm ein. Saskia kannte diese Steine schon von früheren Missionen, obwohl sie nie direkt mit ihnen zu tun gehabt hatte. Ein Diamant, ein Smaragd und ein Rubin. Kristalle mit magischen Fähigkeiten, die zusammen genommen uneingeschränkte Macht versprachen und deshalb unter strengsten Verschluss standen.
„Der Diamant des Lichts wurde entwendet.“ Mit einem Klick auf die Fernbedienung zeigte sich ihr ein genaueres Bild des schillernden, fein geschliffenen Diamanten. In seinem Innern schien ein Feuer zu brennen.
„Nicht gut“, rutschte es aus Saskia heraus.
„Der Täter war er.“ Das nächste Bild in der Diashow zeigte den Maulwurfkönig in Badehose beim Rückenschwimmen in einem Swimmingpool.
Saskia verkniff sich ein Lachen, der Maulwurfkönig wurde rot unter seinem schwarzen Fell.
„Ähm…falsches Bild. Er war es!“
Auf dem Bild erschien ein weißer Pudel mit kuscheligem Fell. Um den Hals trug er eine rosafarbene Schleife mit der Aufschrift Rufus.
„Wer ist das?“, fragte Saskia nach.
„Das“, der Maulwurfkönig bemühte sich angestrengt, seine Stimme dramatisch klingen zu lassen, „ist Rufus, mein schlimmster Konkurrent. Er hat schon seit einer Ewigkeit vor, mich meines Throns zu berauben und aus der Bevölkerung der Unteren Welt willenlose Sklaven zu machen.“
Saskia schüttelte verständnislos den Kopf. „Einfach nur fies. Dieser Hund muss aufgehalten werden.“
„Zum Glück“, fuhr der Maulwurfkönig fort, „habe ich einen Spion in seinem Gefolge. Der einzige Ort, an dem Rufus den Diamanten verstecken könnte, wäre dieser hier.“
Das nächste Foto zeigte einen pechschwarzen, von Blitzen erhellten Turm, der wie eine Nadel in einen mit grauen Wolken verhangenen Himmel ragte. Winzige Fenster starrten wie leblose Augen in die regnerische Umgebung des Turms.
„Nach meinem Spion befindet sich der Diamant in der Spitze des Turms. Meine Gefolgsleute würde er sofort erkennen, aber…“
„Ich bin die Einzige, die er nicht kennt und somit nicht als deine Agentin identifiziert werden kann.“
„Exakt.“ Mit einem Klick schaltete der Maulwurfkönig den Diaprojektor aus. „Mit Hilfe neuester Technologien und der besten Wissenschaftler der Unteren Welt haben wir es geschafft, einen Teleport zu dem Turm zu entwickeln. Doch du musst dich beeilen, das Tor ist nur eine Stunde der Unteren Welt geöffnet. Das sind in Stunden der Oberen Welt umgerechnet…“
„Fünfzehn Minuten“, antwortete Saskia, bevor er dazu kam, sich das Hirn mit dieser komplizierten Berechnung zu zermartern. „Das kriege ich hin.“
„Na dann. Viel Glück.“
Der Maulwurfkönig gab den komplizierten Code zum Nebenraum ein (123) und lenkte das Skateboard in den Tresor. Saskia entdeckte den Teleport, der als Eiswagen getarnt in der Ecke stand.
„Ist er das?“
„Genau der“, bestätigte der Maulwurfkönig und öffnete die Klappe des Eiswagens, die groß genug war, damit Saskia hinein steigen konnte. Sie rollte sich in dem Eisfach zusammen.
„Wenn du angekommen bist, öffnet sich die Klappe automatisch“, erklärte ihr der Maulwurfkönig. „Viel Glück!“
Die Kiste schloss sich. Saskia atmete tief durch. Bei all ihren Besuchen in der Unteren Welt ist ihr allmählich klar geworden, dass deren Bewohner eine sehr komplizierte Art zu denken hatten.
Zischend glitten die Klappen über ihr auf. Mit einem Sprung kam Saskia auf dem Steinboden auf. Sie befand sich in einer dunklen, nur von brennenden Fackeln erleuchteten Wendeltreppe. Der einzige Weg schien nach oben zu verlaufen. Saskia nahm sich eine Fackel aus den metallenen Griffen und tat die ersten Schritte hinauf. Sie war es geübt, sich schnell und leise voran zu schleichen. Wenn sie doch nur wüsste, wo sich dieser Rufus aufhielt!
Eine schnarrende Stimme, die aus einem Nebenzimmer ertönte, ließ Saskia erstarren. Das musste der Pudelkönig sein.
„Ich hoffe, es ist alles für die Mission vorbereitet.“
Eine andere Hundestimme ertönte aus dem Raum.
„Wuff…Jawohl, Sir…wuff…alles vorbereitet, Sir. Die werden den Diamanten da oben nie finden, Sir…wuff.“
Saskia konnte sich ein Grinsen bei diesen Lauten nicht verkneifen. Vorsichtig lugte sie um die Ecke. Ein winziger Dackel frisierte dem Pudel die extravaganten Locken. „Es besteht kein Grund zur Aufregung, Sir. Wuff!“
Mit schnellen Schritten sprang Saskia an der Tür vorbei und rannte weiter hinauf. Bis sie schließlich das Zimmer im Turm erreichte.
Der Diamant schwebte mitten in der Luft in einem schimmernden Kraftfeld. Saskia ergriff den Diamanten, ohne zu überlegen…und aktivierte die Alarmanlagen.
Die Tür hinter ihr flog auf. Ein wutentbrannter Pudelkönig stand mit Lockenwicklern im Fell und gefletschten Zähnen in der Tür und knurrte sie an.
„Das…ist…mein…Diamant!“
Der Pudelkönig machte sich zum Sprung bereit. Saskia entdeckte den Stock im Raum nur zufällig. Schnell ergriff sie ihn und wedelte damit vor den Augen des Pudelkönigs umher.
„Siehst du das Stöckchen? Siehst du es?“
Die Reaktion lief wie erwartet ab. Der Pudelkönig riss die Augen weit aus, fing an, mit dem Schwanz zu wedeln und sprang munter bellend hin und her. Irritiert sah sein Friseur-Dackel auf die Szene.
„Wuff…Sir, was…?“
„Hohl das Stöckchen!“, rief Saskia so laut sie konnte und warf den Stock aus dem Fenster. Jaulend hechtete der Pudelkönig hinterher.
Saskia verschwendete keinen weiteren Gedanken an ihn. Mit einem Satz sprang sie über den immer noch verwirrten Dackel hinweg, den Diamanten fest an sich gepresst.
„Wuff…Alarm! Wachen! ...Wuff…fangt den Eindringling!“, jaulte der Dackel mit schriller Stimme. Saskia hörte bellende Hunde-Soldaten hinter ihr. Mit einem Sprung landete sie in dem Teleport und schloss die Klappe…
Als Saskia mit dem Diamanten wieder im Nebenraum des Thronsaals landete, zeigte ihr die Uhr, dass der Teleport jeweils genau eine halbe Untere-Welt-Stunde gedauert hatte. Im Thronsaal war der Maulwurfkönig gerade dabei, Telegramme zu ordnen, während das Fax neben ihm sekündlich neue Exemplare ausspuckte. Er ließ einen Stapel Zettel fallen, als sie eintrat.
„Der Diamant! Saskia, du hast ihn gefunden!“ Mit freudigem Jauchzen riss der Maulwurfkönig den Diamanten an sich. „Überall in der Unteren Welt ist die Hölle los! Die Presse, weißt du? Unzählige besorgte Untertanen. Kann ich nun alle entwarnen. Ach, wie kann ich dir nur danken?“
Saskia gähnte. „Ich helfe doch gerne. Du musst nur einen Arzt zum Turm schicken, der verunglückten Pudeln helfen kann.“
Damit verabschiedete sich Saskia und kehrte zurück in ihre Welt.
Bis zum nächsten Auftrag.
Tag der Veröffentlichung: 12.04.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
An alle, die gerne in ferne Welten verschwinden.