Cover

Warnung!

Liebe Leserin, / Lieber Leser,

 

Ich freue mich natürlich sehr, dass du dich an mein Buch gewagt hast. Jedoch muss ich dich noch warnen. Solltest du unter Arachnophobie (Angst vor Spinnen) leiden, würde ich dir raten, dir diese Lektüre gut zu überlegen, ich will schließlich nicht an Albträumen Schuld sein.

Für Leser, die ihre Spinnenangst überwinden wollen, gebe ich allerdings freie Fahrt.

 

An alle anderen, auch für Nicht-Spinnenexperten,

 

Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich in diesem Buch mit Fachausdrücken um mich werfen werde, die du nicht unbedingt verstest, ich hoffe jedoch, dass die Handlung dennoch verständlich ist.

 

Viel Spaß beim Lesen

 

Zauberwald.

Das Haus der 1000 Spinnen

Das Haus stand schon immer am Ende der Alten Allee. Niemand war je auf die Idee gekommen, es zu renovieren, zu kaufen oder abzureißen. Niemand dachte je daran, dass man es durch ein neues Haus ersetzen könnte. Oder auf dem weiten, verwilderten Gelände etwas bauen konnte. Überhaupt gab es niemanden, der wirklich wusste, wer das Haus gebaut hatte. Es gehörte offiziell der Stadtverwaltung. Diese hatte niemals etwas für oder gegen das alte Gemäuer unternommen, es war ihnen ziemlich egal, was mit dem verwittertem, halb zerfallenen Haus geschah, dessen Farbe schon längst von den morschen Balken geblättert war. Das Betreten des Hauses war amtlich nicht verboten, ein schiefes Schild am schiefen Zaun, der den von Unkraut überwucherten Garten einzäunte, wies allerdings ausdrücklich auf Einsturzgefahr hin. Die meisten Menschen, die vorbei gingen, ignorierten das Haus. Es war eben immer da. Ein großes, leerstehendes Gemäuer. Ältere Menschen erzählten hinter vorgehaltener Hand von gefährlichen Ungeheuern, die das Haus bewohnten, verfluchte Wesen, die nur darauf warteten, dass sich eine verirrte Seele zu ihnen wagte, um sie mit in ihr tiefes, dunkles Reich zu ziehen und nie mehr aus der Geisterwelt loszulassen. Eine dieser Schauermärchen, mit denen man kleine Kinder erschrecken konnte. Niemand wusste, was wirklich das Geheimnis des Hauses war. Und was wirklich in dem Haus wohnte.

Niemand außer mir.

 

Eigentlich muss ich Cassandra für diese Entdeckung danken.

Cassandra, das ist meine Tarantel. Ja, ich besitze eine Tarantel, und ich kann euch sagen, diese Tiere sind faszinierend. Taranteln haben, entgegen aller Vorurteile, ein sehr schwaches Gift. Cassandras Giftstachel mussten wir ihr trotzdem entfernen lassen. Ich kann mich immer noch nicht daran erinnern, wie mit einem Mal die Klappe des Terrariums offen stand, wahrscheinlich stand meine kleine Schwester Vanessa dahinter, die Cassandra immer so gerne streichelte, aber nachweisen konnte ich es ihr natürlich nicht. Ich kam gerade noch rechtzeitig ins Zimmer, um zu sehen, wie Cassandra aus dem Fenster auf die Straße sprang.

Ich überlegte kaum, sondern sprang gleich aus dem geöffneten Fenster hinterher. Ich durfte Cassandra nicht draußen herum laufen lassen, in der Allee fuhren viele Autos, außerdem beschuldigten die Nachbarskinder meine Spinne, ihren Hund vergiftet zu haben. Zwar hatte der Kläffer nur eine Magenvergiftung, anscheinend weil er Spülmittel aufgeleckt hatte, aber bei den Kleinen war das Bild von der großen, bösen Giftspinne hängen geblieben. Die Knirpse hatten sogar einmal damit gedroht, Cassandra mit einem Stein zu erschlagen, sollte sie sich noch einmal in ihrer Nähe blicken lassen. Zwar traute ich den beiden Grundschülern nicht viel zu, aber an Cassandra hing ich zu sehr, um ein Risiko einzugehen.

Mich hektisch auf der Straße umschauend sah ich einen achtbeinigen Schatten unter dem Zaum zum Geisterhaus verschwinden. Stöhnend lief ich hinterher. In dem Urwald von Vorgarten konnte so eine Spinne leicht verschwinden, oder vom Hund gefressen werden.

Ich hob das Glas, das ich mitgenommen hatte und steckte die Heuschrecke, mit denen ich Cassandra immer fütterte, hinein. Taranteln sollte man nur in die Hand nehmen, wenn sie in der Stimmung dazu waren, und das konnte ich bei Cassandra nicht voraus sehen. Ich hoffte inständig, dass kein Marder oder ein anderes Tier sich meine Cassandra zum Mittagessen aussuchte. Spinnen konnten sich schließlich kaum wehren.

Ich sah Cassandra erst wieder, als sie über die angelehnte Tür in das Haus krabbelte.

Schnell lief ich hinterher und stieß die Tür auf. Staub wirbelte mir wolkenweise entgegen und brachte mich zum Husten. Zum Glück saß die Tarantel dicht vor mir auf den morschen Dielen, die laut knarrten, als ich auf sie zu ging.

Wie erwartet nahm Cassandra bei der unerwarteten Vibration ihre Verteidigungsstellung ein und zeigte ihre Giftzähne. Einschüchtern tat mich das nicht, ich hatte genug Erfahrung mit ihr, um zu wissen, wie ich mit ihr umgehen musste. Außerdem war ein Tarantelbiss für Menschen nahezu ungefährlich. Eine Schwarze Witwe zum Beispiel brachte da schon weitaus schwerere Nebenwirkungen.

Mit der Zange hielt ich die Heuschrecke im Glas in der Luft. Gleich würde Cassandra auf die Beute zuspringen und ich konnte sie zurück ins Terrarium bringen.

Dachte ich zumindest.

Stattdessen drehte sich Cassandra um und krabbelte weiter über die verstaubten Dielen des Flurs. Ich lief hinterher. Das konnte doch nicht wahr sein!

Sie krabbelte unter eine kleine Kommode, die im Flur stand. Ich kniete mich hin und schob die Kommode ein Stück weit zurück.

Doch ich entdeckte nicht Cassandra.

Eine sich windende, leuchtend grüne Schlingpflanze wuchs mir aus der Wand entgegen.

 

Ja, sie wand sich mir entgegen, wuchs aus der Wand und richtete sich vor mir auf. Dreieckige, efeuartige Blätter sprossen aus dem Strang. Erschrocken wich ich zurück. Natürlich gab es gruselige Geschichten über dieses Haus, aber das waren nur Geschichten! Hier gab es keine Geister, keine Dämonen und ganz sicher keine magischen Pflanzen! Das war unnatürlich!

All das änderte jedoch nichts and er Tatsache, dass vor meinen Augen in Zeitraffer eine dicke Liane in die Höhe wuchs, sich spiralförmig wand und schließlich direkt vor meinen Augen zum Stehen kam.

"Cassandra", entfuhr es mir, als ich die Tarantel an der Spitze der Ranke sitzen sah. Ich hob schon die Hand, Daumen und Mittelfinger zum Spinnengriff gespreizt, als etwas Weiteres, Unglaubliches geschah.

Folge mir.

Ich erstarrte. Das war nicht möglich! Spinnen konnten doch nicht reden!

Folge mir.

Das Säuseln kam zweifellos von der Tarantel auf der Ranke. Sie schien mit ihren acht Augen zu mir aufzusehen. Dann drehte sich die Spinne auf der Stelle und krabbelte mit geschmeidigen Bewegungen die Ranke hinab.

Folge mir.

Wie? Wohin?

Erst jetzt sah ich das tiefe Loch, in dem Cassandra verschwand. Der Tummel war breit genug, dass ich hindurchkrabbeln könnte. Ohne auch nur einen Gedanken an meine nagelneue Jeans zu verschwenden, ging ich auf die Knie und rutschte den Gang hinab. Ein kühler Wind wehte mir entgegen.

Mit einem Mal ertönten Geräusche. Ein Rascheln, wie von Blättern im Wind. Eine Art Flüstern, Gemurmel, auch wenn ich keine Worte verstand.

Mein Herz schlug höher. Es stimmte also. In diesem Haus gab es Übernatürliches! Der Duft von Blumen und Waldboden strömte mir eingegen. Ein leichtes Kribbeln fuhr mir durch die Fingerspitzen. In welche Welt entführte mich Cassandra hier?

Wald.

Dichte, feuchte Blätter schlugen mir entgegen. Mit offenem Mund stand ich auf. Ich stand in einem Urwald. In einem wahrhaftigen, dichten Urwald. Baumriesen ragten neben mir in den Himmel, die ich nicht mit dreimal ausgebreiteten Armen hätte umfassen können. Goldene Lichtstrahlen stachen durch das grüne Blätterdach des Waldes.

Er raschelte, schien zu vibrieren, zu leben. Es stimmte also, das Haus lebte. Der Wald lebte. Ich sah niemanden, keinen Menschen, kein Tier, aber es gab das Leben. Ich spürte es überall um mich herum.

Ich zuckte kurz zusammen, als sich ein leichtes Gewicht an meine Jeans hängte. Es war Cassandra, die an mir hinauf kletterte. Das Glas hielt ich immer noch in der Hand, doch etwas hinderte mich daran, sie hinein zu stecken. Friedlich krabbelte Cassandra an meinem T-Shirt hinauf und setzte sich friedlich auf meine Schulter, als würde sie dort wohnen. Ich beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Cassandra war ruhig. Sie konnte gefahrlos dort bleiben.

Folge dem Wind.

Ich zögerte. Cassandras Fangzähne hatten leicht geknackt, während sie gesprochen hatte.

"Was meinst du?", fragte ich, davon ausgehend, dass die Tarantel mich verstehen würde.

Folge dem Wind.

Dem Wind. Ich sah nach oben, in die Baumkronen, weit über mir. Ich musste genau hinsehen, um zu erkennen, in welche Richtung sie sich neigten. Ich deutete in die Richtung.

"Dort entlang?"

Dort entlang.

Es geschah wirklich. Ich unterhielt mich mit einer Tarantel. Lycosa tarantula, eine Apulische Tarantel, aus der Familie Lycosidae, auch als 'Wolfsspinnen' bekannt, fälschlicherweise oft mit Vogelspinnen verwechselt, die allerdings eine eigene Gattung bildeten. Und ich folgte ihr.

Der Wald war bewohnt.

Das bemerkte ich schon nach wenigen Schritten. Überall raschelte und bewegte sich etwas. So lange, bis ich schließlich das erste Tier zu Gesicht bekam.

Eine Heteropodra.

Eine Riesenkrabbenspinne.

Die Spinne mit der längsten Spannweite der Welt.

Das Wissen flutete mir ins Gedächtnis. Die Riesenkrabbenspinnen lebten in tropischen und subtroßischen Regionen, die Unterart, die Heteropodra Maxima kommt in bestimmten Regionen in Laos vor. Mit Beinen waren diese Spinnen tellergroß. Zwar reichten meine arachnologischen Kenntnisse nicht aus, um das Exemplar einer Unterart zuzuordnen, doch von der Größe her passte der Umfang.

Die Riesenkrabbenspinne hatte mich so in ihren Bann gezogen, dass ich für einen Augenblick stehen geblieben bin. Die langen, schlanken Beine flogen geschmeidig über den Waldboden, bis sie wenige Meter vor mir stehen blieb. Auch diese Spinne schien zu mir aufzusehen.

Folge mir.

Diese Aufforderung kam nicht von Cassandra, sondern von der Heteropodra Maxima (jetzt, wo sie so dicht vor mir stand, war ich mir fast sicher, dass es sich um eine laotische Riesenkrabbenspinne handelte), die sich gleich darauf auf der Stelle drehte und sich über den Waldboden fortbewegte.

Mit einem Schmunzeln musste ich daran denken, dass die meisten meiner Klassenkameraden (Jungs wie Mädchen) an Ort und Stelle in Ohnmacht fallen würden, während ich nur Augen für das Tier vor mir hatte. Eine Riesenkrabbenspinne mitten in Deutschland, in einem tropischen Urwald, der sich im Keller eines halb zerfallenen Hauses zu befinden schien. Ich kam mir vor, wie in 'Jurassic Parc', nur mit Spinnen, anstatt Dinosauriern.

 Die Riesenkrabbenspinne blieb immer wieder stehen, während ich ihr durch die Sträucher folgte. Sie wartete auf mich und Cassandra, die immer noch ruhig auf meiner Schulter saß.

Ich schob die großen Blätter bei Seite und folgte der Spinne weiter über wurzeligen Waldboden, durch dichtes Geäst. Keine der Pflanzen um mich herum konnte ich benennen, Spinnen hatten mich schon immer mehr interessiert als Bäume, doch die Hitze, die hier herrschte ließ mich langsam wirklich glauben, ich sei in den Tropen gelandet.

"Wohin bringst du mich?", fragte ich, ohne mir sicher zu sein, ob die Spinne mich hörte.

Zur Großen Höhle, antwortete Cassandra stattdessen.

Große Höhle? Welche Geheimnisse lauerten hier, in meinem Nachbarshaus?

Schon bald sah ich, was die Krabbenspinne mit der 'Großen Höhle' gemeint hatte.

Ein riesiges, dunkles Felsloch.

In dem Leben herrschte.

 

Vor mir erhob sich ein schillernder, silberner Vorhang, der das Sonnenlicht dieses geheimnisvollen Waldes zu reflektieren schien. Er bewegte sich. Winzige, silbrige Punkte flirrten auf dem Vorhang hin und her, wie über einen Fernsehschirm mit Empfangstörung.

Jedenfalls sah es auf dem ersten Blick wie ein Vorhang aus.

Erst als ich näher trat, sah ich, um was es sich wirklich handelte:

Weberknechte.

Es waren abertausende, winzige Weberknechte, die mit ihren haardünnen Beinen übereinander krabbelten, aneinander hochkletterten, sich aufeinander stellten und bis zur Höhlendecke zogen. Eine vibrierende, krabbelnde, lebende Wand aus Weberknechten, die ständig in Bewegung zu sein schienen.

Ich konnte die Art der Weberknechte nicht bestimmen, so gut kannte ich mich bei dieser Ordnung der Spinnentiere auch nicht aus. Dennoch nahmen sie mich mit ihrem Anblick gefangen.

Mein inneres Lexikon schaltete sich wieder ein: Weberknechte, bilden eine eigene Ordnung der Klasse 'Spinnentiere' und kommen in über 4000 verschiedenen Arten weltweit vor. Im Gegansatz zu Spinnen besitzen Weberknechte keine Giftdrüsen in den Fangzähnen, sondern über Stinkdrüsen, mit denen sie sich gegen Feinde zur Wehr setzen.

Ehrfurchsvoll trat ich einen Schritt zurück um die winzigen Tiere näher zu betrachten.

Mache dich bereit.

Es waren Cassandra und die Riesenkrabbenspinne, die gesprochen hatten. Ich wusste nicht, wofür ich mich bereit machen sollte, doch ging einen Schritt zurück.

Da setzte sich der Vorhang aus Weberknechten in Bewegung.

Es waren perfekt aufeinander abgestimmte Bewegungen. Die kleinen Spinnentiere zogen sich zur Wand zurück und sammelten sich am Fels, sodass der Vorhang sich in einem größer werdenen Spalt öffnete. Zu beiden Seiten stoben die Weberknechte an der Felswand entlang, wie ein gewaltiger, lebender Teppich, der sich über die Felswand zog und sie mit langen, dünnen Beinen bedeckte.

Es war wie auf mich abgestimmt. Ich blickte in eine tiefe, von bläulichem Licht erfüllte Grotte, die sich vor mit in den Fels grub.

Die Riesenkrabbenspinne warf gegen diesen ungewöhnlichen bläulichen Schein große Schatten, als sie in die Höhle krabbelte. Mein Puls hämmerte in meinen Ohren, als ich folgte.

"Was ist dort?", kam es mir über die Lippen.

Das Geheimnis, lautete Cassandras Antwort. Mehr nicht. Es war mir wohl bestimmt, das 'Geheimnis' selbst zu lüften.

Mit zögerlichen Schritten betrat ich die Höhle.

 

Das bläuliche Licht kam von einem runden Loch in der Decke der Grotte, durch das goldenes Sonnenlicht in einen runden, blauen See schien. Dieser See schien in tausenden Diamanten zu flimmern und zu funkeln. Als würde er leben.

Die Riesenkrabbenspinne übernahm die Führung, ihre sich schnell bewegenden Beine warfen lange Schatten gegen das bläuliche Licht, das in der Höhle vorherrschte. Mein Puls pochte mir in den Ohren, als ich ihr folgte. Meine Beine fühlten sich steif an, während ich die ersten Schritte in die Grotte tat. Ich hatte das Gefühl, ich würde etwas Heiliges betreten, einen übernatürlichen Ort, der nicht für Menschen geschaffen war. Die Luft schien zu vibrieren, alles fühlte sich so...magisch an. Außergewöhnlich und doch natürlich. Ich konnte nicht sagen, woher dieses Gefühl kam, aber ich hatte das Gefühl, an einem Ort zu sein, der nicht für Menschen bestimmt war. Ein Ort, der allein für die Natur vorgesehen war. Als hätte es ihn schon zu Anbeginn aller Zeiten gegeben. Diese Grotte hatte etwas...Außergewöhnliches. Etwas, das sich nicht durch rationale Berechnungen erklären ließ. Etwas, das sich jeder Wissenschaft entsagte. Es war...magisch. Übernatürlich.

Es pulsierte in jeder meiner Adern, als ich Schritt für Schritt weiter in dieses Heiligtum der Natur vordrang. Die Höhle lebte. Genauso wie der Urwald dort draußen. Das spürte ich.

Ich trat an den See. Das azurfarbene Wasser schien mit unzähligen Diamanten versetzt sein, es schien von innen heraus zu leuchten, obwohl es sich in einen tiefen, indigoblauen, fast schwarzen, Grund verlor, als würde dieser See bis in die verborgenste Tiefe hinab reichen.

Die Höhle begann, sich zu regen.

Die Spinnen kamen aus ihren Löchern.

 

Bewältigend.

Ich kannte kein anderes Wort, das auch nur annähernd beschreiben könnte, was sich nun um mich herum abspielte.

Kein anderes Wort, das das Ereignis besser beschreiben könnte.

Die Spinnen kamen aus ihren Löchern, aus den Spalten der Höhle, aus den hintersten Winkeln. Sie kamen von allen Seiten, auf den See zu.

Cassandra regte sich auf meiner Schulter. Ich spürte, was sie zu tun gedachte. Mit zwei Fingern nahm ich sie in den Spinnengriff und setzte sie vorsichtig auf dem Grund der Höhle ab.

Als wäre dies das Signal gewesen, versammelten sich die Spinnen um den See.

Es waren Exemplare aller nur erdenklichen Arten. Sie krabbelten friedlich und unbehelligt nebeneinander. Alle machten einen kleinen Bogen um mich, ohne mich dabei zu berühren. Ich glaubte, ihre Schwingungen in der Luft zu spüren. Sie bewegten sich wie eine Einheit. Spinnen aller verschiedener Arten. Unter gewöhnlichen Umständen, wäre dies wissenschaftlich gar nicht möglich. Spinnen waren Einzelgänger. Ich glaubte, eine Gruppe Samurai-Spinnen zu erkennen, eine Kampfspinnenart, zwischen der in Japan Wettkämpfe ausgetragen werden. Dabei werden jeweils zwei Spinnen an den gegenseitigen Enden eines Stocks gesetzt. Instinktiv beginnen die Kontrahenten zu kämpfen, was in der Natur dieser Tiere liegt. Ein Kampfrichter achtet dabei daruf, dass die Tiere sich nicht gegenseitig verletzen und entscheidet, welche Spinne gewonnen hat. Danach werden die Tiere wieder in der Wildnis ausgesetzt.

Es könnten auch Wespenspinnen gewesen sein, so genau konnte ich es nicht erkennen. Außerdem nahmen mich die Ereignisse um mich herum zu sehr gefangen. Cassandra hatte ich längst aus den Augen verloren. Alle meine Sinne richteten sich auf die Tiere, die sich vor meinen Augen um den See versammelten.

Der See flimmerte, das Wasser schien sich zu bewegen. Nun erkannte ich auch, weshalb. Es waren Wasserspinnen, Argyroneta aquatica, meiner Meinung nach die faszinierendste Spinnenart Deutschlands. Diese Tiere leben fast ausschließlich unter Wasser. An ihrem Hinterleib haben sie eng anliegende Haare, die beim Tauchen eine Luftblase festhalten, durch die die Spinne unter Wasser atmen konnte. Dieselbe Technik ermöglicht der Spinne auch, auf dem Wasser zu laufen, durch feine Häärchen unter den Klauen, und somit leicht und schnell ihre Hauptbeute Quaulauappen zu jagen.

Andere Spinnenarten ließen sich von ihren Netzen von der Decke nieder. Ich blinzelte, als könnte sich das Bild jeden Augenblick vor meinen Augen auflösen. Ich war in einer fremden Welt gefangen. Einer atemberaubenden, fernen Welt, die ich seit ich denken konnte durch Lexika gesucht hatte. Die Welt von Tieren, ohne die die Welt nicht die wäre, die sie ist, Tiere, ohne die ich nicht die wäre, die ich bin. Tiere, die von den meisten Menschen übersehen oder gar gefürchtet werden.

Diese Tiere umgaben mich, wie ein einziges, großes, pulsierendes Lebewesen, ein unglaublicher Organismus, der sich jeglichem menschlichen Fassungsvermögen entzog. Eine eigene Welt, die wir bisher immer übersehen hatten.

Als hätten sich die Tiere abgesprochen, stoben sie plötzlich auseinander, bildeten vor mir eine Gasse, einen Gang in einen Nebengang der Gotte, der mir erst jetzt ins Auge fiel.

Sie wiesen mir eine Richtung.

Ich folgte der Anweisung.

 

Die Tiere schien mir nachzusehen. Wolfsspinnen standen neben Vogelspinnen, Radlerspinnen neben Kreuzspinnen, Krabbenspinnen neben Taranteln. Sie alle blickten mit ihren acht Augen zu mir hoch, als ich mit zitternden Knien an ihnen vorbei ging. Ich stand im Mittelpunkt. Im Mittelpunkt all dieser wundervollen, auf ihre Weise einzigartigen Tiere. Inmitten von Vertretern der aus meiner Sicht faszinierendsten Tiergattung der Welt. immer noch fragte ich mich, wie all diese exotischen Arten an diesen Fleck kamen. Etwas sagte mir, dass ich dieses Geheimnis bald lüften würde.

Ich richtete den Blick wieder auf die Riesenkrabbenspinne, die mir voraus ging. Die Bewegungen ihrer langen, schlanken Beine wirkten perfekt aufeinander abgestimmt. Schnelligkeit und Eleganz schienen sich gleichermaßen in der Spinne zu vereinen. Bis sie vom Dunkel des Seitentunnels verschluckt wurde.

Ich zögerte.

Gehe hinein, wisperte Cassandra. Die Tarantel krabbelte gerade wieder an meinem Hosenbein hoch. Ich hob sie an den alten Platz auf meine Schulter.

Ich wollte fragen, was mich da drinnen erwartete, doch die Antwort würde ich wohl nur durch eine Möglichkeit herausfinden. Ich holte tief Luft und trat in die Dunkelheit.

 

Das Erste, was ich hörte, war das Plätschern von Wasser. Erst allmählich drang Licht zu mir hindurch. Ich blinzelte. Es dauerte noch eine Weile, bis ich genau ernennen konnte, wo ich mich befand.

Ich stand am Rand eines gigantischen Spinnennetzes.

Als ich die neblige Tiefe unter mir bemerkte, breitete ich automatisch beide Arme aus, um nicht herab zu stürzen. Die Fäden (ich weiß nicht, ob man sie noch als solche bezeichnen konnte) hatten einen Durchmesser von mindestens drei Metern. Mit bloßem Auge konnte ich die Größe des Netzes nicht abschätzen, doch ich konnte erkennen, wie stramm die Fäden gespannt waren, wie symmetrisch sie verliefen, welches Muster sie beinhalteten.

Es stand fest: Dieses Netz wurde von einer richtigen Spinne gesponnen.

Mir wurde heiß und kalt zugleich. Ich war niemals die gewesen, die sich von solchen Visionen aus Horrorfilmen hatte einschüchtern lassen. Überhaupt war eine Spinne von solcher Größe wissenschaftlich unmöglich. Spinnen atmen über Tracheen in ihrem Hinterleib, wie Insekten auch. Da diese Drüsen nicht unendlich viel Luft aufnehmen können, bleiben Spinnen so klein. Um allein die Größe eines Schafs zu erreichen, müsste ihre Atmung über eine normale Lunge laufen, um genügend Kohlenstoff für das Wachstum aufzunehmen, doch so eine Lunge besaßen Spinnentiere nun einmal nicht. Was ich hier sah, war wissenschaftlich schlicht unmöglich.

Dennoch existierte dieses Netz.

Genauso wie die Spinne dazu.

Sie ließ sich nämlich gerade an einem ebenso dicken Faden aus dem Nebel gleiten.

 

Ich trat einen Schritt zurück. Ich konnte kaum glauben, was ich da sah, was sich vor meinen Augen abspielte. Es war eine Riesenspinne. Eine wahrhaftige Riesenspinne. Sie schien doppelt so groß zu sein wie ich, ihre Klauen an den Beinen konnte ich genau erkennen, die Beine selbst maßen ausgestreckt sicher zehn Meter oder mehr. Der titanische Körper der Spinne schimmerte in allen Regenbogenfarben. Ihre runden Augen sahen schon beim Herablassen zu mir hinüber. Jede Bewegung schien vollkommen, als würde die Spinne einen Tanz aufführen, indem sie sich langsam in der Mitte des Netzes niederließ. 

Ich konnte den Blick nicht von der Spinne lassen, wenn es denn überhaupt eine war. Der glatte, schimmernde Panzer nahm mich gefangen. Dieses Wesen schien von innen heraus zu strahlen. Es war...bewältigend.

Ich hatte dich erwartet, Mia.

Mein Herz schlug höher. Das Wesen vor mir kannte meinen Namen. Die Stimme klang weich und melodisch, trug aber dennoch einen kraftvollen Klang in sich.

Du fragst dich sicher, wo du bist und warum ich Cassandra beauftragte, dich hierher zu holen.

Ich sah zu Cassandra, die auf meiner Schulter saß. In Spinnenaugen konnte ich keine Gefühle lesen, doch etwas ging von der Tarantel aus. Ich blickte mich kurz zu der Riesenkrabbenspinne um. Sie hatte sich mehrere Schritte zurückgezogen. Anscheinend sollte ich ganz allein im Fokus des Gesprächs stehen.

"Was..." Im letzten Moment verkniff ich mir diese Formulierung. "Wer bist du?"

Man nennt mich 'Arachne'.

Arachne. Der Griechische Name für 'Spinne'.

Ich bin der Ursprung der Spinnen. Aller Spinnen der Welt. Sie sind meine Kinder. Ich bin die Mutter aller Spinnen.

Ich benötigte eine Zeit lang, um diese Information zu verdauen.

"Du bist...die Mutter aller Spinnen?"

Die älteste und erste Spinne der Welt. Die Stimme dieses Wesens hallte durch die neblige Grotte. Sie war kristallklar, klang ein wenig tief und melodisch. Sie nahm mich gefangen.

Ich habe damals, vor undenklich langen Zeiten, meine Kinder in die Welt geschickt. Ich habe die ersten Spinnen erschaffen. Alle verschiedenen Arten. Sie haben sich bis in die hintersten Winkel der Welt verbreitet. Ich hatte sie beobachtet. So lange habe ich sie und ihre Welt beobachtet. Ich habe die anderen Arten studiert, die Insekten, die meinen Kindern Nahrung bieten, ich habe die Tiere beobachtet, die meine Kinder selbst als Nahrung betrachteten. Und ich habe euch Menschen beobachtet. Ich saß über all diese Millionen Jahre hier an diesem Ort und habe gewartet. Darauf gewartet, dass endlich ein Wesen auftauchen würde, das in der Lage ist, das Wesen meiner Kinder zu begreifen.

Ihre Worte trafen hallten in meinen Ohren wieder. Ich starrte auf das gewaltige Wesen vor mir, dann sah ich aus dem Augenwinkel zu der vergleichsweise winzigen Cassandra. Zu der ebenso winzigen Riesenkrabbenspinne. Die Kinder Arachnes.

Ich sah wieder zu Arachne, dem Wesen vor mir. Sie war einige Schritte, das bedeutete, gut zwanzig Meter, auf mich zugegangen. Ich konnte ihre acht dunklen Augen sehen. Ich sah den Schimmer in ihren Augen. Augen, die die Welt beobachtet hatten. Augen, in denen ich mich verloren fühlte.

Die Spinne sah mich weiter an.

Dieser Ort hier ist unser Heiligtum. Die Heimat aller Spinnen. Die Menschen haben nie verstanden, dass es neben der ihren noch andere Welten gibt, die sie nicht betreten können. Dort draußen, in eurer Welt werden meine Kinder wieder zu Einzelgängern, zu Rivalen, vielleicht sogar zu Fressfeinden. Doch hier drinnen, in diesem Wald, in dieser Höhle, sind sie wieder Geschwister. Geschwister, die friedlich nebeneinander leben. Geschwister mit Herz und Seele. So wie du und Cassandra.

Erneut sah ich zu meinem Haustier. Ich war mir meiner Sache ganz sicher. Cassandra hatte ich grundsätzlich schon immer als Freundin betrachtet, auch wenn in den Augen der Wissenschaft ein Spinnengehirn zu klein und einfach ist, um so etwas wie Freundschaft zu empfinden. Hunde sind dazu in der Lage. Affen noch besser. Aber Spinnen? Nein, Spinnen nicht.

Jedenfalls sagt das die Wissenschaft.

Ich sah wieder zu der Spinnenmutter vor mir.

"Ist das der Grund, weshalb Cassandra mich hierher geführt hatte?"

Sie hatte dich auserwählt. Es gab in all diesen Jahrmillionen nur wenige Menschen, die wir dazu auserkohren haben, unser Heiligtum zu betreten. Es gab nur wenige, die unser Wesen so sehr durchschaut haben, wie du. Daher wurde auch dir die Ehre zuteil, diesen Ort zu betreten, Mia.

Die Worte hallten in meinen Ohren wieder. Ich dachte an die Spinnen in der Höhle. All diese unterschiedlichen Arten von der ganzen Welt. Spinnen in allen Farben, Formen und Größen, wie Laien sie beschreiben würden. Der Heilige Ort der Spinnen. Direkt in meiner Nachbarschaft. Und dennoch unerreichbar für Menschen. Für die meisten Menschen.

Ich weiß, du wirst diesen Ort niemals vergessen, Mia. Behalte uns in Erinnerung. Menschen wie du sind selten. Du kannst stolz auf deine Fähigkeit sein. Es war mir eine Ehre, dich an diesem Ort begrüßten zu können.

"Mir ebenso", hauchte ich, Arachne beim Hinaufgleiten in den Nebel zusehend. Ihr Bild hatte sich in mein Gedächtnis geprägt.

Es ist Zeit.

Es war die Riesenkrabbenspinne, die mich zum Gehen aufforderte. Ich sah noch einmal in den Nebel, dann folgte ich dem faszinierenden Tier aus der Höhle hinaus. Die Bilder dieser Begegnungen werde ich nie vergessen.

 

Cassandra saß immer noch ruhig auf meiner Schulter, als ich vorsichtig die nur noch halb in den Angeln hängende Tür zur Seite schob. Die Knirpse von gegenüber liefen mit ihrem Köter und einem Fußball kreischend über die Straße. Ich griff nach Cassandra und steckte sie vorsichtig in meine Jackentasche. Die Tarantel kuschelte sich dort zusammen. Ich hatte Glück und die Kleinen bemerkten mich erst, als ich schon auf der Auffahrt war.

"Schau mal!", krakelte der Ältere und deutete mit ausgestrecktem Arm auf mich. "Da ist die Irre mit der Vogelspinne!"

Ich verdrehte die Augen. "Tarantel", sagte ich still zu mir selbst. "Keine Vogelspinne, eine Apunische Tarantel, Lycosa tarantula, aus der Familie Lycosidae, auch als 'Wolfsspinnen' bekannt, fälschlicherweise oft mit Vogelspinnen verwechselt, die allerdings eine eigene Gattung bilden." Mit diesen Worten ging ich zurück in mein Zimmer und setzte Cassandra zurück in ihr Terrarium. Sie schien wohlwollend zu mir aufzublicken, bevor sie sich unter den Ast, an ihrem Lieblingsplätzchen, zurückzog.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.04.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch ist allen Spinnen auf der Welt gewidmet. All diesen hoch interessanten Tierchen, ohne die unsere Welt zwanzig Zentimeter mit Insekten bedeckt sein würde. Allen Menschen, die diese panische Spinnenangst nicht teilen und das faszinierende Wesen der Tiere entdecken oder noch entdecken wollen. Allen Menschen, die noch Angst vor Spinnen haben, und diese überwinden wollen oder sich noch nicht sicher sind. Und vor allem aber den Menschen, die wehrlose, kleine Spinnen, die sich in ihr Haus verirrt hatten, nicht gleich totmachen, sondern sie behutsam mit einem Glas einfangen, sie liebevoll im Garten aussetzen und sich an ihren kunstvollen, hoch komplizierten und doch so einfachen Netzen erfreuen, wenn diese im Licht der Morgensonne glänzen.

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