Ich bin mir sicher, dass nie eine Menschenseele ihren Blick auf diese Zeilen richten wird, genauso wie niemals jemand einen Blick auf mich gerichtet hat, doch ich muss meine Gedanken niederschreiben. So viele Gedanken gehen mir durch den Kopf, seit ich diese Möglichkeit in Erwägung gezogen habe.
Vielleicht liegt es an dem Artikel, den ich vor kurzem in der Zeitung gelesen habe. Ein 16-jähriger Junge, der eine Überdosis Schlaftabletten genommen hatte, um den Qualen in seinem Leben ein Ende zu bereiten. Sicher hatte auch er immer im Stillen diese blutigen Tränen geweint, die nur er sehen konnte. Genauso fühlt sich es nämlich an. Wie blutige Tränen, die eine Richtung suchen, aber hoffnungslos in den Wirren des Kopfes verloren gehen.
Nun liegt dieser Junge im künstlichen Koma, die Ärzte wissen noch nicht, ob sie ihn überhaupt wieder aufwecken können. Die Familie kämpft weiterhin um das Leben ihres Sohnes. Von seinem Umfeld stand nichts weiter in der Zeitung. Nur dass er gemobbt wurde.
Genau wie ich.
Oft habe ich mir vorgestellt, wie es wohl wäre, so zu sein, wie die anderen. Einfach normal zu sein. Einfach normal mit allen umgehen zu können. Einfach dazu gehören. Mein ewig unerfüllter Traum. Ich gehörte nie irgendwo dazu, sondern war immer das fünfte Rad am Wagen. Die dumme Helen, die keiner leiden konnte. Ich wusste nicht, wieso alle Gespräche um mich verstummten, sobald ich den Klassenraum betrat und dann im Flüsterton fortgeführt wurden. Ich wusste nie, warum alles, was ich tat, kritisiert wurde. Wieso meine Mitschüler lachten, wenn ich in der Schule einen Fehler machte und gleichzeitig die Augen verdrehten und mich als "Streberin" beleidigten, sobald ich eine Antwort wusste. Ich wusste nie, warum alle immer abfällige Witze über meine Klamotten machten, obwohl ich doch genau dieselben trug wie alle anderen. Die "hässliche Helen" haben sie mich genannt.
Ich stand vielleicht stundenlang vor dem Spiegel und habe mir über die "hässliche Helen" Gedanken gemacht. Ich war nicht zu dick, nicht zu dünn, nicht zu groß, nicht zu klein, hatte keine Pickel, musste weder eine Brille noch eine Zahnspange tragen. Ich hatte mich täglich mit demselben Mascara geschminkt, das auch die anderen Mädchen benutzten, hatte mir stets die neuesten Klamotten gekauft und mich manchmal noch in der Schule gekämmt, damit meine wuscheligen Haare nicht so unordentlich aussahen. Mama meinte immer, Locken sähen schön aus. Auch viele Mädchen an meiner Schulen tragen ihre Haare so ähnlich. Doch die werden nicht als "hässlich" bezeichnet.
Ich hatte nie wirkliche Freunde. Einmal war da Klara, doch die war im Grunde genommen genauso wie alle anderen. Sie machte einige Zeit auf Freundin, doch als die anderen kamen, war ich für sie wie eine Schmeißfliege. Immer wieder redete sie hinter meinem Rücken darüber, wie nervig ich sei, dass ich an allem herum meckern würde. Dabei habe ich sie nie angemeckert und ihr immer meine Hausaufgaben zum Abschreiben gegeben, wenn sie sie wieder mal nicht dabei hatte.
Einmal hatte ich versucht, über die Lehrer das Problem zu lösen, doch das hatte nichts gebracht. Danach wurde es nur noch schlimmer. "Petze", war nun das Wort, das kursierte, wenn ich in der Nähe war. "Lass das bloß nicht Helen wissen, die petzt nur alles!"
Auch da sah niemand diese kleinen, blutigen Tränen, die aus meinem Herzen liefen, und die ich so lange zu unterdrücken versucht hatte. Immer wieder rissen die Beleidigungen, die ausgestreckten Finger und die Witze der anderen diese Wunden auf, immer tiefer bohrten sie sich in mein Herz, immer mehr dieser unsichtbaren, heißen, blutigen Tränen flossen über meine Augen, wenn ich mich auf dem Klo ausheulte, wohl wissend, dass sich vor der Kabine ein Pulk aus Meinungsführern und Cliquenchefs über mich kaputt lachte. Ich dachte, mit der Zeit würde ich sie vergessen, ich würde sie ignorieren. Äußerlich tat ich das dann auch.
Aber dies riss die Wunden in meinem Herzen nur noch tiefer.
Ich wurde in diese Welt hineingeboren. Ich wollte in dieser Welt leben.
Doch dann wurde mir unmissverständlich klar gemacht, dass ich in dieser Welt fehl am Platze war. Nichts als eine lästige Fliege unter tausender anderen lästigen Fliegen. Immer und immer wieder wurde mir das eingetrichtert. Es gibt keinen Ausweg. Es hatte noch nie einen gegeben und es wird auch in Zukunft keinen geben.
Nicht für mich.
Danke, Mama und Papa, dass ihr immer für mich da wart.
Danke, dass ihr mich unterstützt habt, so gut es möglich war.
Danke, dass ihr mich die ganzen fünfzehn Jahre begleitet habt.
Zu Hause war immer der einzige Ort gewesen, an dem ich akzeptiert wurde, deshalb habe ich mich auch entschlossen mich hier in dieser Badewanne von der Welt zu verabschieden.
Ihr sollt wissen, dass ich nicht leiden musste. Die Schnitte waren das erste in meinem Leben, was mir nicht wehgetan hat. Das erste, was sich erlösend anfühlte. Nun kommen all diese blutigen Tränen, die ich nie weinen konnte hinaus. Ich sehe, wie sie sich vor mir im Wasser ausbreiteten.
Ja, ihr hattet Recht.
Weinen hilft.
Alles, was ich besitze, vererbe ich hiermit meinen Eltern, da sie die einzigen Menschen waren, die jemals zu mir gehalten haben.
Ich werde jetzt gehen. Niemand wird mich hier vermissen. Vielleicht ist der Ort, an den ich jetzt komme, der Richtige für mich...
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2014
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