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In meinen Träumen

Wenn man träumt, wiederholt man, was man tags zuvor gesehen und erlebt hatte. Man verarbeitet die Geschehnisse des Tages in der Ruhe der Nacht. Doch was, wenn die Geschehnisse des Tages in der Nacht nicht zu verarbeiten sind? Was, wenn sie dich jede Nacht heimholen, wenn du jeden Abend ins Bett gehst, wissend, dass du wieder diese Bilder vor Augen haben wirst? Die Bilder, die du vergessen wolltest. Vergessen. Einfach nur vergessen...
Aber Träume vergessen nie!

 

Marlon hatte nie Freunde an der Schule gehabt. Niemand hatte sich jemals um ihn gekümmert. Niemandem, nicht einmal seiner Familie ist es aufgefallen, was in ihm vorging.
Ich habe ihn nie geärgert. Nicht so wie die anderen. Ich habe auch nicht gelacht, wenn sie ihm mal wieder irgendetwas in die Schultasche getan hatten, oder ihn mit Papierkugeln beworfen hatten. Ich habe niemals jemanden angefeuert, der ihm die Jacke auf dem Parkplatz hinter der Schule in den Dreck geworfen hatte. Ich habe niemals gelacht, wenn einer der Jungs ihn absichtlich mit dem Ball getroffen hatte. Ich gehörte nie zu denen, die schaulustig um die Szene drum herum standen, wenn jemand seine peinlichen, karierten Pullunder mit Butterbrot eingeschmiert hatte. Oder ihn herum schubste.
Ich habe nie mitgemacht, wenn die Anderen Marlon irgendetwas angetan hatten.
Ich habe einfach nur weggeschaut. Einfach weg, nicht näher.
Fang dir bloß keinen Ärger ein, habe ich mir gesagt.
Ich hegte keinen Groll gegen Marlon.
Er war mir schlicht und einfach egal.
Dafür wurde ich nun bestraft.

Es war an einem Dienstag in der dritten Stunde. Ich musste auf die Toilette und hatte einen netten Lehrer erwischt, der mich auch gehen ließ. Auf dem Weg dorthin kam mir Marlon entgegen. Ich hatte ihn nicht beachtet, so wie immer, weil ich ihn nie beachtete. Im Nachhinein glaubte ich, mich zu erinnern, dass er irgentwie grimmig ausgesehen hatte und dass er etwas unter seiner Strickjacke trug. Auf dem Klo habe ich dann die Schüsse gehört.

 

Was ich gedacht hatte? Ich weiß es nicht.
Was ich fühlte, als ich panisch zurückrannte, nur noch diese leblosen Körper sah, die in einer Blutlache auf dem Boden ausgestreckt lagen. Ich hörte nur noch einen Schuss. Der Schuss, mit dem sich Marlon selbst richtete.

 

Ich hatte keine Schuld, redete ich mir ein. Ich hatte ihn ja nie geärgert. Ich hatte ihn immer in Ruhe gelassen. Doch die Stimmen, die mich in meinen Träumen heimsuchten, sprachen eine andere Sprache.

 

Ich liege am Ufer eines Sees im Gras. Schmetterlinge umschwirren mich, ich komme mir vor, wie eine Fee.
Dann fallen die Schüsse. Dieselben Schüsse, wie in der Schule. Die Schmetterlinge fallen leblos zu Boden. Immer, wenn ich mich dann umdrehe, sehe ich wieder Marlon, wie er Selbstmord begeht. An der Stelle wache ich auf. Jede Nacht.

 

Warum ich?, denke ich mir immer. Ich habe ihm doch nie etwas getan! Ich habe noch nicht einmal zugeschaut! Warum ich?
Dabei ist die Antwort ganz eindeutig. Weil ich weggeschaut hatte. Weil ich wusste, wie sie Marlon Stück für Stück seelisch demolierten. Weil ich Zeugin war. Und weil ich nichts getan hatte.

 

Irgendwie war es ja gerecht von Marlon, dass er nur seine Peiniger bestraft hatte. Ich hatte schon ganz andere Geschichten gehört. Dennoch kann ich es nicht vergessen. Nicht vergessen, wie diese reglosen Körper im Blut lagen. Nicht vergessen, wie er seine Waffe vor aller Augen gegen sich selbst richtete.
Warum ich? Warum habe ich diese Träume? Ich habe doch nichts getan?
Das ist das, was ich mir immer einrede. Obwohl ich es besser wusste.
Natürlich hatte ich nichts getan.
Und dafür muss ich bezahlen.

 

Weil ich weggeschaut hatte, als jemandem in meiner Nähe wehgetan wurde. Weil ich alle Schuld von mir gewiesen hatte. Weil ich nicht geholfen hatte, als Hilfe noch möglich war.
Und an all das werde ich erinnert.
Jede Nacht in meinen Träumen.

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Tag der Veröffentlichung: 25.11.2013

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