"Ich werde nicht für immer wegbleiben. Bald komme ich zurück."Ich sah ihm fest in die Augen. Er würde mich doch nicht anlügen. Aber warum verheimlichte er etwas vor mir?
"Ich schreibe dir regelmäßig, Clarissa, bestimmt."
"Ich weiß", konnte ich nur antworten. Aber da war noch etwas. Tief in seinen Augen. Etwas, was ich nie erfahren sollte. "Ich stehe auf deiner Seite", flüsterte ich Tom zum Abschied ins Ohr, als der Zug in den Bahnhof einfuhr. Er winkte mir bei der Abfahrt noch zu. Ich glaubte, Tränen zu sehen, die über seine Augen rollten. Etwas beschäftigte ihn. Etwas Schweres.
"Ich stehe immer auf deiner Seite", wiederholte ich leise. Die Erinnerung an unseren letzten Kuss blieb an mir Haften wie der Duft eines unscheinbaren, süßen Parfums.
Zwei Tage später klingelte die Polizei an meiner Tür.
"Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen", wiederhole ich auf dem Präsidium mit Tränen in den Augen. Alles fühlt sich an, wie ein merkwürdiger Traum. Ein merkwürdiger, realer Traum.
"Und Sie haben keine Ahnung, wo er sich befindet? Hat er Ihnen eine Nummer, eine Adresse oder einen Namen gegeben?"
"Nein." Meine Stimme hört sich an, wie ein Hauch. Die Kommissarin sieht mich mitleidig an.
"Erinnern Sie sich, in welche Richtung der Zug fuhr?"
"Nach Köln." Das würde ich nie vergessen. Aber die Information ist sowieso fade. Tom könnte überall aus- und umsteigen. Überall verschwinden. Auf Nimmerwiedersehen.
"Vielen Dank für Ihre Informationen", sagt die Kommissarin schließlich und steht auf. Sie reicht mir ihre Visitenkarte. "Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen sie mich bitte an."
Wie durch einen Traum verlasse ich das Präsidium, an den starren Blicken meiner Eltern und meines jüngeren Bruders vorbei. Sie alle haben Tom gemocht. Aber nun wissen wir nicht mehr, was wir glauben sollen.
Tom Kühler ist in einem Mordfall verwickelt. Seine Fingerabdrücke wurden an der Tatwaffe gefunden, mit der ein 20-jähriger Student getötet wurde. In der Tasche des Toten befand sich Marihuaner.
Das waren die Worte des Polizisten, der, nachdem ich vom Bahnhof zurückgekehrt war, in unserer Tür stand. Doch erst jetzt verstehe ich richtig, was damit gemeint ist.
Nicht Tom. Jeder, nur nicht Tom. Ich kenne ihn doch! Er kann es nicht getan haben. Er kann es ganz einfach nicht getan haben!
Die ganzen Leute um mich herum gehen an mir vorbei, wie an einem Geist. Tom hatte mich nicht angerufen. Sein Handy haben sie in einem Mülleimer am Bahnhof gefunden. Alle Daten gelöscht, die Speicherkarte unauffindbar. Was würde er tun? Würde er einfach sang- und klanglos verschwinden? Würde er zurück kehren und mich um Unterstützung bitten? Und was sollte ich dann tun?
Ich zucke zusammen, als es klopft. Mit schüchterner Miene kommt Justus herein, mein Bruder.
"Gibt es Neuigkeiten?", frage ich automatisch.
"Er ist gleich an der ersten Station ausgestiegen und nach Frankfurt gereist. Von dort wollte er in die Niederlande. Dabei haben sie ihn geschnappt. Der Prozess läuft."Ich nicke. "Können wir ihn besuchen?"
"Bald. Die gute Nachricht ist, er sitzt in Schutzhaft."
"Ich hatte keine Ahnung, was die Typen wollten", erklärt er mir mit tonloser Stimme. Ich nicke. "Sie haben mich einfach gefragt, ob ich ihnen ein paar Sachen umher bringen kann. Packchen. Zu bestimmten Leuten. Die haben mit 'ner Menge Geld gewedelt. Da konnte ich nicht anders."
"Hast du das der Polizei erzählt?"
"Ja. Völlig ungeschoren werde ich nicht davonkommen."
"Und als der Mann getötet wurde?"
Tom schließt kurz die Augen. "Er...ich hatte ja keine Ahnung, was sich da abgespielt hat. Ja, ich wusste, dass das krumme Dinger waren, aber...Er hielt mich anscheinend für ein Gangmitglied. Sagte irgentwas von anfälligen Zahlungen. Von Geschäften. Dann hat er mit dem Messer vor meiner Nase herumgefuchtelt. Ich wollte fliehen, doch der Typ hat mich gepackt. Er wolle uns Betrügern eine Lektion erteilen...ihn bescheißt man nicht...er sei nicht käuflich und so. Da habe ich gemerkt, dass er noch ein zweites Messer in der Tasche hatte. Ich habe nicht nachgedacht. Der wollte mich auf offener Straße skalpieren! Ich habe ist einfach nur genommen und..."
Seine zitternden Schultern brachte er nicht mehr unter Kontrolle. Er vergräbt sein Gesicht in den Händen. Ich lege ihm meinen Arm um die Schultern.
"Als dann...als ich gesehen habe...dass der Kerl Drogen dabei hatte...Gott, ich stand bis zum Hals in der Scheiße...ich wollte einfach weg! Weg von alldem!"
Ich nickte. "Der Richter wird dich bestimmt verstehen. Das war schließlich Notwehr. Und bis du wiederkommst werde ich auf dich warten. Die Polizei hat ein gutes Zeugenschutzprogramm. Bald ist mein zwanzigster Geburtstag. Da werde ich ausziehen. Ich habe schon eine gute Wohnung für uns beide gefunden. Und bist du wiederkommst, werde ich sie für dich freihalten. Das verspreche ich dir."
Tag der Veröffentlichung: 14.09.2013
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